„Glück ghabt“ (2003) von Werner Schmidbauer und die Zukunft

Werner Schmidbauer 

Glück ghabt

Glück ghabt, Pferdl gseng.
Glück ghabt, Guatl kriagt.
Glück ghabt, a Madl meng.
Pech ghabt, sie hot scho an andern gliabt.

Glück ghabt, olle klatschen.
Glück ghabt, gstreichelt wordn.
Glück ghabt, und meistens oan zum Ratschen.
Pech ghabt, d’Sprach verlorn.

Glück ghabt, Spiele gspuit.
Glück ghabt, Treue gschworn.
Glück ghabt, Verstand und vui Geduid.
Pech ghabt, as Herz verlorn.

Glück ghabt, und neamds zum Hassen.
Glück ghabt, seltn grantlt.
Glück ghabt, und tausend Chancen.
Pech ghabt, oane zvui versandlt.

Glück ghabt, und a Ziel zum glanga.
Glück ghabt, mit Musik Geld verdient.
Glück ghabt, eigne Wege ganga.
Pech ghabt, oana war vermint.

Glück ghabt, Gschichtn ghört.
Glück ghabt, und oan, der mit mir fliagt.
Glück ghabt, as ewig Leben begehrt.
Pech ghabt, Angst kriagt.

[Schmidbauer/Kälberer: Zeit der Deppen. FA.M.E. Recordings 2003.]

Zukunftsforscher wie Harald Welzer sagen, dass eine der wichtigsten Einstellungen, wenn man eine neue Zukunft angehen möchte, die Offenheit ist. Das heißt, so Welzer, dass eines der größten Probleme unserer expansiven Moderne sei, dass die Zukunft darin eindeutig immer ‘besser’ (also technologisch gereifter, wohlstandsmäßig abgesicherter) werden müsse. Damit haben viele Menschen in unseren Gesellschaften ein Zukunftskonzept verinnerlicht, dass Veränderung schwer macht. Wenn es besser werden muss, im oben definierten Sinne, kann es nicht anders werden. Aber genau das ist es, was unsere Gesellschaften auf sozialer, klimapolitischer oder ökonomischer Ebene gerade einfordern, ob durch radikale Gruppierungen, Klimakleber oder Wahlverweigernde.

            Nun wollte ich zum Anfang des Jahres mal wieder eine Liedinterpretation für diesen Blog schreiben. Zu einem Neujahrsschlager, zu Glücksversprechen, zur Zukunft. Im Radio hörte ich einen, merkte mir aber nur eine Zeile daraus: „und alles Gute zum neuen Jahr” (oder so ähnlich). Geben Sie das mal bei GoogleYouTubeInternet ein: Unauffindbar. Stattdessen: ein Meer an Neujahrsschlagern und Grußbotschaften beliebter Schlagerstars. So blieb meine Suche ergebnisoffen.

Einige Tage später dann, durch Felder spazierend, erinnerte ich mich an Werner Schmidbauers Glück ghabt (2003). In einer seiner Aufgspuit-Sendungen im Bayrischen Rundfunk merkt der Songschreiber dazu an, dass sein Listenlied aus einem Satz seiner jungen Tochter entstanden sei. Diese habe bei einem Spaziergang ein Ross auf einer Wiese gesehen, und daraufhin auf gut Bayrisch resümiert: „Pferdl gsehn – Glück ghabt“:

Im Interview-Teil der Sendung kommentieren darauf der Gast Handling und der Gastgeber, dass Kinder ja noch ganz anders glücksfähig seien als Erwachsene, offener, vielleicht, überraschter vom Leben an sich.

Im Lied geht es also darum, dass eine Sprech-Instanz verschiedene Momente beschreibt, die in unserem Kulturraum als glücklich angesehen werden. Besonders beschreibt das Lied Erlebnisse menschlicher Nähe, sowohl verbal als auch körperlich: „gstreichelt wordn“, „Treue gschworn“, „und meistens oan zum Ratschen“. Sozialpsychologe Welzer würde vermutlich beipflichten, da in der menschlichen Glücksbewertung besonders Zwischenmenschliches im Nachhinein als glückstiftend angesehen werde. Folglich stellt er fest, dass wir in Zukunft wieder mehr menschliche Begegnungsräume brauchen, weniger Digitales, denn das mache nur bedingt glücklich. Es entfremde, „[vereinzle] die Menschen. […] Überhaupt ist eine Gesellschaft, die Sozialfunktionen in Geräte auslagert, von wachsender Abschottung der Menschen voneinander geprägt“ (Welzer [2019] 2021, S. 138). Eine Zukunftsvorstellung, die missmutig macht. Freilich, als Schmidbauer das Lied schrieb, war diese Entwicklung noch nicht ganz so weit fortgeschritten. Dennoch, Technologie gab es auch Anfang der 2000er im Alltag schon zuhauf, nur kommt sie bei seinen Beschreibungen des Glücks eben nicht vor. (Haindling witzelt, dass man als Erwachsener zwar das Sehen von Autos gut finden mag, dies aber aus mehreren Gründen nicht unbedingt einen Freundschrei auslöse.) Schmidbauers zwischenmenschliche Erlebnisse müssen übrigens auch keinesfalls idealisierend perfekt sein, um als positiv verbucht zu werden. Glück braucht keine Totalität. Adverbien qualifizieren. Beispielsweise ist es schon schön, meistens einen zum Reden gehabt zu haben. Das öffnet Spielraum für Abweichung.

Glücklich machen den Sprecher auch Kunsterlebnisse, hier in einer Mischung aus Performanz, finanziell-kultureller Anerkennung, und privater Kontemplation: „Glück ghabt, alle klatschen / […] mit Musik Geld verdient / […] Gschichten ghört.“ Auch hier bleibt expansive Hybris außen vor: alle klatschen, verrät keine genaue Anzahl. Es können wenige in einem Gemeindesaal sein, oder viele. Ebenso mit „Musik Geld verdient“ ist offen, es könnte eine kleine Summe sein. Was zählt ist, eine gewisse Form der zwischenmenschlichen Anerkennung, scheint es. Des Weiteren, im Rückblick aus der eigenen Zukunft betrachtet, listet das Lied noch Beobachtungen zum Wortfeld Lebensleistung auf. Dabei erkennt es deren wankelmütige Unberechenbarkeit an: „Verstand und vui Geduld / […] tausend Chancen / oane zvui versandlt / […] eigne Wege ganga / oana war vermint.“ Glückliche und unglückliche Fügung scheinen sich zu bedingen und der rückwirkende Perspektivwechsel ist in diesen Zeilen mitgedacht. Wieder sind große Zahlen für Erfolg schließlich irrelevant. Tausend Chancen sind nur so viel wert, wie der Einzelfall im Lebensentwurf. Ironischerweise hilft dann diese offenere Beschreibung von Glück mit seinen erwartbaren Abweichungen dabei, andere Zukunftsausgänge in ein positives Gesamtbild zu integrieren. „Zukunft lässt sich negatorisch nicht entwerfen, das geht nur mit positiven Bestimmungen“ (Welzer [2019] 2021, S. 48). Erwartungsregulierung löst das Problem einer ausschließlich bestimmten Erfolgsgeschichte.

Spannend für unsere flexible, offene Zukunftsdefinition ist also, dass das Lied nicht nur Glücksmomente im engeren Sinne verzeichnet, sondern auch Unglückliches, dass sich im listigen Wechsel am Ende in die Strophen hineinschiebt (z.B. „Pech ghabt, as Herz verlorn“). Genauso, wie das zunächst Glückliche, die tausend Chancen etwa, sich im Nachhinein auch anders sehen lässt, birgt das Pech mit dem Sprung in die nächste Strophe einen ambivalenteren Ausgang: Aus der einmal zu viel vertanen Chance ergibt sich in der nächsten Strophe die Klarheit eines Ziels, dass sich erlangen lässt. Aus dem Folgen eines verminten Lebenswegs ergeben sich möglicherweise Geschichten, die sich hören lassen. Glück bleibt damit relativ. Ein eindeutig ‚besserer Weg‘ lässt sich also endgültig gar nicht kontextlos festlegen, und nimmt damit die Last einer eindeutig ausdefinierenden Erfolgsgarantie. Gesellschaftsbiografisch gesprochen ist „Zivilisierung […] kein linearer Vorgang“ ( Welzer [2019] 2021, S. 35); und Zivilisierung auf Kosten von Gefühlsverneinung nicht der einzig gangbare Weg. Im besten Falle lässt sich ‚ein Erfolg‘ nur einordnen neben anderen, erhält überzeitlich kein absolutes Bleiberecht.

Der Sprecher argumentiert damit auch im etymologischen Wortsinne des Glücks, der Definition von Glück im Digitalen Wörterbuch der Deutschen Sprache entsprechend:

„[Glück] bedeutet anfangs ‘Schicksal, Geschick, Ausgang eines Geschehens oder einer Angelegenheit (sowohl zum Guten als auch zum Bösen)’ und tritt als Schicksalsbegriff in Konkurrenz mit mhd. sælde und heil (s. selig und Heil), den älteren Ausdrücken für ‘Segen, Heil, Glück’. Aus dem engeren Gebrauch im Sinne von ‘günstiger Verlauf oder Ausgang eines Geschehens, günstiges Geschick’ entwickelt sich Glück zur Bezeichnung des wünschenswerten ‘Zustandes starker innerer Befriedigung und Freude’.“ 

Was das Lied durch seine Schicksalslistung auch nicht tut, ist Unglücksmomente groß zu dramatisieren. Es geht einfach weiter. Ein Moment folgt auf den anderen. Da man den Ausgang der Zukunft (und was als glücklich scheint) also gerade nicht in der Gegenwart endgültig bewerten kann, mahnt der Umgang mit Glück zu offener Demut. Durch die Listenstruktur und den Zeilenstil, von der der Text nie abweicht, wird eine gewisse formale Ordnung und anti-hierarchische Neutralität im Ablauf der Bilder suggeriert. Auf einen vermeintlichen Pech-Moment folgt wieder ein etwas besserer usw. Man beachte die Partizipien, die den Moment immer als gerade schon vergangen verbalisieren, also nach dem eigentlichen Glücksempfinden.

