Wilhelm Müller
Am Brunnen vor dem Tore
Am Brunnen vor dem Tore
Da steht ein Lindenbaum;
Ich träumt in seinem Schatten
So manchen süßen Traum.
Ich schnitt in seine Rinde
so manches liebe Wort.
Es zog in Freud und Leide
Zu ihm mich immer fort.
Ich musst auch heute wandern
Vorbei in tiefer Nacht,
Da hab ich noch im Dunkeln
Die Augen zugemacht.
Und seine Zweige rauschten,
Als riefen sie mir zu:
"Komm her zu mir, Geselle
Hier findst du deine Ruh!"
Die kalten Winde bliesen
Mir grad ins Angesicht,
Der Hut flog mir vom Kopfe,
Ich wendete mich nicht.
Nun bin ich manche Stunde
Entfernt von diesem Ort,
Und immer hör ich´s rauschen:
"Du fändest Ruhe dort!"
Der Text des Liedes stammt von Wilhelm Müller (1794–1827), einem Dichter, der als Lehrer an der Gelehrten Schule in Dessau und später als Bibliothekar arbeitete. Von seinem Gedichtzyklus Die Winterreise, veröffentlicht in Sieben und siebzig nachgelassenen Gedichten aus den Papieren eines reisenden Waldhornisten, sind 20 von Franz Schubert (1797-1828) im gleichnamigen Liederzyklus als Kunstlieder vertont worden (Siehe Alfred Brendels Beitrag Schuberts Winterreise in DIE ZEIT Nr. 48/2015, 26. November 2015). Darunter unter dem Titel Der Lindenbaum das 1822 entstandene Gedicht Am Brunnen vor dem Tore. Bereits 1821 hatte Müller Das Wandern ist des Müllers Lust verfasst.
Die zunehmende Beliebtheit dieser beiden Lieder hat Müller nicht mehr erleben dürfen. Am Brunnen vor dem Tore wurde erst zum Volkslied, nachdem der Komponist und Musikpädagoge Friedrich Silcher (1789–1860) die von Schubert komponierte Melodie für den Laiengesang arrangierte (1846); ähnlich wie das Lied Des Wandern ist des Müllers Lust, das ebenfalls von Franz Schubert komponiert, erst durch die Vertonung 1844 von Carl Friedrich Zöllner populär wurde.
In der ersten Strophe erfahren wir, dass der Sänger bei seiner Wanderung vor dem Stadttor an einem Lindenbaum und einem Brunnen vorbeikommt. Im Schatten der Linde hat er »so manchen süßen Traum« geträumt. So süß scheinen seine Träume aber nicht (mehr) zu sein, denn er meint, die Zweige riefen ihm zu: »hier find’st deine Ruh’«.
Der Musikwissenschaftler Heinz Rölleke versteht diesen vermeintlichen Ruf als Gedanken an den Tod (in: Das große Buch der Volkslieder – Über 300 Lieder, ihre Melodien und Geschichte, Köln 1983, S. 283).
Losgelöst von dem schwermütigen Zyklus Die Winterreise könnte das Lied auch anders gesehen werden: Als Geselle hat der Sänger es satt, immer wieder auf Wanderschaft gehen zu müssen (vgl. Hoffmann von Fallersleben: Heute noch sind wir hier zu Haus / morgen geht’s zum Tor hinaus / und wir müssen wandern / keiner weiß vom andern).
Zu der Zeit der Entstehung des Liedes war es eine Zunftpflicht, als Wanderbursche drei Jahre und einen Tag durch die deutschen Lande zu wandern und sich bei Meistern gegen Kost und Logis und einen geringen Lohn zu verdingen (Näheres s. Interpretation zu Es, es, es und es). Sicherlich hat der Wanderbursche manches Mädchen kennengelernt, dabei »Freud‘ und Leide« erfahren und wahrscheinlich nicht nur in unseren Lindenbaum »manches liebe Wort« geschnitten. Er träumt von den Freuden, als er verliebt war, aber denkt auch an das Leid, das ihm immer wieder das Abschiednehmen bereitet hat.
Abb.: Historische Bildpostkarten – Sammlung Prof. Dr. Sabine Giesbrecht, Uni Osnabrück; Österreichische Bildpostkarte von 1913 (Urheber unbekannt)
Der Anfang der zweiten Strophe könnte der Interpretation von Rölleke recht geben: »In tiefer Nacht« zu wandern, dabei im »Dunkeln die Augen zuzumachen«, kann nur sinnbildlich zu verstehen sein. Die Nacht, das Dunkel – mit den Substantiva Brunnen, Tor, Traum, Ruhe zum Vokabular der Romantik gehörend – lässt den Wanderburschen den Tod ahnen.
Doch er schiebt diese Gedanken von sich und wandert weiter, selbst wenn ihm »die kalten Winde gerad‘ ins Angesicht wehen«, und er dreht auch nicht um, als ihm der »Hut vom Kopfe fliegt«. Er geht den Weg, den er gehen muss, d.h. solange bis seine drei Jahre und ein Tag abgelaufen sind. Aber er ist gewiss: die Wanderschaft geht bald zu Ende, und er freut sich auf den Ort, in dem er seine Liebste weiß und hofft, dort endlich Ruhe zu finden.
1917 veröffentlichte Wohlfahrtspostkarte der Deutschen Kolonial- Kriegerspende nach einem Bild von Hans Baluschek (1870–1935) (Deutsches Historisches Museum).
Rezeption
Am Brunnen vor dem Tore gehörte 1975 laut einer repräsentativen Umfrage des Instituts für musikalische Volkskunde (heute: Institut für europäische Musikethnologie, Universität Köln) zum beliebtesten Lied der von den Befragten frei (heraus) genannten Lieder. Seit Silchers Bearbeitung zur volksliedhaften Melodie ist es durch die Jahrhunderte populär geblieben. Das erste mir bekannte Liederbuch, das das Lied aufnahm, war 1869 die Sammlung von Volksgesängen für den gemischten Chor, dem bis zur Jahrhundertwende (1900) einige Schulbücher (auch in Österreich und in der Schweiz) und zahlreiche andere Liederbücher folgten. Erwähnenswert – der hohen Auflage wegen – sind Schauenburgs Allgemeines Commersbuch, das 1911 die 110. Auflage erlebte und die von dem berühmten Liedersammler und -forscher Ludwig Erk (1800-1883) herausgegebene Sammlung Deutscher Liederschatz.
Während das Lied bis 1933 – geht man von den Lieder- und Chorbüchern aus – in allen Bevölkerungskreisen gesungen wurde, fand es keinen Eingang in eines der einschlägigen Liederbücher der Jugendbewegung.
Auch in die Liederbücher der NS-Organisationen wurde das Lied nicht aufgenommen; wahrscheinlich war es der Führung zu romantisch oder es wurde als Lied mit Todesgedanken für nicht geeignet befunden. Erst ab 1940 erschien es in einigen Liedersammlungen der Deutschen Wehrmacht; das ist umso erstaunlicher, als es seines 3/4-Taktes wegen nicht gerade zum Marschieren geeignet ist.
