Hymne der Jugendbewegung. Zu „Aus grauer Städte Mauern“ von Hans Riedel und Hermann Löns
10. März 2014 12 Kommentare
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Hans Riedel/Hermann Löns Aus grauer Städte Mauern 1. Aus grauer Städte Mauern Ziehn wir durch Wald und Feld. Wer bleibt, der mag versauern, Wir fahren in die Welt. Heidi heido, wie fahren, Wir fahren in die Welt Heidi heido*, wir fahren, Wir fahren in die Welt 2. Der Wald ist uns're Liege**, Der Himmel unser Zelt. Ob heiter oder trübe, Wir fahren in die Welt. Heidi heido, wie fahren, [...] 3. Ein Heil dem deutschen Walde, Zu dem wir uns gesellt. Hell klingt's durch Berg und Halde, Wir fahren in die Welt. Heidi heido, wie fahren, [...] 4. Die Sommervögel ziehen Wohl über Wald und Feld. Da heißt es Abschied nehmen, Wir fahren in die Welt. Heidi heido, wie fahren, [...] [*in vielen Liederbüchern auch: Halli, hallo; ** Liebe].
Der Text der Strophen 1 bis 3 stammt vom Pfadfinder Hans Riedel (1889-1971). Geschrieben wurde er vor dem Ersten Weltkrieg etwa 1910, als Riedel gerade 21 Jahre alt war.
Es ist die Zeit, in der die fortschreitende Industrialisierung und die damit einhergehende Urbanisierung kritisch gesehen werden. Die Lebensreformbewegung strebt auf vielerlei Weise nach dem „Naturzustand“; es entstehen Schrebergärten, Gartenstädte, Landkommunen. Die Jugendbewegung wird von Oberschülern und einigen Lehrern des Gymnasiums Steglitz begründet; mit Hilfe der später studierenden Gymnasiasten verbreitet sie sich über ganz Deutschland und später auch in der Schweiz und in Österreich. Im Gründungsmanifest der Steglitzer Wandervögel heißt es pathetisch:
Die Großstadt verschandelt die Jugend, verbildet ihre Triebe, entfremdet sie immer mehr einer natürlichen, harmonischen Lebensweise. Aus den großen Hausmeeren steigt das neue Ideal: Erlöse dich selbst, ergreife den Wanderstab und suche da draußen den Menschen wieder, den einfachen, schlichten, natürlichen. (1901: Gründung des Wandervogel. Eine Sendung des WDR 5 am 4.11.2006. Autor: Thomas Mense, Redaktion: Klaus Leymann.)
Aus grauer Städte Mauern hat dem Heidedichter Hermann Löns (1866-1914) so gut gefallen, dass er 1914, kurz vor seinem Tod, den 4. Vers hinzugefügt hat. Wieweit das Gedicht in jugendbewegten Kreisen verbreitet war, ist ungeklärt. Erst nachdem der Wandervogel und Musiklehrer Robert Götz (1892-1978) 1920 die Melodie verfasst hatte, wurde das Lied „zeitweise eine Art Hymne der Jugendbewegung“(www.museenkoeln.de).
Der Erstdruck des Liedes wird in vielen Liederbüchern auf das Jahr 1932 datiert, als der bündische Günther Wolff Verlag (von den Nazis 1937 aufgelöst) das von Robert Götz zusammengestellte Liederbuch Aus grauer Städte Mauern herausbrachte. Um „eine Art Hymne“ zu werden, bedurfte es nicht nur des mündlichen Weitertragens von Text und Melodie am Lagerfeuer, auf Fahrten oder Wanderungen, sondern auch der schriftlichen Vervielfältigung. Eines der wenigen Dokumente dafür ist die handschriftliche Aufzeichnung im Liederheft des Hesse-Darmstädter Fähnleins, das 1927 dem Gründer und späteren Bundesführer des Nerother Wandervogels, Robert Oelbermann, gewidmet war:
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(Mit freundlicher Genehmigung von Hubertus Schendel. Quelle: Archiv Hubertus Schendel, www.deutscheslied.com).
