Plädoyer für den Frieden. Zu Tocotronics „Nie wieder Krieg“ (2022)

Tocotronic

Nie wieder Krieg

Nie wieder Krieg, nie wieder Krieg, nie wieder Krieg
Keine Verletzung mehr
Nie wieder Krieg, nie wieder Krieg, nie wieder Krieg
Das ist doch nicht so schwer

Er sieht an sich herab
Wirkt ziemlich abgeschabt
Ein Coupon von Sanifair
Gleitet in die Hand, als er
Durch das Drehkreuz geht
Sich gegenüber steht
Und in den Spiegel schreit:

Nie wieder Krieg, nie wieder Krieg, nie wieder Krieg [...]

Sie sieht vom Balkon herab
An diesem Neujahrstag
An dem das Alte stirbt
Noch nichts geboren wird
Gebete zynisch bleiben
Zieht es durch Kitt und Scheiben
Auf die sie haucht und schreibt:

Nie wieder Krieg, nie wieder Krieg, nie wieder Krieg [...]

Dann hat ein Feuerwerk
Sich in die Luft verirrt
Das in den Himmel schreibt
You might also like

Der Mond sieht auf dich herab
Du liest im Horoskop
Sie können erleichtert sein
Man wird ihnen bald verzeih'n
Als ein kleines Kind
Über die Hecke springt
Und an die Wände schreibt:

Nie wieder Krieg, nie wieder Krieg, nie wieder Krieg [...]

Nie wieder Krieg, nie wieder Krieg, nie wieder Krieg
Keine Verhetzung mehr
Nie wieder Krieg, nie wieder Krieg, nie wieder Krieg
Nie wieder Krieg in dir, in uns, in mir

     [Tocotronic: Nie wieder Krieg. Vertigo 2022.]

Vor kurzem hat sich der Beginn des russischen Angriffskriegs auf die Ukraine zum ersten Mal gejährt. Am 24. Februar 2022 griffen Putins Truppen das Nachbarland an. Wie viele Soldaten auf beiden Seiten jeweils gestorben sind, darüber gehen die Angaben weit auseinander und hängen vom jeweiligen Standpunkt ab: Die ukrainische Seite nennt mehr als 135.000 tote russische Soldaten (bis

Anfang Februar 2023), die russische Seite hingegen knapp 6.000 (bis September 2022). Nach russischen Angaben sind etwa 61.000 ukrainische Soldaten gestorben, nach ukrainischen Angaben 13.000 (bis Dezember 2022). Die Zahlen lassen sich aufgrund der aktuellen Situation von unabhängiger Stelle derzeit nicht überprüften, doch wird eines ganz klar: Der Krieg fordert auf beiden Seiten unzählige Opfer und kennt keine Gewinner.

Prophetische Warnung

Tocotronics 13. Studioalbum Nie wieder Krieg, auf dem sich das gleichnamige Lied befindet, wurde nur einen knappen Monat vor Beginn des russischen Überfalls auf die Ukraine Ende Januar 2022 veröffentlicht und wirkt vor diesem Hintergrund wie eine prophetische Warnung. Doch geht es der Band weniger um die großen, weltpolitischen Auseinandersetzungen, sondern vielmehr um die Konflikte, die jeder Mensch mit sich auszustehen hat. „Es ist das persönlichste Album, das wir gemacht haben“, so Dirk von Lowtzow. Er habe sich gefragt, „Was will ich eigentlich mitteilen? Was sind das für Stimmungen, Heimsuchung und Dämonen, denen man ausgesetzt ist“?

Nie wieder Krieg scheint somit an die autobiographische Thematik des Vorgängeralbums Die Unendlichkeit anzudocken (vgl. die Besprechung von Electric Guitar auf diesem Blog). Nie wieder Krieg beinhalte „Lieder über allgemeine Verwundbarkeit, seelische Zerrissenheit und existenzielles Ausgeliefertsein“, so die Band in einem Statement zum Album.

