Das „Schwipslied“ aus Erich Wolfgang Korngolds Bearbeitung der Operette „Eine Nacht in Venedig“ von Johann Strauß auf die Melodie der Annen-Polka (1852/ 1883/ 1931)

Erich Wolfgang Korngold (Musik: Johann Strauß)

Schwipslied

Mir ist auf einmal so eigen zumute,
Irgendwas kitzelt und prickelt im Blute.
Irgendetwas trägt mich weit
Weg in Himmels Seligkeit.
Und ich muss lachen, vor Glück muss ich lachen.
Auch weil ich Lust hab‘, was Dummes zu machen.
Fast könnt‘ das ein Schwipserl sein,
Doch dies ist kein Schwips, oh nein!

Vorhin trank ich nur aus einem Glas,
Jetzt sind es schon zwei,
Wie kommt denn das?
Und dann denk‘ ich noch,
Wenn ich nur wüsst‘,
Hab‘ ich heute schon geküsst?

Nein, nein, nein, nein ...

Mir ist auf einmal so [...]

Hopsassa trallala, oh ich weiß, was ich weiß.
Alles steht schief herum, alles dreht sich im Kreis.
Alles, was fest war, ich merke es schon,
Das ist nicht mehr verlässlich, es tanzt mir davon.
Und wenn ich gehe, dann schwebe ich leicht,
Bis ich endlich das Ziel, das ich will, hab erreicht.

Ja, ja, ja, ja ...

Mir ist auf einmal so [...]

  [Eigene Transkription]

Vorbemerkung

Die Operette ist heute vermutlich das in der Breite der Gesellschaft, bei den meisten Musikkritikern und selbst bei vielen Darstellern das am wenigsten geschätzte Genre im Angebot deutscher Bühnen, gilt sie doch als ästhetisch anspruchslos, historisch überholt und gesellschaftspolitisch unbedeutend. Obwohl viele Operetten nach wie vor die zuverlässigsten Kassenmagneten vieler Stadttheater sind und wesentlich dazu beitragen, deren „Ausflüge in die Hochkultur“ zu finanzieren, wie es Marcel Prawy (einstens Chefdramaturg der Wiener Staatsoper) einmal formuliert hat.

Was meine eigene Haltung gegenüber dieser Theatersparte angeht, würde ich diese als neutral bezeichnen; ob mir eine Operette gefällt oder nicht, hängt hauptsächlich von der jeweiligen Inszenierung ab, d. h. von mehr oder minder kreativen Regieeinfällen, der Spielfreude des Ensembles, der gesanglichen Qualität und der Fähigkeit bzw. auch Lust solcher Aufführungen, gängige Routinen des Kulturbetriebs zu durchbrechen, mit ästhetischen Mitteln ein gehöriges Chaos zu verbreiten und dabei etablierte gesellschaftspolitische Normen auf eine lustig-unterhaltsame Weise, also einmal nicht mit didaktisch erhobenem Zeigefinger zu hinterfragen.

Zum Inhalt des Schwipslieds

Der Text des Liedes scheint mir, insbesondere wenn man ihn schriftlich fixiert vor sich sieht, nicht besonders schwierig zu verstehen. Die Sängerin, präziser formuliert: die von der Sängerin dargestellte Figur, steht offensichtlich unter dem Einfluss von Alkohol. Sie diagnostiziert ihre Verfassung und notiert, ebenso interessiert wie belustigt, die physischen und psychischen Wirkungen, die sich daraus für sie ergeben. Das gesamte Lied lässt sich gewissermaßen als Protokoll eines Selbstexperiments verstehen. Obwohl seine Verfasserin vermutlich nicht zu hundert Prozent dem wissenschaftlichen Ideal eines nüchternen Beobachters entspricht, klingen ihre Verlautbarungen glaubhaft, finden sich darin doch die typischen euphorisierenden und enthemmenden Effekte wieder, die man in unserer Kultur üblicherweise mit Alkoholkonsum verbindet. Außerdem belegen ihre Äußerungen eine dezente sinnliche Vernebelung, die zu Unschärfen in der Weltwahrnehmung und eigenen Orientierung führt. Dass sich die Protagonistin – allen Verwirrungen zum Trotz – in ihrer Situation wohlfühlt, bringt sie explizit wie implizit zum Ausdruck: sie spürt des „Himmels Seligkeit“, muss „vor Glück“ lachen, scheint zu schweben. Zur sachlichen Diagnose ihres angeheiterten Zustands fällt ihr spontan der Begriff ,Schwips‘ ein, zunächst in der Wienerischen Verniedlichungsform, den sie aber sofort entschieden zurückweist: „Doch dies ist kein Schwips, oh nein!“

Was ist aber eigentlich ein ,Schwips‘ und warum will sich die Protagonistin partout nicht dazu bekennen? Einem Herkunfts-Wörterbuch kann entnommen werden, dass der im 19. Jahrhundert in Österreich aufgekommene und heute ziemlich aus der Mode gekommene Begriff einen leichten Alkoholrausch bezeichnet, eine gesellschaftlich weitgehend akzeptierte Vorstufe der Betrunkenheit. Beschwipste Menschen befinden sich in einer aufgekratzten Stimmung, zeigen sich redselig, mitunter auch ein bisschen albern, stehen vielleicht auch nicht mehr ganz stabil auf ihren Beinen, aber sie produzieren keine groben Aussetzer, werden weder aggressiv noch ausfällig und sind insofern gesellschaftlich noch bestens kompatibel. Sprachwissenschaftler interessieren sich womöglich noch dafür, dass der Ausdruck zur mundartlichen Wortfamilie von ,schwippen‘ gehört, die sich auf das sanfte Hin- und Herschwanken von Flüssigkeiten bezieht. Nun aber zurück zum Lied: Die Protagonistin liegt mit ihrem Verdacht, dass sie sich einen Schwips eingefangen hat, sicher richtig, will sich das aber nicht eingestehen, obwohl alle festgestellten Symptome darauf hinweisen und diese leichte Form der Trunkenheit auch gemeinhin als unanstößig gilt. Eine mögliche Erklärung findet sich im Kontext des Liedes und in der Figur der Protagonistin.

Das Schwipslied im Kontext

Das Schwipslied wird häufig als lustige Gesangsnummer im Rahmen von Show-Konzerten populärer Opern- und Operettenstars dargeboten. In diesen Fällen kann sich das Publikum daran verlustieren, wie eine berühmte Gesangsvirtuosin eine beschwipste Person mimt, die darum kämpft, ihre aufrechte Haltung und Melodielinie zu halten, obwohl ihr beides entgleitet oder wenigstens zu entgleiten droht. Die Komik funktioniert in diesem Fall in doppelter Weise, insofern das Publikum einerseits die Artistik der Imitation bewundert, also mit der Künstlerin lacht, sich andererseits aber auch über die dargestellte Figur (nicht die Sängerin!) erhebt, die vom Schwips beeinträchtigt wird und sich gewissermaßen öffentlich zum Affen macht. Diese Form der Komik, die zum Verlachen eines komischen Objekts führt, hat der französische Philosoph Henri Bergson ausführlich untersucht.   

Mit einem genaueren Kontext wird das Schwipslied in der Operette Eine Nacht in Venedig ausgestattet, wobei auch diese Verhältnisse keinesfalls einfach zu beschreiben sind. Einigermaßen verwickelt ist schon die Handlung dieser 1883, ausnahmsweise in Berlin uraufgeführten Operette von Johann Strauß (Sohn), dem sog. ,Walzerkönig‘ (1825-1899), aber beinahe unüberschaubar wird das Ganze dann durch die zahlreichen Modifikationen und Bearbeitungen, die das Stück im Laufe seiner Rezeptionsgeschichte erfahren hat. So war das Schwipslied beispielsweise noch gar kein Bestandteil der frühen Aufführungen zu Lebzeiten unter dem Dirigat des Komponisten, sondern wurde erst lange nach dessen Tod, 1931, als Glanznummer von einem Bearbeiter in die Handlung eingebaut, um diese für ein modernes Publikum attraktiver zu machen. Aber gehen wir Schritt für Schritt vor …

Eine Nacht in Venedig zählt auch heute noch zu den beliebtesten Operetten von Johann Strauß. Sie erreicht zwar weder die Aufführungszahlen einer Fledermaus (1874) oder eines Zigeunerbarons (1885), rangiert aber nicht allzu weit dahinter. Um die Entstehung dieses Werks ranken sich allerlei Anekdoten, die hier nicht aufgewärmt werden müssen, nur so viel sei gesagt, dass es wohl ein Herzensanliegen des Komponisten gewesen ist, eine Operette mit dem Schauplatz Venedig seinem Repertoire hinzuzufügen, so dass er seine Librettisten Friedrich Zell (bürgerlich: Camillo Walzel) und Richard Genée entsprechend instruierte, ihm ein passendes Skript zu liefern. Schließlich entstand – unter Rückgriff auf eine französische Grundidee, wie die Autoren im Titel freimütig gestehen, – eine typische Komödienhandlung im Geschmack der Commedia dell’arte, bei der die Protagonisten um Geld- und Liebesangelegenheiten ringen, sich vermittels allerlei Intrigen bekriegen, wobei Sein und Schein ordentlich durcheinandergeraten, Identitäten fingiert, Betrüger betrogen werden, sich am Ende die verwickelten Verhältnisse aber dann doch so auflösen, dass der poetischen Gerechtigkeit Genüge getan wird und die Zuschauer mit guten Gefühlen nach Hause oder zu einem zünftigen Souper gehen können.

