Als man in der Schule noch was fürs Leben lernen konnte. „En d’r Kayjass Nummer Null“ von den Drei Laachduve (1938), den Vier Botze (1945) und anderen

Drei Laachduve

En d`r Kayjass Nr. 0

En d'r Kayjass Nummer Null 
steiht en steinahl Schull
un do hammer dren studeet.
Unser Lehrer, dä hieß Welsch, 
sproch en unverfälschtes Kölsch
un do hammer bei jelihrt.
Un da hammer hin un her üvverlaat
un han für dä Lehrer jesaht:

Nä, nä dat wesse mer nit mih, 
janz bestemp nit mih
un dat hammer nit studeet.
Denn mer wore beim Lehrer Welsch en d'r Klass
un do hammer sujet nit jelihrt.
Ävver, ävver, ävver dreimol Null es Null, es Null,
denn mer woren en d'r Kayjass en d'r Schull;
dreimol Null es Null, es Null,
denn mer woren en d'r Kayjass en d'r Schull. 

Es en Schiev kapott, es ene Müllemmer fott,
hät d'r Hungk am Stätz en Dos':
Kütt dä Schutzmann anjerannt,
hät uns Pänz dann usjeschannt, -
saht: Wat maat ihr zwei dann blos!
Un da hammer hin un her üvverlaat
un han för dä Schutzmann jesaht:
 
Nä, nä dat wesse mer nit mih...
Ävver, ävver, ävver dreimol Null es Null, es Null [...]

Neulich krät uns en d'r Jass 
die Frau Käzmann beim Fraaß, -
saht: Wo wollt ihr zwei dann hin?
Uns Marieche sitz zo Hus, 
weiss nit en un weiss nit us:
Einer muss d'r Vatter sin!
Un da hammer hin un her üvverlaat
un han för die Käzmanns jesaht:

Nä, nä dat wesse mer nit mih [...]
Ävver, ävver, ävver dreimol Null es Null, es Null [...]

     [Quelle: www.griechenmarkt.de [1]; im obigen Video singt und agiert der Kinderchor der Hasenschule; vgl. www.hasenschule.de.]

Viele ältere Kölner Karnevalslieder leben davon, dass sie opulente, gerne nostalgisch verklärte Genreszenen aus dem prallen Volksleben guter alter Zeiten darstellen oder im unerschöpflichen Schatz lokaler Anekdötchen,  Skandälchen und sonstiger Begebenheiten graben, um das kollektive Gedächtnis der Domstädter auf eine ganz ureigene Weise zu bereichern. Manchmal entwickeln solche Lieder eine besondere Brisanz, wenn sie vom Jeckenvolk mit speziellen Kontexten in Verbindung gebracht werden. All das trifft auf das Vorkriegslied von der ,steinahl Schull en d’r Kayjass‘ mit ihrem Lehrer Welsch zu, weshalb es auch immer wieder gecovert worden und über Generationen hinweg lebendig geblieben ist.

Worum geht’s?

Die Sprecherinstanz bilden zwei (in anderen Textversionen sechs) männliche Absolventen einer (nicht zuletzt wegen dieses Liedes) berühmten Kölschen Lehr- und Erziehungsanstalt, an der ein Lehrer namens Welsch tätig gewesen sein soll. Dass der Liedtext hier die historische Realität ein wenig verbiegt, ist allgemein bekannt und wird später noch genauer erklärt. Unsere ,Kadetten‘ geben einige Episoden aus ihrer Biographie zum Besten, wobei der große Bogen ihrer Erzählung darin besteht, dass sie sich in der Schule habituell daran gewöhnt haben, sich generell dumm zu stellen, was ihnen dann im ,richtigen Leben‘ immer wieder zugutekommt. Dieses Prinzip funktioniert schon bei den Kindern („Pänz“) gegenüber dem „Schutzmann“, der ihren Lausbubenstreichen[2] auf die Schliche zu kommen versucht, und bewährt sich auch später in einer wesentlich heikleren Angelegenheit, als es um die Frage geht, wer Käzmanns Mariechen geschwängert haben könnte.

Jedes Mal zelebrieren die Schlitzohren ihr vorgebliches Nichtwissen nach einem gleichen Ritual: Demonstrativ langsam überlegen sie zunächst einmal „hin un[d] her“. Man sieht förmlich, wie ihnen von der Anstrengung des Nachdenkens die Schweißtropfen auf die Stirn treten, und ist von ihrem guten Willen, bei der Wahrheitsfindung mitzuhelfen, überzeugt. Niemand würde ihnen mangelnde Kooperationsbereitschaft unterstellen, bis schließlich das Geständnis des Nichtwissens befreiend aus ihnen hervorbricht: „Nä, nä dat wesse mer nit …“. Hier verändert sich der ganze Gestus des Gesangs und die Begründung für das fehlende Wissen erfolgt schon fast triumphierend: Man sei schließlich in der Kaygasse zur Schule gegangen und habe beim Lehrer Welsch studiert. Damit sei doch alles klar!

Der vordergründige Hintergrund

Ein Teil des ,Witzes‘ dieses Schlagers, der übrigens im Dezember 1938 von den Drei Laachduve[3] aufgenommen worden und 1945 durch die Coverversion der Vier Botze[4] zu breiter Popularität gelangt ist, erklärt sich nur Kölnern bzw. Kennern der lokalgeschichtlichen Bezüge. An der Ecke Kaygasse/Großer Griechenmarkt gab es zwischen 1891 und 1939 eine Sonderschule. Wenn deren Ehemalige ihre Unwissenheit, in welcher Sache auch immer, verkündet hätten, dürfte das den Vorurteilen ihrer Mitbürger einigermaßen entsprochen haben. Zusätzlich berufen sich die Schlitzohren unseres Liedes auf einen Lehrer Welsch, dem ebenfalls eine historische Figur zugrunde liegt. Heinrich Welsch (geb. 1848 in Arzdorf, Landkreis Bonn, gest. 1935 in Köln) war ein ausgesprochen verdienstvoller Pädagoge, der seine lokale Berühmtheit mitnichten einem besonders schlechten Unterricht zu verdanken hat, sondern seinem durchaus erfolgreichen Engagement für benachteiligte Arbeiterkinder und sog. ,gefallene Mädchen‘. 1905 gründete Welsch im rechtsrheinischen Industrievorort Kalk eine Hilfsschule, der er bis zu seinem Ausscheiden aus dem Schuldienst noch vor dem Ende des Ersten Weltkriegs als Rektor vorstand. Mit der Sonderschule in der Kaygasse[5] hatte Welsch zwar nie zu tun, aber vom Milieu her, in dem sich sein Wirken abspielte, spricht nichts gegen seine fiktionale Versetzung ins zentrumsnähere Griechenmarktviertel.

An der Stelle der im 2. Weltkrieg zerstörten Sonderschule hängt heute eine Gedenktafel für die „steinahl Schull“ des Karnevalsliedes und ihren mathematischen Kernsatz. Der großartige Lehrer Welsch hat sein Ehrengrab hingegen, dem realweltlichen Sachverhalt entsprechend, auf dem Kalker Friedhof gefunden – der gewissermaßen schon in Sibirien liegt, zumindest wenn wir den topographischen Vorstellungen des alten Römers Konrad Adenauer folgen wollen, was im Karneval schon einmal erlaubt sein sollte.[6]

Eine vordergründige Irritation, die sich aber vor dem hintergründigen Hintergrund auflösen lässt

Bei meiner ersten Begegnung mit diesem Lied habe ich mich – selber jahrzehntelang beruflich der Paukerei verbunden – zunächst darüber gefreut, dass man hier einem verdienten Lehrkörper ein karnevalistisches Denkmal gesetzt hat. Beim genaueren Studium des Textes beschlich mich dann aber schnell das ungute Gefühl, dass der Lehrer Welsch über dieses Monument seines Wirkens nicht besonders glücklich gewesen wäre, bescheinigt es doch der Welt, dass aus seiner Lehranstalt rechte Taugenichtse hervorgegangen seien, humane Nullen sozusagen, die nichts anderes im Sinn gehabt hätten, als ihre Mitmenschen zu plagen, Tiere zu quälen und die Zahl ,gefallener Mädchen‘ zu vergrößern, deren Rehabilitation sich ihr philanthropischer Lehrer doch gerade auf sein Banner geschrieben hatte.

Dass solch eine Geschichte in karnevalistischen Kontexten ,funktionieren‘ konnte, war mir leicht vorstellbar, verbinden doch viele Zeitgenossen ihre Erinnerungen an schulische Verhörsituationen mit unguten Gefühlen[7] und könnten es demzufolge durchaus genießen, im Kollektiv ihr pauschales Nichtwissen triumphal in die Welt hinauszuposaunen. Und selbst gute Schüler ohne einschlägige Posttraumata könnten bei närrischen Gelegenheiten und unter zusätzlichem Einfluss einiger Kölsch dazu gebracht werden, vorübergehend in die Identität eines Lümmels der letzten Bank zu schlüpfen und fröhlich zu behaupten, dass sie nichts anderes in ihrem Kopf hätten als die mathematische Weisheit, dass dreimal Null nie mehr als Null ergibt, so oft man auch nachrechnet. Soweit reichte also meine Phantasie. Aber dass ein heiteres Karnevalslied Sympathie für Schlitzohren bekunden sollte, die sich vor der Verantwortung für eine Vaterschaft drücken und ein armes Mädchen mehr oder minder hämisch sitzen lassen, und dass besagtes Lied dann noch über Jahrzehnte hinweg von den ,Großen‘ der Kölner Musikszene gecovert und populär bleiben konnte, das irritierte mich schon!