Betrachtet man die Ausgaben der Liederbücher nach 1945, so ist festzustellen, dass es in den ersten Nachkriegsjahren nur in wenigen Liederbüchern auftauchte, die zudem nur geringe Auflagen hatten. Erst 1962 wurde es in dem weitverbreiteten, vor allem in Schulen eingesetzten Reclam Taschenbuch Deutsche Volklieder abgedruckt. Die Popularität nahm weiter zu, nachdem 1972 bis 1977 von Heino fünf Langspielplatten mit dem Lied herauskamen. Den Schubertschen Lindenbaum interpretierten berühmte Sänger wie Rudolf Schock, Hermann Prey, Peter Schreier und Dietrich Fischer-Dieskau. Mireille Mathieu und Nana Mouskouri dagegen zogen es vor, Am Brunnen vor dem Tore als Volkslied zu singen.
Bald setzte bei den Liederbüchern ein regelrechter Boom ein. Allein 1977 bis 1988 kamen sechs Taschenbücher und auch weitere Liedersammlungen mit dem Lied heraus. Wie gern das Lied angehört wurde und heute noch wird, zeigen die rund 460 im Katalog des Deutschen Musikarchivs (DMA), Leipzig, aufgeführten Tonträger von der Schellackplatte bis zur CD und die vielen hundert Videos bei YouTube. Auch die im DMA katalogisierten rund 150 Partituren deuten darauf. Bei so gut wie jedem Auftritt eines Männerchors ist das Lied zu hören. Die Zentralstelle für deutschsprachigen Chorgesang in der Welt zählt mehr als 570 Chöre auf, die Am Brunnen vor dem Tore bzw. Der Lindenbaum in ihr Repertoire aufgenommen haben.
Ludwig Uhland
Der gute Kamerad
Ich hatt einen Kameraden,
Einen bessern find'st du nit
Die Trommel schlug zum Streite,
Er ging an meiner Seite
In gleichem Schritt und Tritt.
Eine Kugel kam geflogen,
Gilt's mir oder gilt es dir?
Ihn hat es weggerissen,
Er liegt mir vor den Füßen,
Als wär's ein Stück von mir.
Will mir die Hand noch reichen,
Derweil ich eben lad.
Kann dir die Hand nicht geben,
Bleib du im ew'gen Leben
Mein guter Kamerad!
Wie bei den meisten Volksliedern sind seine Urheber vergessen. Auch sein Titel ist eher unbekannt. Wer das Lied kennt, glaubt gern, es heiße: »Ich hatt einen Kameraden«, doch das ist nur sein erster Vers. Sein richtiger Titel lautet: Der gute Kamerad, und es wurde 1809 von Ludwig Uhland in Tübingen gedichtet, Friedrich Silcher gab ihm 1825, ebenfalls in Tübingen, die Melodie. Das Lied entfaltete eine beispiellose Wirkung. Es wurde nationales Trauerlied, ertönte an Kriegsgräbern und an den Gräbern von Zivilisten. Heute ist es nur noch am Volkstrauertag zu hören, zum Gedenken an die Opfer beider Weltkriege sowie deutscher Gewaltherrschaft. Der Soziologe Norbert Elias entdeckte in ihm einen Widerhall kollektiver Todesphantasien. Bis in die Gegenwart hat das Lied sich im kulturellen Gedächtnis der Deutschen gehalten. Als Frontgespenst geistert der Gute Kamerad durch Heiner Müllers Werk, und selbst in Kassibern der »Roten-Armee-Fraktion« blitzen seine Worte auf.
Der Bundespräsident Richard von Weizsäcker traute dem Guten Kameraden nicht. Er ließ einen Mitarbeiter beim Volksliedarchiv in Freiburg anfragen, woher Text und Musik stammten und welche »Aufführungstradition« das Lied habe. Erwünscht war eine »zuverlässige Rudimentärunterrichtung«, wie es in dem Brief vom 7. September 1993 in schönstem Bundespräsidialdeutsch heißt. Welche Sorge den ersten Mann der Republik wegen des Lieds plagte, verraten Notizen eines Archivars unter dem Briefkopf: »Neue Wache in Berlin – Einigungsvertrag – Wehrmachtstradition«. Mit anderen Worten: Paßte das Lied noch in die politische Gedenkkultur des wiedervereinigten Deutschland?
Im Westen gehört es zum Zeremoniell des Volkstrauertags. »Es wird gebeten, nach der Totenehrung stehenzubleiben, bis das Lied verklungen ist«, lautete die Bitte auf den Einladungskarten zur zentralen Gedenkfeier im Bonner Bundestag. Bei Trauerfeiern der Bundeswehr intoniert ein Solobläser das Lied »nach Absenken des Sarges«. Im Osten war die Uhland-Silcher-Tradition abgebrochen. Andere Töne begleiteten dort die Gedenkfeiern von Partei und Armee: Chopins Trauermarsch oder die Arbeiterlieder Unsterbliche Opfer und Der kleine Trompeter. Geteiltes Land, geteilte Lieder. Nichts, was zusammenklingen könnte.
Die Antwort des Archivs an den Bundespräsidenten war tröstlich: Seit 1918, also auch in der Weimarer Demokratie, sei das Lied bei staatlichen Totenfeiern »aufgeführt« worden. Selbst so erhabene Konkurrenz wie Beethovens Eroica, Wagners Parsifal-Vorspiel und Chopins Marche funèbre hätten es nicht verdrängen können. »Im Alltagsleben des Durchschnittsmenschen gibt es einige musikalische Standardtypen«, schließt der Archivar, »dazu gehört ›Stille Nacht‹, Mendelssohns Hochzeitsmarsch und das Lied vom ›Guten Kameraden‹. Diese Standardtypen sind kaum durch etwas anderes zu ersetzen. Deshalb glaube ich nicht, daß es gelingen könnte, den ›Guten Kameraden‹ zu entthronen.«
Er thront auch weiterhin. Aber fast jedes Jahr, wenn Deutschland sich im November seiner Opfer erinnert, entbrennt irgendwo im Land neuer Streit um das Lied. Die Debatten verlaufen meist nach zwei Mustern: Zum einen ist es ein junger Bürgermeister, dem der Gute Kamerad unheimlich wird. Er untersagt, ihn am Volkstrauertag zu spielen. Als Grund nennt er die dritte Strophe, obwohl das Lied auch in seiner Gemeinde immer nur instrumental zu hören war. Die Strophe sei »kriegsverherrlichend« und habe in der Vergangenheit den Sinn gehabt, »zum Weiterkämpfen zu animieren«. Eine Leserbriefschlacht beginnt. Ehemalige Kriegsteilnehmer klagen über die Verletzung ihrer Gefühle. Einer von ihnen schert aus und erinnert daran, wie das Lied an den »Heldengedenktagen« des »Dritten Reichs« eingesetzt wurde, »um das Volk auf Hitlers Angriffskrieg einzustimmen«.
Nach dem zweiten Muster empören sich Friedensaktivisten über das Lied. Wenn es bei der Trauerfeier erklingt, wenden sie sich demonstrativ ab und fangen zu plaudern an. Gefühle sind verletzt, eine Leserbriefschlacht beginnt. Zum Gemeindefrieden trägt die Belehrung bei, das Lied sei längst »international«: Es finde sich in japanischen Liederbüchern, werde in der Fremdenlegion gesungen (J’avais un camarade), ja selbst in Holland habe der Soldatensong aus dem Fundus des ungeliebten Nachbarn einen Übersetzer gefunden (Ik had een wapenbroeder), und für den Fall, daß die Nationen absterben sollten, sei in der Weltsprache Ido mit einer globalisierten Fassung vorgesorgt: Me havis kamarado tu plu bonan trovas ne tamburo nin vokadis il apud me iradis sampaze quale me.