Ort der Handlung ist also die berühmte Lagunenstadt, die seit dem Frieden von Wien (1866) nicht mehr zu Österreich gehörte, sondern an das mit Preußen verbündete Königreich Italien gefallen war. Die frühere, seit der Besetzung durch Napoleons Soldaten an ihr Ende gelangte Adelsrepublik konnte ihren Besuchern im ausgehenden 19. Jahrhundert nur noch einen Schatten früheren Glanzes bieten, der allerdings von zahlreichen, vorwiegend deutschen Künstlern zum Mythos ihrer selbst aufpoliert wurde. Nicht von ungefähr verlagert Strauß die Handlung seiner Operette in die Mitte des 18. Jahrhunderts zurück, als Venedig dank einer protektionistischen Luxusindustrie (Glasherstellung) und des aufkommendem Tourismus seine schwindende überregionale Bedeutung im Fernhandel und für das europäische Bankwesen sowie als militärisches Bollwerk gegen das osmanische Reich noch halbwegs überspielen konnte.

So ist die Hauptperson in Straußens Operette auch einer jeder frühen Touristen, nämlich der überaus potente Herzog von Urbino (Guido), der es sich in den Kopf gesetzt hat, die Lagunenstadt im Karneval heimzusuchen und seine eigene Frau mit einer venezianischen Schönheit zu betrügen. Um seinen Plan in die Tat umzusetzen, hat er die Senatoren der Stadt mit ihren Frauen zu einem großen Maskenball eingeladen und damit in helle Aufregung versetzt, wissen sie doch ganz genau, was der edle Schwerenöter im Schilde führt. Andererseits weiß man aber auch um dessen Reichtum und wittert die Gelegenheit, für sich lukrative Pöstchen zu ergattern. Guido hat besonders eine Frau im Visier, der er zwar noch nie begegnet ist, der aber der Ruf außergewöhnlicher Attraktivität vorauseilt: Barbara, die Gattin des ebenso alten wie raffgierigen Delacqua. Der heckt nun einen Plan aus, um seine Frau vor dem Lustmolch in Sicherheit zu bringen, diesen aber dennoch insoweit zufriedenzustellen, dass für ihn die Stellung eines herzoglichen Verwalters abfällt. Komödientypisch soll die schöne Barbara heimlich per Gondel in ein Kloster verfrachtet werden und Zofe Ciboletta ihre Rolle beim feudalen Maskenfest übernehmen, Guido sozusagen zum Fraße überlassen werden …

So schön Delacqua auch seinen Plan erdacht hat, erweist sich doch bald, dass diese Rechnung ohne diverse Wirtinnen und Wirte gemacht wurde, die jeweils eigene Zwecke verfolgen. Da gibt es z. B. einen strammen Neffen des Senators, den die hübsche Barbara begehrt, weshalb ihr die verordnete Verschickung ins geistliche Refugium gerade recht kommt, um ihrem Ehetyrannen zu entfliehen. Während der sie durch ihre Zofe ersetzt, sorgt sie selber für anderen Ersatz, indem sie ihre Milchschwester, das Fischermädchen Annina, anheuert, um sie – natürlich entsprechend verkleidet – bei der Klosterverfrachtung zu repräsentieren. Und dann bleibt auch der Herzog nicht passiv. Sein umtriebiger Leibbarbier Caramello soll ihm Barbara zuführen. Der erwischt das Objekt der fürstlichen Begierde auch tatsächlich auf der Flucht und entführt sie in den Palast, nur um dort zu entdecken, dass im Gewand der Senatorin Annina steckt, die er sehr gut kennt, weil er ihr schon seit längerem den Hof macht. Nun ist seine Verzweiflung groß, größer noch seine Eifersucht, weil die Fischerstochter das Hofleben und die Komplimente des Herzogs zu genießen scheint. In dieser Phase der Handlung lässt sich das Schwipslied zwanglos in die Operettenhandlung einbetten.

Trotz aller Anstrengungen kommt Guido bei Annina nicht zum Zuge, weil ihm irgendwie immer wieder irgendwelche Störungen, der eifersüchtige Caramello oder andere Festgäste in die Quere kommen. Dann stoßen die anderen Senatoren mit ihren Damen hinzu, und auch Delacqua findet die Gelegenheit, dem Herzog seine vorgebliche Gemahlin, die Zofe Ciboletta vorzustellen, die sich offensiv an den Gastgeber heranmacht, hofft sie doch, aus diesem eine Anstellung für den eigenen Liebhaber herauszuschlagen. Guido ist einigermaßen verwirrt, sich nun plötzlich mit zwei Barbaras konfrontiert zu werden, die sich im Finale noch zu einem Trio erweitern sollen, weil beim großen Maskentreiben auf dem Markusplatz auch noch die echte Senatorengattin an der Seite ihres Liebhabers auftaucht, wobei sie Delacqua glauben macht, der Neffe hätte sie aus den Fängen eines kriminellen Gondoliere gerettet. Vor dem Herzog ist sie übrigens sicher, wenigstens vorläufig, denn der hat sich die ihm sehr angenehme Nähe Anninas dauerhaft gesichert, indem er ihrem Caramello den allseits begehrten Verwalterposten übertragen hat.

Aus dem Handlungskontext der Operette ergibt sich, dass der Konsum prickelnder alkoholischer Getränke wie die gesamte Atmosphäre im herzoglichen Palast für die Fischerstochter Annina eine ganz und gar neue Erfahrung darstellt, die sie verwirrt, aber die sie auch fasziniert. Sie ist mit den Normen dieser Umgebung nicht vertraut und weiß demzufolge auch nicht, ob es sich für sie – in der Rolle einer Senatorengattin – ziemt, ein Schwipserl zu haben. Vorsichtshalber bestreitet sie es …     

Bearbeitungen und Bezüge

Schon im Jahr der Uraufführung gab es zwei, vom Komponisten selbst geschaffene Fassungen der Operette. Nachdem das Werk beim Berliner Publikum durchgefallen war, veränderte Strauß es erheblich für die wenige Tage später angesetzte Wiener Premiere, die von den Zuschauern auch prompt enthusiastisch gefeiert wurde. Für diesen Erfolg waren allerdings wohl nicht nur Verbesserungen am Text und neue Musiknummern ausschlaggebend, sondern auch die damaligen Aversionen zwischen Preußen und der Habsburger-Monarchie, aufgrund derer die Wiener Theatergänger die Misshandlung ihres Lieblings in Berlin nicht einfach hinnehmen konnten. Die sog. ,Berliner Fassung‘ wurde hinfort kaum mehr gespielt, dafür erhielt die Wiener Version der Operette bald auch auf deutschen und sogar Berliner Bühnen regen Zuspruch. Als der im neuen Jahrhundert abflaute, fanden sich etliche Bearbeiter, die das Werk im Hinblick auf die lokalen Gegebenheiten eines Aufführungsortes sowie den veränderten Zeitgeist und Publikumsgeschmack modifizierten bzw. modernisierten.

Unter diesen Bearbeitern ragt aufgrund seiner musikalischen Befähigung, aber auch seiner Wirkung auf die spätere Aufführungsgeschichte der Operette Erich Wolfgang Korngold (1897-1957), als renommierter Opernkomponist ein Vertreter der modernen Klassik, zugleich zweifacher Oscarpreisträger für Filmmusik, heraus. Korngold mochte Operetten, von denen er seit den 1920er Jahren mehrere unter seine Fittiche nahm, darunter Stücke von Leo Fall, Jacques Offenbach und Johann Strauß. Dessen venezianische Verwechslungskomödie nahm er sich gleich mehrfach vor, und 1931 baute er dabei auch das Schwipslied als besonders wirkungsvolle Gesangsnummer in die Operettenhandlung ein. Die Inspiration dazu dürfte er in Jacques Offenbachs Opéra-bouffe La Périchole (Die Straßensängerin), UA Paris 1868, gefunden haben, die nicht wenige Gemeinsamkeiten zur Nacht in Venedig aufweist: Auch dort wird eine junge hübsche Frau aus der Unterschicht in einen Palast gelockt, wo sie sich endlich einmal satt essen und feinem Wein zusprechen darf. Da kann ein ordentlicher Schwips nicht ausbleiben, was Offenbach in der „Griserie-Ariette“ (Schwips-Arie) zum Vergnügen seines Publikums dokumentiert hat:

Von Offenbachs Schwips-Arie zu Korngolds Schwipslied war es nur ein kleiner Sprung. Die fehlende Melodie komponierte dieser aber nicht selbst, sondern entwendete sie aus dem Frühwerk von Johann Strauß höchstselbst, der ja vor seinem Operetten-Schaffen nicht nur unzählige populäre Walzer komponiert hatte, sondern auch kaum weniger beschwingte Polkas, wobei seine vielen Märsche und Quadrillen noch gar nicht erwähnt sind. Eine der bis heute beliebtesten Kompositionen von Johann Strauß ist seine Annen-Polka (op. 117), die er 1852 für das Annen-Fest im Wiener Prater geschrieben hatte. Dass Korngold gerade diese Melodie für sein Schwipslied ausgewählt hat, ist als besonderer Glücksgriff zu würdigen.

Bei heutigen Aufführungen Einer Nacht in Venedig kommt es darauf an, im Kontext der jeweiligen Inszenierungs-Idee und nach den gesanglichen und darstellerischen Möglichkeiten des verfügbaren Personals eine stimmige Balance zwischen dem komischen und dem koketten Potential des Liedes und dem Charakter der agierenden Figur zu finden. Wenn man ein wenig in einschlägigen Theaterkritiken und Videodokumentationen herumstöbert, kann man sich ein eigenes Bild machen, inwiefern dies da und dort mehr oder weniger gelungen ist ….  

Hans-Peter Ecker, Bamberg

Literatur:

Volker Klotz: Operette. Portrait und Handbuch einer unerhörten Kunst. Kassel: Bärenreiter 2004.

Marion Linhardt: Inszenierung der Frau – Frau in der Inszenierung. Operette in Wien zwischen 1865 und 1900. Tutzing: Schneider 1997.

Johann Strauß: Eine Nacht in Venedig. Operette in drei Akten. Hrsg. und eingeleitet von Anton Würz. Stuttgart: Reclam 1999 (= RUB 7752).