Krieg im Inneren

Der Krieg im Inneren kann sich sowohl auf schlechte Angewohnheiten beziehen – Dirk von Lowtzow bezeichnete sich als „sehr alkoholgefährdet“ in der Vergangenheit –, das eigene Älterwerden – als „juvenile Band“ werden Tocotonic mitunter bezeichnet, oft versehen mit dem Hinweis, die ehemaligen Studenten hätten mittlerweile graue Haare (welch eine Erkenntnis!) – unbedarfte Kindheitsträume, die im Kontrast zur Realität der Erwachsenen-Welt stehen oder die Unzulänglichkeit der eigenen Existenz. Auch ein Bezug zur Bedrohung durch die Pandemie drängt sich auf, allerdings wurden die meisten Lieder des Albums Nie wieder Krieg bereits vor dem Jahr 2020 geschrieben. Auf Einsamkeit, die nicht nur, aber auch durch die Lockdowns während der Pandemie bedingt wurde, lässt sich das Lied Hoffnung, ebenfalls veröffentlicht auf dem Album Nie wieder Krieg, beziehen (vgl. die Interpretation auf diesem Blog).

Eine weitere Deutungsmöglichkeit – nicht jedoch autobiographisch auf Tocotronic zu beziehen – bietet sich, betrachtet man das Geschlecht der im Liedtext besungenen Person/en. Zunächst ist von einer männlichen Person die Rede („er“), später von einer weiblichen („sie“). Es erscheint plausibel, dass damit zwei verschiedene Personen gemeint sind. Denkbar ist jedoch auch, dass damit eine einzige nicht-binäre Person beschrieben wird, d.h. ein Mensch, dessen Geschlechtsidentität weder immer weiblich noch ganz männlich ist. Dagegen spricht, dass nicht-binäre Menschen es häufig vorziehen, ohne ein Pronomen angesprochen zu werden (und man davon ausgehen kann, dass Tocotronic dies berücksichtigt hätten). Allerdings existiert im Deutschen (noch) kein etabliertes Pronomen der dritten Person für Menschen, die sich weder dem einen noch dem anderen Geschlecht eindeutig und immer zugehörig fühlen (vgl. für eine Übersicht bspw. die Webseite nonbinary.ch). Die Interpretation, wonach hier eine einzige, nicht-binäre Person gemeint sein könnte, unterstreicht wiederum das Video. Zu sehen ist eine durch die Nacht wandelnde Person (oder sind es zwei?), deren Äußeres den Schluss nahelegt, sie könne eine genderqueere Identität haben. Hat diese mit einem Krieg in ihrem Inneren zu kämpfen? Ist sie auf der Suche nach sich selbst? Die Person „sieht an sich herab“ und steht sich schließlich „gegenüber“, während sie „in den Spiegel schreit: Nie wieder Krieg. […] Keine Verletzung mehr“. Möchte sie mit ihrem Empfinden ins Reine kommen, sich selbst akzeptieren?

Ein Album wie ein Roman

Tocotronic selbst sind der Auffassung, dass ihr neues Album Nie wieder Krieg auch als Roman oder als Film verstanden werden könne. Dies verwundert nicht, werden die Lieder der Band doch seit Jahren gerne im Rahmen des geisteswissenschaftlichen Diskurses besprochen. Das Album ließe sich als „Desillusionsroman“ verstehen, so Dirk von Lowtzow im Interview. „Weil alle Protagonist*innen auf dem Album mit ihrem eigenen Leben nicht so richtig fertig werden und vielleicht in existenziellen Notlagen oder mindestens einer existenziellen Verwundbarkeit stecken. Viele der Protagonist*innen in den Songs haben Träume gehabt, und diese Träume sind nach und nach zerronnen.“ Nie wieder Krieg sei daher weniger zu verstehen als „pazifistische Botschaft [denn] als eine Art Mantra, mit dem die Protagonistinnen und Protagonisten um Barmherzigkeit flehen“, so von Lowtzow im Gespräch. Nicht umsonst heißt es am Liedende: „Nie wieder Krieg in dir, in uns, in mir“.

Die geplatzten Träume und die Verwundbarkeit werden im Lied deutlich anhand von Gebeten, die nicht etwa Erlösung versprechen, sondern„zynisch bleiben“. Und auch der Ort, an dem sie gesprochen werden, bietet keine Geborgenheit, stattdessen „zieht es durch Kitt und Scheiben“. Überhaupt wohnt den im Lied erwähnten Orten und Zeiten ein Moment des Übergangs inne, der keinen Halt gewährt: Die besungene Person schreitet „durch das Drehkreuz“. Es ist „Neujahrstag“, an dem zwar „das Alte stirbt“, gleichzeitig aber „noch nichts geboren wird“, das Hoffnung und eine Perspektive spenden könnte. Ein Feuerwerk, sonst Symbol freudigen Neubeginns, wird nicht etwa bewusst abgeschossen, sondern hat „sich in die Luft verirrt“.