Am schwersten wiegt das Argument, daß Silchers Melodie von den Franzosen zum Nationalfeiertag am 14. Juli am Grabmal des unbekannten Soldaten gespielt werde. Zur Versöhnung der Bürgerschaft taugt ebenso der Hinweis, daß der Bundespräsident an der zentralen Gedenkfeier in Berlin teilnehme, obwohl dort der Gute Kamerad ertöne.
Es ist nicht schwer zu verstehen, daß vorwiegend Belege von außen in einem an seinen Traditionen irre gewordenen Land Entlastung bringen – mehr als das klügste Argument von innen. Darum muß sich der schon 1985 unterbreitete Vorschlag des Germanisten Peter Horst Neumann, der in Uhlands Lied ein unschuldiges Opfer deutscher Verhältnisse sieht, wie eine Donquichotterie ausnehmen. Neumann plädiert auf Freispruch: »Da die Vereinnahmung auf der rechten Seite geschah, könnte die Ehrenrettung nur von links her erfolgen. Die militaristische Aura wäre zerstoben, hätte Marlene Dietrich auch den ›Guten Kameraden‹ gesungen oder Ernst Busch zusammen mit dem Lied der Spanischen Brigaden oder Wolf Biermann zum Andenken an Robert Havemann.«
Auf unabsehbare Zeit wird das Lied ohne Worte die Begleitmusik staatlichen Gedenkens bleiben. Ärger entzündet sich daran vermutlich auch künftig vor allem auf lokaler Ebene. An der Staatsspitze scheint es unumstritten. Unten müssen Widersprüche im Gedächtnis offenbar weniger krampfhaft aufgehoben werden als oben, wo die Angst vor übler Außenwirkung oder dem endgültigen Verlust einheitsstiftender Symbole die Harmonie erzwingt. Das Lied soll ein Gemeinplatz der Erinnerung sein: Doch in Deutschland existieren zu viele, zu verschiedene Erinnerungen, als daß sie auf diesem Gemeinplatz zusammenfinden könnten. Ob das immer so war?
Uhland schrieb sein Lied während der Befreiungskriege gegen Napoleon. Österreich hatte sich 1809 zuerst erhoben gegen den Imperator. Der junge Poet nahm am Leiden auf beiden Seiten Anteil: Er fühlte mit den Badenern, die unter französischem Befehl gegen die aufständischen Tiroler ziehen mußten, und er trauerte um seinen Förderer Leo von Seckendorf, der als österreichischer Hauptmann gefallen war. Uhland war aufgefordert worden, für ein Flugblatt »zum Besten der (badischen) Invaliden des Feldzugs« ein Kriegslied zu verfassen. Sein Beitrag kam jedoch zu spät, und so nahm sein Freund Justinus Kerner den Guten Kameraden zwei Jahre später in seinen Poetischen Almanach für das Jahr 1812 auf. Danach erschien er in allen eigenständigen Gedichtbänden Uhlands und 1848 im Deutschen Volksgesangbuch Hoffmanns von Fallersleben.
Doch in welcher Nachbarschaft das Lied auch stand, es blieb ein Solitär. Ihm fehlte der Völkerschlachtton, der national-heroische Doppelklang, der in den Kriegsliedern der Zeit dominierte: Arndts Was ist des Deutschen Vaterland?, Körners Das Volk steht auf, der Sturm bricht los, Nonnes Flamme empor. Lieder (fast) dieses Schlags dichtete Uhland später auch selbst, und dabei mag er seinem Wunsch nach Parteinahme nachgegeben haben – anders als beim Guten Kameraden, bei dem er seinen Ehrgeiz darauf verwandte, den Volksliedton zu treffen, so wie die Sammlung Des Knaben Wunderhorn, für die Tübinger Romantiker eine Art Bibel, diesen Ton traf.
Obgleich Uhlands Gedicht schon vertont war, nahm Friedrich Silcher, der Tübinger Universitätsmusikdirektor, sich seiner nochmals an. Volkstümlich wurde romantische Poesie, wenn sie sich singen ließ. Doch keiner im 19. Jahrhundert setzte romantische Poesie so populär in Singbares um wie Silcher. Ein Leben lang jedoch mußte er gegen das Vorurteil angehen, daß er Uhlands Lied eine Melodie erfunden habe; gefunden hatte er ihm eine, und zwar in der Schweiz, wo ihm das Volkslied Ein schwarzbraunes Mädchen hat ein‘ Feldjäger lieb zu Ohren kam. Wahrheitsgemäß teilt er auf dem Notenblatt des Guten Kameraden mit: »Aus der Schweiz, in 4/4 Takt verändert, v. Silcher«. Trotzdem wurde er unverdrossen für den Schöpfer gehalten. Es kursierte sogar eine Sage, die glauben machen wollte, ein Herbststurm habe Silcher ein Blatt mit Uhlands Versen durchs Fenster seiner Tübinger Kammer zugeweht. Die Entstehung eines Lieds von derart mysteriösem Erfolg war ohne überirdische Hilfe offenbar nicht zu denken.
Man hat es in der Folge gedreht und gewendet, um ihm das Geheimnis seiner Wirkung zu entreißen. 1977 erschien eine Schrift des »Wiener Seminars für Melosophie«, die den »heilenden Kräften« in Silchers Vertonung nachlauscht. Ihr Autor, Victor Lazarski, glaubt, daß das Lied sich durch eine ihm selbst innewohnende Kraft aus »militärischer Enge« befreit und zum Abschiedslied der gesamten Menschheit gewandelt habe. Für Lazarski hat die »Seele« des Lieds ihren Sitz im zehnten Takt. Genau dort aber findet sich eine der wenigen Stellen, wo Silcher in die vorgefundene Melodie eingriff, indem er bei der unechten Wiederholung der jeweiligen Schlußzeile den harten Auftakt weicher gestaltete und so den Marsch ins Elegische umkippen ließ.
Was Lazarski beim genialischen Individuum fand, hatte zuvor Heyman Steinthal beim singenden Kollektiv ausgemacht. 1880 veröffentlichte er in der Zeitschrift für Völkerpsychologie einen Aufsatz, in dem er sich mit den »Umsingungen« von Uhlands Lied befaßt. Er zitiert eine Variante, die er von einem Dienstmädchen singen hörte:
Die Kugel kam geflogen
Gilt sie mir? Gilt sie dir?
Ihn hat sie weggerissen,
Er lag zu meinen Füßen
Als wär’s ein Stück von mir.
Für Steinthal hat der Volksmund hier verbessernd gewirkt und Klarheit geschaffen: »Nicht ›eine‹ Kugel, sondern die fatale kam geflogen. Er sieht sie kommen, und das ›Gilt sie mir? Dir?‹ schildert die Angst des Soldaten, die er aber um sich nicht mehr als um den Kameraden hat, was auch in dem Mangel des ›oder‹ liegt, welches trennen würde. Den Wandel des ›es‹ in ›sie‹ kann ich nur billigen, denn das ›es‹ der dritten Zeile ist ohne rechte Bedeutung. Eine Verbesserung wiederum ist ›er lag zu meinen Füßen‹, parallel zu ›er ging an meiner Seite‹.« Uhlands Fassung scheint ihm nur »volksmäßig«, erst durch die Veränderungen werde ein echtes Volkslied daraus. Voraussetzung sei nur, daß so ein Lied gefalle, dann werde es allmählich umgesungen. »Dies geht durch die Jahrhunderte und breitet sich aus wie die Sprache des Volkes und mit ihr.« Einspruch erhebt Steinthal im Namen des Volkes auch gegen die dritte Strophe. Er verwirft sowohl die »Sentimentalität« des Sterbenden, der dem Kameraden die Hand reichen will, wie auch die »Härte« des anderen, der die Hand nicht nimmt. Zudem mag er die Formulierung vom »ew’gen Leben« nicht, sie sei »abstract«. Aus all diesen Gründen werde die dritte Strophe denn auch nirgendwo gesungen. Doch die Stunde von Härte und Sentimentalität sollte noch kommen. Dem Guten Kameraden stand sein Aufstieg zu unüberbietbarer Beliebtheit noch bevor.