Einschlägige Wikipedia-Artikel.

Silvestermenü:  Fünferlei von der „Fledermaus“ des ,Walzerkönigs‘ Johann Strauß (Sohn), 1874

Ich riskiere einmal die These, dass heutzutage und hierzulande die Operette neben oder vielleicht auch nur knapp nach dem Schlager das meistgeschmähte musikalische Genre ist. Jedenfalls was die publizierten Äußerungen von Feuilletonisten, Kulturpolitikern und sonstigen medialen Gatekeepern angeht. Merkwürdiger Weise scheint jedoch ein beträchtlicher Teil des Publikums den Dauerbeschuss professioneller Spaßbremsen seit Jahrzehnten einfach an sich abprallen zu lassen, um sich hernach umso lieber von opulenten Bühnenshows, artistischen Stimmen und der Darstellung aufwühlender Gefühle erbauen zu lassen. Ich persönlich finde das ganz in Ordnung, weil ich meinen eigenen ästhetischen Geschmack nicht absolut setze und niemandem einen Spaß neide, der keinem anderen schadet. Hin und wieder versuche ich sogar, für diese minder-beleumundeten Vergnügungen eine Lanze zu brechen und damit auch etwas gegen das schlechte Gewissen zu tun, das womöglich den einen oder anderen braven Bildungsbürger anfällt, wenn er sich in die Untiefen der Unterhaltungsindustrie verirrt hat und feststellen muss, dass er sich in diesen Gewässern pudelwohl fühlt.

So will ich also hier, aus gegebenem jahreszeitlichen Anlass, für die Operette in die Schranken treten – einerseits generell, dann aber auch für eine ganz spezielle, die mit großer Wahrscheinlichkeit auch heuer wieder bei vielen deutschen Bühnen auf dem Silvester-Spielplan steht: Die Fledermaus von Johann Strauß (Sohn). Es ist angesichts der Vielfalt verwandter Genres des Musiktheaters nicht einfach zu definieren, was eine Operette ,eigentlich‘ ausmacht, welche kulturpolitische Funktionen sie historisch erfüllt hat (und evtl. auch noch heute zu erfüllen imstande ist) und was gute und schlechte Vertreter dieser Gattung (bzw. auch gute und schlechte Inszenierungen!) unterscheidet. Es hilft beim Verständnis der Materie ein wenig weiter, wenn man die Operette als – in mehrfacher Hinsicht – kleinere Schwester der Oper betrachtet und ihre Situierung im gesellschaftlichen Kontext des europäischen Bürgertums seit dem späten 18. und vor allem dann im 19. und beginnenden 20. Jahrhundert als zentral begreift und stets im Auge behält. Ihre Abwertung gegenüber der Oper begründet sich durch eine in der Regel ,leichtere‘, sprich eingängigere Musik, deren Gesangspartien den Darstellern weniger abverlangen, ihre in der Regel komödiantische Handlung mit unblutigem Happy End, ihre großen Anteile gesprochenen Textes, die es dem Publikum leichter machen, dem Geschehen zu folgen, eine weniger aufwändige Ausstattung und die zumeist auch weniger reputierlichen Aufführungsorte – privatwirtschaftlich betriebene Bühnen anstelle der großen Hoftheater.

Im Rahmen dieses Beitrags kann weder auf die historischen Veränderungen der Operette eingegangen werden, noch auf ihre feinen Unterschiede zu anderen Spielarten des unterhaltenden Musiktheaters wie Singspiel, Opéra comique, Vaudeville, Zarzuela oder der musikalischen Revue. Seit den 1860er Jahren entwickelte sich jedenfalls in Wien eine deutschsprachige Operettenkultur, zunächst in deutlicher Anlehnung an Pariser Vorbilder (insbesondere Jacques Offenbach), dann aber zunehmend mit eigenen musikalischen und inhaltlichen Akzenten: Bevorzugung des Wiener Walzers, reichere Orchestrierung, Verbürgerlichung der Inhalte, nach dem 1870/71er Krieg auch mit einer stärkeren Gewichtung des sog. ,Volkstümlichen‘ und ,Vaterländischen‘. Die Fledermaus (UA Theater an der Wien, 1874) lässt sich inhaltlich noch der frühen, unter französischem Einfluss stehenden Zeit der Wiener Operette zurechnen, obwohl sie bereits nach dem Krieg gegen Frankreich entstanden ist. Dessen ungeachtet bringt sie nach dem Pariser Vorkriegs-Vorbild noch lustvoll ,Frivolitäten‘ auf die Bühne und geht auch mit bürgerlicher Gefühligkeit parodistisch um. Ein Beispiel dafür ist die scheinheilige Abschiedsszene zwischen dem Ehepaar Gabriel und Rosalinde von Eisenstein im ersten Akt mit der Kammerjungfer Adele im Hintergrund. Vorgeblich grämen sich die Eheleute zutiefst, dass sie sich für acht Tage trennen müssen, weil er ins Gefängnis einrücken muss. Tatsächlich aber kann Rosalinde seinen Abmarsch kaum erwarten, weil ihr Liebhaber draußen nur auf den Moment lauert, wenn der Hausherr sein Revier verlässt. Der Göttergatte hingegen wurde von einem Freund darüber informiert, dass er erst am nächsten Morgen in den Knast einrücken muss und davor noch eine feudale Champagnernacht mit reichlich Chancen zum Ehebruch verbringen darf. Die Zofe weiß sowohl vom Liebhaber der Gnädigsten als auch von der geplanten Party beim steinreichen russischen Prinzen Orlofsky, zu der sie ebenfalls eingeladen ist, und jetzt nur noch einen Dreh finden muss, um ihren Dienstpflichten bei Madame Eisenstein zu entfliehen.

Terzett. So muß allein ich bleiben (Rosalinde, Adele, Eisenstein)

ROSALINDE. So muß allein ich bleiben
Acht Tage ohne dich?
Wie soll ich dir beschreiben
Mein Leid so fürchterlich?
Wie werd' ich es ertragen,
Daß mich mein Mann verließ?
Wem soll mein Leid ich klagen?
O Gott, wie rührt mich dies!
Ich werde dein gedenken
Des Morgens beim Kaffee,
Wenn ich dir ein will schenken,
Die leere Tasse seh.
Kann keinen Gruß dir winken.
Aus Jammer werd ich g‘wiß
Ihn schwarz und bitter trinken. – Ach!

EISENSTEIN. O Gott, wie rührt mich dies!

ALLE DREI. O Gott, wie rührt mich dies!
O je, o je, wie rührt mich dies!

ROSALINDE. Wo bleibt die traute Gruppe,
Kommt Mittag dann heran?
Beim Rindfleisch wie zur Suppe,
Zum Braten – keinen Mann!
Und sinkt der nächt'ge Schleier,
Gibt's wieder mir 'nen Riß,
Mein Schmerz wird ungeheuer!

ALLE DREI. O Gott, wie rührt mich dies!
O je, o je, wie rührt mich dies!

EISENSTEIN. Was soll das Klagen frommen?
Den Kopf verlier' ich schier!

ROSALINDE. Mein Kopf ist ganz benommen!

ADELE (den Schweinskopf nehmend).
Den meinen hab' ich hier!

EISENSTEIN. Leb' wohl, ich muss nun gehen.

ROSALINDE. Leb' wohl, du musst nun gehen.

ADELE. Leb‘ wohl, er muss nun gehen.

ALLE DREI. Doch bleibt ein Trost so süss:

ADELE. Es gibt ein Wiedersehen, es gibt ein Wiedersehen!

ALLE DREI. O Gott, o je, wie rührt mich dies!

(Eisenstein tanzt ab, Adele folgt, während Rosalinde zurückbleibt)

Auch die Heimattümelei im berühmten Csárdás1 des zweiten Akts dürfen wir – völlig analog zur Verspottung bürgerlicher Sentimentalität – mitnichten für bare Münze nehmen. Sie dient der Sängerin nur zur betrügerischen Beglaubigung einer fingierten Identität. Rosalinde stößt nämlich in der Maske einer ungarischen Gräfin mit einer kleinen Verspätung auch noch zum Fest des Prinzen Orlofsky, weil sie inzwischen über die geplanten Eskapaden ihres Gattes informiert worden ist und diesen nun in flagranti erwischen will. Als ihre madjarische Echtheit angezweifelt wird, und das noch ausgerechnet von ihrer Kammerjungfer, die sich selber für eine große Schauspielerin ausgibt, beglaubigt sie diese durch ein ebenso feuriges wie von übertriebenen Ungarn-Klischees triefendes Bekenntnis zur transleithanischen Hälfte der k.u.k. Doppelmonarchie, deren Existenz im Bewusstsein der Wiener in den Jahren nach dem Österreichisch-Ungarischen Ausgleich von 1867 vermutlich besonders aktuell und populär war. Besondere Beachtung verdient dieser Csárdás auch deshalb, weil er neben der Ouvertüre den einzigen musikalischen Passus der Operette darstellt, der ganz allein auf die Urheberschaft von Strauß rückführbar ist.2 Bei den anderen Musiknummern des Stücks erfand der Walzerkönig zwar die Melodien, überließ deren Instrumentierung aber weitgehend seinem Mitarbeiter Richard Genée, dem neben Karl Haffner auch erhebliche Verdienste um das Libretto der Operette zukommen.  Dieses entstand in enger Anlehnung an eine französische Vorlage,3 die wiederum einzelne Motive einem Lustspiel des Leipziger Komödiendichters und Theaterdirektors Roderich Benedix (1811-1873) verdankt.

Csárdás. Klänge der Heimat (Rosalinde)

ADELE. Übrigens könnte ich zehn gegen eins wetten, daß sie keine Ungarin ist. Eine Dame jenseits der Leitha hat mehr Feuer und wäre in unserer Gesellschaft längst explodiert!