Gleichzeitig kommt die Ironie nicht zu kurz: Die besungene Person erhält Gesellschaft nur durch den „Mond“, während Erleichterung und Verzeihung lediglich das „Horoskop“ verspricht. Sie hat einen Coupon von Sanifair in der Hand, der Firma, die man von den Toilettenanlagen deutscher Autobahnraststätten kennt. Autobahnraststätten – sie stellen ebenfalls einen Ort des Übergangs und der Reise dar.

Zurück zum Parolen-Pop?

In den 1990er Jahren waren Tocotronic bekannt dafür, mit den Titeln ihrer Lieder gleichsam Parolen oder Slogans zu liefern, die sich auch als T-Shirt-Aufdruck gut machten (vgl. die Besprechung von Über Sex kann man nur auf Englisch singen oder Ich möchte Teil einer Jugendbewegung sein auf diesem Blog). Hieran scheint Nie wieder Krieg anzuknüpfen. Auf dem Album finden sich noch weitere politisch-klare Ansagen, die in den Namen von Liedern wie Jugend ohne Gott gegen Faschismus oder Komm mit in meine freie Welt zum Ausdruck kommen.

Forderung aus dem Jahr 1924

Nie wieder Krieg – diese Forderung prangte bereits auf einem Plakat aus dem Jahr 1924, das Käthe Kollwitz (1867-1945) entworfen hat. Die sozial und politisch engagierte Künstlerin hatte das Plakat für den Mitteldeutschen Jugendtag der Sozialistischen Arbeiterbewegung angefertigt. Hintergrund war das Gedenken an den 10. Jahrestag des Beginns des Ersten Weltkriegs, zu dem 1924 überall in Deutschland Massendemonstrationen stattfanden. Als historisches Vorbild mag der berühmte Plakataufdruck Tocotronic kaum gedient haben – schließlich ist von Seiten der Band, wie bereits erläutert, der Krieg im Inneren gemeint –, dennoch erweist sich ein Vergleich der historischen Situationen als interessant:

In der Weimarer Republik war die pazifistische Forderung Nie wieder Krieg keine Mehrheitsmeinung. Nur eine Minderheit der Deutschen engagierte sich aktiv dafür, auch die wenigsten ehemaligen Frontsoldaten. Vielmehr verzeichneten kriegsverherrlichende, paramilitärische Wehrverbände wie der „Stahlhelm: Bund der Frontsoldaten“ oder der „Deutsche Reichskriegerbund Kyffhäuser“ regen Zulauf. Dies ist heute nicht mehr der Fall, die Gesamtsituation auch kaum auf die deutsche Gegenwart übertragbar; schließlich leidet man nicht an der Schmach eines verlorenen Krieges, sondern überlegt, wie man einen Staat, der völkerrechtswidrig überfallen wurde, unterstützen kann. Es gibt somit ausreichend gute Gründe für Waffenlieferungen an die Ukraine – zu konstatieren ist, dass eine Mehrheit der Deutschen diese Unterstützung für angemessen oder sogar für noch nicht ausreichend hält. Dies belegen aktuelle Umfragen.

1924 Plakat vs. 2022 Musikvideo

Auch ein Vergleich des Plakates von 1924 und des Musikvideos von 2022 erscheint reizvoll:

Auf Käthe Kollwitz’ Plakat ist Dynamik erkennbar: Zu sehen ist eine Person (welchen Geschlechts sie ist, bleibt übrigens unklar), die entschlossen den Arm empor streckt. Die Finger sind zum Schwur geformt, die andere Hand liegt auf dem Herz, die Haare wehen nach hinten, der Gesichtsausdruck ist angespannt, der Mund geöffnet zum Eid: Nie wieder Krieg. Entschlossenheit und Leidenschaft werden deutlich.