In ihrer Anthologie Lieder, die die Welt erschütterten, präsentiert Ruth Andreas-Friedrich Uhlands Lied bei den Liedern aus dem deutsch-französischen Krieg, wie übrigens auch das Deutschlandlied. War es 1870/71 noch eher ein ergreifendes Soldatenlied als ein »trotziger Kriegsgesang«, so sollte sich das im nächsten Krieg ändern. Eine Umfrage unter Soldaten des Ersten Weltkriegs, gemacht von Volkskundlern, ergab, daß das Lied an deutschen Fronten das meistgesungene war, und zwar wegen seiner »begeisternden Wirkung«. Dazu muß man wissen, daß es jetzt nur noch zum wenigsten aus Uhlands Text bestand, sondern aus einem Potpourri erzpatriotischer Kehrreime. Vorneweg wurden im Originalton jeweils nur die ersten drei Verse gesungen – und dann:
Gloria, Gloria, Gloria Viktoria!
Ja mit Herz und Hand
Fürs Vaterland, fürs Vaterland.
Die Vöglein im Walde,
die sangen all so wunderschön.
In der Heimat, in der Heimat,
da gibt’s ein Wiedersehn.
Noch im ersten Kriegsjahr brachten Uhland-Puristen ein Flugblatt heraus (»Der ›Gute Kamerad‹ in schlechter Verfassung«), in dem sie für derlei »Verhunzungen« das »Eindringen von Operettenschlagern« in die Alltagskultur verantwortlich machen. Doch den wahren Schuldigen entlarvte im August 1918 die »Turn-Zeitung«: Er heiße Wilhelm Lindemann, sei Kabarettist in Berlin und berühmt für die bösen Scherze, die er »zu Vortragszwecken« mit vaterländischem Liedgut treibe. Kein Wunder, daß der an das Lied geklebte Kehrreim so komisch klingt; gesungen wurde er aber im Ernst. Die Verteidiger des Kehrreims kamen der Sache näher. In ihren Streitschriften begrüßen sie das »Gloria« als Ventilation »unsagbarer Gefühle« zwischen Heimweh und Todesfurcht. Willkommen ist ihnen das Schlagwort-Gewitter des »Gloria« auch, weil es wie ein nationales Glaubensbekenntnis tönt. Der Gute Kamerad scheint heimgekehrt ins Kaiserreich, zum »Gemüt« hat er endlich »Gesinnung« erworben. Konnte man mehr recht behalten, als Heyman Steinthal, der das Schicksal des Volkslieds mit dem der Volkssprache verbunden sah? Die Phrase beherrschte die öffentliche Rede – im Sinn von Karl Kraus‘ Erkenntnis, daß das erste Opfer des Kriegs immer die Sprache sei – und folglich Uhlands Lied.
Die nationale Vereinnahmung erzeugte aber auch ihr Gegenstück: die (bewußte) Parodie. Als von 1916 an die Siegeszuversicht schwand, blühten an allen Fronten die Spottversionen. Sie richten sich oft gegen die miserable Versorgung (»Ich hatt einen Katzenbraten«) oder schwelgen – teils mit pazifistischem Unterton – im Überdruß:
Ich hatt einen Kameraden.
Einen schlechtern findst du nit.
Die Trommel schlagt zum Streite,
Er schleicht von meiner Seite
Und sagt: ›I tu nit mit‹.
Fortan wurde das Lied von allen Seiten beansprucht. Doch sein Sinnkern blieb unverletzt, mochten die Seiten noch so gegensätzlich sein. Den stärksten Beleg dafür bietet Wolfgang Langhoff in seinen Moorsoldaten, den Erinnerungen an seine KZ-Haft während der frühen Nazi-Zeit: Die SS hat einen Häftling erschossen. Die anderen überlegen, wie sie dagegen »protestieren« können. Als beim Appell der Befehl kommt: Singen!, stimmen sie den Guten Kameraden an. Die SS-Männer sind irritiert. Einer fragt die Häftlinge: Wieso dieses Lied? Sie sagen es ihm, und er »stiefelt nachdenklich auf seinen Platz zurück«.
Ob sich deutsche Landser im Zweiten Weltkrieg durch Uhlands Lied bei ihren Vorgesetzten ähnlichen Respekt verschafften, ist zweifelhaft, zumindest im folgenden Fall. Es scheint unglaublich, aber da getrauen sich ein paar Todgeweihte, in ihrer Frontkämpferzeitung Nr. 31, Dez. 42 diese Zeilen zu drucken:
Wir hab’n einen großen Führer
Einen größern findt ihr nicht.
Er führt durch blut’ge Kriege
Vier Jahr lang uns zum Siege,
Doch das Ende sehn wir nicht.
Gloria, Gloria, Gloria Viktoria!
Für das Hakenkreuz,
Mit dem Ritterkreuz
Gehn wir zu Grab.
Wie auch Ernst Buschs antifaschistische Neuschöpfung aus dem Spanischen Bürgerkrieg, gewidmet dem gefallenen Kommunisten Hans Beimler (»Eine Kugel kam geflogen / aus der ›Heimat‹ für ihn her«), belegt diese Variante den mythischen Charakter, den das Lied inzwischen angenommen hatte. Es ließ sich endlos aktualisieren, immerfort neuen Erfahrungen und Positionen angleichen, aber stets so, daß darunter der Urkamerad erkennbar blieb. Uhlands Lied wurde sozusagen ein Überschreib-Lied, eine Palimpsest-Hymne nach der Art der mittelalterlichen Schreibvorlagen, die abgekratzt und wieder beschrieben werden konnten, und zwar so, daß die ältere unter der jüngeren Schrift noch lesbar war. Warum aber entstand statt der zahllosen Überschreibungen kein neues Lied? Ein ganz persönliches, unverwechselbares? Fanden die Deutschen im Guten Kameraden zu allen Zeiten ihre heimliche Hymne? Vielleicht wurde für jene, die auf Uhlands Form zurückgriffen, die eigene Erfahrung gerade in dieser Form vertrauter, glaubwürdiger, teilbarer und mitteilbarer.
Eine weitere Antwort gibt in seinen Studien über die Deutschen Norbert Elias, der das Lied als Soldat im Ersten Weltkrieg kennenlernte. Die Deutschen hätten den Guten Kameraden stets so inbrünstig gesungen, weil er ihr »verdüstertes Selbstgefühl« ausdrückte. Daß ihre Lieblingslieder fast alle eine »starke Vorahnung des Todes« erfülle, sei historisch zu erklären: Vom 16. Jahrhundert an war Deutschland durch seine staatliche Schwäche viele Male Europas »Hauptkriegsschauplatz«. Vor allem der Dreißigjährige Krieg hinterließ traumatische Spuren im »Habitus der Deutschen«. Geblieben sei ihnen eine unauslöschliche Erinnerung an Zerstörung, Tod, Vergeblichkeit.
