Wieder nichts los heute. Gedanken zu „Was so alles geschieht in der Carnaby Street“ (1969) von Peggy March (Komponist: Henry Mayer, Texter: Hans Bradtke)

Peggy March 

Was so alles geschieht in der Carnaby Street (Text: Hans Bradtke)

Was so alles geschieht in der Carnaby Street
Und ein Carnaby Boy spielt auf seiner Guitar
Für die Leute ein Lied in der Carnaby Street
Was so alles geschieht, ja die Girls und die Boys
Kommen raus aus dem Haus
Denn sie hören den Beat in der Carnaby Street

Allen geht der Beat in die Beine
Und die Melodie geht ins Ohr
Ja und alle denken das eine
Das gibt es nur in der Carnaby Street
Was so alles geschieht in der Carnaby Street
Ja die Girls und die Boys
Alle pfeifen das Lied in der Carnaby Street
Was so alles geschieht in der Carnaby Street
Unser Carnaby Boy spielt mit seiner Guitar
Nun auf Platten die Hits aus der Carnaby Street

Was so alles geschieht
Ja die Girls und die Boys zahlen gerne den Preis
Und sie kaufen den Hit aus der Carnaby Street

Allen geht der Beat in die Beine
Und die Melodie geht ins Ohr
Ja und alle denken das eine
Das gibt es nur in der Carnaby Street
Was so alles geschieht in der Carnaby Street
Ja bei Tag und bei Nacht
Pfeiffen alle den Hit auf der Carnaby Street

     [Peggy March: Happy End Im Hofbräuhaus / In Der Carnaby Street. Decca 1969.]

Die literarisch-ästhetische Geschichte der Moderne im 20. Jahrhundert hat viel mit Illusion und Desillusion zu tun, mit Posern und Sich-Entlarvt-Fühlenden. In seiner radikalsten Form sieht man das wohl heute auf den diversen sozialen Medien-Plattformen. Da gibt es Bilder, in denen eine braungebrannte Person vor einer in Schnee erstrahlenden Berglandschaft steht, oder eine andere Person mit Hund im wundervoll-blauen Meer herumhüpft. Das alles sieht dann perfekt aus, irgendwie bunt und irgendwie so cool, dass man das dann auch gerne möchte (vielleicht). Und dann fährt man zur glitzernden Eislandschaft, und findet dort Tauwetter (das seit ungefähr zehn Jahren herrscht, die Schneekanonen waren natürlich nicht im Bild, fein säuberlich rausediert). Oder man fährt ans Meer (ohne Hund) und findet dort, links und rechts des Bildrands, Kräne vor in der Ferne und wolkenverhangene Klimaextreme.

Das Ganze ist freilich keine neue Einsicht, dass die abgebildete Realität hinter der Abbildung oft wenig mit dem zu tun hat, was man sehen gemacht wird, ja zumeist in dieser Form gar nicht existiert. Der französische Philosoph Jean Baudrillard hat die radikalste Form dieser künstlich erzeugten Kopien ohne real vorhanden Ursprung Simulacrum genannt. In der amerikanischen Literatur ist die große Entzauberung abseits der sozialen Bühne Thema vieler Romane, Filme und Theaterstücke. Fitzgeralds Gatsby mag deswegen so eine große Renaissance erfahren, weil er die existenzielle Crux personifiziert, dass, selbst wenn das perfekte Bild mit viel persönlichem und finanziellem Aufwand dann erzeugt ist, man auch nicht wirklich aller Probleme des Lebens ledig ist.

Style over stubstance, also hippes Aussehen über das Tiefgründige zu stellen, ist – vor allem in Jugendkulturen – ein wichtiges Identitätsmerkmal, oder Teil von deren Performanz. Das ‚Posen‘ (also das sich Darstellen) hat hier vielleicht seine unterschwellige Kritik in jüngerer Zeit verloren. Als ich noch zur Schule ging, war ein Poser jemand, der vielleicht zu sehr darum bemüht war, nach Außen einen überkandidelten Eindruck zu machen. Heute sind wir wohl alle auf die eine oder andere Weise Posende, und keine findet es mehr ungewöhnlich, sich nach links zu drehen (das Profil ist dann schöner) oder nach rechts (heute seh ich da einfach besser aus) oder leicht von oben fotografiert zu werden (mit Schnute – was auch immer das zu bedeuten hat). Da unsere Kulturen inzwischen auch oft Erwachsene wie Kinder behandeln, und Erwachsene sich wie Kinder behandeln lassen, scheint die Jugendkultur nun altersfrei und grassierend.

Nun, Poser in diesem Sinne gab es in den verschiedensten Epochen (man denke nur an die Dandys), nur vielleicht nicht so viele. Im postmodernen Kontext kann der Hang zum coolen Aussehen spielerisch eingesetzt werden, und die Identitätsfassade zum Puzzlespiel werden, aus dem hervor geht, dass hinter dem Schein kein Sein ist und folglich Freiheit. Ich möchte im modernen Sinne aber argumentieren, dass das Posen (im exzessiven Maße) oft vor allem eine anderweitige Leere maskiert. Posen ist eine performative Antwort auf einen modernen Ennui, in dem man zu viel Zeit hat und folglich, das eigentlich Langweilige zur Substanz erhebt.

In diesem Zusammenhang möchte ich ein Lied von der Schnittstelle der modernen Poser-Kultur hin zur postmodernen beleuchten. In Peggy Marchs Was so alles geschieht in der Carnaby Street, veröffentlicht 1969, wird von Textdichter Hans Bradkte (übrigens neben seinem Beruf als Textdichter und Komponist auch als sozial-satirischer Karikaturist in der Nachkriegszeit tätig) die Ironie auf den Punkt gebracht: Auf der telling-Ebene versichert der Panorama-Sprecher unzählige Male, dass in der Carnaby Street so einiges geschieht (mehr als ein Fünftel des Lieds setzt sich aus der Titelzeile zusammen.) Qualitativ ausgewertet, und auf der showing-Ebene, allerdings, passiert recht wenig abseits der Ästhetik, oder es geschieht genau Folgendes: Ein Straßenmusiker zupft auf seiner Gitarre. Jemand kommt aus einem Haus, pfeift und tanzt ein bisschen, und irgendwie geben Leute gerne Geld aus, um cool dazuzugehören. Also im Grunde passiert dort nichts, was heute nicht auch an jedem anderen Tag in jeder x-beliebigen Straße, vor jedem x-beliebigen Haus passieren könnte. Im Gegenteil: In der Straße eines Mannheimer Polizeipräsidiums passiert gerade in diesem Moment vermutlich mehr, obwohl es die Carnaby Street auch heute noch als Shoppingmeile, Fußgängerzone und Touristenmagnet gibt. Der Unterschied ist der sozial-historisch Kontext und die brand association: Da es in der Carnaby Street geschieht, ist es was besonders. Um diese soziokulturelle Verortung auch nie aus den Augen zu verlieren, wird, dem modernen product placement entsprechend, das Wort Carnaby ganze 14 Mal in einem Liedtext von 28 Zeilen platziert. Werbetechnisch könnte man von Sättigung sprechen. Selbst nach dem ersten Hören, kann wohl jeder sagen, wo die Handlung spielt.

Kulturelle Gesten wie gesprochene Worte, das wissen wir aus der Sprachphilosophie, erhalten ihre Bedeutung und ihren Sinn im Widerspiel mit anderen Zeichen. Natürlich, werden viele jetzt sagen, muss man die Carnaby Street und was dort geschieht, nicht von heute aus betrachten, sondern im späten 1960er-Jahre-Kontext sehen. Da gab es die Beats und die Mods (im Grunde wie die Beats nur öfter im Anzug, Rod Stewart soll mal einer gewesen sein), die Rock‘ n‘ Roll und anti-establishment culture in das Zentrum eines Swinging Londons trugen. So gesehen, war damals auf der Straße Tanzen und Pfeifen vielleicht doch so rebellisch wie wenn Lady Gaga heute zu einer Preisverleihung ein Kleid aus rohem Fleisch aufträgt (obwohl das nun auch schon wieder Schnee von gestern ist). Und ja, das Lebensgefühl eines Swinging Londons wird im Lied sicherlich heraufbeschworen. Die Anglizismen Carnaby Boy and Girl scheinen hier eine klare Kategorisierung vorzunehmen, die diese besonderen Jugendlichen von den provinziellen Mannheimer Jungs und Mädels sicherlich unterscheiden möchte. Auch Peggy Marchs angelsächsische Vokalität (sie war eigentlich Amerikanerin nicht Britin) und das anglisierende Clipping „Guitar‘“ tragen dazu bei. Auch heute noch klingt Englisch cool in der Werbe-, Mode-, und Popmusik-Sprache.

Ungeachtet dessen geht es vor allem um den Style in der Carnaby Street: Die Boys und Girls möchten gesehen werden, sie kommen aus dem Haus. Sie wollen cool wirken und dazugehören. Da liegt der Ursprung der FOMO – der fear of missing out oder Angst des Verpassens, denn „alle denken nur das eine“ und dieses eine ist nicht konkret ausgeformt oder substantiell, es ist konzeptionell, „was so alles geschieht“, und damit vage. Man weiß nie genau, was man jetzt eigentlich abseits vom wortreichen Poser-Getöse verpasst hat. Und damit bleibt es interessant. Zu viel Bewegung gibt es auch nicht im liedtextlichen Milieubild, Jugendlich-kulturelles Understatement kommuniziert ein Cool Britannia: Der Beat (ein weitere Anglizismus mit direkter Referenz auf die Beatles) geht in die Beine, aber reißt wohl nicht den ganzen Körper mit (auch wenn das vermutlich durch Konzert-Ausschnitte der Beatlemania damals schon assoziiert werden konnte). Heute wird dieses jugendliche Understatement auf sonore Weise weiterperformt, wenn YouTuber zum Beispiel einen gelangweilten Stimmton anschlagen, den sogenannten vocal fry, um so unterinteressiert-relaxt wie möglich zu wirken, gerade so, als könne ihnen das Leben auf Kim Kardashians linker Po-Hälfte heruntertuschen. Die hat das, zu Deutsch, Stimmbrutzeln übrigens vor einigen Dekaden populär gemacht. (Also nicht die Po-Backe, natürlich, aber Sie wissen schon.)

Gesittetere Elternhäuser der 1960er sehen in diesem Carnaby Beat, der die boys und girls auf die Straße lockt, vielleicht eine Art Rattenfänger von Hameln-Situation. Im Text geht es vor allem um die verführerisch neue Musik einer jungen Popkultur. Musik-Wörter sind die einzigen von praktischer Substanz im Text (hören, Gitarre spielen, Hit, Melodie, Platten). In der Tat ist das die Essenz der 1960er Beat-Kultur: Man trifft sich (als junge Leute) und hört Musik zusammen, die amerikanisch angehaucht und oft unerhört psychedelisch-aufreizend ist. Als ich vor einigen Monaten in Liverpool bei einer Galerie nahe des Beatles-Museums mit einer Dame sprach, die das Geschäft seit vielen Jahren betreibt, wurde mir das revolutionäre Potenzial dieses inzwischen alltäglich wirkenden ästhetischen Zusammenseins klar. Sie erzählte mir, wie sie als junges Mädchen von 15 Jahren im Cavern Club, also dem damaligen Ort für neue Popmusik in Liverpool, die Beatles und andere Musiker sah. Sie traf sich dort oft, sagte sie, nicht zu Alkohol und Drogen-Partys, sondern zum Kaffee, am Nachmittag, nach der Schule. Da der Club nach unten ging und selten gut belüftet war, waren die Wände pelzig und nass.

