Zwischen Zuversicht und Zukunftsangst: Zu Martin Behm: „Wie lieblich ist der Maien“

Martin Behm 

Wie lieblich ist der Maien 

1. Wie lieblich ist der Maien
aus lauter Gottesgüt,
des sich die Menschen freuen,
weil alles grünt und blüht!
Die Tier sieht man jetzt springen
mit Lust auf grüner Weid,
die Vöglein hört man singen,
die loben Gott mit Freud.

2. Herr, dir sei Lob und Ehre
für solche Gaben Dein.
Die Blüt zur Frucht vermehre,
lass sie ersprießlich sein.
Es steht in Deinen Händen,
Dein Macht und Güt ist groß,
drum wollst Du von uns wenden
Mehltau, Frost, Reif und Schloss.

3. Herr, lass die Sonne blicken
ins finstre Herze mein,
damit sich’s möge schicken,
fröhlich im Geist zu sein,
die größte Lust zu haben
allein an Deinem Wort,
das mich im Kreuz kann laben
und weist des Himmels Pfort.

4. Mein Arbeit hilf vollbringen
zu Lob dem Namen Dein,
und lass mir wohl gelingen,
im Geist fruchtbar zu sein;
die Blümlein lass aufgehen
von Tugend mancherlei,
damit ich mög bestehen
und nicht verwerflich sei.

     [1604; Sprache modernisiert] 

Wie hat es sich eigentlich so gelebt im frühen siebzehnten Jahrhundert? Der vorliegende Text gibt uns die Möglichkeit einen Eindruck dieser Zeit zu gewinnen; so erzählt er von Bauern, die um ihre Existenz bangten, der lutherischen Theologie, dem alltägliche Leben in der Frühen Neuzeit und vielem mehr. Geschrieben wurde er von dem lutherischen Pfarrer Martin Behm (Varianten seines Namens sind auch Böhme, Behme oder Bohemus), der am 16. Dezember 1557 geboren wurde und am 5. Februar 1622 starb. Behm verbrachte den Großteil seines Lebens in seiner Geburtsstadt Lauban, die heute in Polen liegt und Lubań heißt. Lauban gehörte dem 1346 gegründeten Oberlausitzer Sechsstädtebund an (neben Bautzen, Görlitz, Zittau, Kamenz und Löbau), wodurch die Stadt – und somit auch der Stadtprediger Behm – verhältnismäßig wichtig war. Die sechs Städte waren regional bedeutsam und waren zentrale religiöse, wirtschaftliche und politische Zentren der Oberlausitz. Wie schnell sich allerdings auch das Glück einer relativ bedeutenden Stadt wenden konnte, zeigt ein genaueres Betrachten des Liedtextes.   

Dieser beginnt, wie viele Frühlingslieder, mit dem Dank für den Beginn der neuen Jahreszeit.  Durch die „Gottesgüt“ können sich die Menschen an der grünenden Natur und den singen Vögeln erfreuen. Doch bereits in dieser ersten Strophe, die im Gegensatz zu anderen Teilen des Liedes beschreibend und nicht als Hoffnung formuliert ist, zeigt sich, dass es im Text auch um ganz praktische Belange geht. Denn die Tatsache, dass nun wieder Tiere im Wald zu sehen sind, lässt sich nicht nur so verstehen, dass diese schön anzusehen sind, sondern auch, dass es eine Nahrungsquelle gibt, auch wenn viele Formen der Jagd den Eliten vorbehalten waren.  

Das Thema der Abhängigkeit von der Natur wird dann in der zweiten Strophe ausgeführt. Blüten sind nett anzusehen, aber, was noch wichtiger ist, sie werden auch „zur Frucht“ und somit zu Nahrung. Gängigen frühneuzeitlichen Ansichten folgend, wird so festgestellt, dass ästhetisch schöne Dinge auch nützlich sind. Selbstverständlich hat Gott das letzte Wort und so wird er gelobt und ihm für seine bisherigen Gaben gedankt, um dies dann mit der Hoffnung zu verbinden, dass sich eine gute Ernte auch tatsächlich einstellt.

In der letzten Zeile des Liedes kommt dann zum ersten Mal eine Form der Zukunftsangst zum Ausdruck. So wird direkt von der abstrakten Macht und Güte Gottes auf die sehr konkreten Schäden durch „Mehltau, Frost, Reif und Schloss“ verwiesen. Das hier befürchtete schlechte Wetter konnte die Existenz von Bauern zunichte machen. Erklären lässt sich dies auch mit der ‚kleinen Eiszeit‘, welche zwischen 1570 und 1630 für besonders kalte und lange Winter sorgte und so die Bevölkerung vor große Probleme stellte. (vgl. Wikipedia). Der zunehmend bittende Ton des Textes schlägt sich auch sprachlich in hoffnungsvollen Imperativen nieder („lass[…]blicken“; „hilf[…]vollbringen“; „lass mir wohl gelingen“, etc.). Der Dank der ersten Strophe wandelt sich so, ähnlich einem Gebet, in den Wunsch nach göttlicher Hilfe. Diese Elemente der Zukunftsangst und Überlebensprobleme erreichten mit dem Ausbruch des Dreißigjährigen Krieges wenig später nochmals ein ganz neues Ausmaß.   

Wie lässt sich der Fokus auf die ländlich-bäuerliche Gesellschaft damit vereinbaren, dass sich Behm im städtischen Milieu aufhielt? Lauban war mit einigen Tausend Einwohner eine größere Stadt, was sie aber auch von den umliegenden Bauern abhängig machte und bedeutete, dass eine schlechte Ernte sich auch negativ auf die Stadt selber auswirkte. Teuerungen und schlechtes Wetter betrafen ganze Landstriche. Der Fokus auf die Ernte und die Jagd in der ersten Strophe verdeutlicht aber auch, dass ein Pfarrer wie Behm ein großes Einzugsgebiet haben konnte und er mit dem Liedtext auch Bauern aus umliegenden Dörfern ansprach.

Die dritte Strophe zeigt klar die Konfession des Verfassers. Dem sündereichen Menschen („finsre[s] Herz“) wird die Gnade Gottes entgegengesetzt („lass die Sonne blicken“). Diese Zeilen können auch als subtile Anspielung auf Luthers ‘nur die Gnade Gottes‘ (sola gratia)verstanden werden. Und auch die weiteren lutherischen solae werden aufgegriffen. Nur durch die Schrift („an deinem Wort“) und dem Glauben an Christus („das mich im Kreuz kann laben“) kann der Gläubige in den Himmel gelangen („und weist des Himmels Pfort“). In einer Strophe wird somit sola gratia, sola fide, sola Christus und sola scriptura thematisiert. Heilige, die in katholischen Gebeten bei schlechtem Wetter angerufen wurden, finden selbstverständlich, wie dies das Luthertum vorsah, keine Erwähnung. Eine ähnliche Betonung auf Christus und die Schrift findet übrigens in einem Stich von Behm seinen Ausdruck, in dem er ein Buch, wohl die Bibel, hält und eine Darstellung eines Kruzifixes an der Wand hängt.

Unbekannter Künstler: Martin Behm, Stich, ca. 1600 (https://commons.wikimedia.org)

Möglicherweise war es Behm auch ein Bedürfnis seiner Gemeinde auf diese Weise die lutherische Theologie näher zu bringen, weil in Lauban im siebzehnten Jahrhundert noch immer Nonnen lebten. Auch wenn der Großteil der Bevölkerung im sechzehnten Jahrhundert lutherisch geworden war, behaupteten sich die Magdalenerinnen-Nonnen in der Stadt und teilten sich mit den Lutheranern die Kirche (siehe dazu: Martin Christ: Biographies of a Reformation. Religious Change and Confessional Coexistence in Upper Lusatia, 1520-1635. Oxford University Press 2021).

Weil sich, wie auch Luther selber wusste, theologische Konzepte gut in Lieder verpacken ließen und sich so auch rasant verbreiten konnten, ist es nicht verwunderlich, dass Behm dieses Medium wählte um zentrale Punkte des lutherischen Glaubens darzustellen. Gleichzeitig schaffte er es in dem Text alltägliche Ängste der Menschen (möglicherweise auch seine eigenen) zu thematisieren und diese dann mit der Hoffnung auf die Gnade Gottes zu verbinden.

Wenden wir uns noch kurz der letzten Strophe zu. Sie beginnt mit der Bitte an Gott für eine produktive Arbeit. Zwei Lesarten sind hier möglich: Entweder es handelt sich, in Verbindung mit dem früher im Lied erwähnten Obst und Wild, um körperliche Arbeit wie Ernten und Jagen oder, wie der Mittelteil der Strophe nahelegt, um geistige Arbeit („im Geist fruchtbar zu sein“), die Behm als Pfarrer und Schriftsteller auch selbst erbrachte. So oder so wird weiterhin auf Gottes Einfluss im alltäglichen Leben gehofft. Schließlich endet das Lied mit dem Wunsch nach einem tugendhaften Leben („Tugend mancherlei“, „nicht verwerflich sei“). Verbunden ist dies mit der Metapher einer aufgehenden Blume, die dem Text, welcher sich damit wie schon zu Beginn, auf die Natur bezieht, einen passenden Rahmen gibt.