ORLOFSKY. Und dennoch ist sie eine Ungarin!

MELANIE. Und wer verbürgt uns das, Durchlaucht?

ROSALINDE. Die Musik verbürgt es!

ALLE. Die Musik?

ROSALINDE. Ja, die nationalen Töne meines Vaterlands mögen für mich sprechen!
                                                        Nr. 10. Csárdás
ROSALINDE. Klänge der Heimat, ihr weckt mir das Sehnen,
Rufet die Tränen ins Auge mir!
Wenn ich euch höre, ihr heimischen Lieder,
Zieht mich's wieder, mein Ungarland, zu dir!
O Heimat, so wunderbar, wie strahlt dort die Sonne so klar,
Wie grün deine Wälder, wie lachend die Felder,
O Land, wo so glücklich ich war!
Ja, dein geliebtes Bild meine Seele so ganz erfüllt,
Und bin ich auch von dir weit,
Dir bleibt in Ewigkeit doch mein Sinn immerdar
Ganz allein geweiht!
O Heimat, so wunderbar, wie strahlt dort die Sonne so klar,
Wie grün deine Wälder, wie lachend die Felder,
O Land, wo so glücklich ich war!
Feuer, Lebenslust schwellt echte Ungarbrust,
Hei, zum Tanze schnell, Csárdás tönt so hell.
Braunes Mägdelein, mußt meine Tänz'rin sein,
Reich den Arm geschwind, dunkeläugig Kind!
Zum Fiedelklingen tönt jauchzend Singen: ho, ha, ha!
Mit dem Sporn geklirrt, wenn dann die Maid verwirrt
Senkt zur Erd' den Blick, das verkündet Glück!
Durst'ge Zecher, greift zum Becher,
Laßt ihn kreisen schnell von Hand zu Hand!
Schlürft das Feuer im Tokaier,
Bringt ein Hoch dem Vaterland!
Feuer, Lebenslust schwellt echte Ungarbrust,
Hei, zum Tanze schnell, Csárdás tönt so hell.
Lalalala!

ALLE (applaudierend). Brava! Bravissima!

Die hinreißende Musik und der Auftritt Rosalindes überzeugen die Festgesellschaft genauso wie kurz zuvor Adele mit ihrer sog. ,Lacharie‘, die Einwände Eisensteins weggewischt und diesen der allgemeinen Lächerlichkeit preisgegeben hatte. Der hatte Adele in der von seiner Frau ,ausgeborgten‘ Abendrobe erkannt und spricht sie bei der offiziellen Vorstellung auch auf ihre Ähnlichkeit mit seinem Stubenmädchen an. Adele zeigt sich vor versammeltem Publikum, das einen Skandal wittert, beleidigt und erzwingt von dem vorgeblichen Marquis eine gestammelte Entschuldigung, die sie in ihrer Lacharie dann geschickt gegen ihn wendet:

EISENSTEIN. Nein, diese Ähnlichkeit!

ADELE.  Mit wem, mein Herr, mit wem?

EISENSTEIN. Mit ...meinem Stubenmädchen!

ORLOFSKY, FALKE (losplatzend). Hahaha!

ADELE. Ich einem Stubenmädchen ähnlich? Impertinent! Wollen Sie mich beleidigen?

EISENSTEIN. Beruhigen Sie sich! Das Stubenmädchen, dem Sie ähnlich sehen, ist ein reizendes, seltenes Exemplar, die Krone aller Stubenmädchen!
[...]

Couplet. Mein Herr Marquis (Adele)

ADELE. Mein Herr Marquis, ein Mann wie Sie
Sollt' besser das verstehn!
Darum rate ich, ja genauer sich
Die Leute anzusehn.
Die Hand ist doch wohl gar zu fein, ah,
Dies Füßchen so zierlich und klein, ah,
Die Sprache, die ich führe, die Taille, die Turnüre,
Dergleichen finden Sie bei einer Zofe nie!
Gestehen müssen Sie fürwahr,
Sehr komisch dieser Irrtum war.
Ja, sehr komisch, hahaha, ist die Sache, hahaha,
Drum verzeihn Sie, wenn ich lache, hahaha,
Sehr komisch, Herr Marquis, sind Sie.

ALLE. Ja, sehr komisch, hahaha, ist die Sache, hahaha!

ADELE. Mit dem Profil im griech'schen Stil
Beschenkte mich Natur.
Wenn nicht dies Gesicht schon genügend spricht,
So sehn Sie die Figur!
Schaun durch die Lorgnette Sie dann, ah,
Sich diese Toilette nur an, ah,
Es scheint mir wohl, die Liebe macht Ihre Augen trübe,
Der schönen Zofe Bild hat ganz Ihr Herz erfüllt!
Nun sehen Sie sie überall,
Sehr komisch ist fürwahr der Fall.
Ja, sehr komisch, hahaha, ist die Sache, hahaha,
Sehr komisch, Herr Marquis, sind Sie.
wenn ich lache, hahaha!

ALLE. Hahaha! Hahaha!

Eisenstein merkt, dass er sich blamiert hat, bläst entschlossen zum Rückzug und bittet um Gnade. Diese wird ihm von Adele großmütig gewährt; sie entlässt ihn allerdings mit der Mahnung, sich in Zukunft vor schönen Kammerzofen in Acht zu nehmen. Das beherzigt der unverbesserliche Schwerenöter sogar, allerdings auch nur insofern, indem er sich in der Folge an die ungarische Gräfin heranmacht, die er nicht als seine Frau erkennt, da sie sich in eine neue Garderobe geworfen hat und ihre Maske partout nicht fallen lässt. Für das Publikum im Theatersaal und einen Teil der Festgesellschaft ist klar, dass sein raffiniertes Werben mithilfe eines ganz speziellen und schon vielfach erprobten ,Köders‘ (einer hübschen Repetieruhr, die er seinen Opfern als Belohnung in Aussicht stellt), nur auf eine weitere Blamage hinauslaufen wird. Denn letztlich dient das ganze Arrangement des fürstlich-frivolen Festes, wie im weiteren Verlauf der Handlung enthüllt wird, nur dazu, Eisenstein öffentlich zu beschämen. Der große Drahtzieher im Hintergrund ist sein alter Kumpan Dr. Falke, der mit ihm noch eine Rechnung offen hat. Vor ein paar Jahren hatten die beiden einen Maskenball besucht, Eisenstein als Papillon und Falke in einem komischen Fledermaus-Kostüm. Damals hatte jener diesem einen üblen Streich gespielt, als er ihn bei der Heimfahrt sturzbetrunken an einem öffentlichen Ort ab- und dem Spott der Gesellschaft aussetzte. Seitdem sann Falke auf Revanche, während Eisenstein auf der Hut war.

Günstige Zufälle spielen nun Falke in die Hände. Da taucht ein blasierter russischer Prinz auf, der sich zu Tode langweilt, Geld wie Heu hat und Falke für das Versprechen, ihn zu amüsieren, die notwendigen Mittel für seine Intrige bietet. Eisenstein soll für eine Woche ins Gefängnis einziehen, weil er einen Amtsdiener beleidigt und geprügelt hat, und ist deshalb nur allzu schnell bereit, auf Falkes Einladung zu einem frivolen Fest bei Orlofsky einzugehen, um sich vor der Fastenzeit im Knast noch ein Extravergnügen zu gönnen. Dass der Gefängnisdirektor selber den als besonders renitent verschrienen Eisenstein in sein neues Domizil geleiten wollte, dabei aber einen Tick zu spät kommt, so dass er anstelle des richtigen Delinquenten nur noch Rosalindes Liebhaber im Schlafrock des Gatten erwischen kann, war nicht vorauszusehen, macht die Sache für Falke aber nur noch reizvoller. Rosalinde, Gefängnisdirektor, Kammerzofe, Ballettmädchen, Ausländer, Diplomaten, zwielichtige Adlige und andere vergnügungswillige Zeitgenossen folgen seiner Einladung zum fürstlichen Fest, um Zeugen seiner Vergeltungsaktion zu werden.

Der komplizierte Gang der turbulenten Handlung und die letztliche Auflösung der durchaus sichtbar gewordenen Konflikte und Bruchlinien im Gefüge gutbürgerlicher Verhältnisse müssen hier nicht nacherzählt werden. Am Ende hat die Festgesellschaft genug vom Spaß am Fremdschämen, Falkes Revanche ist gelungen und auch die Bilanz der ehelichen Verfehlungen zwischen Eisenstein und Rosalinde scheint ausgeglichen, nachdem man am Morgen den falschen Gatten im Gefängnis vorgefunden hat. Der Chor appelliert an Falke, es mit seiner Rache gut sein zu lassen („O Fledermaus, o Fledermaus, / Laß endlich jetzt dein Opfer aus.“) und zum Schluss stimmen alle begeistert dem Vorschlag Eisensteins und Rosalindes zu, allein dem Champagner die Schuld an allen Fehltritten und Verwirrungen zu geben:

Es sind viele Faktoren, die im Zusammenspiel, die herausragende Qualität dieser Operette ausmachen – der Witz der Dialoge, die stimmige Handlung nach den Gesetzlichkeiten eines Schwanks,4 die intelligent durchdachte und emotional mitreißende Komposition sowie viele Gelegenheiten für kreative Balletteinlagen, hier ein Beispiel:

Besonders gerühmt hat man an der Fledermaus immer ihre unnachahmliche Befähigung zur Evokation ausgelassener Festfreude, die bei einer guten Inszenierung über die Rampe schwappt, das Theaterpublikum erfasst und in die rechte gehobene Stimmung versetzt, einen Jahreswechsel zu feiern oder sich in den Karnevalstrubel zu stürzen …

Hans-Peter Ecker, Bamberg

1) Ein Csárdás ist zunächst ein traditioneller Tanz in Ungarn und einigen Nachbarländern, der verhalten beginnt, sich dann aber zu einem wilden Tempo steigert, wobei viele unterschiedliche Figuren improvisierend kombiniert werden. Die dazugehörige Volksmusik fand im 19. Jh. durch Franz Liszt ihren Weg in kunstmusikalische Gefilde.