Das Wort ‚unschuldig‘ kommt einem hier in den Sinn. Ja, Mode und Musik wurden wichtige Faktoren in der kulturellen Revolution (und Kommunikation) der Jugend, die Mitte des letzten Jahrhunderts an Fahrt aufnahm. Als soziokultureller Schauplatz steht die Carnaby Street auch dafür. Aber es ging auch darum gesehen zu werden, als Gemeinschaft, in der jemand einen roten Pelz und eine gelbe Boa trug, und bewundert werden wollte und es vermutlich auch wurde, bevor man dann zusammen etwas unternahm. Heute, kann man vielleicht sagen, geht es nicht mehr so sehr um die Gemeinschaft, sondern um das Gesehen-Werden allein und die Dokumentation des Dabeiseins (ein Selfie, wie ich diesen Artikel schreibe, können Sie gerne bei mir direkt anfordern).

Vielen tragen inzwischen rote Kunst-Pelze oder ein Äquivalent und realisieren damit, womöglich unbewusst, was Monty Python schon im Life of Brain aufs Korn genommen haben. „Ihr seid doch alle Individuen!“, ruft die Titelfigur da. Und eine treue Meute antwortet mit dem Kopf nickend: „Ja, wir sind alle Individuen.“ Was also unschuldig begann, hat sich hin zu einer merkwürdigen Massentendenz zur Vereinzelung stilisiert. Gesehen werden, reicht nicht immer. Vielleicht schaut man heute zusammen, wie jemand ein Computerspiel spielt, allerdings trifft man sich dazu vermutlich nicht mehr in einem pelzigen Club zum Kaffee. Wenn Bradtke in seinem Text die Kosten eines jugendkulturellen Geschehens beiläufig erwähnt („Ja die Girls und die Boys zahlen gerne den Preis“), dann möchte man von einer kulturkritischen Position fast 50 Jahre später einmal fragen, was so alles geschehen ist seitdem, und welchen (mentalen) Preis des Dabeiseins beispielsweise die Boys und Girls auf Instagram heute zahlen.

Auch dort ist eigentlich nicht wirklich viel Bewegendes los. Aber alle wollen ständig hin.

Florian J Seubert, London

Warum Layla nicht Rosie ist. Zur Inszenierung von Prostitution in „Skandal im Sperrbezirk“ von der Spider Murphy Gang und „Layla“ von DJ Robin x Schürze

Spider Murphy Gang

Skandal im Sperrbezirk

In München steht ein Hofbräuhaus
Doch Freudenhäuser müssen raus
Damit in dieser schönen Stadt
Das Laster keine Chance hat
Doch jeder ist gut informiert
Weil Rosie täglich inseriert
Und wenn dich deine Frau nicht liebt
Wie gut, da es die Rosi gibt!

Und draußen vor der großen Stadt
Stehen die Nutten sich die Füße platt
Skandal 
Im Sperrbezirk
Skandal 
Im Sperrbezirk
Skandal
Skandal um Rosie

Ja, Rosie hat ein Telefon
Auch ich hab' ihre Nummer schon
Unter 32 16 8
Herrscht Konjunktur die ganze Nacht
Und draußen im Hotel d'Amour
Langweilen sich die Damen nur
Weil jeder, den die Sehnsucht quält
Ganz einfach Rosis Nummer wählt

Und draußen vor der großen Stadt 
Stehen die Nutten sich die Füße platt

Skandal […]

Ja Rosie hat ein Telefon […]

Und draußen vor der großen Stadt 
Stehen die Nutten sich die Füße platt

Skandal […]

Moral
Skandal

Skandal um Rosie

     [Spider Murphy Gang: Dolce Vita. Electrola 1981.]

Die Idealisierung von Prostituierten hat in der Popularkultur eine lange Tradition: So griff Brecht für die Songtexte seiner Dreigroschenoper wie die Zuhälterballade auf Gedichte des französischen Dichters Francois Villon aus dem 15. Jahrhundert zurück, worin die Beziehung zwischen Prostituierter und Zuhälter als (freilich temporärer) Gegenentwurf zur bürgerlichen Ehe präsentiert wird:

Auch in Schlagern und Filmen der Weimarer Republik standen Frauenfiguren mit aus bürgerlicher Sicht zumindest zweifelhaften Professionen im Mittelpunkt – ob in Oh Donna Clara oder in Marlene Dietrichs Hit Ich bin von Kopf bis Fuß auf Liebe eingestellt aus dem Film Der blaue Engel (nach Heinrich Manns Roman Professor Unrat). Nicht anders sah es im US-Western aus: Die obligatorischen Saloon-Prostituierten bilden oft einen Gegenpart zur braven damsell in distress, die gerettet werden muss. Ihren Höhepunkt erreicht die Verklärung der Prostitution schließlich in Pretty Woman.

Bei allen Unterschieden in der Figurenzeichnung im Detail fungiert die Prostituierte dabei als Gegenbild zur bürgerlichen Frau: Statt zurückhaltend, züchtig und passiv ist sie laut, vulgär und aktiv (Revolver im Strumpfband). Zugleich strahlen diese Figuren aber – sie sollen ja dann doch nicht zu role models werden! – oft eine gewisse Melancholie aus, die im Wissen gründet, dass sie zwar durchaus andere retten können, selbst aber nicht gerettet werden können – ihnen ist der Weg zurück in die bürgerliche Gesellschaft irreversibel verbaut, und mit schwindender Attraktivität verlieren sie absehbar ihr einziges Kapital.

Das Moment der Selbstermächtigung wird in neueren Filmen noch stärker betont, etwa in Erbarmungslos, wo die Prostituierten, weil der Sherriff seiner Aufgabe nicht nachkommt, ein Kopfgeld aussetzen, um die schwere Misshandlung einer ihrer Kolleginnen zu rächen. Noch weiter wird dieser Aspekt – nun außerhalb des Westerngenres – in Sin City ausgebaut, wo Prostituierte in ‚Oldtown‘ einen selbstverwalteten und -verteidigten Rotlichtbezirk betreiben.

Mit der Lebensrealität von Prostituierten hatten und haben diese Projektionen natürlich nichts zu tun, ähnlich wie bei der männlichen Projektionsfigur für bürgerliche Ausbruchssehnsüchte, dem Seemann. Doch konstituieren sie eine motivische Traditionslinie, in die sich auch der bislang bekannteste deutschsprachige Song zum Thema einordnen lässt, Skandal im Sperrbezirk von der Spider Murphy Gang, Nummer 1-Hit im Jahr 1981.

Den zeitgeschichtlichen Hintergrund des Lieds bildet die zunehmend restriktive Handhabung der Sperrbezirksregelungen in München durch die regierende CSU, in deren Zuge erotische Dienstleistungen aller Art aus der Stadt verdrängt wurden (vgl. Wikipedia). Gegen diese Politik und mehr noch gegen die dahinter stehende konservativ-sexualfeindliche Moral opponiert das Lied – das Wort „Laster“ verweist auf diesen übergeordneten Kulturkampf, denn um das Schicksal der Prostituierten ging es der CSU ja ganz erkennbar nicht, schließlich wurde die Prostitution nur aus der innerstädtischen Sichtbarkeit an die Ränder der Stadt, z.B. auf Autobahnparkplätze gedrängt, wo die Arbeitsbedingungen noch schlechter waren. Dass im Lied der Besuch der Prostituieren als temporärer Ausweg aus einer nicht mehr emotional erfüllten, sondern nur noch formal aufrecht erhaltenen Ehe angeboten wird, passt ebenfalls in diese Frontstellung, ist doch der ‚Schutz von Ehe und Familie‘ bis heute ein konservatives Allzweckargument gegen die rechtliche Absicherung anderer Formen des Zusammenlebens und der erotischen Interaktion.

Um das Für und Wider von Prostitution an sich geht es also nicht, diese wird als ohnehin vorhanden und als solche ja auch von der CSU – nur eben „draußen vor der großen Stadt“ – akzeptiert hingenommen. Es geht den Regierenden demnach nicht um tatsächlich gelebte Moralität, sondern um deren Inszenierung, um die Außendarstellung Münchens als sauberer Stadt. Die (im Gegensatz zu den Damen im „Hotel d’Amour“) offenbar allein arbeitende Prostituierte Rosie wird in diesem Kontext als Rebellin gegen eine repressiv-konservative Obrigkeit präsentiert, die sich mit einfachen Mitteln (Inserate mit Telefonnummer) über deren Anordnungen hinwegsetzt. Damit stellt sich die Spider Murphy Gang in eine Münchener Tradition des renitenten Hedonismus, der von den Schwabinger Krawallen bis zur Punk-Guerilla „Freizeit 81“ (der die Spider Murphy Gang ein Lied gewidmet hat) reicht.  Zudem richtet sich das Lied der zuweilen auch im Dialekt singenden Band (Mir san a bayerische Band) gegen eine Monopolisierung des Bayerntums durch biertrinkende Trachtler im Hofbräuhaus.

Aus heutiger Sicht kann man sich daran stören, dass das Lied sich desinteressiert gegenüber den Lebensbedingungen zeigt, in denen Prostitution stattfindet. Rosie ist, wie die ihr vorausgehenden selbstbestimmten Prostituiertenfiguren, eine romantisierende Projektion. Ähnliches ließe sich auch für andere bayerische Rebellenikonen wie den Wildschütz Jennerwein, den Bayerischen Hiasl oder den Räuber Kneißl sagen. Doch wer sie in Bayern feiert, will damit nicht Wilderei, Raub oder Prostitution gutheißen; vielmehr geht es um die Selbstbehauptung der individuellen Freiheit gegen eine übergriffige Obrigkeit. Konservative Medien reagierten entsprechend auf Skandal im Sperrbezirk: Der in derlei Angelegenheiten notorische (Schuld war nur der Bossa Nova, Tatort Reifezeugnis) BR spielte das Lied ebenso wenig wie Dieter Thomas Heck in seiner Hitparade.

Im Jahr 2022 scheint sich die Geschichte mit dem Lied Layla von DJ Robin x Schürze nun zu wiederholen: Wieder gibt es eine Nummer 1-Hit um eine Prostituierte, wieder wird dessen Abspielen in Bayern unterbunden (die Stadt Würzburg hat als Veranstalter untersagt, dass das Lied in den Bierzelten des Kiliani Volksfests gespielt wird). Nur dass der Widerstand diesmal nicht von konservativer, sondern von progressiver Seite kommt, wohingegen die Jungen Union Hessen mit diesem Lied (gefolgt von abschließenden Worten des Vorsitzenden, dem Hessenlied und der Nationalhymne) ihren Landestag ausklingen lässt.