Der Verlauf des Lebens wird im Lied also als Glücks- und Pech-Biografie gefasst, mit Abstufungen im Erleben (oft, selten, manchmal) ohne Fixierung auf das eine oder das andere. Wenn die Vergangenheitsbewertung aus solch einem Wechselspiel besteht, was kann man dann daraus für sein Zukunftsverständnis ableiten? Auch wenn man feststellen kann, dass die Glücksmoment im Text überwiegen im Verhältnis 3:1, für das persönliche Glücksempfinden muss es nicht immer radikal besser werden. Dennoch oder gerade deswegen lässt sich im Welzer‘schen Sinne eine ästhetische Struktur ausmachen, die zukunftsfähig, da offener hinsichtlich Erwartungen ist. Der Zugang zur Änderung der Zukunft ist nicht ein totaler, sondern ein modularer, kleinteiliger. D.h. nicht alles muss sich sofort und perfekt ändern. Kleine Änderungen hier und da führen zu weiteren im Nebeneinander von Geglücktem und vermeintlich Nicht-Geglücktem. Hier knüpfen meine Liedtext-Analyse und Welzers Argumentation an Schiller und seine ästhetischen Erziehungsprinzipien an. Konfrontation mit (anderen) ästhetischen Darstellungs-Formen birgt Veränderungspotenzial für das Denken und Handeln der Menschen. „[D]as (künstlerische) Handeln selbst [schafft] schon eine neue Wirklichkeit“ (Welzer [2019] 2021, S. 289). Ein anderes Auf-die-Zukunft-Zugehen, also eine diversere Glücksdarstellung und damit auch Glückserwartung, erhält einen anderen Look. Weniger grandios und gradlinig vielleicht, mit Abstufungen, lokaler, zum Beispiel in bayrischer Mundart vorgetragen und nicht in globalisiertem Englisch. Glück findet sich in einem Heimatlied.

Heidegger hat wohl einmal gesagt, dass Zukunft Herkunft sei. Dazu kann man stehen, wie man möchte, ob es eher deprimierend ist (wenn man an die limitierten Möglichkeiten des sozialen Aufstiegs denkt) oder versichernd (wenn man eine stabile Herkunft hat). Oder ein bisschen von beidem. Für die Zukunftsforschung relevant ist es im praktischen Sinne, da man, wenn beispielsweise ein neues Windrad mehrere Jahre Bauzeit hat, oder ein abgeholzter Wald ca. dreißig Jahre zur wildnisreichen Regeneration braucht, natürlich irgendwann in der Vergangenheit begonnen haben muss, damit sie in der Zukunft einmal stehen werden. Auf persönlicher Ebene merkt man manchmal, dass man zwar weit gegangen ist auf einem Spaziergang und irgendwie alles anders ist zum neuen Jahr, um dann doch dort anzukommen, wo man früher bereits einmal war.

Meine erste Interpretation für diesen Blog vor mehr als zehn Jahren war übrigens Momentensammler von Werner Schmidbauer.

Glück g’habt, manchmal geht die Zukunft in der Vergangenheit dann eben doch noch auf.

Florian J. Seubert, Darmstadt

Literatur

Harald Welzer: Alles könnte anders sein [2019]. Zitiert nach der Fischer Taschenbuch-Ausgabe, 3. Auflage (2021).

Muss man die Liebe gießen? „In meinem Garten“ von Reinhard Mey und seine französische Übersetzung

Reihard Mey

In meinem Garten

In meinem Garten, in meinem Garten
Blühte blau der Rittersporn,
Zwischen dem Unkraut, in meinem Garten,
Im Geröll in meinem Garten,
Wo die anderen Blumen verdorr'n.
In meinem Dache, in meinem Dache
Baut' ein Rabe sich sein Nest,
Unter meinem brüchigen Dache,
Unter dem zerfallenen Dache,
Wo der Wind durch die Balken bläst.

In mein Leben, in mein Leben
Hat sie sich zu mir verirrt,
Und sie nahm Platz in meinem Leben,
Platz in meinem engen Leben
Und hat meine Gedanken verwirrt.
Was ich besaß, hab' ich ihr gegeben
An Vernunft und an Verstand,
Meine Seele ihr gegeben,
Mag's der liebe Gott vergeben,
Weil ich sonst nichts zu schenken fand.

In meinem Garten, in meinem Garten
Goss ich meinen Rittersporn,
Jätete Unkraut in meinem Garten,
Harkte emsig meinen Garten,
Doch die Blume verwelkte im Zorn.
Für den Raben in meinem Dache
Deckt' ich Ziegel Stück für Stück,
Wo es Löcher gab im Dache,
Doch ins Nest unter dem Dache
Kam der Rabe nie mehr zurück.

Seit jenem Tag, an dem der Rabe
Sein geschütztes Nest verschmäht',
Seit ich die Blume trug zu Grabe,
Meine Ruhe nicht mehr habe,
Bitt' ich, dass sie nicht auch von mir geht.
Ginge sie fort, ging' auch mein Leben,
Und das ist kein leeres Wort.
Was ich besaß, hab' ich vergeben,
Meine Seele und mein Leben,
Und die nähme sie mit sich hinfort.

[Reihard Mey: Aus meinem Tagebuch. Intercord 1970.]
Frédérik Mey

Dans mon jardin

Dans mon jardin, dans mon jardin
Fleurissait la dauphinelle.
Au milieu des pierres de mon jardin,
Dans le sable aride de mon jardin,
Où se meurent même les immortelles.
Dessous mon toit, dessous mon toit
Un corbeau faisait son nid.
Sous les tuiles brisées qui font mon toit,
Sous les poutres bancales de mon toit,
Où les quatre vents ont leur abri.

Dans ma vie, dans ma vie
Elle est venue s'égarer.
Et elle s'est installée dans ma vie,
Et a pris tant de place dans ma vie
Que j'en suis tout déconcerté.
Je lui ai donné, je lui ai donné
Tout ce qui m'appartenait.
La tendresse que j'avais à donner,
Mon amour, mon âme, j'ai tout donné.
Elle est tout ce que j'ai désormais.

Dans mon jardin, dans mon jardin
Je soignais la dauphinelle.
J'enlevais les pierres de mon jardin,
J'arrosais le sable de mon jardin.
Mais la fleur est morte de tant de zêle.
Sur mon toit, sur mon toit
Une à une, j'ai remplacé
Les tuiles et les poutres de mon toit,
Mais le nid du corbeau sous mon toit
Depuis s'est trouvé déserté.

Depuis le jour, depuis le jour
Où la fleur bleue s'est fanée,
Où le corbeau s'est envolé sans retour,
J'ai peur qu'elle ne dédaigne mon amour
Et regrette sa liberté.
Depuis ce temps, depuis ce temps
Pour qu'elle reste, je prie.
Je ne voudrais plus vivre comme avant,
Sans elle, un jour, une heure seulement.
Avec elle, s'en irait ma vie.

[Frédérik Mey: Edition Francaise Vol. 2. Intercord 1973.]

In Deutschland wird es kaum einen Menschen geben, der Reinhard Mey nicht kennt. 28 Studioalben hat er seit 1967 veröffentlicht und denkt auch mit über 80 Jahren noch nicht ans Aufhören: Nummer 29, Nach Haus, ist für Mai 2024 angekündigt. Hierzulande wenig bekannt ist dagegen das französische Alter Ego des Sängers, Frédérik Mey, unter dem er immerhin sieben Alben auf den Markt brachte. Die Karriere begann zweisprachig. „[…] Als ich dann anfing, Musik zu machen, kam mir der Gedanke, Mensch, du hast ja eine zweite Sprache, laß sie nicht brach rumliegen […]“, kommentiert der Liedermacher selbst diese Entscheidung.

Die Zweisprachigkeit war ein Geschenk seiner Eltern. Deren Freundschaft mit einer französischen Familie überdauerte den Zweiten Weltkrieg, Reinhard Mey verbrachte vielfach die Ferien im Nachbarland und besuchte außerdem ab der fünften Klasse die französische Schule in Berlin. Auch als laut eigener Aussage schlechter Schüler bestand er das deutsche und das französische Abitur. Seine hervorragenden Französischkenntnisse führte er später vor allem auf das pädagogische Geschick seines Vaters zurück; als Lehrling beim Pharmaunternehmen Schering dolmetschte er für französische Gäste.

Zu einer Laufbahn als Industriekaufmann fühlte der junge Reinhard sich nicht berufen, auch das BWL-Studium brach er ab. Seine wahre Begabung lag nun einmal im Schreiben und Interpretieren von Liedern und nach einigen Jahren der Auftritte in kleineren Sälen stellte sich schließlich der bis heute andauernde kommerzielle Erfolg ein.

In Frankreich ging es sogar noch schneller, wobei der Weg dorthin über Belgien führte. Meys Auftritt auf dem Chansonfestival in Knokke im Jahre 1967 begeisterte den französischen Plattenproduzenten Nicolas Péridès, ein Jahr später erschien Frédérik Mey Volume 1. Das französischsprachige Debüt wurde mit dem „Prix International“ der Académie de la Chanson Française ausgezeichnet, der sich wiederum auf Reinhard Meys Karriere in Deutschland positiv auswirkte. Vierzehn Jahre lang lief sie in beiden Ländern parallel, 1982 erschien mit Volume 6 Frédérik Meys vorläufig letztes Album. Erst im Jahre 2005 meldete er sich mit Volume 7 – Douce France zurück.

Viele Lieder aus der frühen Schaffensphase existieren in beiden Sprachen. In einigen Fällen wurden sie im gleichen Jahr geschrieben, in anderen ist die französische Fassung einige Jahre jünger. Manches, das durch Erlebnisse in einem Sprachraum inspiriert wurde, ist in diesem Sprachraum geblieben: Christine von 1969, ein Liebeslied an die aus Frankreich stammende erste Ehefrau, wurde nie auf Deutsch gesungen. Die unter anderem mit Hannes Wader und Schobert Schulz begangenen und in der Trilogie auf Frau Pohl von 1964/1965 festgehaltenen Jugendsünden sind dagegen dem französischen Publikum nie zu Ohren gekommen.