Im Gegensatz zu anderen Frühlingsliedern zeigt Wie lieblich ist der Maien, das auch im evangelischen Gesangbuch zu finden ist, nicht nur die guten Seiten des Frühlings. Während in Wie schön blüht uns der Maien (Interpretation hier) und auch moderneren Stücke wie Im Märzen der Bauer (Interpretation hier) die Frühlingszeit insgesamt als positiv beschrieben wird, ist Wie lieblich ist der Maien ambivalenter gehalten. Mit dem Monat Mai ist auch die Furcht vor schlechtem Wetter verbunden, was die Hoffnung auf die Gnade Gottes besonders wichtig werden lässt. Im Lied treffen somit Hoffnung und Zukunftsangst aufeinander und nur Gott, in der Vorstellung der Frühen Neuzeit Lenker aller Dinge, kann dabei helfen etwas so Unberechenbares wie das Wetter zu steuern. So gewährt uns das Lied einen kleinen Blick in das siebzehnte Jahrhundert.

Martin Christ, Erfurt

Psalmlied und Kriegslied: Martin Luthers „Ein feste Burg ist unser Gott“

Martin Luther

Ein feste Burg ist unser Gott

Ein feste Burg ist unser Gott,
Ein gute Wehr und Waffen;
Er hilft uns frei aus aller Not,
Die uns jetzt hat betroffen.
Der altböse Feind,
Mit Ernst er's jetzt meint
groß Macht und viel List
sein grausam Rüstung ist,
auf Erd ist nicht seinsgleichen

Mit unsrer Macht ist nichts getan,
Wir sind gar bald verloren;
Es streit für uns der rechte Mann,
Den Gott hat selbst erkoren.
Fragst du, wer der ist?
Er heißt Jesu Christ,
Der Herr Zebaoth,
Und ist kein andrer Gott,
Das Feld muß er behalten.

Und wenn die Welt voll Teufel wär
Und wollt uns gar verschlingen,
So fürchten wir uns nicht so sehr,
Es soll uns doch gelingen.
Der Fürst dieser Welt,
Wie sauer er sich stellt,
Tut er uns doch nicht,
Das macht, er ist gericht't
Ein Wörtlein kann ihn fällen.

Das Wort sie sollen lassen stahn
Und kein Dank dazu haben;
Er ist bei uns wohl auf dem Plan
Mit seinem Geist und Gaben.
Nehmen sie den Leib,
Gut, Ehr, Kind und Weib:
Laß fahren dahin,
Sie haben's kein Gewinn
das Reich muß uns doch bleiben

Ein feste Burg als volkstümliches Lied

Wie populär das Kirchenlied, das in allen evangelischen Gesangbüchern vertreten ist, bald nach seine Entstehung wurde, zeigt sich auch darin, dass die Anfangsverse der Strophen eins, drei und vier seit dem 16. Jahrhundert sprichwörtlich geworden sind und es seit Anfang des 19. Jahrhunderts Eingang in zahlreiche säkulare Liederbücher gefunden hat. Zunächst wurde es 1806 in die Sammlung Des Knaben Wunderhorn von Clemens Brentano und Achim von Arnim aufgenommen. Auch die Titel mancher Liederbücher weisen darauf hin, dass der Choral als Volkslied angesehen wurde: Von Die Volkslieder der Deutschen (1834, herausgegeben vom Liederforscher Friedrich Karl von Erlach [1769–1852]) und dem Liederbuch des deutschen Volkes (1883), über Wandervogels Singebuch (1915) bis hin zu den Liedsammlungen zeitgenössischer Liedforscher wie Ernst Klusen, Heinz Rölleke und Theo Mang.

Entstehung

Der Text des 4-strophigen Lieds stammt von Martin Luther. Während sich Liedforscher, Musikhistoriker und Kirchengeschichtler über das Entstehungsjahr 1527 einig sind, ist der Anlass für Luthers Dichtung umstritten. Der Musikhistoriker Michael Fischer führt die Entstehung des „Kampfliedes“ auf die drohende osmanische Invasion zurück. Luther, so hingegen die Auffassung des Liedforschers Theo Mang, habe den Choral „unter dem Eindruck der nahenden Pest“ als „Trost- und Bußlied“ und zugleich als „Trutz- und Triumphlied der evangelischen Kirche“ gegen die Altgläubigen, die sich der Reformation verweigerten, verfasst (S. 1066) –  ein Aspekt, den 1955  auch der Linguist und Ethnologe Wolfgang Steinitz mit der Titulierung „das religiöse Kampflied der Reformation“ (S. 173) gesehen hatte. Bereits 1834 hatte Heinrich Heine den Choral als „Hymne der Reformation“ bezeichnet.

Auch die Melodie wird auf Martin Luther, der ja auch die Laute zu spielen wusste, zurückgeführt. Bereits 1528 erschien das Lied im Wittenberger Gesangbuch (vgl. Rölleke, S. 51). Da dieses Gesangbuch verschollen ist, wird als erste überlieferte Quelle die Augsburger Form und Ordnung geistlicher Gesang und Psalmen von 1529 angegeben (Wikipedia, Ein feste Burg).

Ein feste Burg ist unser Gott im Gesangbuch 1533 von Joseph Klug (epd-Bild)

Interpretation

Ein feste Burg ist unser Gott,
Ein gute Wehr und Waffen;
Er hilft uns frei aus aller Not,
Die uns jetzt hat betroffen.
Der altböse Feind,
Mit Ernst er’s jetzt meint
groß Macht und viel List
sein grausam Rüstung ist,
auf Erd ist nicht seingleichen.

Das Lied beginnt mit einer Feststellung – „Ein feste Burg ist unser Gott“ -, die für gläubige Christen eine unumstößliche Wahrheit enthält. Luther hat seinen Text an Psalm 46 angelehnt, in dem es heißt: „Gott ist unsre Zuversicht und Stärke“ (Vers 2) und der durch Vers 8 die Gewissheit verschafft: „Der Herr Zebaoth ist mit uns; der Gott Jakobs ist unser Schutz“ (vgl. auch Psalm 91 Vers 2 „meine Zuversicht und meine Burg, mein Gott, auf den ich hoffe“). Eine Burg ist zu Zeiten Luthers eine relativ sichere Aufenthaltsstätte und ein Zufluchtsort für die in der Nähe Wohnenden. Mit „guter Wehr und Waffen“ ist das Abwehren potentieller Feinde gemeint. Insofern ist die Absicht Luthers eindeutig auf Verteidigung und nicht auf Angriff gerichtet. Dabei ging es Luther nicht um Kanonen und Festungsanlagen, sondern um die Abwehr der Versuchungen und Bedrängnisse, denen die Menschen ausgesetzt sind. Doch so mächtig und listig „der altböse Feind“, der Teufel, auch sein mag, Gott ist , wie es in Psalm 46, Vers 2 heißt, „eine Hilfe in den großen Nöten“; bei Luther: „er hilft uns frei aus aller Not“.

Mit unsrer Macht ist nichts getan,
Wir sind gar bald verloren;
Es streit für uns der rechte Mann,
Den Gott hat selbst erkoren.
Fragst du, wer der ist?
Er heisst Jesu Christ,
Der Herr Zebaoth,
Und ist kein andrer Gott,
Das Feld muss er behalten.

Bei aller Zuversicht, die in der ersten Strophe zum Ausdruck kommt, zeigt Martin Luther in der zweiten Strophe, wie sehr wir im Kampf mit dem Bösen „gar bald verloren“ wären, wenn uns nicht Jesus Christus, „der rechte Mann“ beistehen würde. Die Gleichsetzung von Jesus und dem „Herr Zebaoth“ (alttestamentliche Bezeichnung Gottes, dem „Herrn der Heerscharen“) bezieht sich auf die christliche Dreifaltigkeitslehre, nach der Christen an Gott, „den Vater, Sohn und Heiligen Geist“ glauben. Zugleich bekennen sie übereinstimmend mit der Einleitung im Nizänischen Glaubensbekenntnisses (entstanden 325 in Nicäa, ergänzt 381 in Konstantinopel): „Wir glauben an den einen Gott “ im Sinne des Lutherschen Chorals „…und ist kein andrer Gott“. Eine Formel, die auch andere Religionen verwendet wird. So heißt es z.B. im muslimischen Glaubensbekenntnis (arab. schahada) „Ich bezeuge, dass es keinen Gott außer Gott gibt“ und deren strikte Befolgung bzw. Nichteinhaltung zu sogenannten Glaubenskriegen geführt hat und noch heute führt.

Und wenn die Welt voll Teufel wär
Und wollt uns gar verschlingen,
So fürchten wir uns nicht so sehr,
Es soll uns doch gelingen.
Der Fürst dieser Welt,
Wie saur er sich stellt,
Tut er uns doch nicht,
Das macht, er ist gericht’t
Ein Wörtlein kann ihn fällen.

Doch was ein rechter Christ ist, der fürchtet denTeufel nicht, „wie saur er sich stellt“, d.h. wie drohend er auch auftritt (Rölleke, S. 51), ein „Wörtlein“ weist die Anfeindungen zurück. Ob das „Wörtlein“ in dem Aussprechen des Glaubensbekenntnisses, eines Gebets oder eines Bibelspruches besteht, sagt der Lutherische Liedtext nicht. Jesus selbst hat den Versuchungen des Teufels (vgl. Matthäus 4, Vers 1 bis 11) mit den Worten „Hebe dich weg von mir, Satan!“ (Vers 10) widerstanden.