Diese Kurzfassung der Ereignisse passt wunderbar in die derzeit u.a. von konservativen Medien verbreitete Erzählung, dass eine woke „Cancel Culture“ die Meinungs- und Kunstfreiheit bedrohe. Dazu wird der eigentlich nicht ungewöhnliche Umstand, dass ein Veranstalter die zu spielende Musik vorgibt (zu den juristischen Details vgl. hier; in Düsseldorf ist es etwa der veranstaltende Schützenverein, der vom Abspielen des Lieds abrät), als „Verbot“ oder „Zensur“ skandalisiert. Eine gute Zusammenfassung der Umstände hat Walulis geliefert:

Zwar mag es befremden, dass plötzlich diejenigen für Kunst- und Meinungsfreiheit eintreten, die damit traditionell so gar nichts am Hut haben (die Künstlerverunglimpfung stellt bei der BILD-Zeitung eine eigene journalistische Gattung dar, die seit Jahrzehnten nicht aus dem Blatt wegzudenken ist). Weil aber in der Diskussion um Layla, u.a. von Produzent Ikke Hüftgold (in einem BILD-Interview natürlich), immer wieder auf den 41 Jahre alten Song über Rosie Bezug genommen wird, soll vergleichend nun auch der Text von Layla genauer in den Blick genommen werden.

DJ Robin x Schürze 

Layla 

Neulich in der Stadt stand da ein Mann
Er schaute mich sehr glücklich an
„Hey, komm mal her“, sagte er zu mir
„Das ist mein Laden, mein Revier
Mein Junge, ich hab' ein Geheimnis für dich.“
Was er von mir wollte, wusste ich nicht
Ich sah nur das Grinsen in seinem Gesicht
„Was ich dir sage, glaubst du mir nicht: 

Ich hab' 'n Puff
Und meine Puffmama heißt Layla
Sie ist schöner, jünger, geiler
La-La-La-La-La-La-La-Layla
La-la-la-la, die wunderschöne Layla
Sie ist schöner, jünger, geiler
La-la-la-la, die wunderschöne Layla
La-La-La-La-La-La-La-Layla
La-la-la-la, la-la-la-la-la-la“

Dann war es auch um mich gescheh'n
Das wollte ich aus der Nähe seh'n
Ich ging in den Laden und schon stand sie da
Geile Figur, blondes Haar

Er hat 'n Puff
Und seine Puffmama heißt Layla
Sie ist schöner, jünger, geiler
La-La-La-La-La-La-La-Layla
La-la-la-la, die wunderschöne Layla
Sie ist schöner, jünger, geiler
La-la-la-la, die wunderschöne Layla
La-La-La-La-La-La-La-Layla
La-la-la-la, la-la-la-la-la-la

Die schöne Layla
Die geile Layla
Das Luder Layla
Unsere Layla

Wir lieben dich 
La-La-La-La-La-La-La-Layla
Sie ist schöner, jünger, geiler
La-La-La-La-La-La-La-Layla
La-la-la-la, die wunderschöne Layla
Sie ist schöner, jünger, geiler

La-la-la-la, die wunderschöne Layla
La-La-La-La-La-La-La-Layla
La-la-la-la, la-la-la-la-la-la

     [DJ Robin & Schürze: Layla. Polydor 2022.]

Der erste Unterschied zwischen den Liedern zeugt sich bereits in der Sprechsituation: Während der Sprecher in Skandal im Sperrbezirk eine Situation schildert, in der er nur am Rande vorkommt (auch er hat Rosies Nummer), hat in Layla zunächst der selbstzufriedene Zuhälter den größten Redeanteil: Er preist seine Ware dem potentiellen Freier (dem Ich des Textes) an und bedient sich dabei klassisch-klischierten Ludenjargons („Das ist mein Laden, mein Revier“) sowie der gängigen Kategorien der Werbeanzeigen für Prostitution („schöner, jünger, geiler“). Auch die Verbindung der über den Namen Layla transportierten Exotik mit dem Topos der (im Vergleich zu europäischen Frauen) gesteigerten sexuellen Bereitschaft ist in diesem Kontext üblich (und hat zudem eine lange Kulturgeschichte).

Das angesprochene Ich folgt wie selbstverständlich der Einladung des Zuhälters und findet dessen Beschreibung bestätigt (allerdings erweist sich die exotisch klingende Layla als blond), woraufhin es seinerseits Layla besingt und zusätzlich als „Luder“ bezeichnet, offenbar, nachdem es sich von ihren Qualitäten überzeugt hat. Das Einzige, was in diesem bedrückenden Szenario verwundert, ist die Bezeichnung der Besungenen als „Puffmama“. Die Stellung der Puffmutter ist zwar nicht klar definiert (gemeint sein kann sowohl eine weibliche Zuhälterin wie eine Frau, der die Organisation der Abläufe und die Überwachung der Prostituierten in einem von jemand anderem betriebenen Bordell obliegt), jedoch handelt es sich dabei in der Regel um ältere, meist nicht mehr selbst als Prostituierte aktive Frauen, wohingegen Layla offenkundig ja als Prostituierte angeboten wird, was neben der Art ihrer Anpreisung auch dadurch deutlich wird, dass das Sprecher-Ich sie als Luder bezeichnet und sich in die Gemeinschaft ihrer Freier einreiht („Unsere Layla“). Im Video tanzt die – von einem Mann gespielte – Layla an einer Stange, was ebenfalls ihre Rolle als Sexobjekt und nicht als Geschäftsfrau betont. Insofern wirken die in der aktuellen Debatte unternommenen Versuche, Layla aufgrund ihrer Rolle als Puffmutter als feministisches role model einer geschäftstüchtigen unabhängigen Frau zu präsentieren, wenig plausibel: Es geht um eine ungewöhnlich junge Prostituierte, die für einen Zuhälter anschafft (und anscheinend noch Aufgaben in der Organisation des offenbar kleinen Bordells übernimmt).

Der Text steht also keineswegs in der Tradition einer Verklärung der Prostituierten als freier antibürgerlicher Frau wie Rosie aus Skandal im Sperrbezirk. Laylas Rolle kommt eher der der erniedrigten bitch in Raptexten nahe, wo auch der pimp zum festen Rolleninventar gehört (stilbildend für den deutschen Rap: Kool Savas: Pimplegionär). Ganz konkret steht der Song aber in der Tradition des Vulgärsexismus der derberen Ballermannlieder wie 3 geile Löcher:

Die Pauli Boys, die dieses Lied bereits 2007 gesungen haben, spielen auch mit ihrem Namen und dem Video-Setting auf das Thema Prostitution an. Doch selbst ihr Zotentext hat etwas, was Layla gänzlich fehlt: Humor – zwar einen derben, sexistischen und frauenfeindlichen, sich sprachlich im Porno bedienenden, aber es gibt im Refrain immerhin eine Pointe:

Ja, du hast drei geile Löcher
mit denen ich gerne Zickezacke spiel
Ja, du hast drei geile Löcher
Doch eines davon sabbelt mir zu viel

Halt die Schnauze, Schnauze, halt den Mund, Mund, Mund!
Zu viel Reden ist doch nicht gesund!

Die Strophen bauen die Komik noch aus, indem das sexuell erregte Sprecher-Ich von Erika, dem Objekt seiner Begierde, ständig in Gespräche verwickelt wird, womit der Humor zunehmend auf seine Kosten geht.

Bei Layla hingegen blitzt nirgendwo auch nur ein Hauch von Humor oder Ironie auf. Der Text schildert schlicht einen erfolgreichen Geschäftsabschluss zwischen Zuhälter und Freier, wobei die Ware dem Geschmack des Freiers entspricht. Auch auf Ebene der Reime, einer beliebten Komikquelle (nicht nur) im Ballermannschlager, bietet der Text von Layla nichts Originelles – keiner der naheliegenden Paarreime kommt z.B. heran an „Es ist soweit, ich liege nackt auf ihrem Kanapee / Doch sie steht in der Küche und kocht erstmal Kräutertee“ (3 geile Löcher).

Des Weiteren lässt sich der Song auch nicht als Tabubruch rechtfertigen: Anders als 1981 ist Prostitution längst legalisiert und ihr Besingen taugt nicht mehr zur Provokation von Sittenwächtern (siehe Junge Union Hessen). Und rhetorisch sind seit Jahrzehnten voller Prollpunk à la Kassierer/ Eisenpimmel/ Lokalmatadore und Gangstarap ohnehin keine Grenzen mehr da, die noch verschoben werden könnten. Das gilt auch genreintern für den Partyschlager, wo die 3 Besoffskis schon seit den 1970er Jahren mit ihren grotesk-komischen Obszönitäten („Sie lagen beide Arsch an Arsch / und furzten den Radetzkymarsch“) Maßstäbe gesetzt haben. Und dass Derbheiten nicht nur frauenfeindlich ausfallen müssen, hat bereits 1991 das Duo Herrchens Frauchen mit dem mehrfach gecoverten Sperma ist ekelhaft gezeigt, jüngere Beispiele hat Mirja Boes alias Möhre mit ihrem überzeichneten Reverse-Sexismus in Liedern wie 20 Zentimeter !? oder Pack ihn ein (La la la la) geliefert.

Kurzum: Layla affirmiert mit der Prostitution die sexistischste Institution überhaupt und verfährt dabei in keiner Weise innovativ oder in ästhetischer Hinsicht provokant. Es ist ein humorfreies Lied über gekauften Sex mit einer besonders jungen Prostituierten. Das ist natürlich legal und entsprechend ja auch nicht verboten worden (s.o.), weshalb jede Debatte um Kunstfreiheit hier auch ein PR-Ablenkungsmanöver ist. Jeder kann das Lied singen oder hören – er muss dann aber auch mit der Antwort in adressatengerechter Ansprache zurechtkommen:

Martin Rehfeldt, Bamberg

Als man in der Schule noch was fürs Leben lernen konnte. „En d’r Kayjass Nummer Null“ von den Drei Laachduve (1938), den Vier Botze (1945) und anderen

Drei Laachduve

En d`r Kayjass Nr. 0

En d'r Kayjass Nummer Null 
steiht en steinahl Schull
un do hammer dren studeet.
Unser Lehrer, dä hieß Welsch, 
sproch en unverfälschtes Kölsch
un do hammer bei jelihrt.
Un da hammer hin un her üvverlaat
un han für dä Lehrer jesaht:

Nä, nä dat wesse mer nit mih, 
janz bestemp nit mih
un dat hammer nit studeet.
Denn mer wore beim Lehrer Welsch en d'r Klass
un do hammer sujet nit jelihrt.
Ävver, ävver, ävver dreimol Null es Null, es Null,
denn mer woren en d'r Kayjass en d'r Schull;
dreimol Null es Null, es Null,
denn mer woren en d'r Kayjass en d'r Schull. 

Es en Schiev kapott, es ene Müllemmer fott,
hät d'r Hungk am Stätz en Dos':
Kütt dä Schutzmann anjerannt,
hät uns Pänz dann usjeschannt, -
saht: Wat maat ihr zwei dann blos!
Un da hammer hin un her üvverlaat
un han för dä Schutzmann jesaht:
 
Nä, nä dat wesse mer nit mih...
Ävver, ävver, ävver dreimol Null es Null, es Null [...]

Neulich krät uns en d'r Jass 
die Frau Käzmann beim Fraaß, -
saht: Wo wollt ihr zwei dann hin?
Uns Marieche sitz zo Hus, 
weiss nit en un weiss nit us:
Einer muss d'r Vatter sin!
Un da hammer hin un her üvverlaat
un han för die Käzmanns jesaht:

Nä, nä dat wesse mer nit mih [...]
Ävver, ävver, ävver dreimol Null es Null, es Null [...]

     [Quelle: www.griechenmarkt.de [1]; im obigen Video singt und agiert der Kinderchor der Hasenschule; vgl. www.hasenschule.de.]