Der Text knüpft an die Grundsätze der Lebensreformbewegung an und greift den Wunsch der Jugendbewegten nach Naturerleben auf. Die Sänger ziehen „durch Wald und Feld“ und fordern (indirekt: „wer bleibt, der mag versauern“) die Daheimgebliebenen auf, es ihnen gleichzutun. Der Refrain „Wir fahren in die Welt“ ist sinnbildlich zu verstehen; es geht um die – mindestens zeitweise – Befreiung von Arbeitsnormen und bürgerlichen Konventionen, die in Wald und Feld eher zu verwirklichen ist als in der (Groß)Stadt. Daher gilt „ein Heil dem deutschen Walde“ – Heil hier im Sinn des Begrüßens, vgl. „Weidmanns Heil“, „Heil am Seil“ oder „Petri Heil“ oder als das zu suchende Heil, wobei die Heilung von den krankmachenden Mietskasernen in Wald und Feld, am Berg oder auf der Halde (hier im Sinn von Abhang, Hügel) gemeint ist. Übernachtet wird im Freien: „der Wald ist unsre Liege“ und der Himmel ist das Zelt, unter dem die Wanderer sich behütet fühlen.
Hermann Löns nimmt in der vierten Strophe Bezug auf Herkunft des Begriffs Wandervogel. Die Sommervögel sind die Zugvögel, die im Herbst „Abschied nehmen“ ähnlich wie die Wandervögel. Jedoch sind sie im nächsten Frühling wieder da und „ziehen in die Welt“.
Nachdem 1932 Götz’ Liederbuch Aus grauer Städte Mauern in Druck erschienen ist, folgen im selben Jahr zwei weitere Sammlungen: Das Singeschiff – Lieder der katholischen Jugend und der Jung-Volker – Lieder der neudeutschen Jugend. Ab 1933 greifen die Nationalsozialisten viele Lieder und Traditionen der Jugendbewegung auf, wie Fahrten, Zeltlager und Lagerfeuer, um die Jugendlichen freiwillig für den Eintritt in die Hitlerjugend zu gewinnen. Das Lied Aus grauer Städte Mauern gehörte genauso dazu wie Wildgänse rauschen durch die Nacht (ebenfalls von Robert Götz vertont) und Wilde Gesellen, vom Sturmwind durchweht. Erst das Gesetz über die Hitlerjugend aus dem Dezember 1936 sah vor, dass alle Jugendlichen von 14 bis 18 Jahren Mitglieder werden sollten, die gesetzliche Jugenddienstpflicht folgte im März 1939. Die Lieder wurden nicht nur in der Hitlerjugend gesungen, sie tauchten auch in Liederbüchern anderer NS-Organisationen und in den Schulen verschiedener NS-Gaue auf sowie ab 1940 in etlichen Liederbüchern der Wehrmacht.
Bis etwa 1937 konnten noch einige nichtnationalsozialistische Liederbücher erscheinen, so z. B. 1934 das Singeschiff (2. Auflage) und 1933 St. Georg (beide herausgegeben für die katholische Jugend). Auch der einst Jugendbewegte und Förderer der Jugendmusikbewegung Fritz Jöde (1887-1970; NSDAP-Mitglied ab 1940) gab noch 1937 ein Liederbuch mit dem Titel Aus grauer Städte Mauern heraus. Nach dem Verbot der katholischen Jungmännervereine im Januar 1938 und dem endgültigen „Verbot der Fortführung und Neubildung von Vereinigungen der bündischen Gruppen“ durch den Reichsführer SS, Heinrich Himmler, im Juni 1939 war es mit der Duldung vorbei.
Zieht man die zahlreichen Liederbücher und Partituren heran, blieb die Popularität von Aus grauer Städte Mauern nach Beendigung des Zweiten Weltkriegs ungebrochen. Nicht nur die in der Tradition der Jugendbewegung stehenden Wieder- oder Neugründungen der Wandervögel oder Pfadfinder, sondern auch konfessionsorientierte, Sport- und Wandergruppen nahmen das Lied in ihre Liederbücher auf. Auch in den zahlreichen Ausgaben der Mundorgel war das Lied enthalten, wie auch in den auflagestarken Liederanthologien Volkslieder aus 500 Jahren (Fischer Taschenbuch), Volksliederbuch (Weltbild Verlag) und Das große Buch der Volkslieder (Bertelsmann Buchgemeinschaft). Noch in den letzten Jahren wurde Aus grauer Städte Mauern in die Pfadfinderliederbücher Liederjurte (2007) und Jurtenburg (2010) und in das Wandervogel-Liederbuch (2013) aufgenommen.