Sowohl in der Muttersprache als auch in der Zweitsprache schrieb Reinhard Mey In meinem Garten. Die deutsche Fassung entstand 1969 und wurde Teil seines dritten deutschen Albums Aus meinem Tagebuch. In vier Strophen werden eine Pflanze, ein Vogel und ein Mensch besungen, die vielleicht ein und dasselbe sind…

Das Reimschema der Strophen ist abaabcdccd, wobei in der zweiten Strophe anstelle von c wiederum a auftaucht. Im ersten Vers jeder Strophe mit Ausnahme der vierten wird eine Wortgruppe („in mein[em] x“) zweimal wiederholt. Bei den Endreimen handelt es sich häufig um Wortwiederholungen: Sowohl in der ersten als auch in der dritten Strophe ist a stets „Garten“, c stets „Dache“. In der zweiten Strophe ist a das Wort „Leben“, das sich auch in der vierten Strophe zweimal am Versende findet, dort allerdings an Position c. Sehr oft verwendet wird im gesamten Text auch das Possessivpronomen „mein“.

Die Parallelen auf der formalen Ebene deuten bereits auf inhaltliche Parallelen hin. In der ersten und dritten Strophe ist von Rittersporn und einem Raben die Rede, während die zweite und vierte von einer Frau sprechen. Dabei kann man den Rittersporn bei einem Künstler, der sein gesamtes Leben in Berlin verbracht hat, als Hommage an die Heimat betrachten, da die hoch wachsende und blau blühende Staude eng mit dem Namen Karl Foersters (1874-1970) verbunden ist. Dieser wirkte in Bornim (heute ein Ortsteil von Potsdam) und züchtete fast 70 verschiedene Sorten.

Delphinium, so sein wissenschaftlicher Name, gehört zur Familie der Hahnenfußgewächse und soll unter anderem wundheilend und entzündungshemmend wirken. Die Pflanze steht für eine ritterliche Haltung und edle Gesinnung, das Blau ihrer Blüten verspricht beständige Liebe. Ebenso wie andere blau blühende Pflanzen soll Rittersporn heilend auf die Augen wirken; die elsässische Odilie, Schutzpatronin der Augenkranken, trägt eine Blüte als Attribut. Die mediterrane Art Delphinium ajacis L. wird auch mit Leid und Trauer assoziiert, da man die Zeichnung auf den inneren Kronblättern als griechisch „αι“ (ai) lesen kann, einen Ausruf der Klage.

Der Rabe gilt als besonders klug und zur Weissagung fähig; bekannt sind Odins zwei Raben, die dem Gott alle Neuigkeiten berichten. Andererseits steht er dem Tod nahe, gilt als Galgenvogel und Teufelstier und ist in der christlichen Ikonographie Symbol der Avaritia (Geiz / Gier) oder des sündhaften Menschen. Möchte man die beiden im Lied erwähnten Teile der Natur als Symbole sehen, sind sie also recht ambivalent.

In der ersten Strophe wird die Ausgangssituation beschrieben. Der Garten des lyrischen Ich war in einem schlechten Zustand, geprägt von „Unkraut“ und „Geröll“, doch der Rittersporn blühte darin. Auch um das Haus mit seinem „brüchigen“ und „zerfallenen“ Dach stand es nicht besser, was einen Raben nicht davon abhielt, sich dort sein Nest zu bauen. In der dritten Strophe wird das lyrische Ich tätig, um bessere Bedingungen zu schaffen: Der Rittersporn wird gegossen, der Garten auf Vordermann gebracht, neue Ziegel schließen die Löcher im Dach. Das Ergebnis ist das genaue Gegenteil des eigentlich Bezweckten – der Rittersporn verwelkt, der Rabe lässt sich nicht mehr sehen.

Die zweite Strophe erzählt von der Begegnung mit einer Frau, die sich im „engen Leben“ des lyrischen Ich niedergelassen hat. Der Sprecher glaubt, ihr etwas schuldig zu sein, gibt ihr alles, was er „an Vernunft und an Verstand“ erübrigen kann, sowie seine Seele. In der vierten Strophe erinnert er sich an seine Erfahrungen mit Rittersporn und Rabe zurück (seine „Ruhe“ hat er dadurch verloren) und verleiht seiner Sorge Ausdruck, trotz (oder wegen?) der erbrachten Opfer auch die geliebte Frau zu verlieren. Das Wort „Seele“ wird als Gabe an sie erneut erwähnt, als weitere Gabe wird das „Leben“ genannt. Dieses wird bereits in der zweiten Strophe mehrfach erwähnt, dort jedoch wie ein Ort beschrieben, den die Frau betreten hat.

Die französische Version Dans mon jardin wurde 1971 geschrieben und auf dem Album Volume 2 veröffentlicht – gemeinsam mit völlig anderen Stücken als das deutsche Original. Hier finden wir neben zahlreichen weiteren Übereinstimmungen das gleiche Reimschema wie in der deutschen Fassung vor. Die Wiederholungen von Wortgruppen im ersten Vers jeder Strophe wurden hier noch weiter ausgeführt: Auch die vierte Strophe beginnt so und sogar ihre zweite Hälfte wird auf diese Weise eingeleitet. Während in Strophe eins bis drei „dans mon jardin“ und „dans ma vie“ (also Übersetzungen der entsprechenden Stelle im Deutschen) wiederholt werden, sind es in Strophe vier „depuis le jour“ (seit dem Tag) und „depuis ce temps“ (seit jener Zeit).

Eine zusätzliche Wiederholung findet sich auch in der zweiten Strophe, in deren Mitte es zweimal hintereinander „je lui ai donné“ (ich habe ihr gegeben) heißt. Die Parallelen zwischen Strophe zwei und vier sind also noch stärker als im Original. Ein Wortspiel, das im Deutschen so nicht möglich wäre, hat Frédérik Mey in die erste Strophe eingebaut: Der Garten ist so steinig und der Boden so wenig fruchtbar, dass „se meurent même les immortelles“ (selbst die Immortellen sterben).

Zwar ist der Sprecher im Französischen über die Ankunft der Frau in seinem Leben ebenso „déconcerté“, wie er im Deutschen „verwirrt“ ist, doch ihr Verhältnis wird etwas anders beschrieben. In der deutschen Fassung kommt das Wort „Liebe“ gar nicht vor, in der französischen dagegen zweimal, als Gabe in der zweiten Strophe und in der Formulierung „j’ai peur qu’elle ne dédaigne mon amour“ (ich habe Angst, dass sie meine Liebe verschmäht) in der vierten.

Was im Garten nur angedeutet wird (übertriebene Fürsorge kann erdrückend wirken), spricht der Jardin deutlicher aus. Neben seiner Liebe und seiner Seele hat das lyrische Ich der Frau auch „tendresse“ (Zärtlichkeit) gegeben und befürchtet, sie könnte „regrette[r] sa liberté“ (ihrer Freiheit nachtrauern). Ohne sie möchte er nicht einmal „un jour, une heure seulement“ (einen Tag oder nur eine Stunde) leben – eine Hyperbel, die der deutsche Text nicht enthält.

In der französischen Fassung verwelkt der Rittersporn nicht „im Zorn“, sondern er stirbt „de tant de zêle“ (durch so viel Eifer). Das lyrische Ich bittet nicht nur darum, dass die Geliebte bei ihm bleibt, es hat auch explizit Angst („peur“), sie zu verlieren. Der letzte Vers wiederum ist dem Schluss im Deutschen sehr ähnlich: „Avec elle, s’en irait ma vie“ (mit ihr ginge mein Leben fort).

Dans mon jardin wurde zwei Jahre nach In meinem Garten für ein anderes Publikum geschrieben. Empfand der Autor selbst mit etwas Abstand sein Thema anders und wollte bestimmte Aspekte stärker hervorheben? Wurde seine Entscheidung für andere Formulierungen von anderen Konventionen in französischen Liedtexten beeinflusst? Das Lied Ma liberté von Georges Moustaki wurde in jenen Jahren zunächst von Serge Reggiani und dann vom Autor selbst interpretiert und war Reinhard-Frédérik sicherlich bekannt.

Die berühmte Wirkungsäquivalenz ist trotz der genannten Unterschiede in diesem Falle ebenso gegeben wie bei zahlreichen anderen Selbstübersetzungen von Reinhard Mey. Seine Beherrschung der Nachbarsprache ist beeindruckend. Für des Französischen mächtige Fans des Liedermachers lohnt es sich, auch Volume 1 bis 7 zu entdecken. Ein Textvergleich kann auf Altbekanntes möglicherweise eine neue Sicht eröffnen.

Irina Brüning, Hamburg

Quellen:

Lurker, Manfred (Hrsg.): Wörterbuch der Symbolik, Stuttgart, 51991

Mey, Reinhard (mit Bernd Schroeder): Was ich noch zu sagen hätte, Köln, 2005. Das wörtliche Zitat stammt von Seite 60.

Zerling, Clemens H. (Hrsg. Wolfgang Bauer): Lexikon der Pflanzensymbolik, Darmstadt, 22013

https://www.reinhard-mey.de

https://www.potsdam.de/de/foerster-garten-potsdams-norden

Der Trost der Einmaligkeit: „Auch Tiere haben ihren Platz“ von Christian Czerny

Christian Czerny

Auch Tiere haben ihren Platz

Jüngst las ich folgendes im Fachblatt
für Seelenfriedentherapie:
Es kommt der Tag, da bist du schachmatt,
legst deinen Löffel weg, bist hie.

Doch Bruder, glaube an das Leben.
Noch eh' die Menschen dir vergeben,
hast du gebrüllt oder gebellt
und kommst zum zweiten Mal zur Welt.

Dies sei dir Trost,
auch Tiere haben ihren Platz.
Dies sei dir Trost.

Darunter stand in roten Lettern:
Wähl dir ein Tierchen frei nach Brehm.
Magst du auf hohe Bäume klettern,
wär' doch ein Affe ganz genehm.

Im Geiste sah ich mich als Piepmatz
singend auf dem Zaun.
Doch abends schon im Bauch der Katz'
entschwand zu Vögeln mein Vertrau'n.

Weit besser wär' da schon ein Bär,
der tapsig, faul und zentnerschwer
vor seiner Höhle liegt und brummt
und erst im Kleiderschrank verstummt.

Dies sei dir Trost,
auch Tiere haben ihren Platz.
Dies sei dir Trost.

Sogar als König unter Tieren
fiel mir das Zepter aus der Hand.
Manch Löwenaugenpaare stieren
von einer adeligen Wand.

Vielleicht erwach' ich gar im Topf
als Fisch, als Huhn, als Rind,
denn die verlieren ihren Kopf,
bevor sie recht geboren sind.

Wenn ich noch einmal auf die Welt käm',
wär', weil man mir das Leben bald nähm',
sei es als Schaf, als Spatz, als Ochs,
die Sache wahrhaft paradox.