2) Den Csárdás Klänge der Heimat hatte Strauß schon ein Jahr vor der Fledermaus komponiert; seine UA als leicht veränderte Gesangsfassung mit Orchesterbegleitung erfolgte im Herbst 1873 im Rahmen einer Wohltätigkeitsveranstaltung und war seinerzeit ein großer Publikumserfolg. Ich stelle mir vor, dass das damalige Konzertpublikum die Ungarn-Romantik ohne den Kontext der Fledermaus für bare Münze genommen hat.

3) La Réveillon, comédie en trois actes, 1872, der Autoren Henri Meilhac und Ludovic Halévy. Der Titel des Lustspiels bezieht sich auf den Heiligen Abend, der in Frankreich fröhlicher als in deutschsprachigen Ländern begangen und mit einem opulenten Festmahl gefeiert wird.

4) Das Genre des Schwanks ist nicht präzise einzugrenzen; aber bei vielen Schwänken geht es um ,Streiche‘, die sich Menschen gegenseitig spielen, wobei es im Sinne der ,poetischen Gerechtigkeit‘ dem Publikum in der Regel gut gefällt, wenn am Ende die ,Konten‘ ausgeglichen sind, also ein Angriff durch eine angemessene Revanche beantwortet wird.

Literatur:

Johann Strauß: Die Fledermaus. Operette in drei Aufzügen. Text nach H. Meilhac und L. Halévy von C. Haffner und Richard Genée. Hrsg. und eingeleitet von Wilhelm Zentner. Stuttgart: Reclam, 2009.     

Volker Klotz: Operette. Porträt und Handbuch einer unerhörten Kunst. Kassel: Bärenreiter, 2004.

Gescheiterte Gentrifizierung: Peter Blaikners Kinder-Musical „Das Hausgeisterhaus“ (UA Salzburg 1993)

Auftrittslied von Dschinn, dem weiblichen Flaschengeist, zu Beginn des 2. Bildes:

Regieanweisung: „Auf dem Dachboden, allerlei Gerümpel, eine Flasche. Dschinn, die Frau Flaschengeist, klettert aus der Flasche. Sie ist immer leicht angesäuselt, riecht nach Schnaps und ekelt sich davor.“

Der Yeti lebt am Dach der Welt,
im Kellerloch die Maus,
der Schnupfen in der Nase,
am Wuschelkopf die Laus.
Der Maulwurf lebt im Fußballfeld,
im Wasser der Delphin,
und ich muss in der Flasche leben,
völlig logisch, weil ich eben –
ein Flaschengeist bin.

Ein Bauer lebt am Bauernhof,
weil er ein Bauer ist,
ein Schüler in der Schule,
ein Mister auf dem Mist,
im Bienenstock die Bienen bei der Bienenkönigin,
und ich muss in der Flasche leben,
völlig logisch, weil ich eben – 
ein Flaschengeist bin.

Manche sagen, ich sei eine Flasche,
das find ich verlogen und gemein,
nur weil ich drin wohne,
drinnen esse, mich drin wasche,
muss ich doch noch lange keine sein.

Andre sagen, ich sei nur betrunken,
das find ich verlogen und gemein,
nur weil ich so rieche
wie ein Säufer in Spelunken, 
muss ich doch noch lange keiner sein. 

Bei Regen gibt es Pfützen,
bei Feier gibt es Rauch,
die Feuerwehr gibt Wasser,
um zu löschen, in den Schlauch.
Den Kindern gibt man Taschengeld,
den Autos Benzin,
und mir hat man den Schnaps gegeben,
völlig logisch, weil ich eben –
ein Flaschengeist bin.

Der Wurm lebt in der Erde,
ein Astronaut im All,
ein Esel auf der Wiese,
ein anderer im Stall,
ein Fremder lebt im Ausland,
ein Wiener lebt in Wien,
und ich muss in der Flasche leben,
völlig logisch, weil ich eben – 
ein Flaschengeist bin.

Willkommen zu Hause bei Dschinn.

     [Textquelle: Peter Blaikner: Meine Kinderstücke. Zum Nachlesen, Vorlesen und Selber-Spielen. Salzburg 2005, S. 91 f.]

Vor geraumer Zeit habe ich in diesem Blog den 1954 in Zell am See geborenen Peter Blaikner als einen der wichtigsten Vertreter des deutschsprachigen Chansons vorgestellt (vgl. „Schütze du mich vor dem Wasser …“), heute soll es um eine andere Facette des vielseitigen Musikers, Schriftstellers und Kabarettisten gehen – um seine ebenso witzigen wie unterhaltsamen Kinder-Musicals, die seit den frühen 1990er Jahren an Salzburger Bühnen kongenial uraufgeführt worden sind: Ritter Kamenbert (1991), Das Hausgeisterhaus (1993), Alex, die Piratenratte (1996), Astromaxx, der Sternfahrer (2000), Pommes Fritz und Margarita. Gemüsical für Kinder (2005), König Badeschwamm (2010). Dass ich mich letztlich für Das Hausgeisterhaus und die Arie von „Frau Flaschengeist“ als exemplarische Beispiele für meine Besprechung entschieden habe, lag nicht zuletzt an der bescheidenen Auswahl einschlägiger Videos bei YouTube.

Bei Liedern des Musiktheaters oder des Musik-Films ist es für das Verständnis meistens hilfreich, den narrativen Kontext zu kennen, obwohl der Fall gar nicht so selten ist, dass sich erfolgreiche Titel später emanzipieren und eine eigene Erfolgskarriere starten. Manchmal war auch zuerst ein besonders erfolgreicher Schlager da, zu dem man erst später einen Film mit einer entsprechenden Rahmenhandlung und vielleicht auch noch einer attraktiven Tanz-Choreographie gedreht hat, um den ursprünglichen Erfolg zu ,verlängern‘, d.h. so weit als möglich kommerziell auszubeuten. Solche Überlegungen spielen hier aber mit Sicherheit keine Rolle, denn Dschinns Lied bezieht seinen Sinn bzw. seine Funktion ganz und gar aus dem Kontext des Stücks. Es handelt sich dabei um eine klassische ,Auftrittsarie‘, mit Hilfe derer sich eine erstmals in Erscheinung tretende Bühnenfigur selbst vorstellt.   

Wie ganz oben vermerkt, beginnt mit dem Auftritt des Flaschengeists das zweite Bild des Stücks. Dem Publikum ist vom ,1. Bild‘ her die zentrale spannungs- und handlungsstiftende Problematik bereits bekannt: Es geht um einen konkreten Fall von ,Gentrifizierung‘, der anschaulich auf den Verständnishorizont von Kindern heruntergebrochen worden ist. Frau Berger, eine ältere Dame, bewohnt ein Haus, das einstmals von ihrem Ur-Ur-Urgroßvater „eigenhändig“ erbaut worden ist und inzwischen erkennbar in die Jahre gekommen ist.  Dem Bürgermeister, einem großen Modernisierer und fanatischen Anhänger der Betonbauweise, ist es ein Dorn im Auge, blockiert es doch seinen Plan, auf dem Grundstück einen „Ultra-Maxi-Mega-Mammut-Supermarkt mit den teuersten und besten Produkten, die man sich nur vorstellen kann“, zu errichten, selbstverständlich aus „solidem, sicheren Stahlbeton“. Also besucht er Frau Berger, um sie zum Verkauf ihres Hauses zu überreden. Sein Angebot klingt in der Tat verlockend, bietet er ihr als Tauschobjekt doch eine „brandneue Luxuswohnung“ in bester Ortslage. Zur Unterstützung hat er seinen Gemeindesekretär mitgebracht, der seine Phrasen echoartig wiederholt und jedem, der es hören will oder auch nicht, verkündet, dass ein Bürgermeister immer und grundsätzlich im Recht sei. Im Übrigen bilden Bürgermeister und Gemeindesekretär ein clowneskes Gespann in der Nachfolge von Dick und Doof oder Weißclown und dem Dummen August.

Ob Peter Blaikner die seit 1985 in der Theaterscheune Mäulesmühle (Leinfelden-Echterdingen bei Stuttgart) gespielten Sketche von Karlheinz Hartmann als Bürgermeister und Albin Braig als seinem schlitzohrigen Amtsboten Hannes bei der Konstruktion seines lustigen Paares bekannt gewesen sind, entzieht sich meiner Kenntnis. Themen und Charaktere sind zwar durchaus unterschiedlich konzipiert, aber hinsichtlich des hierarchisch angelegten Verhältnisses der Rollen, ihres komödiantischen Potentials und den daraus erwachsenen strukturellen Impulsen für die Komödienhandlung, die in aller Regel auf eine Umkehr oder wenigstens Abschwächung des Machtverhältnisses hinausläuft, eben doch vergleichbar. (Vgl. hier)

Obwohl Frau Berger noch emotional an ihrem alten Haus hängt, lässt sie sich von dem gewieften Bürgermeister einwickeln. Man verabredet sich zu einem Arbeits-Frühstück am nächsten Morgen, um die letzten Details zu klären und den Handel perfekt zu machen. Unsichtbare Zeugen des ganzen Vorgangs, wenigstens für die menschlichen Akteure auf der Bühne, waren die beiden Hausgeister Sir Hämmerling und Lord Kielkropf. Für sie wäre der Abriss der alten Hütte eine existentielle Katastrophe, denn in den „modernen Betonschachteln“ bliebe ihnen im Wortsinne die Luft weg. Nach dem Austausch einiger Eifersüchteleien setzt sich die Erkenntnis durch, dass die Not groß ist und außerordentliche Maßnahmen getroffen werden müssen. Ihre erste Idee läuft darauf hinaus, den Bürgermeister und seinen Sekretär zu vergraulen, und sie wissen auch schon, wie das zu bewerkstelligen wäre, haust doch auf dem Dachboden ein weiblicher Flaschengeist in einer übelst stinkenden Schnapsflasche. Könnte man diesen Dschinn zum Umzug in die gute Stube der Frau Berger bewegen, würde ihr Gestank die ungebetenen Eindringlinge sicher vertreiben …

Nach einem Duett der beiden Hausgeister, worin sie sich bitterlich darüber beklagen, dass in einer Welt, in der ansonsten jeder und alles abgesichert und beschirmt ist, einzig Hausgeister ohne Schutz und Hilfe allein zurecht kommen müssen, hat endlich Frau Flaschengeist ihren großen Auftritt. Sie stellt sich einem jungen Publikum, das vielleicht noch relativ wenig Erfahrungen mit Flaschengeistern sammeln konnte, so vor, als wäre es die normalste Sache von der Welt, das Leben in einer Flasche zuzubringen, wenn man nun einmal – von wem auch immer – dazu bestimmt worden ist, die Existenz eines Flaschengeists zu führen.    