Ich denke, dass diese Irritation sich auflösen lässt, wenn man die zeitlichen Kontexte der frühen Veröffentlichungen – 1938 und 1945 – mitbedenkt und dann den Text des Liedes um Botschaften erweitert, die für ein wachsames Publikum  ,zwischen den Zeilen‘ zu erahnen sind.  Dass karnevalistische Verlautbarungen – sei es in der Form von Büttenreden, Kostümierungen, Dekorationen oder auch Liedern – in der Vor- und Nachkriegszeit auf Zuschauer und Zuhörer gestoßen sind, die es gewohnt waren, Zwischentöne, Andeutungen und Sinnbrüche zu erkennen und entsprechend zu deuten, darf m.E. vorausgesetzt werden.

Dass sich die Schlitzohren von der Kayjass-Schull 1938 jeglicher Befragung durch Autoritäten entziehen, indem sie sich habituell und pauschal hinter einem vorgeblichen Nichtwissen verschanzen, kann (muss?) in der Vorkriegszeit als grundsätzliche System-Verweigerung, als passiver Widerstand verstanden werden. In diesem Kontext rückt auch die anscheinend schäbige Verleugnung der eigenen Vaterschaft in ein anderes Licht und erscheint als Absage an die nationalsozialistische Familienideologie. Das (proletarische) Sprecherkollektiv, das sich den ,Anmutungen‘ der damaligen Gesellschaft verweigert, liefert so ein Gegenbild zum staatskonformen Verhalten der Organisatoren und Aktivisten des Kölner Karnevals, die sich 1938 – jedenfalls mit übergroßer Mehrheit – den Forderungen des staatlichen Propagandaapparats unterworfen hatten.[8]

1945 stellte sich der gesellschaftspolitische Kontext plötzlich ganz anders da. Wer jetzt behauptet hätte, von nichts nix zu wissen, hatte vermutlich einiges zu verbergen, was unter den neuen Machtverhältnissen gar nicht gut angekommen wäre. Damit haben sich, ohne dass dafür auch nur ein Buchstabe im Text des Liedes verändert werden musste, die Kayjass-Absolventen – 1938 noch Widerständler und Systemverweigerer – im Laufe kürzester Zeit in ehemalige Mitläufer der Naziherrschaft verwandelt, die im Lied der Vier Botze satirisch bloßgestellt werden. Inwieweit spätere Coverversionen, zum Beispiel von den Bläck Fööss (1973) oder den Höhnern (1979), ebenfalls auf spezielle zeitgenössische Konstellationen angespielt haben könnten, entzieht sich meiner Kenntnis.

Nachklapp a: Der Lehrer-Welsch Sprachpreis

Unser Karnevalslied preist den Lehrer Welsch ausdrücklich dafür, dass er ein „unverfälschtes Kölsch“ gesprochen habe. Daran anknüpfend verleiht seit 2004 die Kölner Sektion des ,Vereins Deutsche Sprache‘ einen ihm gewidmeten Preis. Erster Preisträger war Alexander von Chiari, der seinerzeitige Leiter des Rosenmontagszuges, der damals das englische Wort „Kids“ im Motto des Zuges durch die niederrheinische, aber auch im Hunsrück und Ruhrpott gebräuchliche  Entsprechung „Pänz“ (von lat. „pantex“, = Wanst, dicker Bauch; ursprünglich mit negativem Beiklang für gierige, unleidliche Kinder) ersetzt hatte.

Nachklapp b: Die KHS Großer Griechenmarkt

Wie oben schon beiläufig erwähnt pflegt die heutige Katholische Hauptschule am Großen Griechenmarkt in Köln liebevoll das Andenken an Heinrich Welsch und ,sein‘ Lied. Ich kenne weder die Schule noch ihre Lehrkräfte und auch niemanden von der Schülerschaft. Aber auf ihrer Homepage habe ich mir ihr Schullied angesehen, das als Gemeinschaftsprodukt von Dietmar Kolvenbach, eines Musiklehrers, der Bläck Fööss und von Hans Knipp[9] entstanden ist. Darin wird freimütig eingeräumt, dass der Alltag einer Hauptschule nicht immer einfach ist, aber dass die Menschen, die sich dort Tag für Tag einfinden, froh und stolz darauf sind, einen Ort zu haben, wo sie ein Stück weit zu Hause sind. Das klingt doch nach dem echten Lehrer Welsch und imponiert mir sehr!

Nachklapp c: Albträume

Seit ich am Beitrag zu diesem Karnevalslied arbeite, sucht mich jede Nacht der gleiche Albtraum heim: Ich verfolge am Fernseher eine Bundestagssitzung. Zuerst fokussiert die Kamera einen Mann am Rednerpult, der dies & das sagt, woran ich mich nicht erinnern kann. Aber dann fragt er mit viel Pathos: „Meine Damen und Herren, bitte sagen Sie mir doch endlich einmal klipp und klar, ob die Maskenpflicht der Volksgesundheit langfristig nutzt oder schadet!“ In diesem Moment schwenkt die Kamera auf die Regierungsbank, wo Kanzler und Kabinettsmitglieder mit ernster Miene ihre Häupter wiegen. Ein neuerlicher Kameraschwenk rückt die voll besetzten Ränge der Abgeordneten ins Bild, die wie auf Kommando zu schunkeln beginnen und fröhlich singen:

Nä, nä dat wesse mer nit mih,
janz bestemp nit mih
un dat hammer nit studeet.
Denn mer wore beim Lehrer Welsch en d’r Klass
un do hammer sujet nit jelihrt.
Ävver, ävver, ävver dreimol Null es Null, es Null,
denn mer woren en d’r Kayjass en d’r Schull;
dreimol Null es Null, es Null,
denn mer woren en d’r Kayjass en d’r Schull.

 Hans-Peter Ecker, Bamberg

Literatur:

Viele einschlägige Wikipedia-Artikel und sonstige Internetseiten zum Lied, den darin erwähnten Lokalitäten, Institutionen und historischen Sachverhalten sowie seinen diversen Interpreten.


[1] Wer eine Übersetzung braucht, findet sie unter lyricstranslate.com. Das Lied ist im Laufe der Zeit von vielen Musikgruppen gecovert worden, insofern existiert eine beachtliche Menge dialektaler Varianten. Ich habe mich weitgehend dem Wortlaut bzw. den Schreibweisen angeschlossen, die auf der homepage der KHS Großer Griechenmarkt abgedruckt sind, wobei ich mir dachte, dass die Leute dort an diesem Lied einfach ,am dichtesten dran‘ sind – sowohl räumlich als auch lebensweltlich.

[2] Wer hat die Fensterscheibe einschlagen? Wer hat die Mülltonne versteckt? Wer hat dem Hund die Dose an den Schwanz gebunden?

[3] ,Die drei Lachtauben‘. Diese Straßensängertruppe bestand aus dem Texter unseres Songs, Will Herkenrath, Hermann Kläser (Komposition) und Heinz Jung.

[4] ,Die vier Hosen‘ (Auftritte zwischen 1933 und 1961), Gründungsmitglieder: Hans Süper senior, Hans Philipp „Fibbes“ Herrig, Gerhard „Grätes“ Böckem und Ferdinand „Fänand“ Vossenberg. Nach dem Krieg machte Süper die Formation mit Richard Engel, Jakob Ernst und Hans Philipp Herrig richtig erfolgreich.

[5] Zu deren Adresse(n) übrigens – an einem Seiteneingang – die Hausnummer „Kaygasse 1“ gehörte und nicht die „Null“, die sich aber eindeutig besser auf „Schull“ reimt und außerdem zur vorgeblich dort gelehrten und verinnerlichten Lebensweisheit passt:  „dreimol Null es Null, es Null“ …

[6] Vgl. Konrad Beikircher: Das Kabarett in NRW. In: Musenblätter (Abruf am 1.2.2022).

[7] Vgl. zu diesem Thema auch Fredl Fesls Lied Schulmeisterei.

[8] Die sog. ,Kölner Narrenrevolte‘ von 1935 gegen die Gleichschaltung, in ihrer politischen Zielsetzung ohnehin ein sehr bescheidenes Unterfangen, war 1938 schon sprichwörtlich Schnee von gestern.

[9] Berühmter Kölner Komponist und Mundartdichter, vgl. z.B. hier im Blog von ihm das Lied Mer losse d’r Dom en Kölle.