Dies sei dir Trost,
auch Tiere haben ihren Platz.
Dies sei dir Trost.

Darum genieße ich mein Leben,
solange meine Uhr noch rennt,
laßt uns darauf noch einen heben,
daß man die Zeit nicht ganz verpennt.

Dies sei mein Trost,
ich hab' gelebt, geliebt, gelacht
und hab' mein Leben stets empfunden
als Dummheit, die man einmal macht,
und hab' mein Leben stets empfunden
als Dummheit, die man einmal macht

    [Christian Czerny: Ein Hund wie du und ich. Telefunken 1974.]

Es gibt Menschen, die für eine Weile in der Öffentlichkeit stehen und dann nichts mehr von sich hören lassen. Zu ihnen gehört der Liedermacher Christian Czerny, der in den 70er-Jahren mehrere Alben veröffentlichte und dann in der Versenkung verschwand. Weder YouTube noch Wikipedia kennen seinen Namen, seine Musik ist bis auf wenige Titel (auf Samplern) nie auf CD erschienen. Um etwas über sein Leben zu erfahren, muss man in Archiven wühlen, und selbst auf diese Weise erfährt man nicht allzu viel.
Da der Künstler im Januar 1975 28 Jahre alt war, dürfte er 1946 geboren sein. Der Geburtsort ist vermutlich Kiel, während seiner Zeit bei der Bundeswehr soll es ihn in die niedersächsische Kreisstadt Diepholz verschlagen haben. Eine Zeit lang muss er studiert haben, zur Finanzierung des Studiums begann er mit der Schweinezucht, heißt es. Und er startete nach Erfahrungen in diversen Bands eine Solokarriere. Sein Produzent wurde und blieb Walther Richter, der unter anderem auch die Karriere von Reinhard Mey begleitete. Diese Zusammenarbeit scheint für den Sänger ein zweischneidiges Schwert gewesen zu sein: Einerseits beförderte sie seine Popularität, andererseits wurde eine zu große stilistische Nähe zu bekannteren Namen kritisiert. Unter welchen Umständen Christian Czerny seine Karriere als Profimusiker aufgab, ist nicht bekannt. Heute ist er Mitglied der Diepholzer Band Immer anders, die „akustisch und anspruchsvoll Musik aus den letzten Jahrzehnten spielt“.

Der Song Auch Tiere haben ihren Platz wurde 1974 auf dem Album Ein Hund wie Du und ich veröffentlicht, dem dritten des Künstlers laut seiner Diskographie auf Discogs. Behandelt wird das Thema der Reinkarnation. Vor allem in Gesellschaften, die durch den Buddhismus oder Hinduismus geprägt sind, glauben die Menschen daran, dass sie nach dem Tod in einem anderen Körper wiedergeboren werden. Dabei ist diese Vorstellung im Buddhismus etwas Negatives: Das eigentliche Ziel ist es, so viel positives Karma zu erwerben, dass man den Kreislauf des Lebens verlassen und ins Nirvana eintreten kann. Dabei ist das Nirvana kein Ort wie das christliche Paradies, sondern ein Zustand, eine neue Existenzweise des Geistes.

Das „Fachblatt für Seelenfriedentherapie“, das vom lyrischen Ich konsultiert wurde, stellt die Möglichkeit der Wiedergeburt hingegen als Verheißung, als „Trost“ dar. Der fiktiven Zeitschrift zufolge kommt ein Mensch stets als Tier erneut auf die Welt und kann sich aussuchen, welches Tier ihm am meisten zusagt. Auch dies widerspricht der buddhistischen Vorstellung, nach der das Karma über das nächste Leben entscheidet.

Der Sprecher überlegt nun, in welcher Gestalt er sein nächstes Leben verbringen könnte. Eine Existenz als Singvogel verwirft er als wenig attraktiv, da dieser Beutetier der Katze ist. Alle anderen aufgezählten Tiere sterben durch Menschenhand: Der Bär wird aufgrund seines Pelzes gejagt, der Löwe als Trophäe. Ersterem nutzt sein (im Vergleich zum Singvogel) hohes Gewicht nichts, zweiterer ist zwar König der Tiere, aber dem Menschen doch unterlegen. Fische, Hühner, Rinder und Schafe sind Nutz- bzw. Speisetiere und haben deshalb kein langes Leben. Die Formulierung „die verlieren ihren Kopf / bevor sie recht geboren sind“ spielt vermutlich auf Massentierhaltung an, in der die Rassen so gezüchtet und die Tiere so ernährt werden, dass sie möglichst schnell genug Gewicht erreichen, um geschlachtet zu werden (trifft dies auch auf Fische aus Aquakultur zu?).

Käme der Sprecher in Tiergestalt nochmals auf die Welt, hätte er nur eine geringe Lebenserwartung und müsste sie bald wieder verlassen – dies ist der Schluss, zu dem er kommt. Daher beschließt er, sein Leben zu genießen (und nicht zu „verpennen“), solange es dauert. Zu den Freuden des Lebens gehören Alkohol („laßt uns darauf noch einen heben“), Liebe und Lachen (betont durch die Alliteration im zweiten Vers der letzten Strophe). Diese sind sein Trost, nicht die Hoffnung auf eine Reinkarnation. Das Leben ist zwar eine „Dummheit“, doch es hält für den Menschen einige schöne Momente bereit. Und nur „einmal“ (letzte Strophe) wird die Dummheit begangen; es gibt kein „zweites Mal“ (letzter Vers, zweite Strophe).

Auf der stilistischen Ebene fällt weiterhin auf, dass die Wörter „Tod“ und „Sterben“ gar nicht vorkommen und stattdessen diverse Synonyme wie „du legst deinen Löffel weg“ und „mir fiele das Zepter aus der Hand“ verwendet werden. Die Wörter „Leben“ und „gelebt“ tauchen dagegen mehrfach im Text auf, vor allem am Schluss.

Ein wenig rätselhaft bleibt der Titel, der auch im Refrain wiederholt wird. Was genau bedeutet „Auch Tiere haben ihren Platz“? Tiere sind auf der Welt gleichwertig mit dem Menschen? Auch Tiere leiden und sind sterblich, was das Los des Menschen weniger traurig erscheinen lässt? Möglicherweise wandelt sich die Bedeutung im Laufe des Liedes.

Die Tatsache, dass der Song Ein Hund wie Du und ich der Platte ihren Titel gab, deutet bereits darauf hin, dass die Tierwelt dem Sänger in dieser Schaffensphase wichtig war. Thematisiert wird in diesem ersten Track nicht artgerechte Tierhaltung und die Vermenschlichung des Hundes. Eine weitere Tierart, das Schwein (und im Speziellen der Eber), steht im Mittelpunkt des letzten Stücks, Emancipation masculine.

Lieder über die Bedrohung von Tierwelt und Natur durch den Menschen waren in der Zeit, in der das Album entstand, keine Seltenheit. In Das Glühwürmchen von Inga und Wolf (1971) verliebt sich ein männliches Glühwürmchen in einen Zigarettenstummel und trägt schwere Brandverletzungen davon. Es gibt keine Maikäfer mehr von Reinhard Mey (1974) spricht vom Artensterben. Zusammen mit Inga und Wolf sowie weiteren Liedermacher*innen wie Ulrich Roski ist Christian Czerny auf dem Album Einmal im Jahr Tapetenwechsel vertreten, das ebenfalls 1974 veröffentlicht wurde und auf dem Cover „Umweltfreundliche Lieder“ verspricht. Angesprochen werden in der Sammlung unter anderem die Probleme Luftverschmutzung und Müll. Im weiteren Sinne ökologische Themen wurden in den 60er- und 70er-Jahren auch von Interpreten aus anderen Ländern behandelt. Als Beispiele seien Il ragazzo della Via Gluck von Adriano Celentano (1966) und Le petit jardin von Jacques Dutronc (1972) genannt, die sich mit Verstädterung und dem Verschwinden von Grünflächen befassen.

Das Thema Tod bzw. Ende / Abstieg zieht sich durch das gesamte Album. Im Titelsong Ein Hund wie Du und ich hofft das hündische lyrische Ich Hesekiel auf Erlösung von seinem Dasein durch den Tod und auf das dankbare Gedenken seines Frauchens. Aus Ein Traum und Kinderlied spricht die Angst vor und die Ablehnung von Krieg, der Streßman stirbt durch Überarbeitung, der Kicker der Nation wird nach einem jähen Karriere-Aus durch eine Verletzung schnell von den Fans vergessen. Im Vergleich zu all diesen Titeln ist Auch Tiere haben ihren Platz noch verhältnismäßig positiv, da der Sprecher beschließt, sein diesseitiges Leben zu genießen, solange es dauert. Die Formulierungen „einen heben“ und „gelebt, geliebt, gelacht“ erinnern an das Notabene, ursprünglich vom schwedischen Dichter Carl Michael Bellman (1740-1795) verfasst und von Klabund (1890-1928) ins Deutsche übertragen. „Lache, saufe, hure, trabe […] bis zum Grabe“ wird der Hörer am Ende aufgefordert. Das Lied ist auf Hannes Waders Album Volkssänger von 1975 zu hören.

Einerseits haben wir es in Auch Tiere haben ihren Platz mit einem zeittypischen Thema (Bedrohung von Tieren und Umwelt durch den Menschen) zu tun. Auf der anderen Seite geht das Lied auf eine universelle Frage ein: Soll man das Dasein im Diesseits genießen oder auf ein Leben nach dem Tod hoffen? Ungewöhnlich für einen Text eines Deutschen ist es, dass das einzig wahre Leben im Diesseits nicht christlichen Jenseitsvorstellungen, sondern einer Wiedergeburt als Tier gegenübergestellt wird.

Im Gegensatz zum „Piepmatz“, der auf dem Zaun singt und sofort von einer Katze verspeist wird, dauerte Christian Czernys Karriere als Profimusiker länger an. Seine Musik zählt zu den Freuden des irdischen Daseins und ist es wert, wiederentdeckt zu werden.