Das Auftrittslied von Dschinn besteht aus vier längeren Versblöcken (zu mehrheitlich neun Zeilen) und zwei dazwischen gesetzten kürzeren Einheiten zu jeweils fünf Versen. Dazu kommt noch ein einzelner Schlussvers – der Willkommensgruß. Dass der zweite Versblock nur acht Zeilen statt neun zählt, führe ich auf ein Versehen bei der Drucklegung zurück; wenn man nämlich den überlangen fünften Vers hinter „Bienen“ gebrochen hätte, wäre ein ,normaler‘ Versblock zu 9 Zeilen entstanden. Für diese These spricht m.E. besonders stark, dass sich durch diese Zeilenbrechung eine schöne Lautkorrespondenz aller sechsten Verse der längeren Versblöcke ergeben hätte: Delphin – Bienenkönigin – Benzin – Wien. Inhaltlich gibt Frau Flaschengeist in den längeren Versblöcken über sich selbst Auskunft, während sie sich in den kurzen mittleren Abschnitten damit auseinandersetzt, was die Leute ihr nachsagen. Dieses Verfahren, neue Bühnencharaktere sowohl durch Selbst- als auch durch Fremdcharakterisierungen einzuführen, könnte einem Lehrbuch für Stückeschreiber entnommen sein.

Frau Flaschengeists Auftrittslied erfüllt – mindestens – folgende Aufgaben: Erstens erweitert es das Wissen des Publikums über Geister, genauer gesagt: über die von Peter Blaikner für sein Kinder-Musical erdachten Geister, um einen neuen Typus. Sodann arbeitet es daran, die Vorstellung plausibel erscheinen zu lassen, dass jemand sein Leben tatsächlich in einer Flasche zubringt. Weiterhin wirkt es zwei Vorurteilen entgegen, denen die Hausgeister offenkundig anhängen: dass Dschinn eine ,Flasche‘ im Sinne einer unfähigen Person und dazu auch noch eine ,Säuferin‘ sei, die man allenfalls dazu gebrauchen könne, unliebsame Gäste zu vergraulen. Vgl. den Dialog der beiden vor ihrem Besuch auf dem Dachboden:

Kielkropf: Die alte Schnapsdrossel ist immer nur betrunken, lallt vor sich hin und stinkt nach einer Flüssigkeit, die man Schnaps nennt.
Hämmerling: Wenn wir sie samt ihrer Flasche hierher tragen, verbreitet sie einen dermaßen schlechten Geruch, dass der Bürgermeister und sein Sekretär schnellstens das Weite suchen. 

Indem Dschinn die über sie kursierenden Vorurteile entschieden von sich weist, gibt ihr Lied auch Hinweise auf den weiteren Handlungsverlauf, worin sie bald beweisen kann, über wertvolle Objekte und Kompetenzen für die anstehende Problemlösung zu verfügen. Außerdem klingt schon an, was der anschließende Dialog noch konkretisieren wird, dass sie nämlich absolut keine Alkoholikerin ist, sondern die üble Schnapsflasche lieber heute als morgen gegen eine feinere ,Wohnung‘ eintauschen würde. Das Happy End wird sie in dieser Hinsicht mit einer Parfümflasche glücklich machen … Zur Komik des Stückes trägt bei, dass Frau Flaschengeist ihrerseits nicht frei von Vorurteilen ist; die Hausgeister verwechselt sie im späteren Dialog  mit Hausmeistern, denen sie sich meilenweit überlegen fühlt: „Fürchtet euch, ihr kümmerlichen Würmer, erzittert vor der großen Dschinn und winselt um Gnade!“ Wie auch immer, man rauft sich schnell zusammen, zumal von ,draußen‘ ein neuer und völlig fremder Geist (Brownie) auftaucht, dem man als verschworene Hausgemeinschaft entgegentreten will.

Die Kostümierung der Flaschengeist-Darstellerin verweist ebenso wie die Melodie auf einen orientalischen Migrationshintergrund. Peter Blaikner bzw. seine Darstellertruppe kommunizieren mit ihrem ausgesprochen gemischt zusammengesetzten Publikum auf mehreren Ebenen zugleich: Ihnen ist stets bewusst, vor kleinen wie deutlich älteren Kinder zu spielen, zugleich aber auch vor deren erwachsenen Begleitpersonen. Alle wollen angesprochen und unterhalten werden. Der jüngste Teil des Publikums begegnet einem Flaschengeist vielleicht zum allerersten Mal, die Älteren werden den Figurentypus aus den Erzählungen von Tausendundeiner Nacht –in welcher Bearbeitung auch immer – kennen, und manche Theaterbesucher erinnern sich vielleicht noch sehr gut an die populäre US-amerikanische Fernsehserie Bezaubernde Jeannie (139 Folgen, ab 1965 in den USA, ab 1967 auch hierzulande ausgestrahlt). Dank ihres großen Erfolges wurde diese Serie auf mehreren TV-Sendern bis in die 2000er Jahre hinein wiederholt. In Blaikners Text können Fans der Serie so manche Anspielung auf Jeannies Redewendungen entdecken und auch bei der Ausstaffierung von Frau Flaschengeist scheint Barbara Eden, die Darstellerin des ebenso liebenswürdigen wie eigensinnigen Fernseh-Dschinns, Pate gestanden zu haben.

So ,tief‘ und vielschichtig Blaiker seinen Flaschengeist angelegt hat, so sehr spart er sich – zum Glück! – jegliche Bildungshuberei bezüglich der Genese dieser Figur in der orientalischen Erzähltradition und ihrer kompliziert-verzweigten literaturgeschichtlichen Rezeption im Abendland. Ich will ihm in dieser löblichen Askese folgen, da es für unser Lied schlicht unerheblich ist, etwas über die Rolle der ,Verborgenen‘ im islamischen Glauben oder die Systematik der Geistwesen in verschiedenen Kulturen zu erfahren – obwohl ich durchaus davon ausgehe, dass sich Blaiker einschlägig schlau gemacht und besagten Geister-Diskurs als Ideen-Steinbruch für sein Stück ausgebeutet hat.

Was ihm für sein Kinder-Musical, das ja niemanden verängstigen soll, offensichtlich am Herzen lag, ist der Ausschluss spukender Totengeister. Auf die Grenze zwischen ,Geistern‘ und ,Gespenstern‘ legt er großen Wert: Geistern ist es streng versagt, „die Menschen so lange zu erschrecken, bis sie sich vor lauter Furcht in die Hosen machen“:

Man darf sie nicht erschrecken,
man darf sie aber necken,
sie ärgern und vor allem
ihnen auf den Wecker fallen.

Damit ist eine wichtige Grenze gesetzt, die in der Folge von den Haus-, Flaschen- und Naturgeistern, die sich nach und nach zusammenfinden, um die Katastrophe abzuwenden, auch nicht überschritten wird. Obwohl die angewandten Methoden nach dem zitierten Geistergesetz nur relativ harmlose Eingriffe in die Welt der Menschen erlauben, haben sie als ,konzertierte Aktionen‘ schließlich Erfolg, besonders nachhaltig, als Brownie, ein heimatvertriebener Hausgeist, seine Tante Voodoo (Naturgeist) mit tatkräftiger Unterstützung Dschinns aus dem Dschungel einfliegt. Die verfügt neben etlichen anderen Talenten übrigens auch noch über spezielle Zauberpillen, die es Menschen erlauben, Geister leibhaftig sehen zu können. Wären die Theaterleute nicht so clever gewesen, jeder Eintrittskarte gleich noch eine von Tante Voodoos Zauberpillen beizulegen, hätte das Publikum sowieso nur das halbe Vergnügen an der Aufführung gehabt …

So steht schließlich dem Happy End nichts Entscheidendes mehr im Wege: Tante Voodoo suggeriert der schlafenden Frau Berger – mit Unterstützung aller Kinder im Publikum, die kräftig mitsingen müssen, – dass sie ihr altes Haus nicht verkaufen will. Diese Manipulation gelingt, so dass die alte Dame den Bürgermeister am nächsten Morgen eisern abblitzen lässt. Den subalternen  Gemeindesekretär, der auch eine Wunderpille abkriegt, heilt Tante Voodoo mit Küssen von einem peinlichen Sprachfehler, worauf dieser ein neuer Mensch wird, in Liebe entbrennt und entschlossen ist, ihr in den Dschungel zu folgen. Der umtriebige Brownie organisiert für die beiden Tropenhelme, weil es im Dschungel permanent Kokosnüsse regnet, und für Frau Flaschengeist eine Parfümflasche mit Rosenblütenduft. Dschinns Solo-Strophe im großen Finale:

Schon vergessen und vergangen
ist die Schnapsvergangenheit,
und ich wandle voll Verlangen
in die Rosenblütenzeit.