Inschrift an der 1515 erbauten Georgenkirche in Eisenach (Bild: Neptuul)

Mit dem Begriff „Fürst dieser Welt“ greift Luther Jesu Worte auf, nach denen der Teufel ausgestoßen und gerichtet wird (vgl. Johannes 12, Vers 31 und 16, Vers 11). Ein Fürst steht bei all seiner Macht im Fürstentum auch zu Zeiten Luthers unter der Macht eines Königs. So wird es verständlich, dass Luther in seiner bildhaften Sprache bei der Übersetzung und in diesem Lied den bedeutenden Unterschied des Umfangs und der Stärke der Macht darzustellen weiß. In der Bibel wird Gott mehrfach als König tituliert (s. von 2. Mose 15, Vers 18 bis Petrus 2, Vers 17) und sogar als „König aller Könige“ (1. Timotheus 6, Vers 15). Auch in Joachim Neanders (1650-1680) bekanntem Choral Lobe den Herren (Interpretation) wird Gott als König bezeichnet, als der  „mächtige König der Ehren“.

Das Wort sie sollen lassen stahn
Und kein Dank dazu haben;
Er ist bei uns wohl auf dem Plan
Mit seinem Geist und Gaben.
Nehmen sie den Leib,
Gut, Ehr, Kind und Weib:
Lass fahren dahin,
Sie haben’s kein Gewinn
das Reich muss uns doch bleiben

Das (christliche) Wort ist mächtig, so heißt es in der vierten Strophe, dass wir uns keine Gedanken darüber machen müssen (das mittelhochdeutsche „Dank“ bedeutet Gedanken, so Rölleke, S. 51), sofern wir den Herrn „auf dem Plan“ haben, wir fest an ihn und seine „Gaben“ glauben. Selbst wenn uns großes Unheil widerfährt, wir alles („Gut, Ehr, Kind und Weib“) verlieren, den Christen ist gewiss, dass das ewige Leben („das Reich“) bleibt. Ähnlich kennen wir diese Gewissheit von Hiob, der alles verloren hat und dennoch bekennt: „Der Herr hats gegeben, der Herr hats genommen. Der Name des Herrn sei gelobt“ (Hiob  1, Vers 11).

Rezeption als Kampflied

Obwohl Luther kein politisches Lied dichten wollte, worauf auch der Bezug auf den Bußpsalm 46 deutet, enthält das geistliche Psalmlied Aussagen, die es verständlich machen, dass es auch zu einem soldatischen Kampflied werden konnte. Einige Passagen der ersten Strophe lassen sich kriegerisch auslegen: vor dem Krieg, um den Wehrwillen zu stärken, im Krieg, um den Soldaten Mut zu machen und nach dem (gewonnenen) Krieg als Dankchoral, ähnlich wie Nun danket alle Gott  missbraucht wurde.

Als Mutmachlied wurde Ein feste Burg bereits in den diversen Bauernaufständen (1624 bis 1626) eingesetzt. Nachweislich haben aufständische Bauern sogar noch nach den 1625 verlorenen Schlachten bei Mühlhausen, bei Würzburg und bei Memmingen in der Gmundener Schlacht am 15.11.1626 Ein feste Burg ist unser Gott gesungen (vgl. Der Große Steinitz, S. 30).  So ist die Friedrich Engels Bezeichnung des Lieds als „Marseillaise der Bauernkriege“ historisch durchaus zutreffend.

Aus dem Dreißigjährigen Krieg wird eine Legende berichtet, nach der die Soldaten von König Gustav Adolf „mit dem Lied auf den Lippen gegen die Truppen der Altgläubigen ausgerückt sind und nach einem Sieg Gustav Adolf ausgerufen habe: ‚Das Feld muss er behalten!’“ (Burkhard Weitz).

Für das Singen des Liedes von den preußischen Soldaten im Siebenjährigen Krieg (1756–1763, von einigen Historikern als ein Weltkrieg angesehen), habe ich ebenso wenig Quellen gefunden wie auch für seinen Einsatz 1813 im Befreiungskrieg gegen das napoleonische Heer. Doch bereits vor der Leipziger Völkerschlacht 1813 dichtete Ernst Moritz Arndt „Ein feste Burg ist unser Gott / Auf, Brüder, zu den Waffen! / Auf, kämpft zu Ende aller Noth / Glück, Ruh der Welt zu schaffen.“ (nach Thomas Greif). Arndt war es auch, der den Begriff Erbfeind 1813 auf Frankreich bezog.

Im Deutsch-Französischen Krieg 1870/71 trug das Lied zur Zuversicht der preußischen Soldaten bei, über die Franzosen zu siegen (ähnlich wie das Lied Die Wacht am Rhein, Interpretation). Leicht ließ sich der „Erbfeind“ Frankreich als „altböser Feind“ bezeichnen, der „grausam gerüstet“ ist. Und nach dem Sieg über die Franzosen sangen preußische Gruppen in Paris den Choral Nun danket alle Gott.

Zwar hatte Friedrich Engels 1884 über Ein feste Burg ist unser Gott geschrieben: „und so siegbewusst Text und Melodie des Liedes sind, so wenig  kann und braucht man es nicht in diesem Sinn zu fassen“ (Steinitz, S. 173). Dessen ungeachtet wurde, zeitlich fast parallel mit der Aufnahme des Psalmlieds in weltliche Liederbücher (s.o.), Ein feste Burg Ende des 19. Jahrhunderts in etliche Liedersammlungen für Soldaten aufgenommen, z.B. 1892 in den Liederschatz für das deutsche Heer und 1897 in das Feldgesangbuch für die evangelischen Mannschaften.

Schon vor dem Ersten Weltkrieg ist das Psalmlied politisch verwendet worden. So sangen es 1817 auf dem Wartburgfest die Studenten, die gegen reaktionäre Politik, gegen die Kleinstaaterei und für einen Nationalstaat mit eigener Verfassung am Fuß der Lutherburg protestierten. Ebenso wurde der Choral 1868 bei der Errichtung des Lutherdenkmals in Worms und bei der Reichsgründung 1871 intoniert (vgl. Thomas Greif).

Zahlreiche Liederbücher, die im Ersten Weltkrieg mit dem Lied herauskamen, wie z.B. Singbüchlein für Soldaten – Heer und Flotte,  Kriegsliederbuch für das deutsche Heer (beide 1914)  und Gloria Victoria – Vaterlands-, Kriegs-, Soldaten- Heimatlieder, Choräle und Dankgebete und Das deutsche Soldatenlied (beide 1915) machten es den Soldaten leicht, den „altbösen Feind“, der in „grausamer Rüstung“ daherkommt auf die Ententemächte zu übertragen.

In ihren Kriegspredigten beriefen sich Theologen, die der Ideologie des Nationalprotestantismus nahestanden, auch auf Martin Luther. So 1915 der Professor für praktische Theologie Eduard Simons: „Dass Luther bei uns ist, das haben wir gleich von Anfang des Krieges gemerkt, da sein Schutz- und Trutzlied zum Kriegslied wurde“ (nach Pressel, S. 84). Auch der damalige Oberpfarrer und spätere Bischof Otto Dibelius meinte, dass „Luther den Bann gebrochen hat für den Bund von Christentum und Volkstum“ und fuhr noch 1918 fort: „Um Luther schart sich seitdem alles, was deutsch fühlt im Kampf gegen welsche Gewalt“ (nach Pressel, S. 80). Und,  um den nachlassenden Wehrwillen zu stärken, dramatisierte der Prediger Droß, „ dass im Weltkrieg das ganze Erbe Luthers und der deutschen Reformation auf dem Spiel steht“ (Pressel, S. 82). Doch trotz aller anfänglichen Zuversicht – „Gott hilft uns frei [d.h. ohne Auflagen] aus aller Not“ – mussten 1918 Siegesgesänge im Gegensatz zu 1871 ausbleiben.

Feldpostkarte, 1915 (Histor. Bildpostkarten Uni Osnabrück, Sammlung Prof. Dr. Sabine Giesbrecht)

Luther und Bismarck als „Deutsche Eichen“ Stahlstich Feldpostkarte 1917 (Zentralarchiv der Ev. Kirche der Pfalz)

Weimarer Republik und NS-Zeit

In der Weimarer Republik wurde Ein feste Burg ist unser Gott von den Nationalisten vereinnahmt. Der antidemokratische Stahlhelm Bund, der nationales Pflichtbewusstsein propagandierende Kyffhäuser Bund, der national gesinnte Reichsverband des Jungsturms, die rassistische Deutsch-völkische Freiheitsbewegung und der antisemitische Jungdeutsche Orden nahmen das Lied in ihre Liederbücher auf. Später instrumentalisierten es die Nationalsozialisten auch gegen (vermeintlich) innere Feinde.

Das begann 1933 mit dem die SA Liederbuch und setzte sich fort im Hitler-Liederbuch der nationalen Revolution (1934; Auflage 465.000-500.000). An die Stelle des Reiches Gottes setzen die Nazis „Das Dritte Reich“. Dagegen prostierten „die Schwestern und Brüder einer ‚Bekennenden Kirche‘: ‚Das Reich muss uns doch bleiben‘ stand provokativ in fetter Schrift unter einem Flugblatt, November 1933, das scharf gegen die berüchtigte Deutsche Christen Kundgebung im Berliner Sportpalast Stellung bezog“ (Reinhart Staats).