Irina Brüning, Hamburg

Runter vom Sofa, raus aus der Luftaufsichtsbaracke! Reinhard Meys Chanson „Über den Wolken“ (1974)

Reinhard Mey

Über den Wolken

Wind Nord/Ost, Startbahn null-drei			 1
Bis hier hör' ich die Motoren
Wie ein Pfeil zieht sie vorbei
Und es dröhnt in meinen Ohren
Und der nasse Asphalt bebt				 5
Wie ein Schleier staubt der Regen
Bis sie abhebt und sie schwebt
Der Sonne entgegen

Über den Wolken			
Muss die Freiheit wohl grenzenlos sein			10
Alle Ängste, alle Sorgen
Sagt man
Blieben darunter verborgen
Und dann						
Würde was uns groß und wichtig erscheint		15
Plötzlich nichtig und klein

Ich seh' ihr noch lange nach
Die dunklen Wolken erklimmen
Bis die Lichter nach und nach
Ganz im Regengrau verschwimmen			        20
Meine Augen haben schon
Jenen winz'gen Punkt verloren
Nur von fern' klingt monoton
Das Summen der Motoren

Über den Wolken […]					25

Dann ist alles still, ich geh'	
Regen durchdringt meine Jacke
Irgendjemand kocht Kaffee				35
In der Luftaufsichtsbaracke
In den Pfützen schwimmt Benzin
Schillernd wie ein Regenbogen
Wolken spiegeln sich darin
Ich wär' gern mitgeflogen				40

Über den Wolken [..]

Über den Wolken […]

     [Reinhard Mey: Wie vor Jahr und Tag. Intercord 1974.]

Von den späten 1960er Jahren an war Reinhard Mey für mich über eine geraume Reihe von Jahren hinweg der Liedermacherschlechthin, wobei ich diesen Begriff aus den seinerzeit populären Medien übernommen hatte und ohne definitorischen Ehrgeiz als deutsche Variante des amerikanischen Begriffs Singer-Songwriter gebrauchte. Da ich um die Frankophilie Meys wusste, hätte ich auch nichts dagegen gehabt, wenn jemand seine Lieder als ,Chansons‘ bezeichnet hätte, d.h. als einigermaßen ,textlastige‘ Gesänge, die mit instrumenteller Begleitung vorgetragen werden.

Selbstverständlich waren mir zu Beginn der 1970er Jahre auch noch andere ,Liedermacher‘ vertraut, zum Beispiel Franz Josef Degenhardt, Wolf Biermann, Georg Kreisler, Ulrich Roski, Hannes Wader, Schobert und Black, Fredl Fesl, Rainhard Fendrich. Von anderen kannte ich nur einzelne Lieder, weil sie mir entweder nicht besonders zusagten oder sie viel seltener im Radio gebracht wurden: Hanns Dieter Hüsch, Bettina Wegner, Dietrich Kittner, Hans Söllner, Walter Mossmann, Willy Michl, Georg Ringsgwandl. Wieder andere lernte ich erst viel später kennen, etwa Hubert von Goisern, Wiglaf Droste, Rainald Grebe, Funny van Dannen oder Willi Resetarits, und manche Künstler hätte ich gar nicht als ,Liedermacher‘ wahrgenommen, sondern als ,Blödel-Barden‘, Austro-Popper, Jazzer oder Rocker in andere Schubladen gesteckt. Während nun – jedenfalls in meiner damaligen Wahrnehmung –  alle diese Personen ihr Liedermachertum auf eine relativ spezielle Art und Weise betrieben, sei es gesteigert intellektuell oder makaber, sei es sentimental oder als stramm-linke Agitation, hier in einem speziellen Dialekt, dort auf absurd-lustige, betont deftige oder gar forciert testosteronlastige Weise, bespielten Reinhard Meys unzählige Songs (fast) alle denkbaren Themen und Stile des Genres, ohne diese aber je ins Extreme zu treiben.

Die kleine Einschränkung muss ich vielleicht noch erklären. In seiner Biographie Was ich noch zu sagen hätte wird Mey einmal von seinem Gesprächspartner gefragt, worüber er eigentlich noch kein Lied geschrieben hätte. Darauf der Künstler: „Über die Gen-Tomate, über Silikonimplantate, über die Haushaltsdebatte, über die alte Fußmatte, über Kindergeburtstage, über die Borkenkäferplage“ (S. 296.) Über alles andere hat er demnach schon gesungen und vermutlich habe ich die meisten dieser Lieder auch schon irgendwann einmal gehört. Da ich allerdings kein ausgesprochener Reinhard-Mey-Fan bin (wie mir überhaupt ganz grundsätzlich das Talent zum Aficionado abgeht), gerieten mir im Laufe der Jahre die allermeisten davon auch wieder in Vergessenheit. Hängen geblieben sind schließlich Erinnerungen an eine Handvoll, was angesichts der Lebensleistung dieses Liedermachers einerseits fast gar nichts ist, andererseits aber doch auch wieder mehr als bei allen seinen Kollegen.

So standen die folgenden fünf Titel zur Auswahl: Komm, gieß‘ mein Glas noch einmal ein (1970), Der Mörder ist immer der Gärtner (1971) Gute Nacht, Freunde und Annabelle von seinem fünften deutschen Studioalbum Mein achtel Lorbeerblatt (1972) sowie Über den Wolken (LP Wie vor Jahr und Tag, 1974). Mit der Wahl des letzten Titels habe ich mich für das wahrscheinlich bekannteste und zugleich poetischste Lied Reinhard Meys entschieden, das nicht nur unter den Verehrern und Liebhaberinnen fliegender Kisten treue Fans hat. Diese Entscheidung habe ich übrigens durchaus in dem Bewusstsein getroffen, dass Vers 37 auf das gesamte Chanson ein sehr bedenkliches Licht wirft! Ich sage nur: Umweltkatastrophe! Oma im Hühnerstall Kavaliersdelikt dagegen!  

Der Text des Songs ist im Grunde ganz leicht zu verstehen: Die Sprecherinstanz beobachtet den Start eines Flugzeugs und folgt ihm eine Weile mit Augen und Gedanken nach. Selber im Regen stehend malt sie sich aus, wie der Flieger gleich die Wolkendecke durchstoßen und die Sonne sehen wird. Indem sich die Insassen des Flugzeugs vom Boden lösen, werden sie Abstand zu ihren Alltagssorgen gewinnen und ein ungeheures Gefühl von Freiheit verspüren. Das nimmt der Sänger jedenfalls an, so hat er es auch schon von vielen anderen gehört. Mit einem wehmütigen Gefühl und der Sehnsucht, selber der Sonne entgegen fliegen zu dürfen, bleibt er – wenigstens noch dieses Mal – am Boden zurück – im Regen und vermutlich auch beschwert mit einigem Kummer und etlichen Sorgen. In der dritten und zugleich letzten erzählenden Liedstrophe ist das Flugzeug am Sichthorizont verschwunden und nur noch akustisch präsent. Der Sänger löst seinen Blick vom Himmel und wendet sich Objekten im Nahbereich zu, die ihm aber durchaus ein kleines Quantum Trost spenden: In der Luftaufsichtsbaracke wird Kaffee gekocht, was dem Sauwetter ein wenig Wärme und Gemütlichkeit entgegensetzt,* und die Pfützen am Boden spiegeln den Himmel. Trickreich, aber absolut stimmig retuschiert der Liedermacher das mythische Symbol des Regenbogens, der eine Brücke von der Erde in den Himmel schlägt und damit Götter und Menschen versöhnt, in diese Spiegelungen hinein.

Ich denke, dass Reinhard Meys Song vom großen Menschheitstraum, sich den vertikalen Raum zu erschließen, damit hinreichend verstanden ist. Alle weiteren Kommentare betreffen biographische, flugtechnische, literatur- und motivgeschichtliche sowie literarisch-handwerkliche Details, für die man sich interessieren kann, aber nicht muss, da sie das Vergnügen am Lied vermutlich nur in diesem oder jenen Einzelfall befördern werden.

Bei meiner Beschäftigung mit diesem Chanson habe ich mich gleich eingangs ausführlich mit der Frage nach dem räumlichen Standort der Sprecherinstanz und der Perspektive ihrer sinnlichen Wahrnehmungen befasst, auf die ich keine so richtig stimmige Antwort gefunden habe. Um hier keinen falschen Eindruck aufkommen zu lassen: Als poetisches Ganzes ,stimmt‘ das Lied m.E. absolut! Es evoziert eine dichte suggestive Atmosphäre und macht es Hörern leicht, sich mit den Eindrücken und Reflexionen des Sängers zu identifizieren. Aber wenn wir fragen, wo dieser Sänger konkret steht – direkt neben der Startbahn oder außerhalb des Flugfeldes? –, welcher Beschäftigung er wohl nachgeht, über welche fliegerischen Kenntnisse und Zutrittsbefugnisse er verfügt etc., bleibt vieles im Unklaren. Ist der Flugplatz, auf dem sich der beschriebene Vorgang abspielt, ein kleines Flugfeld (wofür die „Luftaufsichtsbaracke“ spricht) oder ein großer, vielleicht sogar militärisch genutzter Airport, wo die Sorte von Maschinen startet, die tatsächlich ,den Asphalt zum Beben bringen‘ können? Das hätte ich schon gerne genau gewusst.

Ein Blick in die Biographie Reinhard Meys erbringt ein paar nützliche Fakten, die sich interpretatorisch verwerten lassen. Man erfährt zum Beispiel, dass er 1973 seine erste Fluglizenz in Wilhelmshaven erworben hat; viele weitere sollten folgen, am Ende sogar solche für Kunstflug und Hubschrauber. Der dortige ‚JadeWeserAirport‘ (1974 noch unter dem Namen ,Wilhelmshaven-Mariensiel‘ etwas kleiner dimensioniert und schlechter ausgestattet) ist flugrechtlich als ,Verkehrslandeplatz‘ klassifiziert und damit strukturell zwischen Flughäfen und Segelflugplätzen zu verorten. Er besitzt zwei Start- bzw. Landebahnen; die im ersten Vers als Ort des Geschehens bezeichnete „Startbahn null-drei“ mag terminologisch authentisch sein oder auch nicht,** die heutigen Bahnen tragen jedenfalls andere Bezeichnungen („02/20“ und „16/34“).