Vom barocken Pestlied zum Kinderlied. Die erstaunliche Karriere von ‚Wiens heimlicher Hymne‘ „O du lieber Augustin“

 

O du lieber Augustin

1.
O du lieber Augustin, 
Augustin, Augustin, 
o du lieber Augustin, 
alles ist hin. 
Geld ist weg, Mäd’l ist weg, 
alles weg, alles weg, 
o du lieber Augustin, 
alles ist hin.

2. 
O du lieber Augustin [...] 
Rock ist weg, Stock ist weg, 
Augustin liegt im Dreck, 
o du lieber Augustin,
alles ist hin.

3.
O du lieber Augustin [...]
Und selbst das reiche Wien, 
hin ist’s wie Augustin; 
weint mit mir im gleichen Sinn, 
alles ist hin.

4. 
O du lieber Augustin [...] 
Jeder Tag war ein Fest, 
und was jetzt? Pest, die Pest! 
Nur ein groß Leichenfest,
das ist der Rest.

5.
O du lieber Augustin [...] 
Augustin, Augustin, 
leg nur ins Grab dich hin! 
O du lieber Augustin,
alles ist hin.

Angesichts des Coronavirus fiel mir ein Lied ein, in dem die Pest eine Rolle spielt: Der liebe Augustin. Vermutlich kennen viele Leser nur die erste Strophe, eventuell auch noch die zweite. Beide Strophen sind als Kinderlied bis heute populär geblieben. Doch der „liebe Augustinerzählt, wie es ihm zur Zeit von Wiens letzter große Pestepidemie im Jahre 1679 ergangen ist.

Markus (auch Marx) Augustin (1643-1685), einen Sackpfeifer (Sackpfeife = einfacher Dudelsack) und Sänger hat es tatsächlich gegeben. Er zog um 1670 in Wien von Beisl (Kneipe) zu Beisl, um dort gegen Geld Bänkellieder zu singen. Er war stadtbekannt, und da er immer lustiger Dinge war, nannte man ihn bald den „lieben Augustin“. Selbst als im Jahr 1677 zunächst einige Vorstädte und 1679 ganz Wien von der Pest heimgesucht wurde, verlor er nicht seinen Frohsinn, auch nicht, als immer mehr Menschen auf der Straße tot umfielen.

Doch die Kneipen wurden immer leerer, viele Leute wagten es nicht auszugehen, und die Einnahmen des lieben Augustins wurden von Woche zu Woche geringer. Da erbarmten sich manche Wirtsleute und gaben mal einige Humpen Bier, mal einige Weinkannen Heurigen aus. Und der liebe Augustin, der dem Alkohol recht zugetan war, trank so manches Mal über seinen Durst. So passierte es eines Tages, dass er nur noch aus der Wirtshaustür heraustorkeln konnte und bald darauf, volltrunken wie er war, in eine Gosse fiel und dort einschlief.

Dort in der Gosse war er nicht der einzige Mensch. Jeden Tag lagen Hunderte von der Pest hingeraffte Menschen auf den Straßen; sie wurden von sogenannten Siechknechten aufgesammelt, mit großen Karren vor die Tore Wiens gefahren und in Massengräber geworfen. Und so erging es auch unserem Augustin. Wie ein Toter schlafend, von der Gosse verdreckt, glaubten die Siechknechte, einen Pesttoten vor sich zu haben. „Seine“ Pest­gru­be soll sich in der Nähe der Kirche St. Ulrich im 7. Bezirk be­funden haben, in der Nähe des Platzes, wo heute der Augustinbrunnen steht.

Als Augustin seinen Rausch ausgeschlafen hatte, war er entsetzt, inmitten all der Leichen zu liegen. Er fand seine Sackpfeife und versuchte aus dem Grab zu klettern, schaffte es aber nicht. Da fing er an nach Hilfe zu rufen und, als er kein Gehör fand, spielte er so laut er konnte auf seiner Sackpfeife. Schließlich wurde er gehört und aus dem Grab gezogen. Glücklicherweise hatte er sich nicht angesteckt, und er begann wieder seine Beisltouren zu drehen. Nach der Legende dichtete er bald darauf ein Lied über das, was ihm widerfahren war: „alles ist hin“.

So die Überlieferung, die so oder so ähnlich bereits fünf Jahre vor Ausbruch der Pest der wortgewaltige und populäre Prediger Abraham a Sancta Clara in Wien in einer Predigt verwandt hatte. Der Prediger kannte das Ereignis aus seiner schwäbischen Heimat und wollte diese Geschichte als Warnung vor der Pest und als abschreckendes Beispiel gegen übermäßiges Trinken verstanden wissen.

In Wien nachgewiesen worden sind Text und Melodie erstmals um 1800 – über 100 Jahre nach dem Tod des „lieben Augustins“ -, wobei Textdichter und Komponist bis heute unbekannt geblieben sind. Die Melodie lässt sich Ende des 18. Jahrhunderts als ein aus Böhmen oder Sachsen kommender Schlager nachweisen. Nach 1800,  so die Liedforscher, habe sich Der liebe Augustin über Sachsen in ganz Europa verbreitet.

Da das Lied zur „heimlichen Hymne Wiens“ geworden ist, hat die Stadt Wien Markus Augustin ein 1908 Denkmal gewidmet und einen Platz nach ihm benannt.

 

 

Relief am Haus mit dem Griechenbeisl (Foto: Zenit)

 

Augustin-Brunnen von Hans Scherpe (1908)

Während der Zeit des Nationalsozialismus wurde die Statue Au­gu­stins gestohlen. Kurz darauf wurde an ihre Stelle ein Schild mit der fol­gen­den Auf­schrift angebracht:

Der Schwarzen Pest bin ich entronnen,
die braune hat mich mitgenommen.

Liedbetrachtung

Der sicherlich aus Wien stammende unbekannte Textdichter versetzt sich in die Lage des auf wundersame Art von der Pest verschonten Augustins und erzählt, was Augustin alles verloren hat: Sein Geld, sein Mäd’l, sein Rock und sein Stock sind ihm abhandengekommen. Die Wiederholungen „alles ist hin“ deuten auf die triste Lage des Sackpfeifers. Es bleibt zu hoffen, dass er sein Instrument nicht auch noch verloren hat. Einige Schillinge wird er wohl noch vor seinem Tod mit 42 Jahren, sechs Jahre nach dem Höhepunkt der Pest, eingenommen haben.

 „Alles ist hin“ trifft auch die reichen Leute in der vom „Schwarzen Tod“ befallenen Stadt zu. Nach den von ihm als festlich empfundenen Tagen trauert Augustin nun mit dem ganzen Wien. Ironisch nennt er die Auswirkungen der Pest „ein groß Leichenfest“. Und obwohl er sich auf dem Totenanger nicht angesteckt hat, ist  ihm doch bewusst, dass im Grab auch sein Leben zu Ende hätte gehen können. So traurig und ernst der Text ist, so wird er doch durch die beschwingte Melodie, nach der man sogar Walzer tanzen kann, konterkariert. Sie zeigt, dass ein jegliches seine Zeit hat, leben und sterben, tanzen und weinen (vgl. Abschnitt „Anmerkungen“ in der Interpretation zu Puhdys Wenn ein Mensch lebt).

Exkurs Epidemien

 Die bakterielle Infektionskrankheit Pest wird durch pestkranke Rattenflöhe (bei der Beulenpest) übertragen. Der “Schwarze Tod“, so genannt wegen der dunklen Beulen auf dem ganzen Körper, trat in Europa vom 14.-18 Jh. immer wieder epidemisch auf. Während der großen Pestepidemie 1348–52 (nach andere Quellen 1347–1351) starb ca. 1/3 (bis zu 25 Mio. Menschen) der Bevölkerung Europas.

Als die Pest noch einmal über Europa kam, traten in Wien die ersten Pestfälle im De­zem­ber 1678 in der damaligen Vorstadt Leopoldstadt auf. Die Seuche brei­te­te sich dann in ganz Wien schnell aus, wobei es vor allem die ärmeren Bevölkerungsschichten waren, die als erste er­krankten. Von Monat zu Monat stieg die Zahl der Todesfälle. Durch den „Schwarzen Tod“ kam 1679/80 ein Viertel der Bevölkerung um.

Ein zeitgenössischer Chronist berichtet von „3.000 und mehr inficirten Personen“ und darüber“, dass „vmb die gantze Stadt herumb fast alle Lust- vnnd Wein-Gärten, Gässen vnnd Straßen mit Toten- vvnd Kranken Leuten angefüllet,  ja sogar dass man nicht Leuth genug haben kunte, die Toten vnter die Erden zu bringen, vnnd daher es bisweilen geschahe, daß mit dem Tode allebreit Ringenden, auff Wägen vnter die Todten geleget vnnd mit einander in die hierzu gemachte Gruben geworffen worden“ (Johann Konstantin Feigius, Wunderbarer Adlers Schwung, Wien, 1694).

Wiens letzte Pestepidemie 1713 konnte wegen verbesserter Hygienemaßnahmen und mit Hilfe der Ausrottungskampagnen der Ratten in ganz Europa etwa ab 1740 eingedämmt werden. Ein Antibiotikum gegen die Pest wurde erst nach 1894 gefunden, nachdem der Schweizer Alexander Yersin den Pesterreger entdeckt hatte.