Elias weist so dem Guten Kameraden seine Bedeutung im größtmöglichen Zeitraum deutscher Geschichte zu. Doch ist dies unselige Kontinuum mittlerweile beendet? Was den Guten Kameraden betrifft, sieht es so aus. Zumindest, wenn man den Blick auf sein Erscheinungsbild in Heiner Müllers frühem Drama Die Schlacht lenkt. Darin gibt es eine Szene, in der deutsche Soldaten des Zweiten Weltkriegs, vor Hunger dem Wahnsinn nahe, zu Silchers Klang und Uhlands Worten einen Kameraden verspeisen. Das ist die äußerste Katastrophe, die den Guten Kameraden ereilen kann. Im kannibalischen Irrsinn des totalen Kriegs findet die Tübinger Romantik ihr Ende.
Doch seine bisher letzte Wiederkehr fand in den Stammheimer Zellen der RAF statt, und sie ist keine Erfindung. Stefan Aust zitiert in seinem »Baader-Meinhof-Komplex« aus einem konfiszierten Kassiber Gudrun Ensslins, in dem inmitten kleingehackter RAF-Prosa der Vers steht: »Ich hatt einen Kameraden«. Er blitzt auf, als die Verfasserin sich wieder einmal zugunsten Baaders gegen die »Verräterin« Meinhof entscheidet. Der »Gute Kamerad« als Orientierungshelfer zwischen Freund und Feind: So kompliziert konnte im Volksbefreiungskrieg die Lage mitunter sein.
Der Artikel wurde zuerst im Schwäbischen Tagblatt, Tübingen, am 15. November 1997 abgedruckt; der Verfasser hat dafür den Theodor-Wolff-Preis des Verbandes der deutschen Zeitungsverleger erhalten.
(hier im samländischen Original gesungen: „Anke von Tharaw öß, de my geföllt / Se öß min Lehwen, min Goet on min Gölt […]“)
Simon Dach
Ännchen von Tharau (hochdeutsche Fassung von Johann Gottfried Herder)
Ännchen von Tharau ist's, die mir gefällt.
Sie ist mein Reichtum, mein Gut und mein Geld.
Ännchen von Tharau hat wieder ihr Herz
auf mich gerichtet in Lieb und in Schmerz.
Ännchen von Tharau, mein Reichtum, mein Gut,
du meine Seele, mein Fleisch und mein Blut.
Käm alles Wetter gleich auf uns zu schlahn,
wir sind gesinnt, beieinander zu stahn.
Krankheit, Verfolgung, Betrübnis und Pein
soll unsrer Liebe Verknotigung sein.
Ännchen von Tharau, mein Reichtum, mein Gut,
du meine Seele, mein Fleisch und mein Blut.
Recht als ein Palmenbaum über sich steigt,
je mehr ihn Hagel und Regen anficht,
so wird die Lieb in uns mächtig und groß
durch Kreuz, durch Leiden, durch mancherlei Not.
Ännchen von Tharau, mein Reichtum, mein Gut,
du meine Seele, mein Fleisch und mein Blut.
Würdest du gleich einmal von mir getrennt,
lebtest da, wo man die Sonne kaum kennt,
ich will dir folgen durch Wälder, durch Meer,
Eisen und Kerker und feindliche Heer.
Ännchen von Tharau, mein Licht, meine Sonn,
mein Leben schließ ich um deines herum.
Simon Dach hat Ancke van Tharaw in Samländisch (einer plattdeutschen Mundort im Norden Ostpreußens) 1636 geschrieben. Vier Jahre später wurde es von seinem Freund, dem Komponisten und Königsberger Domorganisten Heinrich Albert (1604-1651) vertont und in dessen Kompositionsheft Nr. 5 der Arien erstmalig veröffentlicht. Weiteren Kreisen wurde das Liebeslied, von Johann Gottfried Herder (1744-1803) ins Hochdeutsche übertragen, erst bekannt, nachdem es 1778 in seine Sammlung Volkslieder aufgenommen wurde und 1806 in die bedeutendste Liedersammlung der deutschen Romantik, Des Knaben Wunderhorn, Eingang fand. Deren Herausgeber Achim von Arnim und Clemens Brentano kürzten das ursprünglich 17 Strophen à zwei Verse umfassende Lied auf vier Strophen à sechs Verse. Mit der Vertonung dieser Textversion 1827 durch Friedrich Silcher (1789-1860) stieg die Popularität des Ännchens stark an (zur weiteren Rezeptionsgeschichte s. Abschnitt Wachsende Popularität).
Vorgeschichte
Simon Dach hat die Verse 1636 anlässlich der Trauung von Anna Neander mit Johannes Portatius geschrieben. Wer waren diese Personen? Simon Dach wurde 1605 als Sohn eines Gerichtsdolmetschers und einer Dichterin in Memel (heute Klaipeda) geboren. Mit 14 Jahren besuchte er die Domschule in Königsberg (heute Kaliningrad), später die Lateinschule in Wittenberg und das Gymnasium in Magdeburg. 1626 flüchtete Simon Dach vor der Pest und dem Dreißigjährigen Krieg aus Sachsen-Anhalt in seine Heimat. In Königsberg studierte er Theologie und Philosophie. Nachdem er ab 1633 an seiner ehemaligen Schule, der Domschule, sechs Jahre lehrte, wurde er 1639 Konrektor. Bereits während dieser Zeit verfasste er viele Kirchenlieder und Gedichte, häufig Auftragsarbeiten für Geburtstage, Hochzeiten, Taufen oder Beerdigungen. Mit über 1.200 Gedichten in zwanzig Jahren erwirtschaftete sich Dach lukrative Nebeneinkünfte. Nach erfolgreicher Promotion an der Albertina in Königsberg wurde er bald Inhaber des Lehrstuhls für Poesie und 1656 zum Rektor der Universität ernannt. Mit dem Domorganisten Heinrich Albert (1604-1651) verband ihn eine langjährige Freundschaft. Albert war der erste Komponist, der das Gedicht Ännchen von Tharau vertont hat. Im April 1659 starb Simon Dach in Königsberg nach langer Krankheit an der Schwindsucht (Tuberkulose).
Anke Neanders Geburtsort ist umstritten. Nach einer Quelle wurde sie in Schlesien geboren und wanderte als Kind mit ihrer Familie nach Ostpreußen aus. Eine andere Version verlegt den Geburtsort nach Tharau (ehemals Landkreis Preußisch Eylau, heute Wladimoro, Oblast Kaliningrad), wo sie als Tochter des Dorfpfarrers Neander 1619 in der Dorfkirche getauft wurde. Nach dem Tod ihrer Eltern 1629 nahm sie ihr Pate und Onkel Caspar Stolzenberg in seine Familie in Königsberg auf. Mit 17 Jahren heiratete sie 1636 den Pastor der Dorfkirche von Tharau, Johannes Portatius, der 1641 Gemeindepastor in Laukischken (heute Strankoe) wurde. Nach dessen Tode 1646 wurde sie Ehefrau des Nachfolgers im Amt, und nach dessen Ableben heiratete sie ebenfalls den Nachfolger. Zu der Zeit entsprachen Hochzeiten dieser Art einer Form der Witwenversorgung. Nachdem sie fast 36 Jahre in Laukischken gelebt hatte, zog sie zu ihrem ältesten Sohn aus erster Ehe, der in Insterburg eine Pfarrstelle innehatte. Von ihren 14 Kindern aus drei Ehen erlebten nur drei das Erwachsenenalter. Gestorben ist Anne Neander 1689 in Insterburg; noch heute erinnert in einem Park ein Gedenkstein an sie. In Klaipeda (Memel) bildet ihr Denkmal auf dem Theaterplatz mit dem Simon-Dach-Brunnen einen Höhepunkt jeder Touristenreise ins Baltikum.