Da ich leider keine Fluglizenz erworben habe und solche Verkehrslandeplätze nur als Spaziergänger und Vogelzähler von außerhalb kenne, weiß ich nicht, ob der erste Vers eine schriftliche Anzeige zitiert, die irgendwo an solchen Flugfeldern aushängt, oder eine Durchsage an den startenden Piloten. Allerdings weiß ich, dass vor dem Zaun des Flugplatzes kein Asphalt mehr unter den Füßen eines Beobachters zittert, wenn dort Sport- oder kleine Geschäftsreiseflugzeuge abheben. Ich erkläre mir die im Lied wiedergegebenen Wahrnehmungen der Sprecherinstanz als Amalgam aus Sinneseindrücken eines Piloten und eines Bodenbeobachters; dieser ist mit eigenem Leibe der Regengischt ausgesetzt, jener erfährt aus nächster Nähe die enorme Kraft der Triebwerke und die Beschleunigung der Maschine, während der ferner postierte Zaungast diese Bewegungen bei kleineren zivilen Fluggeräten eher als vergleichsweise behäbige Vorgänge wahrnimmt.

Vers 8 konstatiert, dass die gestartete Maschine „der Sonne entgegen“ fliegt. Im Kontext dieses Lieds bedeutet das mit Sicherheit nur Schönes: Das Flugzeug und seine Insassen lassen das fiese Regenwetter unter sich zurück und – zumindest nach Ansicht des Beobachters – auch  ihren Alltagskummer. Notorische Leser und gelernte Literaturwissenschaftler können sich an dieser Stelle allerdings kaum dagegen wehren, dass ihnen die mythischen Flieger Dädalus und Ikarus einfallen, von denen der jüngere dummerweise der Sonne ein wenig zu nahe gekommen ist. Reinhard Mey musste die Ikarus-Geschichte natürlich auch geistig präsent haben, wenngleich er in Über den Wolken einschlägige Anspielungen über das Sonnen-Motiv hinaus vermeidet. Sein nächstes Studioalbum (1975) sollte dann aber schon mit Ikarus überschrieben werden und auch einen entsprechenden Song enthalten. Überraschender Weise befasst sich dieses Lied dann jedoch nicht mit dem tragischen Schicksal des antiken Flugpioniers, sondern feiert zauberhafte Wetter- und Landschaftserlebnisse.

Zur Phrase „Der Sonne entgegen“ fallen mir eine Menge weiterer Bezüge ein – zu Filmen, mehr oder minder bekannten Schlagern, literarischen Texten und sogar zu einer gleich betitelten Fernsehserie –, ohne dass es sinnvoll erscheint, diesen Spuren zu folgen. Sie tragen zum Verständnis unseres Liedtextes schlicht nichts bei. Ausschließen dürfen wir auf alle Fälle eine Interpretation der Formel im Sinne des modernen Massentourismus, dass das Flugzeug seine Insassen zu einem südlichen ,Sonnenstrand‘ am Mittelmeer oder sonstigen attraktiven Fernreisezielen befördern würde.

Der Refrain betont das Freiheitsgefühl, das sich angeblich beim Fliegen einfinden würde. Im Lied geht es um eine ,Freiheit von‘, keine ,Freiheit wozu‘. Eine Kommentierung verdienen dabei auch die negativen ,Dinge‘, die Pilot und Mitreisende hinter sich lassen, wenn sie vom Boden abheben und die dunklen Wolken durchstoßen: Es sind dies nicht näher konkretisierte private Kümmernisse und Sorgen, nicht gesellschaftlich-politisch zu verhandelnde Übel oder Freiheitseinschränkungen. Man hat es Reinhard Mey in den frühen 1970er Jahren von linker Seite her ausgesprochen krumm genommen, dass er seine Popularität nicht in den Dienst der revolutionären Sache gestellt, sondern in seinen Liedern zumeist nur die kleinen Widrigkeiten des Alltags thematisiert hat, private Liebesverwicklungen, die Freuden der Fliegerei, den Schutz der Tiere und Ähnliches. Und wenn er sich ab und an dann doch mit politischen Sachverhalten auseinandergesetzt hat, dann trat er besagten Kritikern zu ,zahm‘ auf, im Ton zu moderat, kurz: zu angepasst an die Spießergesellschaft.

Die schärfsten Verrisse seiner Lieder und Auftritte lassen sich in den mittleren 1970er Jahren finden, nachdem Meys kommerzieller Erfolg unübersehbar geworden war und es sich zugleich herumgesprochen hatte, dass er sich politisch nicht würde vereinnahmen lassen:

Rechnet nicht mit mir beim Fahnenschwenken,
Ganz gleich, welcher Farbe sie auch sein’n.
Ich bin noch imstand‘, allein zu denken,
Und verkneif‘ mir das Parolenschrei’n.***

Als er sich dann auch noch ,erdreistete‘, Auswüchse der 68er Studentenbewegung satirisch aufzugabeln (Annabelle, 1972), wurde dieses Unterfangen plötzlich gar nicht mehr als ,harmlos-heintjeartig‘ empfunden, sondern als „Hexenjagd in Chanson-Form“ gegeißelt. (Diese ebenso maß- wie humorlose Formulierung findet sich in Thomas Rothschilds Liedermacher-Buch; vgl. im Wikipedia-Artikel über R. Mey den Abschnitt „Rezeption“.) Mit der Zeit wurde die Stimmung dann wieder unaufgeregter, der Zeitgeist marschierte in neue Richtungen, und so fand Hilmar Klute in der SZ vom 21. Dezember 2012 nur noch Worte der Anerkennung für den inzwischen 70 Jahre reif gewordenen Liedermacher: „Mittelmäßigkeit lautet der Vorwurf derer, die allen Ernstes von sich glauben, ihr Leben sei eine permanente Sensationsveranstaltung. Reinhard Mey, dessen Leben vermutlich bunter und interessanter war als das der meisten seiner Verächter, ist weise genug, auf all dies nichts zu geben. Er hat die Chronik unseres bürgerlichen Lebens in berührend langmütigen, wunderbar sentimentalen und angemessen moralischen Balladen gesungen.“

Auch unser Lied findet bei Klute eine Extra-Würdigung: „Sein größter Erfolg ist die Flieger-Hymne ‚Über den Wolken‘, eine klug und poetisch gezeichnete Miniatur, in der das Große sich im Kleinen spiegelt und die machtvollen Worte Freiheit, Angst und Sorge auf federleichte Weise zu ihrem Recht kommen. Allein für das Reimpaar Jacke/Luftaufsichtsbaracke müsste man ihm den Hölderlin-Preis geben.“ Ja, das Wort „Luftaufsichtsbaracke“ hat etwas, wenn es in einem lyrischen Kontext erklingt! (Deshalb habe ich es ja auch in meinen Titel eingebaut … ;-)) Allerdings würde ich mich jetzt nicht gleich dem Vorschlag für den Hölderlin-Preis anschließen. Dafür ist mir das Reimwort „Jacke“ zu blass im Nachgeschmacke. „Karacke“ (Segelschiffstyp des ausgehenden Mittelalters) oder „Schabracke“ (Pferdedecke, auch hellere Flankenfärbung eines Tiers,  z.B. bei der Schabrackenlibelle – Anax ephippiger) hätten mich reimtechnisch mehr beeindruckt, meinetwegen auch „Eisenhüttenschlacke“ oder …

Einen kleinen Kommentar zum guten Schluss verdient auch noch das Regenbogenmotiv. Als der Sänger das startende Flugzeug schon längst nicht mehr sehen kann und sich auf den Heimweg gemacht hat, hängt er seinem Erlebnis noch immer nach. Sein bodenzugewandter Blick wird von den Regenpfützen himmelwärts umgelenkt. Der Himmel ist freilich noch immer wolkenverhangen und die Sonne hält sich nach wie vor hinter dem Gewölk versteckt und wird sich nur dem Flieger zeigen, sobald dieser die Wolkendecke durchstößt. Doch ein bisschen Benzin zaubert die Farben des Regenbogens in die Spiegelungen, die damit das mächtige, vielen Kulturen dieser Welt vertraute Hoffnungs- und Versöhnungssymbol evozieren. Wo immer er aufscheint, verspricht uns der Regenbogen, dass wir das Schlimmste hinter uns haben und dass die Brücke, auf der wir unseren Himmel erklimmen können, schon gebaut ist. Der frischgebrühte Kaffee kommt da gerade recht …

Hans-Peter Ecker, Bamberg

 * Ganz gleich, ob der Sänger jetzt einen Pott davon abkriegen wird oder nicht.

** Was die Klanggestalt bzw. Vokal-Abfolge des ersten Liedverses („Wind Nord/Ost, Startbahn null-drei“) angeht, ist diese m.E. poetisch erste Sahne! Da spielt es überhaupt keine Rolle, wie die Startbahn von Wilhelmshaven-Mariensiel seinerzeit tatsächlich hieß.      

*** Bevor ich mit den Wölfen heule, 1971. Inhaltlich folgt dieses Lied übrigens einer ähnlich gearteten Positionserklärung, die Bob Dylan, freilich mit ganz anderen Formulierungen, in seinem Song My back pages (1964) abgegeben hatte.

Literatur:

Natascha Adamowsky: Das Wunder in der Moderne. Eine andere Kulturgeschichte des Fliegens. München: Fink, 2010.

Hilmar Klute: Poet des Alltäglichen. Reinhard Mey wird 70. Süddeutsche Zeitung vom 21. Dezember 2012.

Reinhard Mey: Was ich noch zu sagen hätte. Mit Bernd Schroeder. Köln: Kiepenheuer & Witsch, 2005.