 

Michel Serre: Le chevalier Roze déblayant la Tourette au plus fort de la peste (1720)

 

Paul Fürst: Der Doctor Schnabel von Rom (1656)

Doch die Pest sollte nicht die letzte Pandemie bleiben. Durch die sich 1918 und 1919 in drei Wellen verbreitende sog. „Spanische Grippe“ fanden nach Schätzungen in Deutschland rund 40.000, global 25 Millionen bis etwa 50 Millionen Menschen den Tod.

Im Vergleich dazu gingen die „Asiatische Grippe“ von 1957 mit weltweit 1 bis 2 Millionen, davon in Deutschland geschätzten 30.000 Todesopfern und die Hongkong-Grippe 1967/68  mit rund 1 Million Toten (nach anderen Schätzungen 750.000 bis 2 Millionen) noch glimpflich aus.

Bei der derzeitigen durch den Coronavirus verursachten Pandemie bleibt zu hoffen, dass bald ein Impfstoff gegen Covid-19 entdeckt wird, so dass es nicht zu ähnlich hohen Todesraten kommt.

Rezeption

Das Lied bzw. die Figur des lieben Augustins ist seit seiner Entstehung (etwa um 1800) bis heute populär geblieben. Johann Nepomuk Hummel (1778–1837) komponierte aus dem Lied ein Werk mit acht Variationen. Max Reger (1873–1916) griff die Melodie 1901 in der Sechsten Burleske (op. 58) auf und Arnold Schönberg (1874–1951) hat sie 1908 im 2. Satz seines Zweiten Streichquartetts (op. 10). verarbeitet. Leo Fall (1873–1925) knüpfte an die Berühmtheit des Augustins an und komponierte 1912 eine gleichnamige Operette, die inhaltlich ebenso wenig mit der Geschichte des Sackpfeifers zu tun hat wie der 1921 von Horst Wolfram Geißler (1893–1983) verfasste Roman mit dem Titel.

In Deutschland ist das Lied hauptsächlich als Kinderlied mit einer bzw. zwei Strophen beliebt, was die zahlreichen CDs und Videos (vgl. YouTube) und die 30 Partituren des Deutschen Musikarchivs, vorwiegend für Kinderchöre, belegen. In annähernd 100 Liederbüchern, die mir in Online-Archiven und Privatbibliotheken zugänglich waren, habe ich den „lieben Augustin“ gefunden, häufig allerdings nur mit ein oder zwei Strophen.

In England ist das Lied bekannt als O my dear friend Augustin, und in den USA gibt es das Kinderlied „Ach, du lieber Augustin […] all is kaputt / money gone, honey gone / money gone, honey gone / my goose is cooked.“

In Österreich ist die Figur des lieben Augustins nach wie vor lebendig. Er gilt als „erster echter und legendärster Wienerliedsänger“ und „auch als Urvater der Mentalität des gemütlichen Wieners, der nicht untergeht“ (BR Klassik).

Georg Nagel, Hamburg

Quellen:

Johann Konstantin Feigius: Wunderbarer Adlers Schwung. Wien 1694.

Moritz Bermann: Die schönsten Sagen aus Österreich. Wien 1865.

Nanette Peithmann: Der Schwarze Tod – Die Pest wütet in Europa. In: Planet Wissen

Die Pest: Der schwarze Tod des Mittelalters. In: Geolino

www.sagen.at

timetravel-vienna.at

www.mein-oesterreich.info

www.augustin.ws

 

Schneelieder: „Leise rieselt der Schnee“ (Eduard Ebel) und „Schneeflöckchen, Weißröckchen“

   
's Kindlein, göttlich und arm,
Macht die Herzen so warm,
Strahle, du Stern überm Wald,
Freue dich, s'Christkind kommt bald!

     [Scan aus Wiki Commons; die hier zusätzlich aufgeführte Strophe wird in
     vielen Online-Veröffentlichungen als dritte Strophe ausgewiesen.]

Geht man von den im Deutschen Musikarchiv Leipzig vorhandenen Tonträgern aus, so gehört Leise rieselt der Schnee mit fast 1.000 Schallplatten und CDs nach Stille Nacht, heilige Nacht (über 2.000) und Es ist ein Ros entsprungen (rund 1.100) zu den beliebtesten Weihnachtsliedern. Die Strophen eins bis drei des manchmal auch als Winterlied bezeichneten Liedes dichtete 1895 der Dichter und evangelische Pfarrer Eduard Ebel (1839–1905). Neben zahlreichen „Kaiserliedern“, Bismarck- und Sedangedichten wurde es im gleichen Jahr als „Kinderlied“ unter  dem Titel Weihnachtsgruß in Ebels Gesammelten Gedichten veröffentlicht. Nicht bekannt ist, von wem die später hinzugefügte Strophe „s‘ Kindlein, göttlich und arm […]“ stammt.

Ob Ebel auch die Melodie komponiert hat, ist strittig; Der Liedforscher Theo Mang (Liederquell, 2015, S. 990) versieht seinen Hinweis auf die Komposition durch Ebel mit einem Fragezeichen. Die Urheberschaft Ebels an der Melodie allerdings deswegen zu bezweifeln, dass „Ebels eigene Veröffentlichung nur den Text“ enthält, wie Wikipedia ausführt,  ist problematisch, da auch kein anderer Text in den Gesammelten Werken mit Noten versehen ist. Wahrscheinlich hat Ebel den Text auf eine alte Volksweise – einige Liederbücher verweisen auf Westpreußen –  gedichtet.

Schneeflöckchen, Weißröckchen

Schneeflöckchen, Weißröckchen,
wann kommst du geschneit?
Du wohnst in den Wolken,
dein Weg ist so weit.

Komm setz dich ans Fenster,
du lieblicher Stern
malst Blumen und Blätter,
wir haben dich gern.

Schneeflöckchen, du deckst uns
die Blümelein zu,
dann schlafen sie sicher
in himmlischer Ruh’.

Schneeflöckchen, Weißröckchen,
komm zu uns ins Tal.
Dann bau’n wir den Schneemann
und werfen den Ball.

Während Leise rieselt der Schnee ein Adventslied ist, das auch den Weihnachtsliedern zugerechnet werden darf, ist Schneeflöckchen, Weißröckchen ein reines Winterlied. Verfasser und Komponist sind nicht bekannt. In manchen Liederbüchern findet sich die Angabe „Von deutschen Kolonisten aus Russland überliefert“, in anderen wird der Text auf die Kindergärtnerin und spätere Lehrerin Hedwig Haberkorn (1837–1901) zurückgeführt. In Haberkorns 1869 erschienenen Buch Tante Hedwigs Geschichten für kleine Kinder kommt in der Geschichte von der Schneewolke unter dem Titel Schneeflöckchen vom Himmel eine Urfassung des Liedes vor (vgl. Wikipedia).

Die uns heute bekannte Melodie eines unbekannten Verfassers findet sich erst seit 1940 in den Liederbüchern (Theo und Sunhilt Mang, Der Liederquell, 2015, S. 707). Vorher ist es nach alten Volksweisen oder einigen neueren Kompositionen gesungen worden, die sich allerdings nicht durchsetzen konnten.

Interpretationen

Im Lied Leise rieselt der Schnee wird eine Idylle beschrieben, wie wir sie heutzutage kaum noch kennen. Wenn es denn einmal schneit, ist es häufig ein Schneeregen, und die Seen frieren seit Jahren sehr selten zu. Dass unsere verbliebenen, noch nicht von Umweltschäden betroffenen Wälder weihnachtlich glänzen, mag nur ein hoffnungsloser Romantiker behaupten. In der Zeit um 1900 mag die Idylle noch zugetroffen haben, und so konnte beim ersten Schneefall der gläubige Dichter uns auffordern, uns auf die baldige Ankunft des Christkinds zu freuen. Heute würde sich Pfarrer Ebel wahrscheinlich im Grab umdrehen, könnte er sein Lied in vielen Kaufhäusern als Berieselung zum Kaufanreiz hören.

Sicherlich wird vielen von uns am Heiligen Abend warm ums Herz, wenn wir nach der Hektik der Geschenkeinkäufe und der betrieblichen (Vor-)Weihnachtsfeier langsam zur Ruhe gekommen sind. Und wenn dann noch am Weihnachtsbaum „die Lichtlein brennen“, mag auch mancher die Sorgen vergessen, sofern er oder eine ihm nahestehende Person nicht schwerkrank oder arbeitslos ist.

’s Kindlein, göttlich und arm,
Macht die Herzen so warm,
Strahle, du Stern überm Wald,
Freue dich, s’Christkind kommt bald!

Diese später hinzugekommene Strophe betont noch einmal, dass die Geburt des  Christkinds die Herzen erwärmt (indem mit der Ankunft des Gottessohns die Gläubigen durch Jesus von den Sünden erlöst werden). Der „Stern, der überm Wald strahlen“ soll, erinnert an den Stern, der den drei Weisen aus dem Morgenland den Weg zur Krippe im Stall von Bethlehem zeigt (vgl. Matthäus 2, 10).