Mit Ausnahme der männlichen Hitlerjugend gab es kaum eine NS-Organisation, die das „Kampflied“ nicht in ihre Liederbücher aufnahm, wie z.B. der Bund Deutscher Mädel, die NS-Frauenschaften und der Deutsche Arbeitsdienst. Da meinten NS-nahe Christen nicht nachstehen zu können und brachten eigene Liederbücher mit Ein feste Burg ist unser Gott heraus, u.a. das Liederbuch der Deutschen Christen für die deutsche Jugend in Kirche, Schule, Haus und Christliche Kampflieder der Deutschen. Und zur mentalen Einstimmung auf den geplanten Krieg wurde das Lied bereits 1936 in etliche Liederbücher wie Soldaten siegen und Soldaten, Kameraden aufgenommen. Seit 1939 folgten zahlreiche Ausgaben wie das Liederbuch der Wehrmacht, Das Deutsche Marineliederbuch u.a.

Missbraucht wurde das Lied auch in dem von Goebbels in Auftrag gegebenen Propagandafilm Der große König. Nach den im Siebenjährigen Krieg (s. o.) verloren gegangenen Schlachten und der Zerschlagung des preußischen Heeres wurde durch das Beharren des Königs Friedrich II. auf Kämpfen bis zum Sieg und der Wiederaufrüstung letztlich 1763 der Krieg in der Entscheidungsschlacht von Torgau gewonnen. Die deutsche Bevölkerung, deren Skepsis auf einen Endsieg nach  anfangs erfolgreichen „Blitzkriegen“ zugenommen hatte, sollte mit Hilfe sogenannter Durchhaltefilme psychologisch aufgerüstet werden: „Das Reich muss uns doch bleiben“ mit Hitler als Führer, als „rechter Mann“, den „Gott hat fest erkoren“ (vgl. Burkhard Weitz).

Von den Nationalsozialisten geduldet wurde die Herausgabe von Gesangbüchern und geistlichen Liederbüchern mit dem Lutherlied, z.B. Das Liederbuch der evangelischen Jugend (5. Auflage 1938) und Lieder der Jugend der Deutschen Pfadfinderschaft St. Georg (1935), das einzige mir bekannte Liederbuch von katholischer Seite mit dem Choral.

Weitere Rezeption

Von 1948 (Der helle Ton) über auflagenstarke Taschenbücher der Verlage Reclam, Moewig und Weltbild bis 2016 (Du meine Seele singe – geistliche Volkslieder) wird der Choral nicht nur in Deutschland (einschließlich der DDR) in weitere zahlreiche Gebrauchsliederbücher (u. a. von Pfadfindern und Freimaurern) und Schulbücher aufgenommen, sondern auch in Österreich und in der Schweiz. Ebenfalls bekannt ist das Lied in vielen englischsprachigen Ländern (A Mighty Fortress Is Our God) und in ganz Skandinavien. In Dänemark und Norwegen gehört es zu den drei meistgesungenen Kirchenliedern (vgl. Hanson/Seelander). Auch evangelische Gemeinden in anderen Ländern wie z.B. Korea und Tanzania, kennen Ein feste Burg ist unser Gott.

In Deutschland wird es nicht nur als Kirchenlied, sondern erneut als Volkslied und als Soldatenlied angesehen, wie es z.B. die Titel der Liedersammlungen Das große Buch der Volkslieder (1993) oder Volks- und Soldatenleder aus sechs Jahrhunderten (2002), das  Evangelische Gesang- und Gebetbuch für Soldaten (1957), aber auch in Österreich Das Österreichische Soldatenliedbuch (1962) zeigen.

Darüber, wie weit verbreitet Ein feste Burg ist, gibt auch der Katalog des Deutschen Musikarchivs Leipzig Aufschluss, der 185 Notenausgaben, überwiegend Chorpartituren, und 110 Buchtitel aufweist. Darüber hinaus hat das DMA fast 120 Tonträger mit Bearbeitungen von Johann Sebastian Bach, Georg Philip Telemann, Dietrich Buxtehude und Franz Liszt sowie zeitgenössischer Komponisten in seinem Bestand -und außerdem drei Hörbücher, davon eine CD von 2015 mit der Bach’schen Reformkantate und Meditationen von Margot Käßmann. Der berühmte schwedische Posaunist Nils Landgren hat sogar eine jazzige Version von Ein feste Burg aufgenommen.

Anhaltspunkte für die Popularität eines Liedes geben außer der sprichwörtlichen Verwendung einzelner Verse (s. o. Einführung) und der Anzahl der Liederbücher und Tonträger auch die Benutzung des Incipits (die Überschrift oder der erste Vers der ersten Strophe) und die Varianten und Parodien, die das Lied im Laufe seiner Geschichte erfahren hat.

Mir ist kein Lied bekannt, dessen Incipit die außerordentlich hohe Verwendung in 110 Buchtiteln erreicht hat. Allein von 1947 bis 2017 wurden rund 40 Druckwerke aufgelegt, darunter die meisten christliche Bücher von evangelischen Verlagen, aber auch Ausstellungskataloge, Geschichts- und andere Fachbücher.

Ein feste Burg ist unser Gott“ am Turm der Schlosskirche Wittenberg (1890) (Bild Michael Sander, Ausschnitt Rabanus Flavus)

Eine erste bekannt gewordene Variante (zu den Varianten und Parodien vgl. Martin Fischer) des Liedes mit dem Titel Christus der Schutz unserer Kirche stammt 1774 von dem Dichter und evangelischem Geistlichen Johann Adolph Schlegel mit der ersten Strophe:

Ein starker Schutz ist unser Gott!
Auf ihn steht unser Hoffen
Er hilft uns treu aus aller Noth
So viel uns der betroffen
Satan, unser Feind
Der mit Ernst‘ es meint,
Rüstet sich mit List
Trutzt, dass er mächtig ist
Ihm gleicht kein Feind auf Erden.

Als Revolutionslied 1848 dichtete der Schriftsteller Julius Lasker Ein feste Burg ist Mannesmuth. Die erste Strophe lautet:

Ein‘ feste Burg ist Mannesmuth
Für Freiheit, Wahrheit, Tugend
Dran setzen freudig Gut und Blut
Das Alter wie die Jugend
Wir schwören All‘ den Eid
In Lieb‘ und Einigkeit
Heilig, heilig sei,
Ja heilig uns die Drei:
Die Freiheit, Wahrheit, Tugend!

Gegen Ende des 19. Jahrhunderts sang die sozialdemokratische Arbeiterbewegung Ein feste Burg ist unser Bund des Dichters und Mitbegründers des Allgemeinen deutschen Arbeitervereins (ADAV) Jakob Audorf, von dem auch die „Arbeiter-Marseillaise“ (1864) stammt. Das „Bundeslied“ beginnt mit:

Eine feste Burg ist unser Bund,
Durch eig’ne Kraft geschaffen;
Er wurzelt fest auf Felsengrund,
Im Sturm ein sich’rer Hafen
Ob auch die Woge braust
D’drob keinem von uns graust:
Hoch, hoch das Schlachtpanier!
Darunter kämpfen wir
Für uns’re Menschenrechte.

Fast 70 Jahre später hat Bertolt Brecht eine Parodie auf Hitler geschrieben: Ein‘ große Hilf war uns sein Maul, und 1977 reagierte Erich Fried auf den Tod von Ulrike Meinhof mit seiner Parodie Ein feste Burg ist unser Stammheim. Zu Zeiten der Anti-Atomkraft-Bewegung entstand der Protestsong Ein feste Burg das Wendland ist.

Ein feste Burg das Wendland ist,
voll Polizei in Waffen
Allgegenwart und Spitzellist
sind ihr Gewalt und Waffen.
Der altböse Feind
mit ERNST* ers jetzt meint
groß Macht und viel List
sein grausam Rüstung ist,
im Land ist nicht seinsgleichen

[* Ernst Albrecht, von 1976 bis 1990 Ministerpräsident von Niedersachsen, befürwortete die Endlagerung von Uranabfällen in Gorleben.]

Noch heute wird das „typischste bekannteste evangelische Kirchenlied“ (Rölleke, S. 51) nicht nur an Invocavit, dem 1. Sonntag der Passionszeit, sondern auch an kirchlichen Feiertagen und auf evangelischen Treffen wie dem Kirchentag gesungen. In Kirchen wird das Lied häufig als Orgelimprovisation gespielt, und in Konzerthallen kann man es in zahlreichen musikalischen Werken von Bach (BWV 80, um 1730) bis Zsolt Gárdonyi (Toccata, 2017) als Zitat hören. Zahlreiche Orgelwerke von Michael Prätorius (Fantasie über Ein feste Burg, 1609) und Bach (Choralbearbeitung, 1709, über Händel (Occasional Oratio, 1746) und Wagner (Kaisermarsch, 1871) bis zur Reformationskantate (2017) von Michael Zeller haben als Grundlage Ein feste Burg ist unser Gott.

Georg Nagel, Hamburg

Literatur:

Heinz Rölleke: Das große Buch der Volkslieder, Köln 1993 und Gütersloh o. Jg.

Ernst Klusen: Deutsche Lieder, 2 Bände, Frankfurt/Main, 2. Auflage 1981.

Theo Mang, Sunhilt Mang: Der Liederquell, Über 750 Volkslieder aus Vergangenheit und Gegenwart, Ursprünge und Singweisen, Wilhelmshaven 2015.

Michael Fischer: Ein feste Burg ist unser Gott (2007). In: Populäre und traditionelle Lieder. Historisch-kritisches Liederlexikon (online).

Wolfgang Steinitz: Der große Steinitz, Deutsche Volkslieder demokratischen Charakters aus sechs Jahrhunderten, Westberlin, 1719.

Burkhard Weitz: Geschichte des Liedes – Kampflied der Deutschen oder Protest gegen Gewalt? Widersprüchliche Interpretationen von Martin Luthers Choral, in: Chrismon, 2.11.2016 (online).