Dirnenlied mit Nikolaus. Georg Kreislers „Der Weihnachtsmann auf der Reeperbahn“ (1960/61)

Georg Kreisler

Der Weihnachtsmann auf der Reeperbahn

Mutter war Dirne und Vater war Dieb
und Jim machte Dienst auf einem Kutter,
also wurde ich wie Mutter.
Einmal sprach Jim: Du, ich hab' dich so lieb,
versteck' mich, ich hab' etwas verbrochen.				5
Damals kriegte ich vier Wochen.
Und im Gefängnis war es noch schlimmer als zu Haus.
Wir kriegten Labskaus jeden Tag, wer hält denn sowas aus!
Doch ich ertrug mein Schicksal mit fröhlichem Gemüt,
denn ich fand Trost in diesem kleinen Lied:				10

Auch auf der Reeperbahn steht dann und wann ein Weihnachtsmann.
Der blickt Dich lächelnd an und hilft dir weiter.
Und wenn man momentan im Leben nicht mehr weiter kann,
dann ist der Weihnachtsmann ein treu Begleiter.
Er steht ganz still im Gewimmel						15
und bimmelt die Reeperbahn hinauf.
Der dicke Schnee fällt vom Himmel,
doch nie geben Weihnachtsmänner auf.
Drum gibt's nur einen Mann, der dir fast immer helfen kann,
das ist der Weihnachtsmann auf der Reeperbahn.				20

Jim sah einmal in meine Telefonkartei
und haute mir eine in die Fresse,
damit ich ihn nicht vergesse.
Dann brach er mir noch ein Schlüsselbein entzwei
und brachte mich rasch in eine Klinik,					25
denn er liebt mich treu und innig.
Dort war ein junger Doktor, der sich an mir vergriff.
Da schoss ihm Jim ein Loch in'n Kopp und rannte auf sein Schiff.
Die Polizei verdrosch mich, denn Jim war schon zu weit.
Und trotzdem tat er mir am meisten leid.				30

Denn auf der Reeperbahn steht dann und wann ein Weihnachtsmann.
Der blickt mich lächelnd an in alter Frische.
Doch Jim am Ozean sieht niemals einen Weihnachtsmann,
nur Sturm und Steuermann und kleine Fische.
Ja, ja, die Weihnacht an Bord						35
die ist nie wie das Weihnachtsfest zu Haus.  
Man blickt nach Süd und nach Nord
und nach Ost und nach West und - damit aus.
Dann wischt sich jedermann die Tränen fort so gut er kann,
ihm fehlt der Weihnachtsmann auf der Reeperbahn.			40

Bin ich mal alt und das silberweiße Haar
fließt mir über die Stirne herunter,
komm ich sicher nirgends unter.
Kein Mensch will wissen, wie schön ich einmal war.
Ich hab' sogar am Bauch 'ne Tätowierung,				45
eine Palme mit Verzierung.
Dann kriech ich halb verhungert entlang der Reeperbahn
und alle Männer drehn sich weg, als hätt' ich was getan.
Jedoch an einer Ecke - da bleib ich plötzlich stehn
und kann das Wunder, das ich seh, kaum sehn.				50

Denn auf der Reeperbahn steht sicher dann der Weihnachtsmann
und sagt mir ganz spontan, daß wir uns kennen.
Dann fängt er leise mit den, mit den Glöckelein zu bimmeln an,
daß ich nicht halten kann - und ich muß flennen.
Er lächelt breiter denn je						55
und er führt mich die Reeperbahn hinauf.
Und ringsumher schmilzt der Schnee
und die Straße, die, die hört überhaupt nicht auf.
Ich glaub' an Liebe nicht, an Treue nicht, doch glaub' ich an
den guten Weihnachtsmann auf der Reeperbahn.				60

Na Süßer, wie wär's denn mit uns beiden heute Abend? Hm?
Keine Zeit, och, na denn nicht. Junge, komm bald wieder.

     [Text nach www.georgkreisler.info]

In der Blütezeit des deutschsprachigen literarischen Kabaretts 1901-1933 war das Dirnenlied vermutlich das beliebteste und bis in die mittleren 20er Jahre hinein auch das in den Programmen am häufigsten vertretene Genre. Also solches wurde es auch von prominenten Dichtern gepflegt, berühmten Diseusen vorgetragen, in Lyrikanthologien publiziert und als Untergattung des Chansons und kritische Reflexion bestimmter sozialgeschichtlicher Verhältnisse (soziale Verelendung der Unterschichten, bürgerliche Bigotterie im Umgang mit geschlechtsspezifischen Verhaltensnormen und der Prostitution) wissenschaftlich beschrieben. Im engeren Sinne bezieht sich der Begriff auf Rollenlyrik aus der Perspektive einer Prostituierten, im weiteren auf die Thematisierung von Prostitution generell, so dass die Sprecherrolle dann beispielsweise auch von einem Freier oder Zuhälter übernommen werden kann.

Insofern das Kabarett des frühen 20. Jahrhunderts, in Frankreich auch schon des späten 19. Jahrhunderts, überwiegend von jungen großstädtischen Intellektuellen und Künstlern getragen wurde, der sog.  ,Bohème‘, besaß es von Anfang an eine dezidiert antibürgerliche Stoßrichtung. Die oft in bitterer Armut lebenden Bohémiens betrieben einen Kult um Kunst, Freundschaft und Solidarität, wohingegen sie dafür umso mehr die das Bürgertum jener Epoche charakterisierende Vergötterung materieller Werte, von Geld, Besitz und Privateigentum verabscheuten. Zu besagten materiellen Werten darf man auch den Anspruch des sich patriarchalisch gebärdenden Familienoberhaupts auf die unbedingte eheliche Treue seiner Gattin rechnen, hätte man sich ja ansonsten nicht sicher sein können, dass der Familienbesitz dereinst in ,richtiger Linie‘ vererbt werden würde!

Die Bohème hingegen versprach mit ihren idealistischen Werten und antibürgerlichen Praktiken – Aufweichung der starren Genderrollen, Akzeptanz weiblicher Sexualität und Intellektualität – klugen, kreativen und emanzipationsbegierigen jungen Frauen einen utopischen Freiheitsraum, für den die Bohémiennes die materielle Sicherheit jenes goldenen Käfigs einzutauschen bereit waren, der im Falle gesellschaftskonformen Verhaltens ihr Schicksal gewesen wäre. Dass sich diese Glücksperspektiven in vielen Fällen nicht erfüllten und die alltäglichen Lebensverhältnisse in dieser Subkultur geradezu prekär waren, ist weithin bekannt. Karl Marx und Rosa Luxemburg (vgl. etwa ihre Einführung in die Nationalökonomie, posthum 1925) hätten für dieses spezielle kreative Milieu den Begriffs des ,Lumpenproletariats‘ zur Hand gehabt und für dessen Nähe zur Prostitution und Verbrechertum auch eine theoretische Begründung. Nun war ,die‘ Bohème, deren konkrete locations mannigfache Abschattungen vom Glamourösen bis zum Schäbigen bzw. Zwielichtigen aufweisen konnten, nicht nur Spielwiese von Künstlern, Intellektuellen und Halbweltgestalten, sondern auch von Bürgern und Angehörigen des Adels, die sich ihrer Klasse entweder entfremdet hatten oder sich auch nur einen gewissen ,Urlaub‘ vom anstrengenden Tagesgeschäft gönnten – denken wir uns zum Beispiel nachgeborene, nichtsdestoweniger finanziell bestens ausgestattete Söhne aus gutem Hause, Dandys, Ästhetizisten, Libertins, Journalisten etc. Auch dieser Personenkreis hatte seine Gründe, sich von den traditionellen bürgerlichen Werten – Fleiß, Redlichkeit, Frömmigkeit, Moral – abzugrenzen und deren Verspottung zu goutieren.

Die Figur der Dirne und das Thema der Prostitution eigneten sich für einige Jahrzehnte bestens, den bürgerlichen Spießer und Moralapostel zu provozieren und schockieren, gleich, ob es in den einschlägigen Liedern um naturalistisches Interesse am ,Milieu‘ ging, um Gesellschaftskritik und soziale Anklage, um Unterhaltungskost nach neoromantischer Mode, eine sexualrevolutionäre Utopie wie bei Frank Wedekind oder expressionistische Lust an der Groteske. Für das schnelle Verschwinden der Dirnenlieder aus den Kabarettprogrammen Mitte der 1920er Jahre führt Roger Stein (2007, S. 517) mehrere Gründe an: die Überstrapazierung des Genres in den Jahren zuvor, eine zunehmend freiere Sexualmoral im Gefolge der Aufhebung der Zensur nach dem Ersten Weltkrieg, den wirtschaftlichen Aufschwung während der sog. ,Goldenen Zwanziger Jahre‘, die Amerikanisierung des deutschen Kulturbetriebs mit neuen interessanteren Frauenrollen, nicht zuletzt auch allgemeine Strukturveränderungen im Kabarettbetrieb, die mit der Bedeutungszunahme des Conférenciers verbunden waren, der jetzt als Komiker agiert, wodurch die ,Programm-Nummern‘ an Bedeutung verloren und für erstrangige Autoren uninteressant wurden. Mit der Machtergreifung der Nationalsozialisten hatte das Thema auf öffentlichen Bühnen ohnehin keine Chance mehr.

Dass Georg Kreisler 1960/61 mit seinem Weihnachtsmann auf der Reeperbahn*) ein kabarettistisches Lied-Genre wiederbelebte, das seit 1925 weitgehend aus dem Unterhaltungsgeschäft entschwunden war und das man nach dem 2. Weltkrieg kaum mehr dem Begriff nach kannte, überrascht nur bei oberflächlicher Betrachtung. Wenn man seinen Blick genauer auf die Person des Autors und das gesellschaftliche Klima der jungen Bundesrepublik richtet, scheint es beinahe unvermeidlich, dass Kreisler sein satirisches Talent neben den schwarzhumorigen Songs, für die er berühmt war, auch an einem Dirnenlied erprobte. Nachkriegsdeutschland war prüde bis zur Verklemmtheit, sentimental, harmoniesüchtig, dabei aber durchaus bigott und auf ,Schlüpfriges‘ versessen (vgl. das öffentliche Interesse an einschlägigen Filmen und Skandalen). Hinsichtlich des Frauenbildes hielt man mehrheitlich noch an den Idealen der NS-Zeit fest (Mutterrolle, fürsorglicher Mittelpunkt der Familie, Asexualität). Insofern bot der gesellschaftliche Hintergrund dem Satiriker alle notwendigen Voraussetzungen, das breite Publikum mit dem Thema Prostitution zu provozieren, speziell wenn er es mit einem religiösen, hochgradig gefühlsbesetzten Ereignis wie Weihnachten in einen Zusammenhang brachte.