Über Johannes Portatius ist nur wenig bekannt. Simon Dach hatte ihn wahrscheinlich während des Theologiestudiums kennengelernt und führte den jungen Pfarrer in die Gesellschaft des großbürgerlichen Caspar Stolzenberg ein. Stolzenberg, betuchter Brauereibesitzer, führte ein offenes Haus, in dem viele Professoren, Dichter und Musiker verkehrten. Hier lernte Portatius, wie schon zuvor Simon Dach, Anke Neander kennen. Portatius nahm eine Pfarrstelle in Tharau an und wurde 1636 mit Anke Neander in der Dorfkirche getraut.
Interpretation
Simon Dach hat die Verse 1636 anlässlich der Trauung von Anna Leander mit dem Pastor Johannes Portatius geschrieben. Es ist nicht eindeutig geklärt, ob der Dichter selbst in die Braut verliebt war, die er zärtlich Ännchen nennt. Diese Vermutung könnte gestützt werden durch die Zeilen 3 und 4 der ersten Strophe: „Ännchen von Tharau hat wieder ihr Herz / Auf mich gerichtet in Lieb und in Schmerz“. Es ist aber auch möglich, dass Ännchen ausschließlich seine Muse war, die ihn zu diesem Liebeslied inspiriert hat. Mit dem Text versetzt sich Dach in den mit ihm befreundeten Bräutigam und lässt ihn von seiner Braut schwärmen. Bereits in der ersten Zeile bekennt er, dass sie ihm gefällt.
Er verehrt sie so sehr, dass er sie „sein Leben“ nennt, sie mit materiellen Dingen – „Gut und Geld“ – vergleicht und sie mit Leib und Seele liebt. Er scheint erleichtert zu sein, dass sie ihr Herz nach einer zwischenzeitlich vermuteten Trennung, die ihn sehr schmerzte, „wieder auf ihn gerichtet hat“. Die ersten beiden Verse der zweiten Strophe erinnern an das traditionelle kirchliche Ehegelöbnis „Ich will dich lieben […] in guten wie in schlechten Zeiten“. Alle Unbill, wie sie der 30jährige Krieg mit sich bringt, wie „Krankheit, Verfolgung, Betrübnis und Pein“ wollen sie mit Hilfe ihrer gegenseitigen Liebe („unsrer Liebe Verknotigung“) gemeinsam bestehen – „Wir sind gesinnt, beieinander zu stahn’n“.
Der von Herder stammende Neologismus verdeutlicht, wie die Verbundenheit zu Anna sich zur wahren Liebe verknotet, zu einem Knoten in einem Band wird, der sich nie oder nur durch den Tod lösen lässt – „bis dass der Tod euch scheidet“. Im samländischen Originaltext heißt es „Vernietigung“, was als vernieten, einen Teil mit einem anderen verbinden, eine vergleichbare Bedeutung aufweist. Und zur Bekräftigung werden hier (wie später auch in der dritten Strophe) der 5. und 6. Vers der ersten Strophe wiederholt: „Ännchen von Tharau, mein Reichtum, mein Gut, / du meine Seele, mein Fleisch und mein Blut“.
In der dritten Strophe wird die Liebe zwischen Mann und Frau mit einem Palmbaum verglichen, da man „im 17. Jahrhundert der Auffassung war, dass dieser Baum kräftiger wachse, wenn er mit Gewichten beschwert werde oder den Unbilden der Natur ausgesetzt sei“ (Liederlexikon, Michael Fischer, 2005/2007). Man ist sicher, dass die Liebe durch „Kreuz [ein Hinweis auf den Tod Christi, der nach christlichem Glaube aus Liebe zu den Menschen alles Leid auf sich genommen hat], durch Leiden, durch mancherlei Not“ die Liebenden nicht auseinanderbringt, sondern sie nur noch enger zusammenführt: „die Lieb in uns [wird] mächtig und groß“.
In der letzten Strophe stellt sich das Sprecher-Ich vor, dass sein Ännchen doch irgendwann einmal von ihm getrennt werden könnte. In diesem Fall, beteuert er, würde er ihr folgen. Die Aufzählung „durch Wälder, durch Meer, Eisen, Kerker und feindliches Heer“ ist angesichts seiner großen Liebe sicherlich nicht vollständig. Denn er will ihr auch dorthin folgen, „wo man die Sonne kaum kennt“. Ohne Sonne ist kein Licht und keine Wärme. Ohne sie aber ist kein irdisches Leben möglich. Wenn „sein Licht, seine Sonn“, wie er Anna benennt, sterben sollte, will er auch nicht länger leben: „mein Leben schließ ich um deines herum“.
Die beiden letzten Zeilen der ersten Strophe „Ännchen von Tharau, mein Reichtum, mein Gut /du meine Seele, mein Fleisch und mein Blut“ wurden erst in des Knaben Wunderhorn zum Refrain der zweiten und dritten Strophe. Hier in der vierten und letzten Strophe wird im abgewandelten Refrain ein Resümee gezogen, das an den 1. Brief Paulus an die Korinther 13, Vers 13 erinnert: „Nun aber bleibt: Glaube, Hoffnung Liebe, diese drei; aber die Liebe ist die größte unter ihnen“.
Wachsende Popularität
Bereits zwei Jahre nach der Vertonung des Gedichts durch Friedrich Silcher entstand 1829 ein gleichnamiges Drama von Willibald Alexis, knapp 50 Jahre später auch eine romantische Oper von Ernst Catenhusen. Und geht man von der Anzahl der Veröffentlichungen in Liederbüchern und Partituren aus, so wuchs die Beliebtheit des Liedes vor allem bei Männerchören und Studenten etwa ab der Mitte des 19. Jahrhunderts. Exemplarisch werden hier das Kleine Kommersbuch (1857), Vater Rhein – mehrstimmige Lieder für Männerchöre (1883) und das weit verbreitete Schauenburgs Allgemeines Deutsches Commersbuch (1888) genannt. Selbst in der Schweiz wurde das Liebeslied (z.B. Zauberklänge – 90 Lieder für den Männerchor, 1870, dem etwas später Das Rütli folgte, 1904 bereits 35. Auflage), wie auch in Österreich (z.B. Deutsch-österreichisches Studentenliederbuch, 1888) bekannt.