Wilhelm Pressel: Die Kriegspredigt 1914- 1918 in der evangelischen Kirche, Göttingen, 1967.

Reinhart Staats: Gott dem Herrn Dank sagen – Festschrift für Gerhard Heintze, Zur politischen Wirkung von Luthers Lied „Ein feste Burg“ in: Kirche von unten, 18.11. 2002 (online).

Thomas Greif: „Ein feste Burg …“ Wie Luthers Kampflied zur Kriegsfanfare wurde, welt digital 31.10.2014 (online).

K.J. Hansson und Sven-Åke Selander: Die Lieder Martin Luthers im Leben der skandinavischen Völker (online).

 

Den Frühling begrüßen: „So treiben wir den Winter aus“

So treiben wir den Winter aus

So treiben wir den Winter aus
durch unsre Stadt zum Tor hinaus
und jagen ihn zuschanden,
hinweg aus unsern Landen.

Wir stürzen ihn von Berg zu Tal,
damit er sich zu Tode fall.
Wir jagen ihn über die Heiden,
daß er den Tod muss leiden.

Wir jagen den Winter vor die Tür,
den Sommer bringen wir herfür,
den Sommer und den Maien,
die Blümlein mancherleien.

 

Noch im 19. Jahrhundert wurde am dritten Sonntag in der Mitte der Fastenzeit (Mittfasten, im Kirchenjahr Laetare = Freue dich – auf die Auferstehung Jesu) in vielen Regionen Deutschlands der Frühlingsbeginn gefeiert. Heutzutage werden das Winteraustreiben und das Sommereinholen vorwiegend in Mitteldeutschlands und in Südwestdeutschland begangen. Und nach wie vor wird auf dem damit verbundenem Umzug und bei dem sich anschließenden Verbrennen oder Ertränken einer Strohpuppe das Lied So treiben wir den Winter aus gesungen.

Von wem der Text stammt, ist unbekannt; die Melodie geht auf eine alte Volksweise aus der Zeit vor 1540 zurück.

Die Melodie wurde auch für geistliche Umdichtungen benutzt (vgl. Ernst Klusen: Deutsche Lieder, 2. Auflage 1981, S. 822). Hier eine erste Strophe mit „reformatorischer Polemik“ (Theo Mang: Der Liederquell, 2015, S. 102), wobei mit dem Antichristen der Papst gemeint ist:

1. So treiben wir den Winter aus,
Durch unsre Stadt zum Tor hinaus,
Mit sein‘ Betrug und Listen,
Den rechten Antichristen.

Die hinzugefügte vierte Strophe weist auf einen der vier Grundsätze der Reformation hin: sola scriptura: Was die Gläubigen tun müssen, kann ihnen niemanden vorschreiben, es ist nur in der Bibel zu finden.

4. Die Blume sproßt aus göttlich Wort,
Und deutet auf viel schönern Ort,
Wer ist’s der das gelehret?
Gott ist’s, der hats bescheret.

[aus: Achim von Arnim, Clemens Brentano (Hg.): Des Knaben Wunderhorn, 1806, Band 1, S. 106.]

Nachdem Luther kurz vor seinem Tod 1545 eine letzte Schrift gegen die römische Kirche Wider das Bapsttum zu Rom vom Teufel gestifft verfasst hatte, sang einer seiner Mitstreiter, der Pfarrer Johannes Mathesius (1504-1565) die folgenden 1541 auf einem Flugblatt aus Wittenberg dokumentierten drastischen Strophen (hier Auszüge aus Erk/Böhme: Deutscher Liederhort, Band II,  S. 89):

1. Nun treiben wir den Papst heraus,
aus Christus Kirch und Gotteshaus.
Darin er mördlich hat regiert
und unzählich viel Seel’n verführt.

[…]

4. Der römisch Götz ist ausgethan,
Den rechten Papst wir nehmen an:
Das ist Gotts Sohn, der Fels und Christ,
Auf dem sein Kirch erbauet ist.

[…]

7. Er geht ein frischer Sommer herzu,
Verleih uns Christus Fried und Ruh!
Bescher uns, Herr, ein seligs Jahr
Vor’m Papst und Türken uns bewahr!

Dieses Lied erschien auch in gekürzter Form in einigen evangelischen Gesangbüchern, z.B. 1597 im Hofer Gesangbuch mit der Bemerkung „Am Sonntag Laetare, zum Tod austragen, und den Babst aus der Kirche zu jagen“ (zitiert nach Erk/Böhme, S. 89). In mehreren Liederbüchern wird darauf hingewiesen, dass Luther den Text verfasst habe. Der Volksliedforscher Heinz Rölleke hält ihn hingegen lediglich für eine Überarbeitung Luthers (vgl. Das große Buch der Volkslieder, 1993, S. 61). Einig sind sich die Volksliedforscher von Ludwig Erk, Franz Magnus Böhme bis Ernst Klusen bis Heinz Rölleke darin, dass uns „die schöne Melodie“ durch das „reformatorische Kampflied“ (Mang, S. 102) erhalten geblieben ist.

Eine andere Umdichtung des Liedes ist Nun treiben wir den Tod hinaus. Obwohl der Brauch des Todaustreibens bereits seit 1439 bezeugt ist (vgl. Rölleke, S. 68), wurde dieses Lied erst etwa ab Mitte des 16. Jahrhunderts bekannt. Gesungen wurde es bei prozessionsartigen Umzügen an Mittfasten. Dazu wurde aus Pappe oder Stroh eine Puppe gebastelt, häufig in weiße Tücher gehüllt, durch die Straßen getragen und dabei Folgendes gesungen:

So treiben wir den Tod hinaus,
Den alten Weibern in das Haus,
Den Reichen in den Kasten
Heute ist Mitterfasten.

Nachdem „der Tod“ schließlich auf einem Platz verbrannt oder ins Wasser geworfen wurde, stimmten alle folgende Strophe an:

Den Tod haben wir ausgetrieben,
Den Sommer bring’n wir wieder,
Das Leben ist zu Haus geblieben
Drum singen wir fröhliche Lieder.

Oder statt der beiden letzten Verse auch:

Des Sommers und des Maien,
Des wollen wir uns erfreuen.

[Aus: Franz Magnus Böhme, Altdeutsches Liederbuch 1877, S. 608.]

So verquickten sich die Themen des Winteraustreibens und der reformatorischen Gedanken mit denen des Todaustreibens, bis der Text schließlich zu einem allgemein bekannten und beliebten Frühlingslied mit drei Strophen wurde (vgl. Rölleke, S. 68).

Foto: www.brauchwiki.de

An Mittfasten wurden auch andere Lieder gesungen, so z.B. das heute noch bekannte Lied Trarira, der Sommer, der ist da (auch Trariro, der Sommer der ist do; s. auch eine Variante von Hoffmann von Fallersleben, www.lieder-archiv.de). 1778 wurde es zum ersten Mal aufgezeichnet mit der Anmerkung: „In der Pfalz und in den umliegenden Gegenden gehen am Sonntag Lätare, welchen man den Sommersonntag nennt, die Kinder auf den Gassen herum mit hölzernen Stäben, an welchen eine mit Bändern geschmückte Brezel hängt, und singen den Sommer an, worüber sich jedermann freut“ (zitiert nach Ernst Klusen: Deutsche Lieder, 2. Band, S. 824). Die dritte Strophe lautet:

Trarira, der Sommer, der ist da!
Der Sommer hat gewonnen,
Der Winter hat ist zerronnen.
Ja, ja, ja, der Sommer der ist da!

Ob der etwa aus dem Jahr 1580 stammende Text mit der Melodie von 1646 (vgl. Klusen, S. 823) Heut ist ein freudenreicher Tag auf Mittfasten gesungen wurde, ist nicht überliefert. In der fünften  von 13 Strophen (s. www.lieder-archiv.de) wird der Winter direkt angesprochen:

Winter, wir haben dein genug,
nun heb dich aus dem Land mit Fug!
Alle ihr Herren mein, der Sommer ist fein.

In einer anderen Version heißt es:

O Winter, du darfst jetzt nicht viel sagn,
bald werd ich dich aus dem Sommerland jagn!
Ihr Herren mein, der Sommer ist fein

Während Trarira… in rund 200 und Trariro… in 80 mir online und privat zugänglichen Liederbüchern vertreten ist, habe ich Heut ist ein freudenreicher Tag nur in einem Schulliederbuch gefunden (Der Hamburger Musikant, Teil A vom 3. – 6. Schuljahr, 1952, S. 100). Nun (bzw. So) treiben wir den Winter aus ist in rund 250 Liederbücher aufgenommen worden. So treiben wir den Papst hinaus habe ich nur in älteren Liedersammlungen vor 1900 entdeckt.

Während das Datum des Mittfasten-Sonntags (Laetare) abhängig ist vom Ostersonntag, findet das Winteraustreiben in Nordfriesland jedes Jahr am 21. Februar statt. Beim sogenannten Biikebrennen (Biike = Bake, Feuerzeichen) wird ein riesiger aus Tannenbäumen und anderen Hölzern pyramidenhaft aufgeschichteter Haufen angezündet, was den Winter vertreiben soll.

Foto: Sönke Rahn.

Auf Sylt wird vorher eine Ansprache auf Friesisch gehalten, in vielen Dörfern hält häufig der Bürgermeister oder der Pastor eine Rede; manchmal sagen auch Kinder Gedichte in einem der nordfriesischen Dialekte auf.