Was nun den persönlichen künstlerischen Werdegang Kreislers angeht, darf man davon ausgehen, dass er mit den kabarettistischen Traditionen der Vorkriegszeit vertraut war. Selber 1922 geboren, in Wien aufgewachsen und 1938 zur Emigration in die USA gezwungen, kam er in Hollywood durch verwandtschaftliche Vermittlung schnell mit prominenten Persönlichkeiten des Filmgeschäfts in Verbindung. Als Neunzehnjähriger heiratete er die Tochter von Friedrich Hollaender, einer zentralen Figur der Berliner Kabarett- und Theaterszene der 1920er Jahre, der u.a. auch die Filmmusik mit einschlägigen Dirnenliedern zu dem frühen Tonfilm Der blaue Engel (1930) komponiert hatte. In den Kriegsjahren organisierte Kreisler als Angehöriger der US-Truppen mit anderen ehemaligen Emigranten Veranstaltungen zur Truppenbetreuung, später – wieder in Hollywood –  lernte er Hanns Eisler und Charlie Chaplin persönlich kennen. Ab 1946 trat er dann mit eigenen, meist in makabrer Tonlage verfassten Liedern in einem New Yorker Nachtclub auf. Nachdem dieser Stil den Bossen der Tonstudios als ,unamerikanisch‘ galt und kommerziell ohne Erfolg blieb, kehrte Georg Kreisler 1956 nach Europa zurück und versuchte sein Glück zunächst in Wien, ab 1958 in München, wo er zunehmend besser ankam und 1960 schließlich an den Kammerspielen seinen Durchbruch schaffte. In den kargen Monaten zuvor waren die Aufträge einiger deutscher Rundfunksender lebenswichtig. Insbesondere verdankten die Kreislers (der Komponist war nun mit Topsy Küppers verheiratet und hatte einen neugeborenen Sohn) Henri Regnier, dem Unterhaltungschef des NDR Hamburg, regelmäßige Aufträge. So entstanden die Seltsamen Liebeslieder, aber auch eine Serie mit Weihnachtsliedern, „die sich mit dieser verlogensten Zeit des Jahres kritisch befassen sollten“ (Fink und Seufert, 2005, S. 200), wobei Regnier seinem Künstler ausdrücklich verbietet, irgendwelche Rücksichten zu nehmen.

Ohne dass unser Dirnenlied in Kreislers Biographie speziell erwähnt wird, muss es aus diesem Kontext stammen. Es wurde in zwei unterschiedlichen Rollenfassungen gedichtet, wobei die eine einer weiblichen Sprecherinstanz zugedacht war, die andere einer männlichen. Im Folgenden befasse ich mich nur mit der ersten Variante, deren Text mir straffer und ,stimmiger‘ vorkommt und im Übrigen auch ein Dirnenlied im engeren Sinne darstellt. An der Profession der Sängerin lassen die drei Anfangszeilen des Liedes keinen Zweifel aufkommen: Sie ist ein Kind ,des Milieus‘ und hatte – wenigstens in ihrer Selbstwahrnehmung – nie eine realistische Chance, einen ,ehrbaren Beruf‘ zu ergreifen. Von ihrem Freund Jim hatte sie keine Unterstützung zu erwarten. Im Gegenteil! Er nutzt ihre Zuneigung bei jeder Gelegenheit rücksichtslos aus, so erpresst er sie emotional beispielsweise dazu, seine Verbrechen zu decken. Diese Naivität bringt ihr vier Wochen Knast ein, wobei ihr groteskerweise als besondere Härte der Umstand im Gedächtnis haften geblieben ist, dass es die ganze Zeit Labskaus gegeben hat. (In diesem Detail schlägt die österreichisch-amerikanische Sozialisierung des Autors durch; ein norddeutscher Verfasser hätte vermutlich Saure Lüngerl, Schwäbische Kutteln oder Blaue Zipfel auf den Speiseplan ihrer Zwangsresidenz gesetzt. Weitere ansprechende Rezepte findet man in diesem Blog unter Leckeres vom Piraten…) Jedenfalls erträgt das brave Mädchen ihr schweres Schicksal „mit fröhlichem Gemüt“ (V. 9), weiß sie sich doch mit einem Weihnachtslied zu trösten, demzufolge „dann und wann“ (V. 11) an der Reeperbahn „ein“ (!?) Weihnachtsmann anzutreffen sei, der geplagten Seelen freundlich entgegenlächelt bzw. -bimmelt und ihnen treulich-hilfreiche Begleitung anbietet.

Die Textpassage wirft ein paar Fragen auf, die nicht ohne weiteres zu beantworten sind: Zieht die Sängerin Trost aus dem weihnachtsgestimmten Liedchen oder aus der Hoffnungsperspektive, die es eröffnet und die von ihr für bare Münze genommen mit? Wenn man einmal vom zweiten Fall ausgeht, irritiert die Verwendung des unbestimmten Artikels in Vers 11. Anscheinend rechnet das Lied nicht damit, dass sich ,der‘ im Sinne von ,der echte‘ Weihnachtsmann auf der Reeperbahn herumtreibt, sondern nur irgendeiner. Sollten wir uns jetzt einen Mann im Nikolauskostüm und Glöckchen vorstellen, der unter den Passanten kleine Werbegeschenke verteilt und sie in die ansässigen Etablissements einlädt**) oder einen freundlichen Freier mit roter Zipfelmütze und prall gefülltem, ,bimmelndem‘ Geldbeutel? Oder doch eine von höherer Instanz bestellte Aushilfskraft, die dem richtigen Weihnachtsmann in der Hauptsaison zur Hand geht? Fragen über Fragen…

Die nächste Strophe zeichnet ein groteskes Bild von der Liebesbeziehung zwischen Jim und seiner ,Braut‘. Als er hinter ihr Berufsgeheimnis kommt, verdrischt er sie in einem Eifersuchtsanfall auf das Brutalste, was aber beide Partner durchaus als Ausdruck von tiefer Zuneigung interpretieren. Mit dieser Passage tradiert Kreisler einen alten Topos von Dirnenliedern. Brecht-Kennern fällt vermutlich spontan die Zuhälterballade der Dreigroschenoper ein, das Duett zwischen Macheath und Jenny:

Brecht war allerdings keineswegs der Erfinder dieser speziellen Form tätlicher Zuneigung, die auch als Spielart schwarzen Humors zu lesen ist. In seiner Abhandlung über das Deutsche Dirnenlied verfolgt Roger Stein (2007, S. 450 f.) die Spur dieses Topos bis auf Francois Villons Ballade von Villon und der dicken Margot (15. Jh.) zurück.

Mit seinen Folgeversen 27-30 setzt Kreisler auf Brechts Villon-Neudichtung nochmals ,einen drauf‘, wodurch das Geschehen endgültig und beim besten Willen nicht mehr ernsthaft, d.h. romantisch-sentimental rezipierbar ist. Die Sängerin, inzwischen als Super-Opfer von ihrem Geliebten, einem übergriffigen Arzt und zuletzt auch noch von der Polizei malträtiert, treibt ihre Selbstverleugnung auf die Spitze, indem sie bekennt, dass ihr der Geliebte, der für die gesamte Misere ja ursächlich verantwortlich ist, am meisten leid tut (V. 30). Warum wohl? Wir ahnen es schon:  Fern auf hoher See hat der arme Jim keine Chance, dem netten Reeperbahn-Weihnachtsmann zu begegnen…

So weltfremd uns Kreislers Dirne bislang begegnet ist, so illusionslos sieht sie ihrem Alter entgegen. Sie weiß genau, dass Schönheit vergänglich ist. Einsamkeit, Obdachlosigkeit und Hunger werden ihr Schicksal sein. Für ihre schöne Tätowierung auf dem Bauch – eine Palme als Symbol für Aufrichtigkeit und Rechtschaffenheit – wird sich dann niemand mehr interessieren. Doch dann ereignet sich mitten in diesen düsteren Gedanken ein sehr persönliches Weihnachtswunder. Während sich alle Männer von der greisen Hure abwenden, verleugnet der Reeperbahn-Weihnachtsmann ihre alte Bekanntschaft nicht. Da sie schon nicht mehr so gut sieht und das Wunder kaum erkennen kann, macht der gute Nikolaus ihr mit nachdrücklichem Gebimmel klar, was Sache ist, worauf sie – natürlich immer noch innerhalb ihrer Vision – von einer Woge der Rührung überschwemmt wird. Endlich fließen Tränen, die Reeperbahn dehnt sich lang und länger und offenbart sich, würde ich jetzt ein wenig anachronistisch behaupten, als Stairway bzw. Highway to Heaven***). Das abschließende Verspaar des eigentlichen Dirnenliedes formuliert ebenso lakonisch wie ironisch die Essenz des Ganzen: Wer aufgrund seiner Lebenserfahrungen realistischerweise nicht mehr an Liebe und Treue glauben kann, dem bleibt immer noch der Weihnachtsmann…

Nun erfolgt ein abruptes Umschalten der Protagonistin vom poetischen Weihnachtslied zum prosaischen Alltagsgeschäft, dessen geistesgegenwärtige Schnelligkeit mancher Bundesligamannschaft zum Vorbild gereichen könnte. Ihr kommt jemand entgegen, der weder bimmelt noch sonstige Ähnlichkeiten mit einem Weihnachtsmann aufweist. Dafür passt er in das professionelle Beuteschema und wird konsequent angesprochen. Leider beißt er nicht an. Dann vielleicht ein andermal. Die Hure verabschiedet den ,Süßen‘ mit einem freundlichen Spruch, den er vermutlich schon von Muttern her kennt.****)   

*) Ich habe mich beim voranstehenden Video für die Interpretation von Suzanna Meyer entschieden. Diese Ballade wurde auch von Kreislers Ehefrauen Topsy Küppers (LP Frivolitäten, 1963) und Barbara Peters (CD Fürchten wir das Beste, 1997) gesungen.

**) Die für männliche Interpreten geschriebene Variante des Liedes legt diese Deutung nahe, denn dort wird am Ende – zumindest in einer Version des Sängers – der alt gewordene Jim als Reeperbahn-Weihnachtsmann angeheuert.

***) Rockballade von Led Zeppelin, 1970/71; amerikanische Fernsehserie, 1984-89 produziert; dt.: Ein Engel auf Erden.

****) Vgl. Revue-Operette Heimweh nach St. Pauli von Lotar Olias, 1954, spätere Neufassung als Musical mit Freddy Quinn in der Hauptrolle (1962). Ich konnte nicht ermitteln, ob die ,Anmach-Sprüche‘ am Ende des Kreislerschen Dirnenliedes bereits der Erstfassung (Radiosendung 1960, Single Das gibt es nur bei uns in Gelsenkirchen, 1961) angehängt waren oder erst später, nach dem Schlagererfolg Freddy Quinns bei bestimmten Konzerten – mehr oder minder improvisierend – hinzugefügt wurden. Letzteres halte ich für wahrscheinlicher.

Hans-Peter Ecker, Bamberg

Literatur:

Hans-Juergen Fink und Michael Seufert: Georg Kreisler. Gibt es gar nicht. Die Biographie. Frankfurt: Fischer, 2005.

Roger Stein: Das deutsche Dirnenlied. Literarisches Kabarett von Bruant bis Brecht. Köln, Weimar und Wien: Böhlau, 2006.