Viele ältere Kölner Karnevalslieder leben davon, dass sie opulente, gerne nostalgisch verklärte Genreszenen aus dem prallen Volksleben guter alter Zeiten darstellen oder im unerschöpflichen Schatz lokaler Anekdötchen,  Skandälchen und sonstiger Begebenheiten graben, um das kollektive Gedächtnis der Domstädter auf eine ganz ureigene Weise zu bereichern. Manchmal entwickeln solche Lieder eine besondere Brisanz, wenn sie vom Jeckenvolk mit speziellen Kontexten in Verbindung gebracht werden. All das trifft auf das Vorkriegslied von der ,steinahl Schull en d’r Kayjass‘ mit ihrem Lehrer Welsch zu, weshalb es auch immer wieder gecovert worden und über Generationen hinweg lebendig geblieben ist.

Worum geht’s?

Die Sprecherinstanz bilden zwei (in anderen Textversionen sechs) männliche Absolventen einer (nicht zuletzt wegen dieses Liedes) berühmten Kölschen Lehr- und Erziehungsanstalt, an der ein Lehrer namens Welsch tätig gewesen sein soll. Dass der Liedtext hier die historische Realität ein wenig verbiegt, ist allgemein bekannt und wird später noch genauer erklärt. Unsere ,Kadetten‘ geben einige Episoden aus ihrer Biographie zum Besten, wobei der große Bogen ihrer Erzählung darin besteht, dass sie sich in der Schule habituell daran gewöhnt haben, sich generell dumm zu stellen, was ihnen dann im ,richtigen Leben‘ immer wieder zugutekommt. Dieses Prinzip funktioniert schon bei den Kindern („Pänz“) gegenüber dem „Schutzmann“, der ihren Lausbubenstreichen[2] auf die Schliche zu kommen versucht, und bewährt sich auch später in einer wesentlich heikleren Angelegenheit, als es um die Frage geht, wer Käzmanns Mariechen geschwängert haben könnte.

Jedes Mal zelebrieren die Schlitzohren ihr vorgebliches Nichtwissen nach einem gleichen Ritual: Demonstrativ langsam überlegen sie zunächst einmal „hin un[d] her“. Man sieht förmlich, wie ihnen von der Anstrengung des Nachdenkens die Schweißtropfen auf die Stirn treten, und ist von ihrem guten Willen, bei der Wahrheitsfindung mitzuhelfen, überzeugt. Niemand würde ihnen mangelnde Kooperationsbereitschaft unterstellen, bis schließlich das Geständnis des Nichtwissens befreiend aus ihnen hervorbricht: „Nä, nä dat wesse mer nit …“. Hier verändert sich der ganze Gestus des Gesangs und die Begründung für das fehlende Wissen erfolgt schon fast triumphierend: Man sei schließlich in der Kaygasse zur Schule gegangen und habe beim Lehrer Welsch studiert. Damit sei doch alles klar!

Der vordergründige Hintergrund

Ein Teil des ,Witzes‘ dieses Schlagers, der übrigens im Dezember 1938 von den Drei Laachduve[3] aufgenommen worden und 1945 durch die Coverversion der Vier Botze[4] zu breiter Popularität gelangt ist, erklärt sich nur Kölnern bzw. Kennern der lokalgeschichtlichen Bezüge. An der Ecke Kaygasse/Großer Griechenmarkt gab es zwischen 1891 und 1939 eine Sonderschule. Wenn deren Ehemalige ihre Unwissenheit, in welcher Sache auch immer, verkündet hätten, dürfte das den Vorurteilen ihrer Mitbürger einigermaßen entsprochen haben. Zusätzlich berufen sich die Schlitzohren unseres Liedes auf einen Lehrer Welsch, dem ebenfalls eine historische Figur zugrunde liegt. Heinrich Welsch (geb. 1848 in Arzdorf, Landkreis Bonn, gest. 1935 in Köln) war ein ausgesprochen verdienstvoller Pädagoge, der seine lokale Berühmtheit mitnichten einem besonders schlechten Unterricht zu verdanken hat, sondern seinem durchaus erfolgreichen Engagement für benachteiligte Arbeiterkinder und sog. ,gefallene Mädchen‘. 1905 gründete Welsch im rechtsrheinischen Industrievorort Kalk eine Hilfsschule, der er bis zu seinem Ausscheiden aus dem Schuldienst noch vor dem Ende des Ersten Weltkriegs als Rektor vorstand. Mit der Sonderschule in der Kaygasse[5] hatte Welsch zwar nie zu tun, aber vom Milieu her, in dem sich sein Wirken abspielte, spricht nichts gegen seine fiktionale Versetzung ins zentrumsnähere Griechenmarktviertel.

An der Stelle der im 2. Weltkrieg zerstörten Sonderschule hängt heute eine Gedenktafel für die „steinahl Schull“ des Karnevalsliedes und ihren mathematischen Kernsatz. Der großartige Lehrer Welsch hat sein Ehrengrab hingegen, dem realweltlichen Sachverhalt entsprechend, auf dem Kalker Friedhof gefunden – der gewissermaßen schon in Sibirien liegt, zumindest wenn wir den topographischen Vorstellungen des alten Römers Konrad Adenauer folgen wollen, was im Karneval schon einmal erlaubt sein sollte.[6]

Eine vordergründige Irritation, die sich aber vor dem hintergründigen Hintergrund auflösen lässt

Bei meiner ersten Begegnung mit diesem Lied habe ich mich – selber jahrzehntelang beruflich der Paukerei verbunden – zunächst darüber gefreut, dass man hier einem verdienten Lehrkörper ein karnevalistisches Denkmal gesetzt hat. Beim genaueren Studium des Textes beschlich mich dann aber schnell das ungute Gefühl, dass der Lehrer Welsch über dieses Monument seines Wirkens nicht besonders glücklich gewesen wäre, bescheinigt es doch der Welt, dass aus seiner Lehranstalt rechte Taugenichtse hervorgegangen seien, humane Nullen sozusagen, die nichts anderes im Sinn gehabt hätten, als ihre Mitmenschen zu plagen, Tiere zu quälen und die Zahl ,gefallener Mädchen‘ zu vergrößern, deren Rehabilitation sich ihr philanthropischer Lehrer doch gerade auf sein Banner geschrieben hatte.

Dass solch eine Geschichte in karnevalistischen Kontexten ,funktionieren‘ konnte, war mir leicht vorstellbar, verbinden doch viele Zeitgenossen ihre Erinnerungen an schulische Verhörsituationen mit unguten Gefühlen[7] und könnten es demzufolge durchaus genießen, im Kollektiv ihr pauschales Nichtwissen triumphal in die Welt hinauszuposaunen. Und selbst gute Schüler ohne einschlägige Posttraumata könnten bei närrischen Gelegenheiten und unter zusätzlichem Einfluss einiger Kölsch dazu gebracht werden, vorübergehend in die Identität eines Lümmels der letzten Bank zu schlüpfen und fröhlich zu behaupten, dass sie nichts anderes in ihrem Kopf hätten als die mathematische Weisheit, dass dreimal Null nie mehr als Null ergibt, so oft man auch nachrechnet. Soweit reichte also meine Phantasie. Aber dass ein heiteres Karnevalslied Sympathie für Schlitzohren bekunden sollte, die sich vor der Verantwortung für eine Vaterschaft drücken und ein armes Mädchen mehr oder minder hämisch sitzen lassen, und dass besagtes Lied dann noch über Jahrzehnte hinweg von den ,Großen‘ der Kölner Musikszene gecovert und populär bleiben konnte, das irritierte mich schon!

Ich denke, dass diese Irritation sich auflösen lässt, wenn man die zeitlichen Kontexte der frühen Veröffentlichungen – 1938 und 1945 – mitbedenkt und dann den Text des Liedes um Botschaften erweitert, die für ein wachsames Publikum  ,zwischen den Zeilen‘ zu erahnen sind.  Dass karnevalistische Verlautbarungen – sei es in der Form von Büttenreden, Kostümierungen, Dekorationen oder auch Liedern – in der Vor- und Nachkriegszeit auf Zuschauer und Zuhörer gestoßen sind, die es gewohnt waren, Zwischentöne, Andeutungen und Sinnbrüche zu erkennen und entsprechend zu deuten, darf m.E. vorausgesetzt werden.

Dass sich die Schlitzohren von der Kayjass-Schull 1938 jeglicher Befragung durch Autoritäten entziehen, indem sie sich habituell und pauschal hinter einem vorgeblichen Nichtwissen verschanzen, kann (muss?) in der Vorkriegszeit als grundsätzliche System-Verweigerung, als passiver Widerstand verstanden werden. In diesem Kontext rückt auch die anscheinend schäbige Verleugnung der eigenen Vaterschaft in ein anderes Licht und erscheint als Absage an die nationalsozialistische Familienideologie. Das (proletarische) Sprecherkollektiv, das sich den ,Anmutungen‘ der damaligen Gesellschaft verweigert, liefert so ein Gegenbild zum staatskonformen Verhalten der Organisatoren und Aktivisten des Kölner Karnevals, die sich 1938 – jedenfalls mit übergroßer Mehrheit – den Forderungen des staatlichen Propagandaapparats unterworfen hatten.[8]

1945 stellte sich der gesellschaftspolitische Kontext plötzlich ganz anders da. Wer jetzt behauptet hätte, von nichts nix zu wissen, hatte vermutlich einiges zu verbergen, was unter den neuen Machtverhältnissen gar nicht gut angekommen wäre. Damit haben sich, ohne dass dafür auch nur ein Buchstabe im Text des Liedes verändert werden musste, die Kayjass-Absolventen – 1938 noch Widerständler und Systemverweigerer – im Laufe kürzester Zeit in ehemalige Mitläufer der Naziherrschaft verwandelt, die im Lied der Vier Botze satirisch bloßgestellt werden. Inwieweit spätere Coverversionen, zum Beispiel von den Bläck Fööss (1973) oder den Höhnern (1979), ebenfalls auf spezielle zeitgenössische Konstellationen angespielt haben könnten, entzieht sich meiner Kenntnis.

Nachklapp a: Der Lehrer-Welsch Sprachpreis

Unser Karnevalslied preist den Lehrer Welsch ausdrücklich dafür, dass er ein „unverfälschtes Kölsch“ gesprochen habe. Daran anknüpfend verleiht seit 2004 die Kölner Sektion des ,Vereins Deutsche Sprache‘ einen ihm gewidmeten Preis. Erster Preisträger war Alexander von Chiari, der seinerzeitige Leiter des Rosenmontagszuges, der damals das englische Wort „Kids“ im Motto des Zuges durch die niederrheinische, aber auch im Hunsrück und Ruhrpott gebräuchliche  Entsprechung „Pänz“ (von lat. „pantex“, = Wanst, dicker Bauch; ursprünglich mit negativem Beiklang für gierige, unleidliche Kinder) ersetzt hatte.

Nachklapp b: Die KHS Großer Griechenmarkt

Wie oben schon beiläufig erwähnt pflegt die heutige Katholische Hauptschule am Großen Griechenmarkt in Köln liebevoll das Andenken an Heinrich Welsch und ,sein‘ Lied. Ich kenne weder die Schule noch ihre Lehrkräfte und auch niemanden von der Schülerschaft. Aber auf ihrer Homepage habe ich mir ihr Schullied angesehen, das als Gemeinschaftsprodukt von Dietmar Kolvenbach, eines Musiklehrers, der Bläck Fööss und von Hans Knipp[9] entstanden ist. Darin wird freimütig eingeräumt, dass der Alltag einer Hauptschule nicht immer einfach ist, aber dass die Menschen, die sich dort Tag für Tag einfinden, froh und stolz darauf sind, einen Ort zu haben, wo sie ein Stück weit zu Hause sind. Das klingt doch nach dem echten Lehrer Welsch und imponiert mir sehr!