Im Folgenden soll nun auf die dritte, von Ebel letzte vorgesehene Strophe eingegangen werden. Wie in dem letzten Vers jeder Strophe („Freue Dich, Christkind kommt bald“) wird in dieser gesamten Strophe „Bald ist heilige Nacht […]“ noch einmal ganz deutlich, dass es sich nicht um ein Weihnachtslied, sondern um ein Adventslied handelt.

Chor der Engel. Gemälde aus der Benediktinerabtei St. Hildegard, Rüdesheim

Von einem „Chor der Engel“ ist  – soweit mir bekannt –  in der Bibel keine Rede, wohl aber im Anhang „Geistliche Lieder“ der evangelischen Gesangbücher. Pfarrer Ebel dürfte durch die Lieder Herbei o ihr Gläubigen mit der dritten Strophe „Kommt, singet dem Herrn, o singt ihr Engelchöre […]“ und Vom Himmel hoch mit der ersten Strophe „Vom Himmel hoch, o Englein kommt […]  kommt singt und klingt, pfeift und trombt […]“ zu den Versen in seiner dritten Strophe inspiriert worden sein.

In dem Winterlied Schneeflöckchen, Weißröckchen sehnen sich die Kinder nach dem Winter – „wann kommst du geschneit?“ In vielen Liedern wird der Winter besungen, mal wird über ihn geklagt, wie in Lied O, wie ist es kalt geworden – wie „traurig öd und leer“ es im Winter ist, wenn „rauhe Winde von Norden wehn’n“ -, mal ist man froh, dass „der Winter [endlich] vergangen ist“, die ersten „Blümlein prangen“ und der „Maien Schein“ zu sehen ist (Der Winter ist vergangen wird häufig Hoffmann von Fallersleben zugeschrieben).

Im hier besprochenen Lied in „kindertümlicher Sprache“ (Ingeborg Weber-Kellermann, Das Buch der Weihnachtslieder, 1982) wünschen sich die Kinder aber, dass Reif und Schnee „[Eis-] Blumen und -blätter“ ans Fenster malen. Sie haben den Winter gern und sind sich gewiss, der Winter schadet „den Blümelein“ nicht, der Schnee deckt sie – wie die Kleingärtner im Winter ihre Beete gegen Frost und Kälte schützen – nur zu, damit sie „in himmlischer Ruh“ schlafen können (vgl. den Vers in Stille Nacht, heilige Nacht von 1818 des Hilfspriesters Joseph Mohr und Zuccalmaglios Die Blümelein, sie schlafen aus dem Jahr 1840).

In der letzten Strophe wird erneut der Wunsch geäußert, dass es bald schneien möge, damit die Kinder sich einen Schneemann bauen und eine Schneeballschlacht schlagen können.

Weißröckchen ist übrigens ein schlesisches Synonym für Schneeflocke. (vgl. focus.de)

Rezeption

Seit der Erstveröffentlichung 1895 ist Leise rieselt der Schnee bis heute in Schul-,  Kinder- und spezielle Weihnachtsliederbücher aufgenommen worden, zuletzt 2014 in die Lübecker Weihnachtsliederfibel. Was die Anzahl der mir in Online-Archiven und Privatbibliotheken zugänglichen Liederbücher betrifft, steht es in der Rangfolge im Vergleich zu anderen Advents-, Weihnachts- bzw. Winterliedern allerdings weit unten, ebenso wie das Kinderlied Schneeflöckchen, Weißröckchen, das ich im Liederbuch für Volksschulen, 1. Heft, herausgegeben 1915 gefunden habe. Wahrscheinlich sind beide Lieder derartig bekannt, dass sie in viele Liederbücher gar nicht erst aufgenommen wurden. Für diese Annahme spricht: Auch in bedeutenden neueren Liedersammlungen deutscher Volksliedforscher wie Ernst Klusens Deutsche Lieder (zwei Bände, 1981 Auflage 50.–100. Tsd.) und Heinz Röllekes Das große Buch der Volkslieder  (1991, Lizenzausgabe Bertelsmann)  sind beide Lieder nicht vertreten.

Die große Popularität eines Liedes zeigt sich aber darin, wie viele Schallplatten und CDs mit dem Lied erschienen sind (s. o. Einleitung) und welche Künstler das Lied interpretieren. Unter den zahlreichen Interpreten auf Schallplatten und CDs befinden sich sowohl renommierte Sänger wie der Bariton Hermann Prey, die Chansonette Mireille Mathieu, der Schauspieler und Sänger Peter Alexander als auch viele Schlagersänger, z. B.  Tony Marshall, Frank Schöbel, Unheilig, Heintje und – natürlich – Heino. Auch viele Chöre, vor allem Kinderchöre, haben beide  Lieder in ihr Repertoire aufgenommen, z. B. die Wiener Sängerknaben, die  Schaumburger Märchensänger und der Tölzer Knabenchor. Wie populär das „Weihnachtskinderlied“ (Ingeborg Weber-Kellermann) Leise rieselt der Schnee bzw. das Winterlied Schneeflöckchen, Weißröckchen heute noch sind, zeigen auch die annähernd 100 Videos bei Youtube, auf denen neben anderen Weihnachts- bzw. Kinderliedern auch diese beiden Lieder zu finden sind.

Populäre Lieder fordern häufig Parodien heraus. So soll es sogar in der ehemaligen DDR für Leise rieselt der Schnee eine parodistische Fassung gegeben haben, die mir jedoch nicht bekannt ist. Nachstehend wird in Auszügen eine antikapitalistische und zugleich kriegskritische Version des Liedermachers, Kabarettisten und Grafikers Dieter Süverkrüp vorgestellt:

1. Leise schnieselt der Re-
aktionär seinen Tee,
sitzt bei der Lampe noch spät,
blättert im Aktienpaket.

2. Ordnend Scheinchen auf Schein
fällt Erinnerung ihm ein.
„Kriegsweihnacht vierzig war still,
dennoch ein starkes Gefühl!“

[…]

10. Leise schnieselt der Re-
aktionär seinen Tee.
Horcht nur, wie lieblich es knallt!
Fürchtet euch, Kriegskind kommt bald!

[Aus: Süverkrüps Liederjahre 1963–1985 ff , 2002, S. 147. Alle 10 Strophen s. auch  hier .

Auch die deutsche Rockband Torfrock hat an dem Reim der ersten beiden Verse von Leise rieselt der Schnee Gefallen gefunden, satirisch weitergedichtet und mit einigen Zeilen aus bekannten Weihnachtsliedern und -gedichten ergänzt; hier ein Auszug:

Leise pieselt das Reh
Gelbe Spuren in den Schnee
Und die viele kleinen Engels*,
Und die vielen kleinen Engels
tun sich Rum in ihren Tee.

[…]

Lieber guter Weihnachtsmann
Kleb den Bart Dir wieder an
Und nun beschenk mich nich zu knapp
sonst reiß ich ihn Dir nochmal ab.

Lieber guter Weihnachtsmann
schau mich nicht so böse an.
Steck die Rute wieder ein
Sonst gibt das ein mit’m Putenbein

Leise pieselt das Reh! […]

*norddeutsch mundartliche Pluralbildung

Etwa 1980 sangen meine Kinder folgende Strophe, deren Inhalt, wie man sich denken kann, nicht ihrer schulischen und familiären Realität entsprach:

Leise rieselt die Vier
auf das Zeugnispapier.
Horcht nur, wie lieblich es schallt,
wenn mir mein Vater ’n paar knallt!

Für Schneeflöckchen, Weißröckchen habe ich keine Parodie gefunden.

Georg Nagel, Hamburg

„Gar lustig ist die Jägerei“ – Der „Jäger aus Kurpfalz“ als erotisches Lied

Anonym (evtl. Martinianus Klein)

Ein Jäger aus Kurpfalz

1) Ein Jäger aus Kurpfalz,
der reitet durch den grünen Wald.
Er schießt das Wild alsbald,
gleich wie es ihm gefällt.

Ju, ja, ju, ja, gar lustig ist die Jägerei
allhier auf grüner Heid,
allhier auf grüner Heid.

2) Bursch, sattel mir mein Pferd
und leg darauf mein´n Mantelsack.
So reit ich weit umher
als Jäger aus Kurpfalz.

Ju, ja, ju, ja, gar lustig ist die Jägerei [...]

3) Hubertus auf der Jagd,
der schoß ein’n Hirsch und einen Has’.
Er traf ein Mägdlein an
und das war achtzehn Jahr.

Ju, ja, ju, ja, gar lustig ist die Jägerei [...]

4) Jetzt reit ich nimmer heim
bis daß der Kuckuck kuckuck schreit.
Er schreit die ganze Nacht,
allhier auf grüner Heid.

Ju, ja, ju, ja, gar lustig ist die Jägerei [...]