Frau Berger lernt – natürlich ebenfalls dank einer Wunderpille – ihre Hausgeister persönlich kennen, adoptiert sie und sichert deren Zukunft per Eintrag beim Grundbuchamt. Diese haben dann noch einen guten Ratschlag für ihr Publikum:

Lasst euch nie die Hoffnung rauben,
Wenn das Unglück nach euch schielt,
ihr müsst nur an Geister glauben,
an die Geisterhäuser glauben,
an die guten Geister glauben,
dann ist alles halb so wild.

Ein Kinder-Musical, das begeistert!

Alle Zitate nach Peter Blaikner: Meine Kinderstücke (2005).

Hans-Peter Ecker, Bamberg

Gar nicht blöde. Das kluge „Lied vom dummen Reiter“ aus Franz Lehárs „Die lustige Witwe“ (1905, Libretto Victor Léon und Leo Stein)

Anlässlich der Neuproduktion von Die lustige Witwe am Nationalteater Mannheim in der Spielzeit 2014/15, allen Beiteiligten gewidmet.

Victor Léon/Leo Stein

Lied vom dummen Reiter

[Hanna:] Heia, Mädel, aufgeschaut, guck die schmucken Reiter.
Nimmt dich einer wohl zur Braut oder sprengt er weiter?
Heia, Mädel, laß’ ihn nicht, kann als Mann dir taugen!
Guck ihm keck nur ins Gesicht, blitz’ mit deinen Augen!
Mädel zeigt, trotzdem sie schweigt, daß sie sich in Lieb’ ihm neigt!
Dummer, dummer Reitersmann, der mich nicht verstehen kann!
Dummer, dummer Reiter, reitet, reitet weiter! Dummer, dummer Reitersmann!
Hoplahot und hoplaho! Hoplahot und hoplaho!
Dummer, dummer Reiter, reitet, reitet weiter. Dummer, dummer Reitersmann!
Heia, Reiter kehrt zurück, hopp, sein Pferdchen tänzelt,
wie er jetzt mit seinem Blick, bittet und scharwenzelt!
Mädel kümmert sich nicht drum, hüpft und summt ein Tänzchen.
Reiter, du warst gar zu dumm, doch ich bin kein Gänschen!

[Danilo:] Reiter guckt und Reiter lacht,
willst du nicht, nun dann gut’ Nacht.
Mädel, Mädel meiner Wahl, ich komm’ nicht ein zweites Mal!

[Hanna:] Dummer, dummer Reitersmann, der mich nicht verstehen kann!
Dummer, dummer Reiter, reitet, reitet weiter! Dummer, dummer Reitersmann!
Hoplahot und hoplaho! Hoplahot und hoplaho!
Dummer, dummer Reiter, reitet, reitet weiter. Dummer, dummer Reitersmann!

[Danilo:] Kluger, kluger Reiter, reitet, reitet weiter. Kluger, kluger Reitersmann.

[beide:] Hoplahot und hoplaho! Hoplahot und hoplaho!

[Hanna:] Dummer, dummer Reiter, reitet, reitet weiter. Dummer, dummer Reitersmann!

[Danilo:] Kluger, kluger Reiter, reitet, reitet weiter. Kluger, kluger Reitersmann.

[Hanna:] Dummer, dummer Reiter, reitet, reitet weiter, dummer, dummer Reitersmann!

 

„Die Menschheit verblödet zusehends. […] Es ist festgesetzt worden, daß, wenn die Welt untergeht, noch einmal ‚Dummer, dummer Reitersmann’ gespielt wird. Es handelt sich nicht um ein lokales Symptom, in allen Zentren der europäischen Kultur geht die Verendung mit rauschenden Erfolgen der Lustigen Witwe und des Walzertraums Hand in Hand.“ (Karl Kraus: Vorurteile. In: Die Fackel, Nr. 241, 15. Januar 1908, Wien, zitiert nach Norbert Linke: Franz Lehár. Reinbeck: Rowohlt 2001, S. 146.)

Das Zitat von Karl Kraus verrät viel über die zeitgenössische Rezeption von Franz Lehárs Operette Die lustige Witwe (1905), der auch das von ihm so polemisch angeprangerte Duett „Dummer, dummer Reitersmann“ entstammt. Bei der Operette von Franz Lehár, Viktor Léon und Leo Stein handelte es sich zu Beginn des 20. Jahrhunderts in der Tat nicht um ein lokales Phänomen. Die lustige Witwe, Paradebeispiel für die moderne Salonoperette, wurde als The Merry Widow am Broadway ebenso gespielt wie in London, den Kolonien des britischen Empire und in Asien. Sie war ein weltweiter Kassenerfolg und es gab Witwenmerchandise en masse: von flamboyanten Hüten bis hin zu einem Merry Widow Cocktail (für die Zutaten s. www.musicals101.com). Aus heutiger Sicht ist Lehárs Witwe und ihr umfassendes branding vielleicht am besten zu vergleichen mit Andrew Lloyd Webbers Musicalerfolg Cats und dessen weltweiter Vermarktung, kondensiert im Wiedererkennungswert des Logos der gelblichen Katzenaugen mit felinen Tänzern als Pupillen. Lehár und seine Librettisten haben mit der Lustigen Witwe um 1900 eine ähnliche kommerziell erfolgreiche, internationale Marke geschaffen und damit eine Blaupause für ein weltweit florierendes Musiktheaterbusiness, oder, wie Kraus es dekadent beschreibt, für die geordnete kulturelle Apokalypse der westlichen Bildungsgesellschaft.

Mag der „Dumme Reitersmann“ aus Sicht des zeitgenössischen Kulturkritikers Kraus auch als allgegenwärtiges Mahnmal menschlicher Verblödung gewertet worden sein, mit historischem Abstand unvoreingenommen besehen erscheint der Text hingen als sehr kluges Spiel mit (Geschlechter-)Konventionen. Kulturgeschichtlich schlägt sich in der Konzeption der Sprechsituation das Aufkommen eines weiblichen Selbstbewusstseins im 19. und 20. Jahrhunderts nieder: Die Sprecherin kann man als Version der neuen Frau lesen, die den Kampf mit einer bräsigen Männerwelt aufnimmt und für Selbstbestimmung kämpft. So ist die Sprecherin des Liedes eine souveräne Suffragette, die es ganz unverhohlen wagt, die Superiorität eines ererbten männlichen Rollenmusters in Frage zu stellen und es keck zu degradieren. Diese Lesart des Liedes passt zu weiteren Textzeilen aus der Lustigen Witwe. Im Handlungsfinale des 1. Aktes beispielsweise („Damenwahl“) werden Frauenbewegung und Frauenwahlrecht explizit thematisiert.

Im Handlungskontext der Operette fungiert das Lied als spannungsgeladenes Liebesduett und ist mit seiner Reiterthematik auch in diesem Sinne eine metaphorische Auseinandersetzung der Geschlechter, des Primarierpaars Hanna Glawari und Graf Danilo Danilowitsch. Chiffriert in der Reiterthematik verhandeln die beiden in diesem gesungenen Rededuell ihre gemeinsame Vorgeschichte und gegenseitigen Enttäuschungen. Infolge mehrfacher inhaltlicher Verstrickungen mag der stolze Reitersmann Danilo dem Mädel seiner Wahl seine Liebe nun einfach nicht mehr gestehen. Hanna findet das gar zu dumm. Geschickt verkehrt der Text durch ein Spiel mit konventionellen Beiworten die Gender-Hierachien in diesem ehrenrührigen Gesangsduell. Im Umkehrschluss: Hinter der Aussage vom dummen Reitersmann steckt eine kluge und selbstbewusste, stolze Frau. Die lustige Witwe steht damit als weltweiter Erfolg nicht nur am Anfang eines Jahrhunderts der unterhaltenden Massenmedien, sondern propagiert auch ein modernes Frauenbild und trägt es mit seinen Schlagern in die entlegensten Gassen der Welt.

Im ausgehenden 19. Jahrhundert, ob in Preußen oder der Donaumonarchie, ist ein Reitersmann ein stolzer Repräsentant einer patriarchal-militaristischen Weltordnung. Auf seinem hohen Ross wird er wohl von so manch einem Mädel mit glänzenden Augen bewundert worden sein. Das stolze Auftreten gründet, unter anderen, in einem gesellschaftlich normierten und sich in sprachlichen Assoziationen niederschlagenden Ehrenkodex. Der Reitersmann kann zudem, womit das Lied auch spielt, als ein Sexsymbol des 19. Jahrhunderts betrachtet werden. Militärischer Dienst macht(e) Männer attraktiv: Neben austrainierten Körpern in schmucken Uniformen verspricht der Wehrdienst einen angesehenen Platz in der Gesellschaftsordnung – mit Aufstiegschancen. Nicht ohne Grund findet Marie im Woyzeck (1837, im Druck 1879 erschienen) einen Tambourmajor spannender als ihren armen Söldner. Der Seitensprung ist auch bei Fontanes Weltroman Effi Briest (1894) durch Major von Crampas mit einem stattlichen Militaristen besetzt.

Im Jagdkontext nimmt ein Reitersmann automatisch eine überlegene Stellung zu seiner Beute ein, auch wenn diese Ordnung in Goethes Novelle (1828) bereits unterwandert wird. Die sexuellen Konnotationen eines reitenden Mannes lassen wir jetzt mal weg (für Interessierte vgl. die Interpretation zu Dschingis Khan in diesem Blog). Natürlich finden sich in der Literatur auch soldatische Antihelden, die ein stolzes Militärbild konterkarieren. Im Figurenbestand des Schelmenromans bewahren sich diese cleveren Hanswurste. Zu Beginn des 20. Jahrhunderts, gerade auch vor dem Hintergrund des Ersten Weltkriegs, behalten diese Figuren ihre Aktualität. Der brave Soldat Schwejk (ab 1920) von Jaroslav Hasek zum Beispiel betrachtet die Welt nicht edel von oben herab, sondern schelmisch von unten. Dumm ist das nicht.