Nachklapp c: Albträume

Seit ich am Beitrag zu diesem Karnevalslied arbeite, sucht mich jede Nacht der gleiche Albtraum heim: Ich verfolge am Fernseher eine Bundestagssitzung. Zuerst fokussiert die Kamera einen Mann am Rednerpult, der dies & das sagt, woran ich mich nicht erinnern kann. Aber dann fragt er mit viel Pathos: „Meine Damen und Herren, bitte sagen Sie mir doch endlich einmal klipp und klar, ob die Maskenpflicht der Volksgesundheit langfristig nutzt oder schadet!“ In diesem Moment schwenkt die Kamera auf die Regierungsbank, wo Kanzler und Kabinettsmitglieder mit ernster Miene ihre Häupter wiegen. Ein neuerlicher Kameraschwenk rückt die voll besetzten Ränge der Abgeordneten ins Bild, die wie auf Kommando zu schunkeln beginnen und fröhlich singen:

Nä, nä dat wesse mer nit mih,
janz bestemp nit mih
un dat hammer nit studeet.
Denn mer wore beim Lehrer Welsch en d’r Klass
un do hammer sujet nit jelihrt.
Ävver, ävver, ävver dreimol Null es Null, es Null,
denn mer woren en d’r Kayjass en d’r Schull;
dreimol Null es Null, es Null,
denn mer woren en d’r Kayjass en d’r Schull.

 Hans-Peter Ecker, Bamberg

Literatur:

Viele einschlägige Wikipedia-Artikel und sonstige Internetseiten zum Lied, den darin erwähnten Lokalitäten, Institutionen und historischen Sachverhalten sowie seinen diversen Interpreten.


[1] Wer eine Übersetzung braucht, findet sie unter lyricstranslate.com. Das Lied ist im Laufe der Zeit von vielen Musikgruppen gecovert worden, insofern existiert eine beachtliche Menge dialektaler Varianten. Ich habe mich weitgehend dem Wortlaut bzw. den Schreibweisen angeschlossen, die auf der homepage der KHS Großer Griechenmarkt abgedruckt sind, wobei ich mir dachte, dass die Leute dort an diesem Lied einfach ,am dichtesten dran‘ sind – sowohl räumlich als auch lebensweltlich.

[2] Wer hat die Fensterscheibe einschlagen? Wer hat die Mülltonne versteckt? Wer hat dem Hund die Dose an den Schwanz gebunden?

[3] ,Die drei Lachtauben‘. Diese Straßensängertruppe bestand aus dem Texter unseres Songs, Will Herkenrath, Hermann Kläser (Komposition) und Heinz Jung.

[4] ,Die vier Hosen‘ (Auftritte zwischen 1933 und 1961), Gründungsmitglieder: Hans Süper senior, Hans Philipp „Fibbes“ Herrig, Gerhard „Grätes“ Böckem und Ferdinand „Fänand“ Vossenberg. Nach dem Krieg machte Süper die Formation mit Richard Engel, Jakob Ernst und Hans Philipp Herrig richtig erfolgreich.

[5] Zu deren Adresse(n) übrigens – an einem Seiteneingang – die Hausnummer „Kaygasse 1“ gehörte und nicht die „Null“, die sich aber eindeutig besser auf „Schull“ reimt und außerdem zur vorgeblich dort gelehrten und verinnerlichten Lebensweisheit passt:  „dreimol Null es Null, es Null“ …

[6] Vgl. Konrad Beikircher: Das Kabarett in NRW. In: Musenblätter (Abruf am 1.2.2022).

[7] Vgl. zu diesem Thema auch Fredl Fesls Lied Schulmeisterei.

[8] Die sog. ,Kölner Narrenrevolte‘ von 1935 gegen die Gleichschaltung, in ihrer politischen Zielsetzung ohnehin ein sehr bescheidenes Unterfangen, war 1938 schon sprichwörtlich Schnee von gestern.

[9] Berühmter Kölner Komponist und Mundartdichter, vgl. z.B. hier im Blog von ihm das Lied Mer losse d’r Dom en Kölle.

Dirnenlied mit Nikolaus. Georg Kreislers „Der Weihnachtsmann auf der Reeperbahn“ (1960/61)

Georg Kreisler

Der Weihnachtsmann auf der Reeperbahn

Mutter war Dirne und Vater war Dieb
und Jim machte Dienst auf einem Kutter,
also wurde ich wie Mutter.
Einmal sprach Jim: Du, ich hab' dich so lieb,
versteck' mich, ich hab' etwas verbrochen.				5
Damals kriegte ich vier Wochen.
Und im Gefängnis war es noch schlimmer als zu Haus.
Wir kriegten Labskaus jeden Tag, wer hält denn sowas aus!
Doch ich ertrug mein Schicksal mit fröhlichem Gemüt,
denn ich fand Trost in diesem kleinen Lied:				10

Auch auf der Reeperbahn steht dann und wann ein Weihnachtsmann.
Der blickt Dich lächelnd an und hilft dir weiter.
Und wenn man momentan im Leben nicht mehr weiter kann,
dann ist der Weihnachtsmann ein treu Begleiter.
Er steht ganz still im Gewimmel						15
und bimmelt die Reeperbahn hinauf.
Der dicke Schnee fällt vom Himmel,
doch nie geben Weihnachtsmänner auf.
Drum gibt's nur einen Mann, der dir fast immer helfen kann,
das ist der Weihnachtsmann auf der Reeperbahn.				20

Jim sah einmal in meine Telefonkartei
und haute mir eine in die Fresse,
damit ich ihn nicht vergesse.
Dann brach er mir noch ein Schlüsselbein entzwei
und brachte mich rasch in eine Klinik,					25
denn er liebt mich treu und innig.
Dort war ein junger Doktor, der sich an mir vergriff.
Da schoss ihm Jim ein Loch in'n Kopp und rannte auf sein Schiff.
Die Polizei verdrosch mich, denn Jim war schon zu weit.
Und trotzdem tat er mir am meisten leid.				30

Denn auf der Reeperbahn steht dann und wann ein Weihnachtsmann.
Der blickt mich lächelnd an in alter Frische.
Doch Jim am Ozean sieht niemals einen Weihnachtsmann,
nur Sturm und Steuermann und kleine Fische.
Ja, ja, die Weihnacht an Bord						35
die ist nie wie das Weihnachtsfest zu Haus.  
Man blickt nach Süd und nach Nord
und nach Ost und nach West und - damit aus.
Dann wischt sich jedermann die Tränen fort so gut er kann,
ihm fehlt der Weihnachtsmann auf der Reeperbahn.			40

Bin ich mal alt und das silberweiße Haar
fließt mir über die Stirne herunter,
komm ich sicher nirgends unter.
Kein Mensch will wissen, wie schön ich einmal war.
Ich hab' sogar am Bauch 'ne Tätowierung,				45
eine Palme mit Verzierung.
Dann kriech ich halb verhungert entlang der Reeperbahn
und alle Männer drehn sich weg, als hätt' ich was getan.
Jedoch an einer Ecke - da bleib ich plötzlich stehn
und kann das Wunder, das ich seh, kaum sehn.				50

Denn auf der Reeperbahn steht sicher dann der Weihnachtsmann
und sagt mir ganz spontan, daß wir uns kennen.
Dann fängt er leise mit den, mit den Glöckelein zu bimmeln an,
daß ich nicht halten kann - und ich muß flennen.
Er lächelt breiter denn je						55
und er führt mich die Reeperbahn hinauf.
Und ringsumher schmilzt der Schnee
und die Straße, die, die hört überhaupt nicht auf.
Ich glaub' an Liebe nicht, an Treue nicht, doch glaub' ich an
den guten Weihnachtsmann auf der Reeperbahn.				60

Na Süßer, wie wär's denn mit uns beiden heute Abend? Hm?
Keine Zeit, och, na denn nicht. Junge, komm bald wieder.

     [Text nach www.georgkreisler.info]

In der Blütezeit des deutschsprachigen literarischen Kabaretts 1901-1933 war das Dirnenlied vermutlich das beliebteste und bis in die mittleren 20er Jahre hinein auch das in den Programmen am häufigsten vertretene Genre. Also solches wurde es auch von prominenten Dichtern gepflegt, berühmten Diseusen vorgetragen, in Lyrikanthologien publiziert und als Untergattung des Chansons und kritische Reflexion bestimmter sozialgeschichtlicher Verhältnisse (soziale Verelendung der Unterschichten, bürgerliche Bigotterie im Umgang mit geschlechtsspezifischen Verhaltensnormen und der Prostitution) wissenschaftlich beschrieben. Im engeren Sinne bezieht sich der Begriff auf Rollenlyrik aus der Perspektive einer Prostituierten, im weiteren auf die Thematisierung von Prostitution generell, so dass die Sprecherrolle dann beispielsweise auch von einem Freier oder Zuhälter übernommen werden kann.

Insofern das Kabarett des frühen 20. Jahrhunderts, in Frankreich auch schon des späten 19. Jahrhunderts, überwiegend von jungen großstädtischen Intellektuellen und Künstlern getragen wurde, der sog.  ,Bohème‘, besaß es von Anfang an eine dezidiert antibürgerliche Stoßrichtung. Die oft in bitterer Armut lebenden Bohémiens betrieben einen Kult um Kunst, Freundschaft und Solidarität, wohingegen sie dafür umso mehr die das Bürgertum jener Epoche charakterisierende Vergötterung materieller Werte, von Geld, Besitz und Privateigentum verabscheuten. Zu besagten materiellen Werten darf man auch den Anspruch des sich patriarchalisch gebärdenden Familienoberhaupts auf die unbedingte eheliche Treue seiner Gattin rechnen, hätte man sich ja ansonsten nicht sicher sein können, dass der Familienbesitz dereinst in ,richtiger Linie‘ vererbt werden würde!

Die Bohème hingegen versprach mit ihren idealistischen Werten und antibürgerlichen Praktiken – Aufweichung der starren Genderrollen, Akzeptanz weiblicher Sexualität und Intellektualität – klugen, kreativen und emanzipationsbegierigen jungen Frauen einen utopischen Freiheitsraum, für den die Bohémiennes die materielle Sicherheit jenes goldenen Käfigs einzutauschen bereit waren, der im Falle gesellschaftskonformen Verhaltens ihr Schicksal gewesen wäre. Dass sich diese Glücksperspektiven in vielen Fällen nicht erfüllten und die alltäglichen Lebensverhältnisse in dieser Subkultur geradezu prekär waren, ist weithin bekannt. Karl Marx und Rosa Luxemburg (vgl. etwa ihre Einführung in die Nationalökonomie, posthum 1925) hätten für dieses spezielle kreative Milieu den Begriffs des ,Lumpenproletariats‘ zur Hand gehabt und für dessen Nähe zur Prostitution und Verbrechertum auch eine theoretische Begründung. Nun war ,die‘ Bohème, deren konkrete locations mannigfache Abschattungen vom Glamourösen bis zum Schäbigen bzw. Zwielichtigen aufweisen konnten, nicht nur Spielwiese von Künstlern, Intellektuellen und Halbweltgestalten, sondern auch von Bürgern und Angehörigen des Adels, die sich ihrer Klasse entweder entfremdet hatten oder sich auch nur einen gewissen ,Urlaub‘ vom anstrengenden Tagesgeschäft gönnten – denken wir uns zum Beispiel nachgeborene, nichtsdestoweniger finanziell bestens ausgestattete Söhne aus gutem Hause, Dandys, Ästhetizisten, Libertins, Journalisten etc. Auch dieser Personenkreis hatte seine Gründe, sich von den traditionellen bürgerlichen Werten – Fleiß, Redlichkeit, Frömmigkeit, Moral – abzugrenzen und deren Verspottung zu goutieren.