Entstehung

In nur fünf der über 400 ausgewerteten Liederbücher (Online-Archiv Hubertus Schendel und eigene Sammlung) wird ein Urheber des Liedes genannt. Der Karmeliterpater Martinianus Klein, Hauslehrer der 14 Kinder des churpfälzischen Jägers und Försters (und späteren Eisenhüttenbesitzers) Friedrich Wilhelm Utsch (1732-1795), soll zu Ehren seines Dienstherrn und Freundes um 1770 den Text verfasst und die Melodie komponiert haben. Ob Utsch der personifizierte Jäger aus Kurpfalz war, wie manche Heimatforscher annehmen, oder Johann Adam Melsheimer, der laut Sterberegister der  Gemeinde Argenthal (im Hunsrück bei Rheinböllen, dem Geburtsort Melsheimers) „Churpfälzischer reitender Förster im Soonwald“ war, ist bis heute bei den Lokalhistorikern umstritten. Während 1914 Kaiser Wilhelm II. ein Denkmal in Gedenken an F.W. Utsch (gegenüber dem Forstamt Soonwald, Nähe Bad Sobernheim) eingeweiht hat, musste sich die Gemeinde Argenthal mit einem Gedenkstein zugunsten J. A. Melsheimers (1683-1757) begnügen.

 

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Denkmal für F. W. Utsch                                                          Gedenkstein für J.A. Melsheimer

Von einigen Heimatforschern abgesehen schreiben Volksliedforscher (u.a. Ernst Klusen und Heinz Rölleke) das Lied unbekannten Verfassern zu. In den Liederbüchern werden jeweils andere Regionen der Entstehung des Liedes angegeben: noch vor der Pfalz am häufigsten Hessen, aber auch Schwaben, Elsass oder Franken. Die Zeit der Entstehung datieren sowohl die Volksliedforscher als auch die Liederbücher „18. Jahrhundert“, einige auch „um 1800“.

In mehr als 300 von über 400 Liederbüchern wird das Jägerlied nur mit drei Strophen ausgewiesen. Einigen Herausgebern war die Erwähnung eines 18jährigen Mägdleins in einem Jagdlied wohl zu heikel; daher wiesen sie als dritte Strophe lieber die „Kuckucksstrophe“ aus, obwohl (zunächst) nicht klar wird, wieso ein Kuckuck hier „die ganze Nacht ruft“. Aber auch mit der „Hubertusstrophe“ statt der „Kuckucksstrophe“ bleibt es bei den dreistrophigen Fassungen der Fantasie des Lesers überlassen, ob und wie es weitergehen könnte. Auch der Ausweis der obigen ersten vier Strophen hilft nicht weiter.

Aufschluss dagegen gibt die fünf Verse umfassende Version, die vor 1800 laut Historisch-kritischem Liederlexikon (HKL) des Deutschen Volksliederarchivs Freiburg auf diversen Flugblättern verbreitet war. Dort gab es eine vierte Strophe, die, nach der obigen dritten Strophe eingefügt, vermuten lässt, dass es sich um ein erotisches Lied handelt:

Wohl zwischen seine Bein,
da muss der Hirsch geschossen sein,
geschossen muss er sein,
auf eins und zwei und drei.

Jagdinteressierte und Laien meinen, dass es nicht gerade waidmännisch sei, einen Hirschen zwischen seine Läufe zu schießen und ihn dadurch (zunächst) nur zu verwunden. Gemeint ist allerdings nicht, den Hirsch zwischen seine Vorderläufe zu schießen, sondern seitwärts zwischen Vorder- und Hinterläufe zu treffen und ihn mit einem Blattschuss zu erlegen.

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Illustration aus dem Liederbuch Musik und Jägerei (Dank an Hubertus Schendel)

In der Sendung Volkslieder des SWR 2 wurde ausgesprochen, worum es ging: „Die Jagd war (im 18. Jahrhundert) zugleich die Gelegenheit, sich sexuell zu vergnügen“ (Nicole Dantrimont am 2.9.2001). Und damit erschließt sich auch der Zusammenhang mit der „Kuckuckstrophe“. Wenn sich der Jäger die ganze Nacht vergnügt hat („der Kuckuck schreit die ganze Nacht“), ist es wahrscheinlich, dass die junge Frau schwanger geworden ist und ein „Kuckuckskind“ zur Welt bringen wird. Diese Anzüglichkeit ist sicherlich der Grund dafür, dass „das Lied um 1800 von der Zensur erfasst und z.B. in die Kursächsische Liedverbotsliste 1802 aufgenommen“ wurde („Volkslieder“ –  Gemeinschaftsprojekt von SWR 2, dem Carus-Verlag  und Zeit Online). Daraufhin nahm der Dichter Leo von Seckendorf (1775-1809) das Lied ohne die „Beinschuss-Strophe“ in seinen Musenalmanach für das Jahr 1808 auf, zum ersten Mal mit der heute noch geläufigen Melodie. Von wem die Melodie stammt, ist ebenso unbekannt geblieben wie der oder die Verfasser des Textes.

Bei den Volksliedforschern des 19. und 20. Jahrhunderts ist strittig, ob das Lied bereits Anfang oder Mitte des 18. Jahrhunderts entstanden ist. Nach neuerer Forschung von Tobias Widmair (Historisch-kritischem Liederlexikon des Deutschen Volksliederarchivs Freiburg) „findet sich die erste tatsächlich datierbare Spur des Liedes 1794“.

Interpretation

Betrachtet man nur die ersten beiden und die vierte Strophe, verwundert es nicht, dass der Jäger aus Kurpfalz als Kinderlied angesehen wird und in vielen Kinderliederbüchern, von Deutsche Schulgesänge für Mädchen (1884) und Des Knaben Liederschatz (1887 ) bis zu Der Liederquell (1999) und auch so auf Tonträgern (z. B. Lieder fürs Kinderherz, 1976 oder Ich geh mit meiner Laterne, 2009) vertreten ist.

In der ersten Strophe wird die Freude des Jägers an der Jagd ausgedrückt, wie in manchen anderen Liedern, z.B. Auf, auf zum fröhlichen Jagen (Interpretation hier), „Im Wald und auf der Heide, / da find ich meine Freude“ oder „Was kann schöner sein als Jagen und ein rechter Weidmann sein“?

Unser Waidmann muss von höherem Stand sein: er befiehlt seinem oder einem Burschen das Pferd zu satteln und den Mantelsack auf das Pferd zu legen, also eine runde sackartige Tasche mit Kleidung und/oder eine Decke hinter den Sattel zu schnallen. So ausgerüstet, lässt es sich weit umher reiten und wie wir der „Kuckucksstrophe“ entnehmen können, auch übernachten und dabei den Kuckuck schreien hören.

Die ersten Verse der zweiten Strophe spielen an auf die Hubertuslegende, nach der ein Hirsch mit einem weißen (oder leuchtenden) Kreuz zwischen dem Geweih einen Jäger zum Christentum  bekehrte (nach anderer Lesart: von seiner Jagdlust kurierte). Dieser heilige Hubertus wird seit dem Mittelalter als Schutzpatron der Jagd angesehen; außerdem ist er Patron der Natur und Umwelt, der Waldarbeiter, der Schützen und Schützenbruderschaften.

Ist in manchen dreistrophigen Fassungen mit der „Hubertusstrophe“ von einem 18jährigen Mägdelein die Rede, so war das allein für viele Herausgeber kein Grund, das Lied nicht in Kinder- und Schulbücher aufzunehmen. Erst mit der zusätzlichen „Kuckucksstrophe“ und einiger Fantasie wird das Jägerlied zu einem erotischen Lied.

Auch in andern Jägerliedern fällt auf, welche Affinität zwischen Jäger und Mädchen Ende des 18. Jahrhunderts (wenn nicht einige Jahrzehnte darüber hinaus) bestanden hat. In dem bekannten Lied Der Jäger in dem grünen Wald heißt es in der vierten Strophe: „Und als ich in den  Wald reinkam, / traf ich ein schönes Mägdlein an“. Immerhin ist hier nicht ein „Kuckuckskind“ das Ergebnis der sexuellen Begegnung, denn  in der fünften Strophe sagt der Jäger: „Bleib du bei mir als Jägerin“ und bekräftigt den Antrag mit „bleibe du bei mir als meine Braut“. Die obige Aussage des SWR 2, derzufolge im 18. Jahrhundert „die Jagd […] zugleich die Gelegenheit [war], sich sexuell zu vergnügen“, wird im Lied Es blies ein Jäger wohl in sein Horn erneut bestätigt. Wird in der dritten Strophe beschrieben, dass der Jäger mit einem Netz auf Niederwild geht („Er zog sein Netz wohl über den Strauch, / da sprang ein schwarzbraunes Mädchen heraus“), so konkretisieren die achte und neunte Strophe „er warf ihr’s Netz wohl um den Fuß, / auf dass die Jungfrau fallen muss“ und „Er warf ihr’s Netz wohl  übern Arm, / da war sie gefangen, dass Gott erbarm“, um dann in der 10. und letzten Strophe zur Sache zu kommen: „Er warf ihr’s Netz wohl um den Leib, / da ward sie bald des Jägers Weib“. Ähnlich heißt es in dem bekannten Lied Hört ihr nicht den Jäger blasen etwas allgemein „der Jäger mit dem grünen Hut, / der die Mädchen lieben tut“.