Diese Traditionslinien im Sinn, erscheint die Exposition des Liedes vom Reitersmann zunächst nicht sonderlich überraschend. Mit der ersten Strophe präsentiert Hanna eine im Rahmen der Militär- und Reiterkultur gängige Rollenverteilung. Ein Mädchen guckt sich einen bewunderten Reiter als potentiellen Ehemann aus:

Heia, Mädel, aufgeschaut, guck die schmucken Reiter.
Nimmt dich einer wohl zur Braut oder sprengt er weiter?
Heia, Mädel, laß’ ihn nicht, kann als Mann dir taugen!
Guck ihm keck nur ins Gesicht, blitz’ mit deinen Augen!
Mädel zeigt, trotzdem sie schweigt, daß sie sich in Lieb’ ihm neigt!

Das einführende Adjektiv („schmuck“) passt zum stolzen Reitersmanntopos. Die folgende Frage geht von einer wählerischen Aktion des Mannes aus: Nimmt dich einer? Allerdings ist das Mädchen hier schon schlauer, in jedem Falle selbstbewusster, als ihr Schweigen und ihre unterworfene Position annehmen lassen. Die Sprecherin rät: „Guck ihm keck nur ins Gesicht“. Das am Boden, räumlich-hierarchisch also unterhalb des Reiters stehende Mädchen scheut sich nicht, Blickkontakt aufzunehmen. Sie wendet ihre Augen nicht aus Verlegenheit ab, sondern nimmt das Liebesduell der Blicke auf und schöpft damit im konventionellen Rahmen ihrer Möglichkeiten ihr Aktionspotenzial („lass’ ihn nicht“) aus. Auf die Handlung der Lustigen Witwe bezogen exponiert Hanna in diesem Balladenanfang ein Gleichnis für ihre und Danilos Liebessituation, das sich im Folgenden in der Reiter/Mädel-Beziehung fortspinnt. Dabei spielen Blicke eine wichtige Rolle.

Die zweite Strophe erzählt die Geschichte weiter. Bei der ersten Begegnung ist der Reiter weitergeritten und hat das Mädchen (wie Danilo Hanna in der Operettenhandlung) nicht zur Frau genommen. Das Mädel musste ihn lassen, obwohl es nicht wollte. Doch anstelle aus dieser wörtlichen Abfuhr einen Knacks für ihr Selbstbewusstsein davonzutragen, scheint das Mädel gestärkt aus der Situation hervorgegangen zu sein. Es ermächtigt sich der konventionellen Beiworte und gibt seine eigene Einschätzung. Hanna dreht den hierarchischen Spieß um. Sie ist eben kein dummes „Gänschen“ wie sie provokant-trotzig formuliert, sondern schiebt den Mangel an Intelligenz dem Reitersmann zu, der nicht erkannt hat, an was für einer Frau er da vorbeigeritten ist. Beeindruckendes, stolzes Verhalten sieht anders aus. Bei einem erneuten Aufeinandertreffen mag der Reiter nun mit seinem Pferdchen einen Balztanz vollführen, wie er will, es nützt nichts. Weggegangen, Platz vergangen:

Heia, Reiter kehrt zurück, hopp, sein Pferdchen tänzelt,
wie er jetzt mit seinem Blick, bittet und scharwenzelt!
Mädel kümmert sich nicht drum, hüpft und summt ein Tänzchen.
Reiter, du warst gar zu dumm, doch ich bin kein Gänschen!

Die Angebetete hat auch ihren Stolz. Im Duell der Blicke ergreift nun der Berittene die Initiative, doch das Mädel kümmert sich nicht drum, ist Frau genug, um den Flirtattacken des Reitermanns standzuhalten, mögen diese auch betont unterwürfig sein. Im Refrain wird die weibliche Sprechinstanz dann auch nicht müde, ihr stolzes Urteil zu wiederholen: Sie hat es mit einem furchtbar dummen, dummen Reitersmann zu tun.

Daraufhin muss sich der Reitersmann (mit der Stimme von Danilo) in der dritten Strophe dann doch zu Wort melden. Leicht beleidigt versucht er seine Überlegenheit wieder herzustellen und weist die Anschuldigung der Dummheit vehement zurück: „Reiter guckt und Reiter lacht, willst du nicht, nun dann gut’ Nacht./ Mädel, Mädel meiner Wahl, ich komm’ nicht ein zweites Mal!“ Der Danilo-Reiter stellt die Situation richtig. Er stehe ja gar nicht ein zweites Mal als tauglicher Ehemann zur Verfügung. Mit Blick auf die Operettenhandlung ist aus seiner Sicht er der Gekränkte, da Hanna als die lustige Witwe ja ebenfalls weitergezogen ist und mit einem anderen ins Abendrot geritten. Allerdings zeigt schon die Textverteilung ganz klar, wer von den beiden das Gesangsduell gewonnen hat, mag Danilo auch verzweifelt nachkarten. Die Mädel-Sprecherin singt mehr als zwei Drittel des volksliedhaften Hoppe-Hoppe-Reigens und hat dazu das letzte Refrainwort: „Dummer, dummer Reiter, reitet, reitet weiter, dummer, dummer Reitersmann!“ Da kann der Reitersmann noch so trotzig dagegen singen, dass er doch ein „kluger, kluger“ sei.

Kulturgeschichtlich spannend sind neben dem cleveren Spiel der Librettisten mit Gender-Konventionen auch die wohl augenzwinkernd-halbbewussten Verweise auf die Tanzkultur zu Beginn des 20. Jahrhunderts. So läuft zwischen Hanna und Danilo nicht nur ein metaphorisches Rededuell ab, sondern gleichzeitig auch eine neckische Choreographie von Pferd und Gänschen („Reiter […], sein Pferdchen tänzelt / Mädel […] hüpft und summt ein Tänzchen./“). In der Freizeitkultur um 1900 waren Tanzveranstaltungen ein ritualisiertes Gesellschaftsspiel, das zu Zeitvertreib und Partnerwahl gleichermaßen betrieben wurde. In Salons und Tanzlokalen boten sich stillschweigend Möglichkeiten der körperlichen Annäherung und des Austauschs von vielsagenden Blicken (!) bei gleichzeitiger Wahrung von Sittsamkeit und Etikette. So kann ein Mädel, „trotzdem sie schweigt“, zeigen, „dass sie sich in Lieb’ ihm [ihrem Tanzpartner] neigt“ – im ¾-Takt des Walzers beispielsweise. Auf dieser getanzten Version der Partnerbörse versuchte so manche ausgebrannte Dame sich einen reichen Mann zu angeln oder umgekehrt. Die immensen Rücklagen der 20-Millionen schweren Witwe Hanna Glawari befreien die Titelheldin aus Lehárs Operette von finanziellen Tanzinteressen dieser Art und geben ihr Wahlfreiheit. Damit ist Hanna als Frau, die nach ihren eigenen Regeln tanzen kann, zeitgenössische Identifikationsfigur für ein neues städtisches und kapitalistisches Publikum, aber auch selbstbestimmte Sehnsuchtsfigur für Frauen, die finanziell von ihren (stolzen?) Männern abhängig sind. Ganz materiell gesprochen: Diese Frauen können sich in der Realität Selbstbestimmung schlichtweg nicht leisten.

Elegant sind die tagesaktuellen Themen weibliches Selbstbewusstsein, Kapitalgesellschaft und Tanzkultur um 1900 im Libretto der Lustigen Witwe verwoben und bis auf die Liedtextebene nachvollziehbar. Kulturgeschichtlich lässt sich der Erfolg der Operette einmal mit dem gestärkten Rollenbewusstsein ihrer weiblichen Titelheldin erklären, aber auch mit ihrer Konzeption als moderner Tanzoperette. Lehár komponierte in seinen Musiknummern ein Spektrum an Tänzen, von zeitgenössischen Wackeltänzen bis hin zu folkloristischen Walzern. Der Komponist schrieb damit für eine mehr und mehr ethnisch und kulturell gemischte Welt, für ein internationales Publikum. Den Librettisten schien ebenfalls an einer universal verständlichen Sprache gelegen zu sein. Die vielen lautmalerischen Reiter- und Pferd-Einwürfe und der von vielen Wiederholungen geprägte Refrain bezeugen diese Tendenz im Text. Das kann aus kulturkritischer Sicht den Vorwurf der sprachlichen Effekthascherei und Ver-da-da-dummung mit sich bringen. Der Inhalt oder – frei nach Kraus ausgedeutet – der textlichen Gehalt werden da für eine kritische Betrachtung schnell abgetan, ebenso wie die tänzelnde Musikalität eines solchen sprachlichen Spiels mit Rhythmen und Lauten.

Die hier vollzogene Neubetrachtung des Reiterduetts aus der Lustigen Witwe allerdings hat gezeigt, dass sich eine aufmerksame Lektüre des Textes lohnen kann, ob man ihn nun als proto-feministische Ballade oder modernes Zeitdokument (vgl. hierzu auch Christian Marten: Die Operette als Spiegel der Gesellschaft. Frankfurt: 1988) versteht. Wenn überhaupt, stellt der „Dumme Reitersmann“ die Verblödung der männlich-dominierten Gesellschaft aus, auf keinen Fall aber die einer – sehr klugen – Weiblichkeit und ihrer gewitzt fürsprechenden Librettisten. Diese haben erkannt, dass das Jahrhundert der Frau angebrochen ist. Da noch stolzierende Reitersmänner zu besingen, das wäre doch gar zu dumm. Und da für stolze Frauen zu texten, gar nicht blöde. Hoplaho!

Florian Seubert, Mannheim