Die Figur der Dirne und das Thema der Prostitution eigneten sich für einige Jahrzehnte bestens, den bürgerlichen Spießer und Moralapostel zu provozieren und schockieren, gleich, ob es in den einschlägigen Liedern um naturalistisches Interesse am ,Milieu‘ ging, um Gesellschaftskritik und soziale Anklage, um Unterhaltungskost nach neoromantischer Mode, eine sexualrevolutionäre Utopie wie bei Frank Wedekind oder expressionistische Lust an der Groteske. Für das schnelle Verschwinden der Dirnenlieder aus den Kabarettprogrammen Mitte der 1920er Jahre führt Roger Stein (2007, S. 517) mehrere Gründe an: die Überstrapazierung des Genres in den Jahren zuvor, eine zunehmend freiere Sexualmoral im Gefolge der Aufhebung der Zensur nach dem Ersten Weltkrieg, den wirtschaftlichen Aufschwung während der sog. ,Goldenen Zwanziger Jahre‘, die Amerikanisierung des deutschen Kulturbetriebs mit neuen interessanteren Frauenrollen, nicht zuletzt auch allgemeine Strukturveränderungen im Kabarettbetrieb, die mit der Bedeutungszunahme des Conférenciers verbunden waren, der jetzt als Komiker agiert, wodurch die ,Programm-Nummern‘ an Bedeutung verloren und für erstrangige Autoren uninteressant wurden. Mit der Machtergreifung der Nationalsozialisten hatte das Thema auf öffentlichen Bühnen ohnehin keine Chance mehr.

Dass Georg Kreisler 1960/61 mit seinem Weihnachtsmann auf der Reeperbahn*) ein kabarettistisches Lied-Genre wiederbelebte, das seit 1925 weitgehend aus dem Unterhaltungsgeschäft entschwunden war und das man nach dem 2. Weltkrieg kaum mehr dem Begriff nach kannte, überrascht nur bei oberflächlicher Betrachtung. Wenn man seinen Blick genauer auf die Person des Autors und das gesellschaftliche Klima der jungen Bundesrepublik richtet, scheint es beinahe unvermeidlich, dass Kreisler sein satirisches Talent neben den schwarzhumorigen Songs, für die er berühmt war, auch an einem Dirnenlied erprobte. Nachkriegsdeutschland war prüde bis zur Verklemmtheit, sentimental, harmoniesüchtig, dabei aber durchaus bigott und auf ,Schlüpfriges‘ versessen (vgl. das öffentliche Interesse an einschlägigen Filmen und Skandalen). Hinsichtlich des Frauenbildes hielt man mehrheitlich noch an den Idealen der NS-Zeit fest (Mutterrolle, fürsorglicher Mittelpunkt der Familie, Asexualität). Insofern bot der gesellschaftliche Hintergrund dem Satiriker alle notwendigen Voraussetzungen, das breite Publikum mit dem Thema Prostitution zu provozieren, speziell wenn er es mit einem religiösen, hochgradig gefühlsbesetzten Ereignis wie Weihnachten in einen Zusammenhang brachte.

Was nun den persönlichen künstlerischen Werdegang Kreislers angeht, darf man davon ausgehen, dass er mit den kabarettistischen Traditionen der Vorkriegszeit vertraut war. Selber 1922 geboren, in Wien aufgewachsen und 1938 zur Emigration in die USA gezwungen, kam er in Hollywood durch verwandtschaftliche Vermittlung schnell mit prominenten Persönlichkeiten des Filmgeschäfts in Verbindung. Als Neunzehnjähriger heiratete er die Tochter von Friedrich Hollaender, einer zentralen Figur der Berliner Kabarett- und Theaterszene der 1920er Jahre, der u.a. auch die Filmmusik mit einschlägigen Dirnenliedern zu dem frühen Tonfilm Der blaue Engel (1930) komponiert hatte. In den Kriegsjahren organisierte Kreisler als Angehöriger der US-Truppen mit anderen ehemaligen Emigranten Veranstaltungen zur Truppenbetreuung, später – wieder in Hollywood –  lernte er Hanns Eisler und Charlie Chaplin persönlich kennen. Ab 1946 trat er dann mit eigenen, meist in makabrer Tonlage verfassten Liedern in einem New Yorker Nachtclub auf. Nachdem dieser Stil den Bossen der Tonstudios als ,unamerikanisch‘ galt und kommerziell ohne Erfolg blieb, kehrte Georg Kreisler 1956 nach Europa zurück und versuchte sein Glück zunächst in Wien, ab 1958 in München, wo er zunehmend besser ankam und 1960 schließlich an den Kammerspielen seinen Durchbruch schaffte. In den kargen Monaten zuvor waren die Aufträge einiger deutscher Rundfunksender lebenswichtig. Insbesondere verdankten die Kreislers (der Komponist war nun mit Topsy Küppers verheiratet und hatte einen neugeborenen Sohn) Henri Regnier, dem Unterhaltungschef des NDR Hamburg, regelmäßige Aufträge. So entstanden die Seltsamen Liebeslieder, aber auch eine Serie mit Weihnachtsliedern, „die sich mit dieser verlogensten Zeit des Jahres kritisch befassen sollten“ (Fink und Seufert, 2005, S. 200), wobei Regnier seinem Künstler ausdrücklich verbietet, irgendwelche Rücksichten zu nehmen.

Ohne dass unser Dirnenlied in Kreislers Biographie speziell erwähnt wird, muss es aus diesem Kontext stammen. Es wurde in zwei unterschiedlichen Rollenfassungen gedichtet, wobei die eine einer weiblichen Sprecherinstanz zugedacht war, die andere einer männlichen. Im Folgenden befasse ich mich nur mit der ersten Variante, deren Text mir straffer und ,stimmiger‘ vorkommt und im Übrigen auch ein Dirnenlied im engeren Sinne darstellt. An der Profession der Sängerin lassen die drei Anfangszeilen des Liedes keinen Zweifel aufkommen: Sie ist ein Kind ,des Milieus‘ und hatte – wenigstens in ihrer Selbstwahrnehmung – nie eine realistische Chance, einen ,ehrbaren Beruf‘ zu ergreifen. Von ihrem Freund Jim hatte sie keine Unterstützung zu erwarten. Im Gegenteil! Er nutzt ihre Zuneigung bei jeder Gelegenheit rücksichtslos aus, so erpresst er sie emotional beispielsweise dazu, seine Verbrechen zu decken. Diese Naivität bringt ihr vier Wochen Knast ein, wobei ihr groteskerweise als besondere Härte der Umstand im Gedächtnis haften geblieben ist, dass es die ganze Zeit Labskaus gegeben hat. (In diesem Detail schlägt die österreichisch-amerikanische Sozialisierung des Autors durch; ein norddeutscher Verfasser hätte vermutlich Saure Lüngerl, Schwäbische Kutteln oder Blaue Zipfel auf den Speiseplan ihrer Zwangsresidenz gesetzt. Weitere ansprechende Rezepte findet man in diesem Blog unter Leckeres vom Piraten…) Jedenfalls erträgt das brave Mädchen ihr schweres Schicksal „mit fröhlichem Gemüt“ (V. 9), weiß sie sich doch mit einem Weihnachtslied zu trösten, demzufolge „dann und wann“ (V. 11) an der Reeperbahn „ein“ (!?) Weihnachtsmann anzutreffen sei, der geplagten Seelen freundlich entgegenlächelt bzw. -bimmelt und ihnen treulich-hilfreiche Begleitung anbietet.

Die Textpassage wirft ein paar Fragen auf, die nicht ohne weiteres zu beantworten sind: Zieht die Sängerin Trost aus dem weihnachtsgestimmten Liedchen oder aus der Hoffnungsperspektive, die es eröffnet und die von ihr für bare Münze genommen mit? Wenn man einmal vom zweiten Fall ausgeht, irritiert die Verwendung des unbestimmten Artikels in Vers 11. Anscheinend rechnet das Lied nicht damit, dass sich ,der‘ im Sinne von ,der echte‘ Weihnachtsmann auf der Reeperbahn herumtreibt, sondern nur irgendeiner. Sollten wir uns jetzt einen Mann im Nikolauskostüm und Glöckchen vorstellen, der unter den Passanten kleine Werbegeschenke verteilt und sie in die ansässigen Etablissements einlädt**) oder einen freundlichen Freier mit roter Zipfelmütze und prall gefülltem, ,bimmelndem‘ Geldbeutel? Oder doch eine von höherer Instanz bestellte Aushilfskraft, die dem richtigen Weihnachtsmann in der Hauptsaison zur Hand geht? Fragen über Fragen…

Die nächste Strophe zeichnet ein groteskes Bild von der Liebesbeziehung zwischen Jim und seiner ,Braut‘. Als er hinter ihr Berufsgeheimnis kommt, verdrischt er sie in einem Eifersuchtsanfall auf das Brutalste, was aber beide Partner durchaus als Ausdruck von tiefer Zuneigung interpretieren. Mit dieser Passage tradiert Kreisler einen alten Topos von Dirnenliedern. Brecht-Kennern fällt vermutlich spontan die Zuhälterballade der Dreigroschenoper ein, das Duett zwischen Macheath und Jenny:

Brecht war allerdings keineswegs der Erfinder dieser speziellen Form tätlicher Zuneigung, die auch als Spielart schwarzen Humors zu lesen ist. In seiner Abhandlung über das Deutsche Dirnenlied verfolgt Roger Stein (2007, S. 450 f.) die Spur dieses Topos bis auf Francois Villons Ballade von Villon und der dicken Margot (15. Jh.) zurück.