Vermutlich im 19. Jahrhundert sind zu dem Jäger aus Kurpfalz die folgenden Strophen sechs bis neun hinzugekommen:

6) Der Jäger sah zwei Leut
und sagt zu ihnen: Guten Tag,
wo wollt ihr hin ihr Leut?
Wir wollen nach Kurpfalz.

7) Ich will euch auf der Reis
begleiten, wenn es euch gefällt.
Wißt ihr wohl, wer ich bin:
der Jäger aus Kurpfalz

8) Nun wärn wir in Kurpfalz,
wer aber gibt uns Mittagsbrot,
wer schenkt die Gläser voll:
der Jäger aus Kurpfalz.

9) Nun weiß ich weiter nichts,
was noch geschah, denkt selber nach,
stoßt an: Es lebe hoch:
der Jäger aus Kurpfalz.

Der Jäger aus Kurpfalz ist so weit geritten, dass er die Landesgrenze hinter sich gelassen hat. Als er zwei Leuten (vermutlich Reitern) begegnet, die offensichtlich nicht den rechten Weg wissen, fragt er sie, wohin es gehen soll. Auf ihre Antwort „nach Kurpfalz“, bietet er ihnen an, sie zu begleiten. Als Jäger aus Kurpfalz weiß er, wie sie dahin kommen können. Und bald ist das nicht näher beschriebene Ziel, die Kurpfalz, erreicht. Rein rhetorisch fragt er, wer ihnen Essen und Trinken geben soll, um gleich selbst darauf zu antworten: er, der Jäger aus Kurpfalz. Wie es weiter gegangen ist, erfahren wir nicht. Das Sprecher-Ich weiß es nicht und fordert uns auf, selber darüber nachzudenken. Eventuell ist das ein Hinweis, die dritte, vierte und fünfte Strophe nach eigenem Gutdünken zu interpretieren.

Im Vergleich zu den ersten fünf Strophen wirken die Strophen sechs bis neun belanglos, ihnen fehlt die Pfiffigkeit. So erstaunt es nicht, dass diese Strophen nur in vier von über 400 Liederbüchern zu finden sind, z. B. 1918 in Spielmanns Goldgrube und 1937 in Musik und Jägerei der Deutschen Jägerschaft.

Rezeption

Zusätzlich zu den oben erwähnten Kinderliederbüchern mit drei Strophen sind im 19. Jahrhundert zahlreiche Liederbücher mit fünf Strophen erschienen. Wie beliebt das Lied war, zeigt sich auch darin, dass es in auflagestarken Liedersammlungen vertreten war, wie z.B. im von Erk und Greef herausgegebenen Singvöglein (1883, 5 Heft, 59. Auflage) und in Schauenburgs Allgemeinem Deutschen Commersbuch (1888; 1933: 101.000 bis 110.000. Auflage).

Mit Ausnahme von Wandervogels Liederbuch (1905, fünf Strophen) und des Zupfgeigenhansls (10. Auflage 1913, vier Strophen) weisen die Mehrheit der Liedersammlungen der Jugendbewegungen und der bis 1933 erschienenen Liederbücher nur drei Strophen auf. Das gilt sowohl für studentische und bündische als auch für konfessionelle und schulische Liederbücher.

Ab 1933 enthalten die zahlreichen Liederbücher für die Schulen und für die Hitlerjugend ebenfalls nur drei Strophen: Dagegen weisen die für Erwachsene gedachten vier Strophen auf, z.B. das Liederbuch für die NS-Frauenschaften (1934) und Singend wollen wir marschieren (Reichsarbeitsdienst, 1933). Eine Ausnahme bildet das von der Deutschen Jägerschaft 1937 herausgegebene Werk  Musik und Jägerei mit den erwähnten neun Strophen. Die Wehrmachtsführung brachte mit dem Einverständnis der Reichsführung Liederbücher mit den oben aufgeführten fünf Strophen heraus, z. B. das Deutsche Soldaten-Liederbuch (1937) oder das Liederbuch der Wehrmacht (1939). Bei den Soldaten war das Lied nicht nur beliebt, weil sich nach dem 4/4-Takt gut marschieren ließ, sondern weil es ihnen auchb wegen der Zweideutigkeit gut gefiel.

Unmittelbar nach dem Zweiten Weltkrieg wurden von politisch orientierten Kreisen die ersten Liederbücher mit dem Jägerlied herausgegeben, z. B. Das Volksliederbuch für die demokratische Erneuerung Deutschlands (1945) oder das Liederbuch für die schaffende Jugend (1946). Schulbücher wie Musik in der Grundschule (Bd. 2 und 3, 1947) und konfessionelle Liedersammlungen wie Der helle Ton (ev., 1948) und Jungen singt (kath., 1952, 6. Auflage 1956) schließen sich an. Danach taucht das Lied in zahlreichen Schul- und Jugendliederbüchern auf und auch 1956 im Liederbuch für Soldaten (1956) und dem des Deutschen Fußballbundes.

Von den anschließend bis 2016 edierten Liedersammlungen sind vor allem zu nennen die Neuauflagen von Simrocks Die deutschen Volkslieder (1851/1982), Erk/Böhmes Deutscher Liederhort III (1884/1988) und Ditfurths Fränkische Volkslieder, Teil 2, Weltliche Lieder (1855/1999). Wie man der Aufnahme in die weitverbreiteten Lieder-Taschenbücher (Reclam, Schneider, Knaur,  Fischer und gleich zweimal Heyne) entnehmen kann, ist der Jäger aus Kurpfalz nach wie vor in weiten Kreisen beliebt. Auch in der Schweiz und in Österreich ist das Lied gut bekannt.

Gemäß dem Deutschen Musikarchiv Leipzig, das fast 300 Tonträger mit dem Lied archiviert hat, stammen die meisten Aufnahmen von Kinderchören wie den Wiener Sängerknaben und den Regensburger Domspatzen oder von Männer- und gemischten Chören wie den Thomaner Chor, dem Montanara und dem Botho Lucas Chor oder den Fischer Chören, um nur die bekanntesten zu nennen. Geht man von der Anzahl der Tonträger mit Blasmusik aus, dann ist der Jäger aus Kurpfalz als Marsch ganz besonders beliebt bei den Musikkorps der Bundeswehr  (z. B. beim Stabs-, Gebirgs-, Heeresmusikkorps), den Bückeburger Jägern und anderen Blasorchestern. Interpretiert haben das Lied auch berühmte Sänger wie die Tenöre Rudolf Schock und Peter Schreier sowie die Baritone Günther Wewel und Hermann Prey. Während Plattentitel wie Auf der Pirsch oder Heimatklänge zum Lied passend sind, wundert man sich über das Lied enthaltende Alben wie Hoch die Tassen oder Party Sound.

Incipit und Parodien

Die Popularität eines Liedes kann sich auch darin zeigen, dass der Titel oder der erste Vers (das Incipit) außerhalb des musikalischen Zusammenhangs verwendet werden, so als Buchtitel, z.B. Ein Jäger aus Kurpfalz – ein geschichtliches Zeitbild und Ein Jäger aus Kurpfalz – ein Künstlerbilderbuch oder zur Benennung eines Heimatkalenders. Aber auch der Schützenverein von Argenthal (s. oben zu Melsheimer) und ein Hundezwinger sind nach dem Jäger aus Kurpfalz benannt. Und wer möchte, kann auf dem Wanderweg „Jäger von Kurpfalz“ im Soonwald bei Sobernheim (Hunsrück) – acht Kilometer vom Utsch-Denkmal (s.o.) zur tausendjährigen Willigiskapelle – über das Lied und seine Geschichte sinnieren.

Ein anderer Gradmesser für Beliebtheit ist, ob und wie oft ein Lied umgedichtet und parodiert worden ist. Von den zahlreichen Liedern, die die Melodie des kurpfälzischen Jägers verwenden, ist die politische Parodie von Heinrich Hoffmann von Fallersleben (1798-1874) aus dem jahr 1844 am bekanntesten:.

Das erwachte Bewusstsein

Bei einer Pfeif‘ Tabak,
bei einer guten Pfeif‘ Tabak
und einem Glase Bier
politisieren wir.

Juja ! Juja !
Wie glücklich ist fürwahr der Staat
der solche Bürger hat,
der solche Bürger hat.

Da wird dann viel erzählt,
gar viel und mancherlei erzählt,
gestritten und gelacht
und manch ein er Witz gemacht.

Haha ! Haha !
Wie glücklich ist fürwahr der Staat
der solche Bürger hat,
der solche Bürger hat.

Dann stoßen wir auch an,
auch auf die deutsche Freiheit an:
Und unsre Polizei
sitzt fröhlich mit dabei.

Und wenn die Stunde schlägt,
und wenn die Feierstunde schlägt,
löscht man die Lichter aus.
Und wir, wir gehen nach Haus.