In den bundesdeutschen Schulen, vor allem auf Wandertagen, war das Lied beliebt. Auch die bundesdeutschen Soldaten sangen das 4/4-taktige Lied, nach dem sich flott marschieren ließ. Gesungen wurde es auch in verschiedenen österreichischen Regionen und in der Schweiz.
Bis 1983 folgten weitere Interpreten: der Montanara Chor mit fünf Alben und viele andere Chöre wie die Regensburger Domspatzen, der Tölzer Knabenchor, der Dresdner Kreuzchor, um nur einige zu nennen.
Mitte der 1990er Jahre versuchte Bertelsmann an die früheren Erfolge mit renommierten Sängern anzuknüpfen: mit Hermann Prey, Dietrich Fischer-Dieskau, Günther Wewel u. a. Doch die Volkslieder-Welle war langsam verebbt, und es erschienen nur noch vereinzelt CDs mit dem Lied.
Zur Vermarktung von Fahrtenliedern schreibt das NS-Dokumentationszentrum der Stadt Köln im „Projekt Jugend! Deutschland 1918–1945“:
Es gab Fahrtenlieder, die in den einzelnen Bünden entstanden, […] die weit über den eigenen Bund hinausstrahlten, darunter […] Wenn die bunten Fahnen wehen. Heute hat das Lied wahlweise den Status eines volkstümlichen Schlagers (in der Interpretation von Heino und den Gottfried Fischer Chören) oder eines Marsches (in der Interpretation der Bundeswehr oder d. V.: den Original Egerländer Musikanten) erhalten, ein Schicksal, das es mit anderen Fahrtenliedern wie Aus grauer Städte Mauern teilt.
Doch die die erste Zeile des Lieds war längst über das Musikalische hinaus zu einem geläufigen Begriff geworden. Die Burg Altena nennt ihre Führungen zur Lebensgeschichte der Mitgründer der Jugendherbergen, Richard Schirrmacher und Wilhelm Münker, Aus grauer Städte Mauern; in der Musikzeitschrift Sounds erscheint 1979 eine dreiteilige Artikelserie von Alfred Hilsberg mit der Überschrift „Neue deutsche Welle – Aus grauer Städte Mauern“; für Wanderungen und Wanderwochen wird mit der ersten Zeile geworben; Zeit online macht einen Artikel mit „Aus grauer Städte Mauern – Wer soll die Sanierung der Gemeinden bezahlen?“ auf, sogar ein Unternehmen, das Produkte wie Farben, Mauerputz und Ähnliches herstellt, wirbt im Internet mit „Aus grauer Städte Mauern“. Und auf dem Festival des Dokumentarfilms im November 2014 in Amsterdam wird Aus grauer Städte Mauern gezeigt, eine Dokumentation über Wohnen und Leben im Ruhrgebiet von Thomas Tietsch aus dem Jahr 1986, ein Film, der wohl noch heute als aktuell angesehen wird.
Diese vielen Verselbständigungen des Incipits zeigen ebenso die Popularität des Liedes wie auch seine Verbreitung in Chören, Schulen und Nachfolgegruppen der einstigen Jugend- und Wandervogelbewegung. 2013 wurde Aus grauer Städte Mauern in den Jubiläumsband der Mundorgel aufgenommen, dem Liederbuch, das bis dahin eine Textauflage von über 10 Millionen und eine Text- und Melodie-Auflage von rund 4 Millionen aufweisen konnte.
Georg Nagel, Hamburg
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Meine demente Mutter singt mit zu einer CD. Aber hartnäckig „wir fahren in den TOD“. Sie ist Jahrgang 1934. Weiß jemand, ob es so eine Version in der Nazizeit gab?