Mit seinen Folgeversen 27-30 setzt Kreisler auf Brechts Villon-Neudichtung nochmals ,einen drauf‘, wodurch das Geschehen endgültig und beim besten Willen nicht mehr ernsthaft, d.h. romantisch-sentimental rezipierbar ist. Die Sängerin, inzwischen als Super-Opfer von ihrem Geliebten, einem übergriffigen Arzt und zuletzt auch noch von der Polizei malträtiert, treibt ihre Selbstverleugnung auf die Spitze, indem sie bekennt, dass ihr der Geliebte, der für die gesamte Misere ja ursächlich verantwortlich ist, am meisten leid tut (V. 30). Warum wohl? Wir ahnen es schon:  Fern auf hoher See hat der arme Jim keine Chance, dem netten Reeperbahn-Weihnachtsmann zu begegnen…

So weltfremd uns Kreislers Dirne bislang begegnet ist, so illusionslos sieht sie ihrem Alter entgegen. Sie weiß genau, dass Schönheit vergänglich ist. Einsamkeit, Obdachlosigkeit und Hunger werden ihr Schicksal sein. Für ihre schöne Tätowierung auf dem Bauch – eine Palme als Symbol für Aufrichtigkeit und Rechtschaffenheit – wird sich dann niemand mehr interessieren. Doch dann ereignet sich mitten in diesen düsteren Gedanken ein sehr persönliches Weihnachtswunder. Während sich alle Männer von der greisen Hure abwenden, verleugnet der Reeperbahn-Weihnachtsmann ihre alte Bekanntschaft nicht. Da sie schon nicht mehr so gut sieht und das Wunder kaum erkennen kann, macht der gute Nikolaus ihr mit nachdrücklichem Gebimmel klar, was Sache ist, worauf sie – natürlich immer noch innerhalb ihrer Vision – von einer Woge der Rührung überschwemmt wird. Endlich fließen Tränen, die Reeperbahn dehnt sich lang und länger und offenbart sich, würde ich jetzt ein wenig anachronistisch behaupten, als Stairway bzw. Highway to Heaven***). Das abschließende Verspaar des eigentlichen Dirnenliedes formuliert ebenso lakonisch wie ironisch die Essenz des Ganzen: Wer aufgrund seiner Lebenserfahrungen realistischerweise nicht mehr an Liebe und Treue glauben kann, dem bleibt immer noch der Weihnachtsmann…

Nun erfolgt ein abruptes Umschalten der Protagonistin vom poetischen Weihnachtslied zum prosaischen Alltagsgeschäft, dessen geistesgegenwärtige Schnelligkeit mancher Bundesligamannschaft zum Vorbild gereichen könnte. Ihr kommt jemand entgegen, der weder bimmelt noch sonstige Ähnlichkeiten mit einem Weihnachtsmann aufweist. Dafür passt er in das professionelle Beuteschema und wird konsequent angesprochen. Leider beißt er nicht an. Dann vielleicht ein andermal. Die Hure verabschiedet den ,Süßen‘ mit einem freundlichen Spruch, den er vermutlich schon von Muttern her kennt.****)   

*) Ich habe mich beim voranstehenden Video für die Interpretation von Suzanna Meyer entschieden. Diese Ballade wurde auch von Kreislers Ehefrauen Topsy Küppers (LP Frivolitäten, 1963) und Barbara Peters (CD Fürchten wir das Beste, 1997) gesungen.

**) Die für männliche Interpreten geschriebene Variante des Liedes legt diese Deutung nahe, denn dort wird am Ende – zumindest in einer Version des Sängers – der alt gewordene Jim als Reeperbahn-Weihnachtsmann angeheuert.

***) Rockballade von Led Zeppelin, 1970/71; amerikanische Fernsehserie, 1984-89 produziert; dt.: Ein Engel auf Erden.

****) Vgl. Revue-Operette Heimweh nach St. Pauli von Lotar Olias, 1954, spätere Neufassung als Musical mit Freddy Quinn in der Hauptrolle (1962). Ich konnte nicht ermitteln, ob die ,Anmach-Sprüche‘ am Ende des Kreislerschen Dirnenliedes bereits der Erstfassung (Radiosendung 1960, Single Das gibt es nur bei uns in Gelsenkirchen, 1961) angehängt waren oder erst später, nach dem Schlagererfolg Freddy Quinns bei bestimmten Konzerten – mehr oder minder improvisierend – hinzugefügt wurden. Letzteres halte ich für wahrscheinlicher.

Hans-Peter Ecker, Bamberg

Literatur:

Hans-Juergen Fink und Michael Seufert: Georg Kreisler. Gibt es gar nicht. Die Biographie. Frankfurt: Fischer, 2005.

Roger Stein: Das deutsche Dirnenlied. Literarisches Kabarett von Bruant bis Brecht. Köln, Weimar und Wien: Böhlau, 2006.

Tango, Torten und ein elektrisches Klavier: „In einer kleinen Konditorei“ von Ernst Neubach und Fred Raymond (1928)

Das folgende Video vermittelt das Klanggefühl einer frühen Tonaufnahme von 1929:

Die moderne Interpretation von Max Raabe (2007) zitiert Fred Raymonds Tangolied erinnernd und reflektierend, ohne es zu veralbern; Raabe begegnet diesem ,klassischen‘ Schlager in vollem Bewusstsein der historischen Distanz, aber durchaus mit Sympathie und Respekt:

Ernst Neubach

In einer kleinen Konditorei

In einer kleinen Konditorei, da saßen wir zwei
Bei Kuchen und Tee.
Du sprachst kein Wort, kein einziges Wort und wusstest sofort,
Dass ich dich versteh.
Und das elektrische Klavier, das klimpert leise
Eine Weise von Liebesleid und Weh. 
Und in der kleinen Konditorei, da saßen wir zwei
Bei Kuchen und Tee.

Wenn unser Herz für ein geliebtes Wesen schlägt,
Wenn man ein liebes Bild in seinem Herzen trägt,
Dann meidet gern man all den Lärm, den lauten Trubel, das Licht – 
Die jubelnde Welt, die liebt man dann nicht.
Und ist das Herz vor lauter Liebessehnsucht krank,
Sucht es im Dunkeln sich still eine Bank;
Denn in der Dämmerung Schein sitzt man so einsam zu zweit
In einem Eckchen glücklich allein.

In einer kleinen Konditorei, da saßen wir zwei [...]

Meine Kindheit verbrachte ich in den 1950er und frühen 1960er Jahren in bescheidenen sozialen Verhältnissen, nichtsdestoweniger zufrieden, ja glücklich. Ein großer Radiokasten war der unangefochtene Mittelpunkt unseres Familienlebens und lief, solange wir nicht gerade schliefen oder einen Ausflug machten, praktisch ununterbrochen. Bis zu jenen Jahren irgendwo in den mittleren Sechzigern, als meine ursprünglich sehr netten Eltern plötzlich anfingen komisch zu werden und ich auf SWF 3 die Beatles und deren langhaarige Artverwandte entdeckte, hatte der erste Kanal des Südwestfunks unser Leben mit vielen wunderbaren Schlagern aus der Vorkriegszeit verschönt. Nicht wenige davon sind mir – natürlich zumeist fragmentarisch – bis heute im Gedächtnis verblieben, darunter auch der heute zu besprechende Titel, und zwar mit den mich seinerzeit ästhetisch verstörenden Anfangszeilen:

In einer kleinen Konditorei, da saßen wir zwei
Bei Kuchen und Tee.

Obwohl ich schon als Vier- bzw. Fünfjähriger lyrisch stark interessiert war und viele Abzählreime aufsagen konnte, überforderte mich das Reimschema der Eingangsstrophe dieses Schlagers hoffnungslos. Der zweite Vers hätte m.E. unbedingt auf „ei“ enden sollen, ja müssen, und so ersetzte ich beim Nachsingen instinktiv „Tee“ durch „Wein“; obwohl auch dieses Reimwort nicht 100%ig passte und situativ beinahe genauso absurd schien wie „Tee“: Zum Sonntagskuchen gab’s bei uns immer Kaffee! Ebenso bei Tante Irma, Patenonkel Robert und meiner Oma aus Holle bei Hildesheim! Wein war in einem Pfälzer Haushalt zwar stets in Reichweite, wurde aber allenfalls einmal zum Leberwurstkuchen konsumiert. Tee (mit Rum!) tat sich hingegen nur an, wer eine schwere Grippe hatte oder im Winter einmal völlig durchgefroren war. Was aber faktisch nur alle paar Jahre einmal vorgekommen ist, weil es in einer Industriestadt am Rhein – schon damals! – in der Regel ziemlich milde Winter hatte.

Eine poetischere Alternative lernte ich später im Musikunterricht kennen (Oder im Sportverein? Da gehen meine Erinnerungen jetzt etwas durcheinander …), die mich auch in pragmatischer Hinsicht überzeugte:

In einer kleinen Konditorei, da saßen wir zwei
Und fraßen für drei.

Ja, hier stimmt alles! Mit dieser Variante konnte ich leben und den Konditorei-Tango als musikalisches Idealbild romantischer Zweisamkeit im Hinterkopf für die Zukunft einlagern. Allerdings änderten sich im Lauf der Zeiten, wie man beispielsweise aus der Bravo erfuhr, die vorherrschenden Vorstellungen von Romantik und romantischen Lokalitäten nicht unerheblich, so dass die Kleine Konditorei ganz leicht in meinem Hinterhauptslappen hätte verschimmeln können, wenn mir vorgestern nicht zufällig dieses Lieder-Blog…

Das Tango-Lied aus der Spätphase der Weimarer Republik besitzt einen relativ schwierigen Text, etliche historische Bezüge unterschiedlicher Art, eine bemerkenswerte Rezeptionsgeschichte und zu guter Letzt bietet es auch der bildungshungrigen Zeitgenossin interessante Impulse. Hier denke ich u.a. an das Konzept des ,Flappers‘, das evtl. den Lebensentwurf so mancher emanzipierten Frau noch aufregender gestalten könnte. Kurz gesagt: In einer kleinen Konditorei ist m.E. ein absolut würdiger Gegenstand für die ,Bamberger Anthologie‘, was nachfolgend auszuführen ist. 

Zuerst, d.h. irgendwann im Jahre 1928, scheint Fred Raymond der Einfall zur Melodie des Schlagers gekommen sein. Es war, im Einklang mit dem musikalischen Zeitgeist und der angesagten Tanzmode, ein Tango. Mit dem Massenelend im Gefolge der Weltwirtschaftskrise von 1927 hatte sich der Musikgeschmack drastisch verändert: Die Zeit der frech-frivolen Schlager der ,goldenen‘ mittzwanziger Jahre (deren ,Gold‘, objektiv betrachtet, ohnehin nur ein trügerischer Talmi-Glanz gewesen ist!) und ihrer beschwingten Rhythmen war abgelaufen. Die Unterhaltungsindustrie reagierte auf die neue Lage mit mehrheitlich langsamen, sentimental-romantischen Schlagern und Tänzen, die von Historikern der Populärkultur als „weiche Welle“ zusammengefasst werden.

Der gebürtige Wiener Fred Raymond (1900-1954, eigentlich Friedrich Raimund Vesely), Sohn tschechischer Zuwanderer, hatte sich im Musikgeschäft der Weimarer Republik schon in den ,roaring twenties‘ als Komponist der leichten Muse einen Namen gemacht. Sein erster großer Erfolg war die Melodie für den Schlager Ich hab das Fräulein Helen baden sehn auf einen Text seines Förderers Fritz Grünbein (1924). Ein Jahr später toppte er diesen Hit mit Ich hab mein Herz in Heidelberg verloren, einem Lied, das in Deutschland schnell zu einer Art Volkslied avancierte. Den Text dafür schrieb schon Ernst Neubach, mit dem Raymond  in den nächsten Jahre produktiv zusammenarbeiten sollte. Die ,Weiterverarbeitung‘ der überaus erfolgreichen Heidelberg-Hymne zu einem Singspiel kann als Modell für das spätere Schaffen des Wiener Komponisten betrachtet werden, dessen Talent es war, zugkräftige Musiknummern (Schlager, Operetten- oder Film-Melodien) zu erfinden, um die herum sich später Theaterstücke, Revuen oder Drehbücher stricken ließen. Das für ihn charakteristische Genre des Musiktheaters ist als ,Revue-Operette‘ bezeichnet worden.