Anfang des 20. Jahrhunderts fand das Lied Eingang in viele Liederbücher der Jugendbewegung, z. B. Das Wandervogel Liederbuch (1905 und 1911) oder Wandervogel Liederborn (1914) und der Studenten. Das Allgemeine Deutsche Kommersbuch erschien 1914 in der 110. Auflage. Auch in Liederbücher völkischer Gruppierungen, z.B. Deutschland erwache (1914) oder Kyffhäuser Lieder (1929), sowie anderer Organisationen, z.B. Liederbuch für die deutschen Turner (201. Auflage 1923) oder das Arbeiterliederbuch (1928), wurde das Ännchen aufgenommen, ebenso wie in viele Schulbücher wie z.B. Das deutsche Schulliederbuch (1915) oder das Liederbuch für Lyzeen (10. Auflage 1926). Die Popularität des Liebesliedes zeigte ich auch darin, dass 1927 ein Film mit dem gleichnamigen Titel in die Kinos kam und dass in dem 1929/30 mit Emil Jannings und Marlene Dietrich gedrehten Film Der blaue Engel in der Eröffnungsszene ein Kinderchor Ännchen von Tharau singt. Unter dem Titel Ännchen von Tharau erschienen außerdem 1914 eine „Posse mit Gesang“ und ein Singspiel mit Studentenliedern, dem 1926 eine Operette mit Volksliedern, 1929 ein Trauerspiel und 1933 ein „Singspiel mit den Liedern von Simon Dach“ folgten.
Auch in der Zeit des Nationalsozialismus tauchte das Liebeslied in mehreren Schulbüchern von der Hauptschule bis zu Höheren Lehranstalten auf. Mit Ausnahme des Liederbuchs der NS-Frauenschaften (1934) und der Lieder der Arbeitsmaiden (1938) war es in Liederbüchern der NS-Organisationen allerdings nicht zu finden, jedoch in Liedsammlungen, die auch einige NS-typische Lieder enthielten, z.B. Die Singstunde – Lieder der Ostmark (1933) und Kameradschaft im Lied (1944) und im Chorliederbuch der Wehrmacht (1940).
Ab 1945
Nach dem Zweiten Weltkrieg wurde Ännchen von Tharau nur in wenige Schulliederbücher aufgenommen; dagegen ist es in einer Vielzahl von sog. Heimatliederbüchern vertreten, z.B. Ermland singt und Singendes Ostpreußen (beide 1949), später Singende Heimat (1967), Brücke zur Heimat (1978) und Ostdeutsches Liederbuch – Alte Lieder aus Vertriebenengebieten (1987) und in einigen Gebrauchsliederbüchern vorhanden. Bereits 1954 in der Ära des Heimatfilms kam auch der Film Ännchen von Tharau heraus. Ilse Werner, als Kellnerin vor die Wahl gestellt, eine „gute Partie“ zu machen oder eine Liebesheirat einzugehen, entscheidet sich für ihren Ulrich (Heinz Engelmann als Schausteller). Das Liebeslied ist immer wieder zu hören, mal die Melodie als Untermalung einiger Szenen und mit Gesang zum glücklichen Ende.
Etwa ab 1974 hatten die Tenöre Fritz Wunderlich und Peter Schreier und der Bariton Hermann Prey mit dem Lied auf ihren Schallplatten große Erfolge (Heino nicht zu vergessen). 1975 kam Ännchen von Tharau in einer repräsentativen Umfrage des Instituts für musikalische Volkskunde, Neuss (heute Institut für europäische Musikethnologie, Universität Köln) bei den meistgenannten Liedern auf den 14. Rang. Danach zogen etliche Buchverlage mit dem Liebeslied in ihren Veröffentlichungen nach, so Heyne TB mit Der deutsche Liederschatz (1975) und Die schönsten deutschen Volkslieder (1977), 1978 Fischer TB mit Volkslieder aus 500 Jahren (herausgegeben vom rennomierten Volksliedforscher Ernst Klusen) und Insel TB mit Alte und neue Lieder (1979 bereits in der 4. Auflage, Neuauflage 1995). 1984 folgten weitere Liedersammlungen wie z.B. das Pfadfinder Liederbuch und im Weltbild Verlag das auflagenstarke Große Hausbuch – Deutsche Heimatlieder, dem sich einige Jahre später der Moewig Verlag mit den Taschenbüchern Die schönsten Heimatlieder und Die schönsten Liebeslieder anschloss.
Vor allem von Chören wurde und wird das Liebeslied gern gesungen, sowohl von berühmten wie dem Dresdner Kreuzchor, den Wiener Sängerknaben, den Regensburger Domspatzen und den Gotthilf Fischer Chören als auch von regionalen und lokalen Gesangvereinen. Allein das Deutsche Musikarchiv weist in seinem Katalog nahezu 200 Partituren auf, hinzu kommen rund 350 Tonträger, wiederum vor allem mit Interpretationen von Chören. Einen Anhaltspunkt für die Beliebtheit des Liedes bieten auch die mehreren Tausend Videos bei You Tube. Als Ännchen von Tharau von einem Chor der Heimatvertriebenen auf dem „Tag der Heimat“ vorgetragen wurde, sagte die anwesende Bundeskanzlerin, es sei eins ihrer Lieblingslieder (Zeit online).
Wie sehr das Ännchen zum Kanon des deutschen Volkslieds gehört, zeigt sich auch darin, dass in dem 2012 preisgekrönten deutschen Dokumentarfilm Sound of Heimat – Deutschland singt (Regie Arne Birkenstock und Jan Tengeler) das Liebeslied ertönt, gesungen vom Gewandhauschor Leipzig. Ausgewählt hatte es der neuseeländische Musiker und Absolvent der Kölner Musikhochschule Hayden Chisholm.
Friedrich Silcher/Heinrich Wagner
Muss i denn, muss i denn zum Städtele hinaus
Muss i denn, muss i denn
zum Städtele hinaus,
und du, mein Schatz, bleibst hier!
Wenn i komm’, wenn i komm’,
wenn i wieder-, wiederkomm’,
kehr’ i ein, mein Schatz, bei dir!
Kann i auch net immer bei dir sein,
hab’ i doch mei Freud’ an dir!
Wenn i komm’, wenn i komm’,
wenn i wieder-, wiederkomm’,
kehr’ i ein, mein Schatz, bei dir.
Wie du weinst, wie du weinst,
dass i wandere muss, wandere muss,
wie wenn d’Lieb jetzt wär vorbei!
Sind au drauß, sind au drauß
der Mädele viel, Mädele viel,
lieber Schatz, i bleib dir treu.
Denk du net, wenn i a andre seh,
no sei mei Lieb vorbei;
sind au drauß, sind au drauß
der Mädele viel, Mädele viel,
lieber Schatz, i bleib dir treu.
Übers Jahr, übers Jahr,
wenn mer Träubele schneid’t, Träubele schneid’t,
stell i hier mi wiedrum ein;
bin i dann, bin i dann
dein Schätzele noch, Schätzele noch,
so soll die Hochzeit sein.
Übers Jahr, do ist mein Zeit vorbei,
do g’hör i mein und dein;
bin i dann, bin i dann
dein Schätzele noch, Schätzele noch,
so soll die Hochzeit sein.
[Deutsche Volkslieder. Texte und Melodien. Stuttgart: Reclam, 2011, S. 123-125;
Groß-/ Kleinschreibung der Versanfänge harmonisiert.]