In manchen Orten wird eine Strohpuppe verbrannt, Petermännchen genannt. Die bei Wikipedia (vgl. Stichwort Todaustragen, s. a. Biikebrennen)  angeführte Vermutung, dass diese Bezeichnung mit dem Vertreiben des Papstes (dem Petrus-Amt) zu tun habe, ist aus meiner Sicht abwegig. Seit etwa Mitte des 19. Jahrhunderts, als die heute üblichen großen Feuerstöße entstanden, war der reformatorische Eifer, den Papst auszutreiben, lange vorbei. Die einheitliche Festlegung des Biikebrennens am Abend des 21. Februars, die erst Ende des 19. Jahrhunderts eingeführt wurde, könnte allerdings mit dem Vorabend des katholischen Festtags Kathedra Petri, kurz Petritag, zusammenhängen. Dieser Feiertag geht auf das 4. Jahrhundert zurück: Am 22. Februar fand die Berufung des Apostel Petrus zum Lehramt in der Kirche und damit die Übernahme des römischen Bischofsstuhls (Cathedra) statt.

Am 22. Februar endete die Winterpause für die mittelalterliche Schifffahrt, nachdem für die Hansestädte und die Küstenorte zwischen Martini (Martinstag, 11. November, Festtag des hl. Martin von Tours) und Petri Stuhlfeier die Schifffahrt geruht hatte. So wurden bereits vor der Reformation mit den Biikefeuern der Frühling und damit die Wiederaufnahme der Arbeit auf den Seeschiffen begrüßt.

Georg Nagel, Hamburg

 

Ein Land soll erwachen. „Wach auf, wach auf, du deutsches Land“ – Johann Walters Lied immer noch aktuell?

Johann Walter

Wach auf, wach auf, du deutsches Land

1. Wach auf, wach auf, du deutsches Land!
Du hast genug geschlafen,
bedenk, was Gott an dich gewandt,
wozu er dich erschaffen.
Bedenk, was Gott dir hat gesandt
und dir vertraut sein höchstes Pfand,
drum magst du wohl aufwachen!
 
2. Gott hat dich, Deutschland, hoch geehrt
mit seinem Wort der Gnaden.
Ein großes Licht dir auch beschert
und hat dich lassen laden
zu seinem Reich, welchs ewig ist,
dazu du denn geladen bist,
will heilen deinen Schaden.

3. Gott hat dir Christum, seinen Sohn,
die Wahrheit und das Leben,
sein liebes Evangelium
aus lauter Gnad gegeben;
denn Christus ist allein der Mann,
der für der Welt Sünd gnug getan,
kein Werk hilft sonst daneben.
 
4. Du lagst zuvor im Finstern gar
mit Blindheit hart gekränket.
Bei dir kein Licht der Wahrheit war.
Dein Herz war gar gelenket
zur Lüge und Abgötterei,
falsch Gottesdienst und Heuchelei
ins Teufels Reich versenket.
 
5. Du hast zuvor den Antichrist,
sein Teufels Lehr gehöret.
Und seine Lügen, Stank und Mist
als göttlich Ding geehret.
Du gabst ihm noch als deinem Herrn
dein Leib und Gut auch willig gern,
der keins dich nicht beschweret.
 
6. Von solcher Lügen falschem Schein
hat Gott dein Herz getrennet.
Durch Luther, den Propheten dein,
ganz Deutschland solchs bekennet.
Hat dich gezogen gnädiglich
zu seinem Reich gar väterlich.
wohl dem, der's recht erkennet.

7. Für solche Gnad und Güte groß
sollst du Gott billig danken.
Nicht laufen aus sei'm Gnaden Schoß
von seinem Wort nicht wanken!
Dich halten wie sein Wort dich lehrt.
Dadurch wird Gottes Reich gemehrt,
geholfen auch den Kranken.
 
8. Du solltest bringen gute Frucht,
so du rechtgläubig wärest.
In Lieb und Treu, in Scham und Zucht,
wie du solch's selbst begehrest.
In Gottes Furcht dich halten fein
und suchen Gottes Ehr allein,
dass du niemand beschwerest.
 
9. Ob du solchs tust, das ist am Tag,
darf nicht erweiset werden.
Es zeugt jetzt die gemeine Klag',
dass ärger nie auf Erden,
auch weil die Welt gestanden ist,
noch nie gewest solch Tück' und List,
in Worten und Gebärden.
 
10. Es ist nicht auszusprechen mehr
die Bosheit, Sünd und Schande,
die grausam Gottes Läst'rung schwer,
so jetzt in deutschem Lande.
Solch Sünde ist so hoch gebracht,
dass auch dafür der Himmel kracht,
erschüttert seine Bande.
 
11. Gott hat sein Wort gegeben drum,
dass wir uns zu ihm wenden.
So kehrt Deutschland das Blättlein um,
tut seinen Namen schänden.
Ist ärger worden denn zuvor,
all Sünde schwebt jetzt hoch empor.
Drum wird Gott Strafen senden!
 
12. Der Wucher, Geiz, Betrügerei
wird jetzt als Kunst gelobet,
Ehebruch, Unzucht und Völlerei,
wird auch noch wohl begabet.
Falsch Tück und List, Verräterei,
Untreu, Falschheit , groß Büberei
ihr viel jetzt hoch erhebet.
 
13. Die Jugend wird gezogen jetzt
in Mutwill frech gewähnet,
dass sie in Schalkheit so verschmitzt,
was ehrlich ist, verhöhnet.
Ihr Kleidung muss fein bübisch sein.
Das Weibsvolk gibt sehr bösen Schein,
Mit Zierlichkeit beschönet.
 
14. Wer jetzt nicht Pluderhosen hat,
die schier zur Erde hangen
mit Zotten wie des Teufels Wat,
der kann nicht höflich prangen.
Es ist solchs so ein schnöde Tracht,
der Teufel hat's gewiss erdacht,
wird selbst sein also gangen.
 
15. Denn welcher Christ solch Kleid anblickt,
der wird vor Trauer klagen.
Sein Herz vor Gottes Zorn erschrickt.
Wird bei ihm selbst oft sagen:
Ach Gott, Deutschland, das dringet dich!
Das du musst straffen härtiglich
mit schweren großen Plagen.
 
16. All Ständ' sind jetzt so gar verderbt.
Will niemand sich erkennen
mit gutem Schein, doch so gefärbt,
tun all sich Christen nennen.
Und wird der göttlich Name teu'r
zur Sünd' gebraucht so ungeheu'r,
Deutschland wird sich abrennen.
 
17. Was vormals Unrecht, Sünd' und Schand',
das tut man jetzt gut preisen.
Was vormals Blei und Zinn genannt,
das heißt man jetzt hart Eisen.
All Ding' han sich so gar verkehrt.
Unrecht hat sich sehr hoch gemehrt.
Solch's tut die Tat erweisen.

18. Die Wahrheit wird jetzt unterdrückt,
will niemand Wahrheit hören;
die Lüge wird gar fein geschmückt,
man hilft ihr oft mit Schwören;
dadurch wird Gottes Wort veracht’,
die Wahrheit höhnisch auch verlacht,
die Lüge tut man ehren.
 
19. Dieweil denn Deutschland gar nicht will
an Gottes Wort sich kehren
und häuft der Sünden täglich viel,
es lässt ihm niemand wehren,
so wird auch Gott ein scharfe Rut,
viel Strafen senden wie ein Flut
und Deutschland mores lehren.
 
20. Wer Augen hätt' und sehen könnt,
der würde freilich spüren
an Himmel, Erde, Luft und Wind
die Gottesstrafe rühren.
Viel Zeichen lässt geschehen Gott.
Fürwahr er was im Sinne hat:
Will uns zur Busse führen.
 
21. Martinus Luther, Gottes Mann,
hat Deutschland oft vermahnet.
Es sollt von Sünden abelan,
ein große Straf ihm ahnet.
Gott würd an Deutschland strafen hart
den Undank an seim Gnadenwort
keins Undanks Gott sich schonet.
 
22. Wach auf, Deutschland, ’s ist hohe Zeit,
du wirst sonst übereilet,
die Straf dir auf dem Halse leit,
ob sich’s gleich jetzt verweilet.
Fürwahr, die Axt ist angesetzt 
und auch zum Hieb sehr scharf gewetzt,
was gilt’s, ob sie dein fehlet.

23. Gott warnet täglich für und für,
das zeugen seine Zeichen,
denn Gottes Straf ist vor der Tür;
Deutschland, lass dich erweichen,
tu rechte Buße in der Zeit,
weil Gott dir noch sein Gnad anbeut
und tut sein Hand dir reichen.
 
24. Das helfe Gott uns allen gleich,
dass wir von Sünden lassen,
und führe uns zu seinem Reich,
dass wir das Unrecht hassen.
Herr Jesu Christe, hilf uns nu’
und gib uns deinen Geist dazu,
dass wir dein Warnung fassen.
 
25. O Gott gib, dass der Name dein
durch falsche Lehr nicht g'schändet!
Von deinem Wort und Lehre rein
nicht werden abgewendet.
Dein Wille dämpf all' Menschen Tand,
so von der Wahrheit abgewandt,
durch Teufels List verblendet.
 
26. Amen spricht, der dies Lied gemacht.
Gott tröste, die Not leiden,
und stürze bald der Lügen Pracht,
so Wahrheit stets tut neiden,
und mach zuschand, was Unrecht ist.
Stärk unsern Glauben, Jesu Christ,
wenn wir von hinnen scheiden.