Gut Nacht ! Gut Nacht !
Wie glücklich ist fürwahr der Staat
der solche Bürger hat,
der solche Bürger hat.

Von den vielen weiteren Umdichtungen soll hier nur noch eine weitere historisch interessante Parodie aus der Zeit der Okkupation nach dem Ersten Weltkrieg gezeigt werden:

Der Jäger aus Kurpfalz,
der reitet fluchend durch den Wald,
denn rings französisch schallt’s:
„Der Jäger aus Kurpfalz!“

Der Jäger aus Kurpfalz
wünscht, wenn er einen Yankee sieht,
die Pest ihm an den Hals,
die Pest ihm an den Hals!

Der Jäger aus Kurpfalz,
er wünscht dem langen Englishman
zum Frühtrunk Glaubersalz,
zum Frühtrunk Glaubersalz.

Der Jäger aus Kurpfalz,
der flucht: „Schert fix zum Henker euch!
Den Segen auf die Walz,
den gibt euch die Kurpfalz!“

Eine drastische Parodie Der Bulle aus Kurpfalz (LP 2 Stunden Krach) von 1980 der anarchistischen Kabarettgruppe 3 Tornados wurde 1981 gerichtlich verboten.

Zu erwähnen ist noch: Bei der Verabschiedung des Bundeskanzlers Helmut Kohl 1998 wurde von einer Militärblaskapelle Ein Jäger aus Kurpfalz gespielt.

Georg Nagel, Hamburg

Einmal Dieb, immer Dieb: „Fuchs, du hast die Gans gestohlen“ von Ernst Anschütz (1824)

Ernst Anschütz

Fuchs, du hast die Gans gestohlen

Fuchs, du hast die Gans gestohlen,
gib sie wieder her,
gib sie wieder her,
sonst wird dich der Jäger holen
mit dem Schießgewehr,
sonst wird dich der Jäger holen
mit dem Schießgewehr.

Seine große, lange Flinte
schießt auf dich den Schrot,
schießt auf dich den Schrot,
dass dich färbt die rote Tinte
und dann bist du tot.

Liebes Füchslein, lass dir raten,
sei doch nur kein Dieb,
sei doch nur kein Dieb,
nimm, du brauchst nicht Gänsebraten,
mit der Maus vorlieb.

     [Text nach Ingeborg Weber-Kellermann: Das Buch der Kinderlieder. Mainz 1999, 
     S. 108.]

Wie in so manchem Kinderlied älterer Bauart und ländlicher Herkunft (vgl. Alle meine Entchen) geht es mal wieder ums liebe Essen, hier speziell im Modus des Futterneids. Eine Gans ist weg und schon ist der Schuldige ausgemacht: Reinecke Fuchs! Im Lied wird mit keinem Wort angedeutet, dass man ihn in flagranti ertappt hätte (dafür ist er ja auch zu gerissen!), kein Zeuge hat am vermeintlichen Tatort seine Lunte gesichtet, geschweige denn sein Kennzeichen notiert. Nicht einmal einen genetischen Fingerabdruck scheint es zu geben – aber für die Sprechinstanz ist dennoch sofort ausgemacht, dass nur der berüchtigte Rotrock vom Stamme der Hundeartigen (Canidae) als Täter in Frage kommt. Obwohl sich die gegebene Indizienlage denkbar bescheiden ausnimmt, droht der Kläger dem Fuchs mit dem allmächtigen Sheriff des Märchenwalds, dem Jäger, der bekanntlich schon mit härteren Brocken – ich erinnere nur an Rotkäppchens Isegrim – kurzen Prozess gemacht hat.

Bei einem ordentlichen Gerichtsverfahren hätte ich als Reinekes Verteidiger zunächst einmal eingewandt, dass ja noch gar nicht ausgemacht ist, dass der abgängigen Gans etwas Schlimmes zugestoßen ist. Man wisse ja, wie neugierig diese großen Entenvögel, zumal im Teenie-Alter, zu sein pflegen: „Gänschen klein, ging allein, in die weite Welt hinein …“. Ein paar Tage später finden sich die naseweisen Ausreißer dann regelmäßig wieder bei Muttern ein: „… aber Mama weinte sehr, weil sie hat kein Gänschen mehr, da besinnt sich das Kind, eilt nach Haus geschwind.“ Vermutlich würde der Staatsanwalt darauf dem Gericht als Beweisstück ein Exemplar der Mittelbayerischen Zeitung vom 11. Juni 2009 präsentieren, worin von einem rheinland-pfälzischen Fuchs berichtet wird, der im Dorf Föhren über einige Wochen hinweg über 120 Schuhe geklaut hat; da sehe man es: Füchse sind chronische Diebe und wer vor den Schuhen seiner Nachbarn nicht zurückschreckt, habe sicher auch keine Hemmungen vor arglosen Gänsen! Nicht von ungefähr habe die christliche Ikonographie die Sünde über Jahrhunderte hinweg als Fuchs personifiziert …

Die Verteidigung empörte sich daraufhin medienwirksam, ließe beiläufig Reizwörter wie „Generalverdacht“, „Pauschalisierung“ oder „Rassismus“ fallen, um zu guter Letzt als Trumpf-As einen Artikel der Augsburger Allgemeinen vom 29. Dezember 2009 aus dem Ärmel zu ziehen, der vom friedlich-multikulturellen Zusammenleben von Füchsen und Brandgänsen berichtet, und zwar ausgerechnet in Malepartus (Fuchs-Kessel), also quasi im Herzen der Finsternis. Wobei wir unser besonderes Augenmerk auch noch auf den Aspekt legen sollten, dass Brandgänse (Tadorna tadorna) als Halbgänse eine ziemlich kleine, für Füchse eigentlich mundgerecht proportionierte Gänsespezies darstellen. Spätestens hier dürfte die Anklage in sich zusammenbrechen.

Ich vermute, dass die Sprechinstanz unseres Liedes einen solchen – oder ähnlichen – Verlauf eines ordentlichen Prozesses antizipiert hat, weshalb sie sich in der zweiten Strophe statt aufs Argumentieren gleich aufs Drohen verlegt und dem auserkorenen Übeltäter einen Lynchakt mit blutigen, pardon! tintenroten Farben ausmalt. In Kommentaren zum Lied fand ich die Meinung, dass vom Autor die rote Tinte ins Spiel gebracht wird, um die Grausamkeit der Szene für zarte Kinderseelen abzumildern. Das glaube ich nun mitnichten, sondern gehe vom genauen Gegenteil aus. Bauernkindern des frühen 19. Jahrhunderts dürfte Tierblut eine vertraute Flüssigkeit gewesen sein, die mit so angenehmen Vorstellungen wie Schlachtfesten, Blutwürsten, rotem Pressack und ähnlichen Köstlichkeiten verbunden war. Zu roter Tinte sind ihnen dagegen vermutlich öffentliche Demütigungen, Prügelorgien und andere traumatische Erfahrungen eingefallen.

Die Sache mit der roten Tinte bestätigt m. E. auch die Autorschaft von Ernst Anschütz (1780-1861), der das Lied vom Gänseklau erstmals in seinem Musikalischen Schulgesangbuch (1. Heft, Leipzig 1824, S. 38; Angabe nach Weber-Kellermann 1997, S. 108) veröffentlicht hat. Anschütz, übrigens auch Verfasser des beliebten Weihnachtsliedes O Tannenbaum, war hauptberuflich Lehrer und wusste damit sicher bestens über die Möglichkeiten psychologischer Kriegsführung vermittels roter Tinte Bescheid. Mit dieser Anmerkung will ich aber nicht das herausragende musikalische Talent des Verfassers schmälern, der mehrere Instrumente spielte, ein glänzender Organist war und auch die Kunst des Töne-Setzens beherrschte. Die Melodie von Fuchs, du hast die Gans gestohlen stammt dessen ungeachtet nicht von ihm, sondern gilt als volkstümlich und wurde schon für ein Vorgängerlied (Wer die Gans gestohlen hat) verwendet.

Gerade noch in Lynch-Stimmung, rudert die Sprechinstanz in der dritten Strophe mit voller Kraft zurück. Anstatt dem schlimmer Gewalttaten Verdächtigten mit phallischen Flinten, Schrot und pädagogischen Schreckensinsignien zu drohen, bietet sie dem – unversehens verniedlichten – „Füchslein“ einen Handel an: Es solle vom Gänsebraten Abstand nehmen und sich stattdessen von Mäusen ernähren. Ohne Futterkonkurrenz ließe es sich miteinander aushalten. Ich denke, dass sich Reinecke darauf einlassen wird, entsprechen wehrhafte Gänse seinem Beuteschema doch weit weniger als Mäuse. Dass er damit dem Menschen noch sog. ,Schädlinge‘ vom Leib hält, wird er als Teil des Deals billigend in Kauf nehmen. Moderne Füchse, die sich für ein urbanes Leben entschieden haben, bevorzugen übrigens Müll, was aber auch in Ordnung geht, oder?

Hans-Peter Ecker (Bamberg)