So brachte er seinen Konditorei-Tango in der ,musikalischen Komödie‘ Die Jungfrau von Avallon (UA Dresden, 16.6.1929) von Paul Franke und Peter Herz unter, und zwar so erfolgreich, dass das Stück in seiner Zweitfassung (UA Hamburg-Altona, 30.11.1929) bereits unter dem Titel In einer kleinen Konditorei auf dem Spielplan stand. Eine Inhaltsangabe, höchstwahrscheinlich der Erstfassung, findet man im Großen Operettenbuch (S. 242), die ich aber hier nicht referiere, weil daraus nicht eindeutig hervorgeht, in welcher Situation der Handlung welche Bühnenfigur unser Lied singt. Zur breiteren Popularisierung des Schlagers trug die Verfilmung des Stoffes in einer veränderten Fassung bei, für die der Wiener Regisseur und Drehbuchautor Robert Wohlmuth verantwortlich zeichnete.  Zu diesem Film, der bei der zeitgenössischen Kritik nur auf begrenzten Zuspruch stieß, da er in Punkto Regie, Idee und Photographie „ganz prachtvolle Ansätze“ erkennen ließe, aber letztlich durch eine unglaubliche Auswalzung seiner besten Momente in „unwiderstehlicher Lächerlichkeit“ ende (K. Wendtlandt, Geliebter Kintopp, 1990, zitiert nach dem einschlägigen Wikipedia-Artikel), seien dennoch zwei Anmerkungen gestattet.

Wohlmuths Filmdrama fällt in die Übergangszeit vom Stumm- zum Tonfilm. Für einige Monate existierten Stummfilme, Tonfilme und nachträglich vertonte Stummfilme nebeneinander (vgl. www.filmportal.de). In einer kleinen Konditorei wurde 1929 parallel zur Theatervariante als Stummfilm gedreht, kurz darauf, vermutlich nur partienweise, als einer der ersten deutschen Filme mit einer Tonspur versehen und bereits am 20. Januar 1930 dem Publikum vorgeführt. Diese kurze, filmgeschichtlich aber außerordentlich spannende Zeit reflektiert der Schlager Mein Bruder macht beim Tonfilm die Geräusche (1930), dessen Melodie ebenfalls Fred Raymond geschrieben hat:

Im Vergleich zur ersten Theaterfassung wurde im Drehbuch für die Verfilmung die Handlung des Konditorei-Lustspiels erheblich verändert, indem die Figurenkonstellation hinsichtlich ,guter‘ und ,böser‘ Charaktere unproblematischer gestaltet wurde. In der ersten Theaterfassung heißt die attraktive weibliche Hauptfigur Georgette und ist die Nichte der Konditoreibesitzerin; im Film entspricht ihr die hübsche Kellnerin Suzette. Georgette liebt zunächst ihren armen Klavierlehrer, verfällt dann aber einem vornehmen Herrn aus Paris, der aus ihr einen Revuestar machen will, und folgt diesem in die Metropole. Im Film bildet sie mit dem Kaffeehausgeiger André ein Paar, bis sie in die Fänge einer mondänen Frau gerät, die sie in einem zwielichtigen Etablissement arbeiten lässt. In beiden Fassungen folgen nun ,Rettungsversuche‘: Während das Zusammentreffen von Georgette und ihrem Klavierlehrer in Paris zufällig erfolgt, er sie aber relativ leicht vom schlechten Charakter ihres Mäzens überzeugen kann, startet André im Film seine Rückholaktion bewusst und zielstrebig, verfällt dann allerdings bald selber dem Charme der verführerischen Madame Langiere (Assoziation zu ,lingerie‘ = Unterwäsche?).

Im Schlussakt des Theaterstücks, der nun wieder in der Konditorei, tief in der französischen Provinz angesiedelt ist, treffen alle Figuren mehr oder minder zufällig noch einmal aufeinander. Man spricht sich aus und sortiert sich neu; der Pariser Lebemann kann Georgette von der Ernsthaftigkeit seiner Absichten überzeugen und beide entschließen sich zu einem gemeinsamen Lebensweg. Der Klavierlehrer bleibt dabei naturgemäß auf der Strecke und muss sich mit seiner Kunst und einer inzwischen erfolgreichen Komponisten-Karriere trösten, was bei einem Teil des Publikums schale Gefühle hinterlassen haben mag … Viel befriedigender im Sinne der ,poetischen Gerechtigkeit‘ endet hingegen die Filmfassung: André widersteht dank moralischer Besinnung den Attacken der skrupellosen femme fatale. Zum schönen Happy End darf er mit seiner geliebten Suzette nach Nizza reisen, wo ihn die Stelle eines Kapellmeisters erwartet. So findet hier das unzweifelhaft ,richtige‘ Paar zusammen und wird für seine bewä/ahrte Tugend mit sozialem Aufstieg belohnt. So lieben es nun mal die Kinogänger!

Nachzutragen bleibt, dass in Wohlmuths Film die verführerische Madame Langiere von der seinerzeit recht bekannten Hamburger Schauspielerin und späteren Jugendbuchautorin Valerie Boothby (1904-1982) dargestellt wird.  Als Tochter des Theaterleiters Ernst Drucker spielte sie von 1926 bis zu ihrer Emigration 1933 in zahlreichen Filmen mit, wobei sie sich auf den Typus des sog. ,Flappers‘ spezialisiert hatte. Der Begriff überschneidet sich semantisch mit dem der ,femme fatale‘ und bezeichnete einen im Amerika der Prohibitionsjahre aufgekommenen modernen weiblichen Sozialtypus, der sich über die etablierten Regeln guten Benehmens ausgesprochen selbstbewusst, Wikipedia schreibt ,ungestüm‘, hinwegsetzte. Einschlägig auftretende junge Frauen trugen ihre Röcke fast ebenso kurz wie ihr Haar, schminkten sich, rauchten und sprachen ungeniert dem Alkohol zu, bevorzugt hochprozentigem. Zur Etymologie des Wortes ,Flapper‘ gibt es verschiedene Theorien: In Großbritannien scheint sich das Wort beim Aufkommen (Belege ab 1912) auf das Flügelflattern nestflüchtender Vögel bezogen zu haben, in den USA auf eine Schuhmode. Trägerinnen von Gummischuhen fanden es damals schick, ihre Treter unverschlossen und beim Gehen ,flattern‘ zu lassen. (Vgl. Wikipedia.)

Leider konnte ich bei meinen Recherchen zu den verschiedenen Fassungen der Kleinen Konditorei nicht herausfinden, wer das Lied unter welchen Umständen vorträgt. Nun habe ich den starken Verdacht, dass es jeweils jenem männlichen Tenor zugedacht war, der den hübschen Sopran am Ende heimführen darf (Im Bühnenstück singen übrigens beide Rivalen in der Tenorlage!), und dass es am besten kurz vor der abschließenden Wiedervereinigung des Heldenpaares zu singen wäre. Gleichwohl sind auch andere Varianten denkbar, bis hin zu der Möglichkeit, es als Duett des wieder zusammengeführten Paares aufzuführen (vgl. hier). Allerdings muss uns diese Ungewissheit nicht allzu sehr grämen und schon gar nicht beim Verständnisversuch des Textes selbst behindern; schließlich hat sich das Tango-Lied ohnehin bald verselbstständigt, so dass sich spätestens nach dem Krieg kein Hörer mehr für die ursprünglichen narrativen Einbettungen des Titels interessiert hat.

In der ersten Strophe erinnert sich die höchstwahrscheinlich männlich zu denkende Sprecherinstanz an ein früheres romantisches Beisammensein in einer Konditorei. Dass ich mir das Ich des Liedes hier männlich denke und das Du weiblich, hat etwas mit den gendertypischen Redeanteilen der erinnerten Szene zu tun, aber auch mit den Konventionen für sentimentale Äußerungen in Tango-Liedern. In diesem Genre schickt sich dergleichen eigentlich nur für Männer! Einzelne Ausnahmen sind wahrscheinlich zu finden, aber diese bestätigen letztlich die Regel. Dass das Pärchen seine harmonische Zweisamkeit in einer Konditorei gepflegt hat, ist stark zu bezweifeln, bezeichnet der Begriff doch einen Handwerksbetrieb, in dem Zuckerbäcker herumwuseln, mit Schokolade spritzen und alles irgendwie klebt. Romantisch aufgelegte Kuchenesser und Teetrinker würden ihnen die Laufwege verstopfen und in jeder Hinsicht nerven. So dürfen wir mit einiger Sicherheit davon ausgehen, dass unsere Verliebten in einem besagter Konditorei angeschlossenen Café turtelten, das die Sprecherinstanz in ihrer seligen Erinnerung der Einfachheit halber – und ein bisschen vielleicht auch dem Reimschema zuliebe – der Konditorei zugeschlagen hat, was uns recht sein soll, weil wir ja nicht päpstlicher als der Papst sein wollen.

Für die nächsten zwei Verse springt die Sprecherinstanz ins Präsens; das elektrische Klavier (wahrscheinlich ein Sostente Piano nach der Erfindung von Eugen Singer, Paris 1891; schließlich spielt unsere Szene in der französischen Provinz und nicht im mondänen Berlin, wo man 1928 eventuell schon einen Neo-Bechstein angetroffen hätte) klimpert im selben Augenblick, in dem der Sänger seinen Erinnerungen an verlorenes Glück nachhängt. Die leise Weise des E-Pianos schmeckt nach „Liebesleid und Weh“, was die Stimmung des Ichs spiegelt, das aber gleich wieder in die Vergangenheit ausbüxt und noch einmal die schöne Erinnerung der Eingangsverse evoziert.

Mit der dritten Strophe transzendiert die Sprecherinstanz ihre persönliche Situation und stellt eine allgemeine Betrachtung an: Wenn jemand verliebt ist (unausgesprochen wird man sich wohl, auf die Folgestrophe vorgreifend, hinzudenken müssen: … und dem geliebten Wesen fern), dann vermeidet man laute Geselligkeit und verkrümelt sich in ein stilles Eckchen, um seiner Sehnsucht, seinen Träumen und Wünschen nachhängen zu können. Die letzte Strophe führt diesen Gedanken noch weiter aus. Ich glaube nicht, dass in ihr noch etwas Neues passiert, gebe aber gerne zu, dass die Schlusszeilen seltsam gebaut sind:

Denn in der Dämmerung Schein sitzt man so einsam zu zweit
In einem Eckchen glücklich allein.

Die Formulierung „einsam zu zweit“, deute ich so, dass der Verliebte zwar faktisch allein auf seinem stillen Bänkchen sitzt, die Geliebte aber im Herzen bei sich spürt. Sind seine Erinnerungen nur intensiv genug, können sie das vergangene Glück vergegenwärtigen, so dass den einsamen Tagträumer tatsächlich Glücksgefühle durchströmen. Für die Filmhandlung könnte ich mir als dramatischen Effekt vorstellen, dass in genau diesem Augenblick die Geliebte tatsächlich wieder im Café auftaucht. Und dann sind auch wieder Kuchen und Tee fällig!

Hans-Peter Ecker, Bamberg

Literatur:

André Port le roi: Schlager lügen nicht. Deutscher Schlager und Politik in ihrer Zeit. Essen: Klartext, 1998.

Geschichte des deutschen Films. Hrsg. von Wolfgang Jacobsen, Anton Kaes und Hans Helmut Prinzler. Stuttgart, Weimar: Metzler, 1993.

Dieter Reichardt: Tango. Verweigerung und Trauer. Frankfurt: suhrkamp, 1984.

Heinz Wagner: Das große Operettenbuch. Berlin: Parthas, 1997.

Michael Wedel: Der deutsche Musikfilm. Archäologie eines Genres 1914-1945. München: text + kritik, 2007.