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Im populären deutschen Liedgut wurden und werden Abschiedssituationen häufig besungen, allein das Volksliederarchiv verzeichnet derzeit 84 einschlägige Titel. Nicht erfasst sind darin Schlager, Popsongs und neuere Lieder aus populären Fernsehserien. Bei starker Konkurrenz (Ade zur guten Nacht, Auf Wiederseh’n, Sag beim Abschied leise Servus, Gute Nacht, Freunde, Wer hat an der Uhr gedreht? etc.) besetzt ausgerechnet ein Lied in schwäbischem Dialekt unangefochten den Spitzenplatz der Hitliste. Gründe für diese Erfolgsgeschichte lassen sich viele ausmachen: Melodie, Innigkeit der entworfenen Abschiedssituation, Verlauf des Kanonisierungsprozesses, Eignung des Titels für Abschiedsrituale aller Art, speziell auch militärische, internationale Popularisierung durch Übersetzungen und berühmte Interpreten wie Marlene Dietrich oder Elvis Presley (1960 im Film G.I. Blues bzw. Café Europa, zunächst unter dem Titel Wooden Heart). Während der „King“ 1961 mit Wooden Heart sechs Wochen lang die britischen Charts anführte, erreichte in den USA Joe Dowell mit seiner Version die Spitzenposition der Billboard Hot 100.
Erstmals fassbar ist das Lied in einer auf das Jahr 1827 zu datierenden Publikation des bekannten Komponisten, Pädagogen und Musikdirektors der Tübinger Universität Friedrich Silcher (1789-1860), der anonyme ältere Überlieferungen von Text und Melodie aufgriff und um zwei Strophen von Heinrich Wagner ergänzte. Im 19. und 20. Jahrhundert wurde der auch als Wanderlied aufgefasste Titel in vielen Anthologien wie dem Österreichischen Studentenliederbuch (1888), im Gesellenfreund (1913), Kriegsliederbuch für das Deutsche Heer 1914, im Sport-Liederbuch (1921), in Lieb Vaterland (1935) oder Deutsche Volkslieder. Texte und Melodien (2001) abgedruckt. Vgl. ausführlich zur Überlieferungsgeschichte das Historisch-kritische Liederlexikon.
Die im Lied thematisierte Abschiedsszene zwischen zwei jungen Liebenden geht in ihrer Ambivalenz zwischen naiver Redlichkeit und realistischer Wahrnehmung des Risikos auch dem abgebrühten Zeitgenossen unter die Haut. Es spricht der junge Mann, der sich gezwungen sieht, sein „Städtele“ zu verlassen, zu seinem „Schätzele“. In der ersten Strophe macht er klar, dass ihn mitnichten eigenes Streben, womöglich gar Übermut oder Neugier in die Welt hinaus und von der Liebsten hinweg treiben, sondern schlichte Notwendigkeit. Zugleich versichert er, zu ihr zurückzukommen; das „wenn“ ist hier eindeutig temporal gemeint, nicht konditional. In der Zwischenzeit wird ihn, so gibt er ihr zu wissen, das Bewusstsein wärmen, zu Hause einen Schatz zu haben: „Kann i auch net immer bei dir sein, / hab’ i doch mei Freud’ an dir!“ Diesem Sprecher glaubt man jedes Wort – welch ein Unterschied zur Trennungsrhetorik in Tim Bendzkos „Nur noch kurz die Welt retten!“ (Vgl. meine entsprechende Interpretation in diesem Blog.)
Die beiden Zusatzstrophen des Stuttgarter Gelegenheitsdichters Heinrich Wagner zum traditionellen Textbestand steigern humane Tiefe und Innigkeit dieses Abschiedsliedes beträchtlich. Mit der zweiten Versgruppe wendet sich der Scheidende der Liebsten zu; er sieht sie weinen und interpretiert dies als Sorge um seine Treue. Ja, er wird „draußen“ in der Welt viele andere Mädchen treffen, aber es bestehe kein Anlass zur Sorge – er wird seinem Schatz treu bleiben. Die dritte Strophe konkretisiert die in Aussicht gestellte Heimkehr auf die Zeit des kommenden Herbstes (im Sinne der traditionellen Formel „über Jahr und Tag“) und formuliert ein Heiratsversprechen. Besonders bemerkenswert erscheint mir hier aber die hinzugesetzte Klausel: „Bin i dann, bin i dann / dein Schätzele noch, Schätzele noch, / so soll die Hochzeit sein.“ Das lyrische Ich rechnet offensichtlich mit der situativ auch nicht unrealistischen Möglichkeit, dass seine lange Abwesenheit ihr Liebesverhältnis auflösen könnte. Nach seinem gerade geleisteten Treueversprechen sieht er die Gefahr dafür aber nur auf Seiten des Mädchens, seiner eigenen Gefühle ist er sich sicher. Wahrhaft anrührend wird diese Klausel durch den Umstand, dass er keinerlei Druck auf die Geliebte ausübt, das eigene Treueversprechen zu erwidern. Er bietet ihr Sicherheit, ohne für sich selbst dergleichen zu fordern. Dies ist eine wunderbar selbstlose, hier aber völlig schlicht und beiläufig erbrachte Geste, die in einer reifen Liebe gründet, die man einem solch jungen, unerfahrenen Burschen kaum zutrauen möchte.
Die zeitliche Einordnung des Vorgangs ist alles andere als zufällig. Das Trennungsgeschehen muss im Herbst stattfinden, denn zur nächsten Traubenernte will man sich wieder treffen: „Übers Jahr, do ist mein Zeit vorbei, / do g’hör i mein und dein;“ vor den beiden Liebenden liegen zunächst harte Wintermonate, die selbstverständlich auch metaphorisch zu deuten sind. Übersteht man diese, darf man auf einen neuen Frühling hoffen; bewährt sich das Paar, wird die geübte Treue Frucht tragen: „Übers Jahr, übers Jahr, / wenn mer Träubele schneid’t, Träubele schneid’t, / stell i hier mi wiedrum ein.“ Eine weitere Anmerkung verdient noch der kleine Hinweis auf das ,Wandern“ im ersten Vers der zweiten Strophe. Hier erfahren wir etwas über die Ursache der anstehenden Trennung. Der Sprecher muss sich auf die in vorindustriellen Zeiten obligatorische Wanderung eines zünftigen Handwerksgesellen begeben, um sich in der Fremde für die Meisterschaft zu qualifizieren. Damit ist implizit mitgedacht, dass er auch wandern muss, um die gesellschaftliche und finanzielle Basis zur Gründung eines Hausstandes zu schaffen – d.h. seine Trennung von der Liebsten dient funktional der Vorbereitung des erwünschten Happyends. Die Übernahme der Marschpolka ins Repertoire deutscher Wandervögel stellt angesichts dieses Kontexts eine melodisch nachvollziehbare, vom Text her aber recht willkürliche Interpretation dar.
Ebenso wenig dürften die Schöpfer dieses Liedes das deutsche Militärwesen im Sinn gehabt haben, dessen Kapellen seit der zweiten Hälfte des 19. Jahrhunderts diese Melodie regelmäßig intonieren, wann immer irgendwo Soldaten in Marsch gesetzt werden. Tobias Widmaier weist im Historisch-kritischen Liederlexikon noch auf besonders zynische Verwendungsweisen dieses gefühlvollen Volksliedes in den Jahren der Naziherrschaft hin, als man es Opfern auf dem Weg in die KZs und Vernichtungslager hinterhersang: „Wenn i komm, wenn i komm, wenn i nie wieder komm“ (dazu ausführlich auch Martin Ruch: Das Novemberpogrom 1938 und der „Synagogenprozeß“ 1948 in Offenburg. Verfolgte berichten, Täter stehen vor Gericht. Willstätt 2008, S. 26).