Bußlieder liegen seit Jahren nicht mehr unbedingt im „mainstream“ der Kirchen, dennoch wurde das Lied vor 20 Jahren in das damals neue Evangelische Gesangbuch (EG) aufgenommen. Das dritte Reich hatte es auf die erste Strophe verkürzt und so als ein religiöses „Deutschland erwache“ mißbraucht. Und heute stößt es auf Zurückhaltung, weil die Gemeinde hellhörig geworden ist, wenn von einem besonderen Auftrag die Rede ist, den Gott Deutschland gegeben habe – vielen fällt bei solchen Worten eben nicht die Reformation ein, sondern die rechtsradikale Parole vom „Stolz darauf, Deutscher zu sein“. Ein Text aus der Reformationszeit, nicht als Gesangbuchlied geschrieben, für 370 Jahre vergessen, heute im EG auf ein Viertel seines Textes zusammengestrichen – Worum geht es in diesem ersten Beitrag zum bevorstehenden Reformationsjubiläum?

Heute würde er eine halbseitige Anzeige in den großen Tageszeitungen schalten oder seinen Aufruf ins Internet setzen. Als der ehemals kurfürstlich sächsische Hofkapellmeister Johann Walter seine Landsleute 1561 aufrütteln wollte, konnte er seinen Appell nur als Einzeldruck über den Buchhandel verbreiten: Ein newes Christlichs Lied / Dadurch Deudschland zur Busse vermandt. 1554 hatte Walter sein Amt aufgegeben und sich wieder in Torgau niedergelassen, wo er 1520 als Kantor der Lateinschule und Leiter der Stadtkantorei seine berufliche Laufbahn begonnen hatte. Von hier aus war er damals oft für mehrere Wochen nach Wittenberg gereist, um Luther in kirchenmusikalischen Angelegenheiten zu beraten. Aber die theologischen Auseinandersetzungen, die in Dresden letztlich den „Vorruhestand“ des erst 58jährigen ausgelöst hatten, gingen in Torgau weiter. Auf neue Spannungen mit den Pfarrern und eine Abmahnung durch den Rat der Stadt reagierte er mit einem Bußlied von 26 Strophen, dem heute unsere Aufmerksam gilt:

1. Wach auf, wach auf, du deutsches Land! Du hast genug geschlafen[1].
Bedenk, was Gott an dich gewandt, wozu er dich erschaffen.
Bedenk, was Gott dir hat gesandt, und dir vertraut sein höchstes Pfand,
drum magst du wohl aufwachen. (EG 145,1)

Worum ging es?

Das Augsburger Interim von 1548 hatte zwar die zentralen lutherischen Glaubenssätze sola fide und sola scriptura bestätigt, aber es hatte Angelegenheiten der Liturgik und der Zeremonien als „Mitteldinge“, Adiaphora bezeichnet, für die es keine aus der Schrift abzuleitenden verbindliche Regelungen zu geben brauche. Diese Übereinkunft wurde für Sachsen im Leipziger Interim zwar ein wenig abgemildert, aber für strenge Lutheraner blieben viele nun wieder zulässige alte liturgische Formen und Feiertagsregelungen eine ernste Belastung ihres Glaubens. Walter hatte seinen Kantorendienst in Gottesdiensten zu verrichten, deren Prediger das Interim befürworteten. Sie waren in seinen Augen der Ketzerei verdächtig. Er selbst, seine Familie, aber auch die in seinem Haushalt lebenden Chorknaben gingen daher drei Jahre lang nicht zum Abendmahl.

Ich stehe heute mit großem Respekt vor der Konsequenz seines Handelns, aber auch recht verständnislos vor seinen Gewissensnöten. Ich kann sie, im In- und Ausland an Oekumene gewöhnt, nicht nachvollziehen, zumal der Streit in Dresden letztlich nur noch um den sog. papistischen Chorrock ging. Chorhemd und Stola waren für Walter aber Symbole für theologische Grundsatzfragen geworden: durch das Interim sah er die ganze Reformation bedroht.

Er hat sehr darunter gelitten, daß Kinder ungetauft bleiben oder Erwachsene in der Pest von 1552 ohne den Trost des Abendmahls sterben sollten, nur weil sie glaubten, das Sakrament nicht von einem Pfarrer entgegennehmen zu dürfen, der das Interim anerkannte. Über den Abendmahlsbesuch seiner Chorbuben war es in Dresden zum Streit gekommen, um das Abendmahl wurde auch in Torgau weiter gestritten, vor allem, als man dort eine Frau ohne Predigt und Chorgesang beerdigt hatte, die das letzte Abendmahl verweigert hatte, weil sie es nicht von einem „interimistischen“ Pfarrer entgegennehmen wollte. Aus dieser Situation heraus ist unser Lied geschrieben. Wenn wir es heute im Gesangbuch lesen, merken wir ihm das nicht mehr an. Walters Bußruf war ungehört verhallt, er hatte für seine Bedenken keine Mehrheit gefunden. Bis zum 20. Jahrhundert geriet das Lied in Vergessenheit.

Die ersten drei Strophen (das EG verwendet nur 1 und 3) sprechen Deutschland direkt an und rufen ihm in Erinnerung, was ihm geschenkt ist: Gottes Wort und sein Sohn.

2. Gott hat dir Christus, seinen Sohn, die Wahrheit und das Leben,
sein liebes Evangelium aus lauter Gnad gegeben;
denn Christus ist allein der Mann, der für der Welt Sünd g‘nug getan,
kein Werk hilft sonst daneben.

Strophen 4 bis 6 der Originalfassung beschreiben die Glaubenssituation in Deutschland vor der Reformation. Ich zitiere exemplarisch die Strophen 5 und 6. Sie standen damals auf dem Flugblatt, wurden aber nie in ein Gesangbuch übernommen.

(5) Du hast zuvor den Antichrist, sein’s Teufels Lehr gehöret,
und seine Lügen, Stank und Mist als Göttlich Ding geehret.
Du gabst ihm noch, als deinem Herrn dein Leib und Gut auch willig gern
Der keins dich nicht beschweret.

(6)Von solcher Lügen falschem Schein hat Gott dein Herz getrennet
Durch Luther, den Propheten dein. Ganz Deutschland solchs bekennet.
Hat dich gezogen gnädiglich zu seinem Reich, gar väterlich.
Wohl dem, ders recht erkennet.

Im Originaltext folgen nun als 7 und 8 die beiden Strophen, die das EG als 3 und 4 abdruckt:

3. Für solche Gnad und Güte groß sollst du dem Herren danken,
nicht laufen aus seim Gnadenschoß, von seinem Wort nicht wanken,
dich halten, wie sein Wort dich lehrt, dadurch wird Gottes Reich gemehrt,
geholfen auch den Kranken.

4. Du solltest bringen gute Frucht, so du recht gläubig wärest,
in Lieb und Treu, in Buß und Zucht, wie du solchs selbst begehrest,
in Gottes Furcht dich halten fein und suchest Gottes Ehr allein,
daß du niemand beschwerest.

Im ursprünglichen Lied soll das Land also dafür danken, daß Gott Martin Luther geschickt hat. Dieser Gedanke wurde später bis 1917 in den Liedern zum Reformationsgedächtnis breit ausgeführt. Ohne die originalen Strophen 4-6 schließt heute der Text im EG aber direkt an die Strophe 3 (EG 2) an und das Lied ruft dazu auf, Gott dafür zu danken, daß er uns seinen Sohn geschenkt hat. Diese Fassung umgeht jeden Personenkult und ist theologisch richtig – auch wenn Walter es ursprünglich anders gemeint hatte. Er zog die Parallele zwischen Christus und Luther nämlich sehr bewusst und er stellte gezielt die Römische Kirche mit dem Antichrist gleich. So könnten wir heute nicht mehr singen, aber Toleranz stand damals noch nicht auf der theologischen Agenda. Bei keiner der streitenden Parteien. Nun folgen im Original zehn Strophen (9-18), die Walters Sorge über die Zustände seiner Zeit in Worte fassen. Nie sei es in der Welt und besonders in Deutschland sündiger zugegangen:

(12) Der Wucher, Geiz, Betrügerei wird jetzt als Kunst gelobet;
Ehebruch, Unzucht und Völlerei wird auch noch wohl begabet
(belohnt).
Falsch Tück und List, Verräterei, Untreu, Falschheit, groß Büberei
Nun frech das Haupt erhebet.

Nie sei die Jugend mehr in Mutwillen und Frechheit großgezogen worden, als jetzt, man gewöhne sie geradezu daran, gute Sitten zu verhöhnen, schreibt er. Besonders die Kleidermode der Zeit erregt seinen Zorn:

(14) Wer jetzt nicht Pluderhosen hat, die schier zur Erde hangen,
mit Zotteln, wie des Teufels Wat (Gewand), der kann nicht vornehm prangen.
Es ist solchs eine schnöde Tracht, der Teufel hat‘s gewiß erdacht.
Wird selbst sein also gangen.

Gottes Strafe kommt unweigerlich auf Deutschland, das geradezu in einer verkehrten Welt lebt, weil die Deutschen den Namen Gottes mißbrauchen, wenn sie trotz ihrer Schuld „all sich Christen nennen“ (16).

(17) Was vormals Unrecht, Sünd und Schand, das tut man jetzt gut preisen.
Was vormals Blei und Zinn genannt, das heißt man jetzt gut Eisen.
All Ding habn sich so gar verkehrt, Unrecht hat sich sehr hoch gemehrt,
solchs tut die Tat erweisen.

Von dieser Aufzählung bietet das EG nur noch Strophe 18, die das Sündenregister abschließt:

5. Die Wahrheit wird jetzt unterdrückt, will niemand Wahrheit hören;
die Lüge wird gar fein geschmückt, man hilft ihr oft mit Schwören;
dadurch wird Gottes Wort veracht’, die Wahrheit höhnisch auch verlacht,
die Lüge tut man ehren.

Die Strophen 19 bis 23 ziehen Bilanz: Weil man sich nicht zu Gottes Wort kehrt, wird Gott seine Strafen senden „und Deutschland Mores lehren“ (19). Luther habe immer wieder dazu aufgefordert, aber man wolle sich ja nicht ändern. Jetzt sei die Strafe unvermeidlich. Die Strafen, deren „Zeichen“ man zu sehen glaubte, waren Krieg und Seuchen und vor allem Hungersnöte, die sich seit dem frühen 16. Jahrhundert, ausgelöst durch extreme Wettersituationen auffallend häuften. Niemand ahnte damals, dass die sogenannte „Kleine Eiszeit“ begonnen hatte, die etwa 200 Jahre dauern sollte und noch in den Liedern Paul Gerhardts eine Rolle spielt.

Das Lied endet mit fünf Strophen, von denen wir im EG die Str. 23 und 24 nachlesen können.

6. Gott warnet täglich für und für, das zeugen seine Zeichen,
denn Gottes Straf ist vor der Tür; Deutschland, lass dich erweichen,
tu rechte Buße in der Zeit, weil Gott dir noch sein Gnad anbeut
und tut sein Hand dir reichen.

7. Das helfe Gott uns allen gleich, dass wir von Sünden lassen,
und führe uns zu seinem Reich, dass wir das Unrecht hassen.
Herr Jesu Christe, hilf uns nu’ und gib uns deinen Geist dazu,
dass wir dein Warnung fassen.

Sie mahnen zur Buße, fordern Umkehr und bitten um Gottes Hilfe dazu. Erinnern wir uns der Situation, in der Johann Walter dies Lied geschrieben hat, so fällt auf, daß vom Streit um die Adiaphora bisher eigentlich noch gar nicht so richtig die Rede war. Erst die beiden letzten Strophen des Liedes sprechen das Thema der „falschen Lehre“ an:

(25) O Gott gib, daß der Name dein durch falsch Lehr nicht gschändet.
Von deinem Wort und Lehre rein wir nicht werdn abgewendet.
Dein Wille dämpf allr Menschen Tand, die von der Wahrheit abgewandt
durch Teufels List verblendet.

(26) Amen spricht, der dies Lied gemacht. Gott tröste, die Not leiden.
Und stürze bald der Lügen Pracht, die stets der Wahrheit neiden.
Und mach zu Schand, was Unrecht ist. Stärk unsern Glauben, Jesus Christ,
wenn wir von hinnen scheiden.

Dieser Schluss schlägt den Bogen zurück zum Anfang des Liedes: der Aufruf an Deutschland endet mit der Bitte um Gottes Hilfe für die, die sich den Zielen des Verfassers anschließen. Eigentlich haben wir es also mit zwei Liedern zu tun. Strophen 1-8 und 22-26 handeln von den geistlichen Anliegen, die Walter bekümmert haben: seine Enttäuschung darüber, daß sich die in seinen Augen ketzerischen Auffassungen wieder durchsetzen; seine Sorge, dass Luthers Vermächtnis in Vergessenheit geraten könne; und seine Hoffnung daß sich seine Landsleute bußfertig zum rechten Glauben wenden könnten. Die Strophen 9-21 schieben ein zweites Lied dazwischen, das den tiefen Pessimismus des alten, erzkonservativen Mannes ausdrückt, der um sich nur noch Sünde und Verderbnis, und falsche gesellschaftliche Entwicklungen sieht.

Walters Lied im Gesangbuch

Das älteste Gesangbuch, in dem ich Walters Lied, damals gekürzt auf fünf Strophen, bisher gefunden habe, ist das Buch unserer bayerischen Landeskirche von 1928 (Nr. 502). Der Text war neu entdeckt worden, als man nach dem ersten Weltkrieg neue Lieder zum Thema Vaterland und Obrigkeit suchte. Er wurde seitdem mit zehn unterschiedlichen Strophenzusammenstellungen in fast alle neu entstehenden Gesangbücher aufgenommen: in viele Regionalanhänge des Deutschen Evangelischen Gesangbuches (DEG), die Jugendliederbücher Ein neues Lied und Der helle Ton und in die Soldatengesangbücher der Weimarer Zeit, aber auch in die Liederbücher der „Deutschen Christen“ (DC). Im Kirchenkampf stand es in den Christlichen Kampfliedern der Deutschen – sodass nun beide Seiten, DC und bekennende Kirche Walters Aufruf für sich reklamierten.

Und heute?

Die Herausgeber des EKG hatten das Lied übernommen, und dies erneut in der Gruppe „Volk und Vaterland“. Erst das heutige EG ordnet es seinem ursprünglichen Charakter entsprechend unter „Bußtag“ ein. Mit der Strophenfolge Str. 1, 3, 7, 8, 18, 23 und 24 ist so eine elfte Variante des Liedes entstanden.

Die Zeiten, in denen der Kaiser in einem Interim ein Machtwort in Glaubensdingen sprechen konnte, sind vorbei. Die Demokratie, von Luther nicht für möglich gehalten, hat sich bewährt. Unser freiheitliches System macht es sich verfassungsgemäß selbst schwer, seine Bürger durch Gesetzgebung und Rechtsprechung in Gewissensnöte zu bringen. Die Kirche steht dem Staat gegenüber, nicht unter, aber erst recht nicht mehr über ihm. Sie ist eine der vielen Gruppen, die Einfluß nehmen, bevor der Staat nach eigenem Recht entscheidet. So durfte die weltliche Obrigkeit beispielsweise den arbeitsfreien Tag am Buß- und Bettag wieder abschaffen, den sie selbst einmal eingeführt hatte, aber sie hätte nicht das Recht, Gottesdienste an diesem Tag zu untersagen. Ebenso kann der Staat Verhaltensweisen erlauben, die Christen ablehnen. Aber er kann die Christen nicht zwingen, gegen ihr Gewissen alles zu tun, was er erlaubt. Walters Lied trifft heute also auf völlig veränderte politische und kirchliche aber auch gesellschaftliche Verhältnisse. Dennoch bleibt es aktuell. Aus mehreren Gründen.

Der eine Grund: Weil die Menschen sich nicht grundsätzlich geändert haben: Woche für Woche lassen sich aus den Meldungen der Medien genug Beispiele dafür bringen dass beispielsweise die Feststellungen der als EG 145,5 abgedruckte alten Strophe 18 zeitlos sind. Die Menschen sind nicht besser geworden, nur ihre Verfahren wurden anders. Und Johann Walter würde heute vermutlich Missstände im Denken und Handeln seiner Mitchristen anprangern, die es zu seiner Zeit noch gar nicht gab. Die Themen auch der inner- und zwischenkirchlichen Diskussion haben sich verändert, der Ernst der Überzeugungen nicht. Hier hat die Aufklärungsepoche, gegen deren ersten Regungen sich Walter unwissentlich sträubte, viel im Denken Europas verändert.

Der andere Grund: Das Lied bleibt auch deshalb aktuell, weil auch Gott sich nicht geändert hat. Die EG-Strophe 6 gilt noch immer. Gott hat sein Geschenk nicht zurückgefordert und seine Hand bleibt für jeden ausgestreckt. Und sie ist groß genug für ein ganzes Land. Das Land sollte erwachen, so wollte es Johann Walter. Sein Ziel war die Vollendung der Reformation, die gemeinsame Umkehr aller Deutschen zu Gottes Willen. Würde er heute so ein Pamphlet schreiben, müssten Intoleranz und Fremdenfeindlichkeit als neue Formen des politischen und religiösen Fanatismus darin vorkommen.

Es würde schlimm, wenn in den gesellschaftlichen, politischen und theologischen Auseinandersetzungen unserer Zeit eine Gruppe das Lied gegen die andere singen würde, wenn die streitenden sich gegenseitig zur Buße riefen, da man sich selbst der Gnade sicher weiß. Aber etwas anderes läßt sich tun. Zahl und Inhalt der entsprechenden Lieder in den Gesangbüchern der letzten 80 Jahre zeigen: Seit Christen ihre Obrigkeit wählen können, haben sie zunehmend aufgehört für sie zu beten. Das ist ein auffallendes, aber kein zufälliges Zusammentreffen. Wo früher fünf bis zehn Lieder in einem Gesangbuch standen, finden wir heute noch wenige Strophen, die der Aufforderung von 1. Timotheus 2 folgen. Nehmen wir den Aufruf zur Umkehr ernst, tun wir etwas, was wir zu tun verlernt haben: Beten wir für die Regierenden – ob sie es hören wollen oder nicht. Gott hört es. Und bitten wir für uns selbst um Toleranz, denn Intoleranz ist heute bedrohlicher als es jemals die Farbe der Chorröcke war.

Andreas Wittenberg, Bamberg

(Erweiterte und aktualisierte Neufassung einer Liedbetrachtung aus Confessio Augustana III/2000)

[1] Das EG bietet in den Strophen 1 und 5 die Textvarianten „unser Land“ und „O Land“ an.