Im Video zu Tocotronics Lied Nie wieder Krieg hingegen sieht man die oben bereits erwähnte Person scheinbar verloren durch die verschiedene Transiträume einer nächtlichen Großstadt irren. Sowohl die U-Bahn-Station als auch die mehrspurigen Straßen wirken ausgestorben, was die Einsamkeit der/des nächtlich Wandelnden unterstreicht. Diese/r knackt Nüsse mit der bloßen Hand, verletzt sich selbst, Blut fließt. Im Liedtext heißt es über die besungene Figur, sie „wirkt ziemlich abgeschabt“. Die Ästhetik des Videos unterstreicht den durch den Liedtext gewonnenen Eindruck, hier sei ein Mensch gänzlich unbehaust. Von der Entschiedenheit und Dynamik der Figur auf Käthe Kollwitz’ Plakat ist in Tocotronics Video wenig zu spüren. Schließlich ist der Gegner kein Fremder, sondern wohnt im eigenen Inneren.

Nie wieder Krieg – in seiner Klarheit und Kürze hat der Slogan an Aktualität nicht verloren und könnte auch heute noch, knapp hundert Jahre nach der Entstehung von Käthe Kollwitz’ Plakat, auf Transparenten bei Antikriegsdemonstrationen stehen. Auch wenn sich Tocotronics Nie wieder Krieg nicht auf den Krieg in der Ukraine bezieht, das Lied hören und von Frieden in Europa träumen, darf man freilich allemal.

Isabel Stanoschek, Bamberg

„All das mag ich – uns ganz doll mich.“ Warum Philipp Burger zwar Sänger, Zimmermann, Landwirt und Fischer, aber nicht Meredith Brooks ist.

Philipp Burger 

Sänger, Zimmermann, Landwirt, Fischer 

Ich brauche die Sonne 
Den Himmel über mir 
Ich liebe Wind und Wetter 
Ich liebe die Natur 
Wollte schon immer 
Die große Freiheit 
Ob Dach, ob Fluss, ob Land 
Ob Job, ob Freizeit 

Es war bis heute 
Immer die beste Zeit 
Ein Lagerfeuer, ein Abenteuer 
Zusammen fischen gehen, ein Feierabendbier 
Gemeinsam Lieder singen, mein Herz es schlägt dafür 

Ich bin Sänger, ich bin Zimmermann 
Ich bin Landwirt, ich bin Fischer und dann 
Bin ich noch Gitarrist, und ein Songwriter 
Mit großen Schritten Richtung Freiheit 
So lebe ich gerne weiter 

Ich liebe die Ferne 
Ich lieb’s zu Hause zu sein 
Ich zimmere heute noch gerne 
Und steige in Schluchten ein 
Suche nach ’nem Sonnenaufgang 
Dem größten Fisch im Fluss 
Ich mähe gerne Wiesen nieder 
Und schreibe und singe Lieder

Es war bis heute […]

Ich bin Sänger, ich bin Zimmermann 
Ich bin Landwirt, ich bin Fischer und dann 
Bin ich noch Bergsteiger und ein Travelman 
Bin ein Naturmensch und bleibe es ein Leben lang 

Ich bin Sänger, ich bin Zimmermann […]

     [Philipp Burger: „Sänger, Zimmermann, Landwirt, Fischer“. Auf: Ders.: Kontrollierte Anarchie. Rookies & Kings 2021.]

Frei.Wild-Sänger Philipp Burger ist ein vielbeschäftigter Mann. Neben dem ohnehin schon beträchtlichen Output seiner Band schreibt er für diverse Musiker:innen (vgl. die Übersicht hier), darunter neben Deutschrockbands wie Hämatom, Serum 114 und Goitzsche Front auch für solche, die auf den ersten Blick recht weit von Frei.Wild entfernt zu sein scheinen: 

Außerdem hat Burger 2021 sein erstes Soloalbum veröffentlicht, aus dem Sänger, Zimmermann, Landwirt, Fischer stammt. Darin zählt der Sprecher, der der realen Person Philipp Burger recht nahe zu kommen scheint, auf, was er so alles tut. Für sich genommen wirkt diese Aufzählung zunächst reichlich banal und erinnert an Volker Lechtenbrinks Ich mag, das mit modifiziertem Text seinerzeit für eine Caro Landkaffee-Werbung verwendet und von Rolf Zuckowski zum Selbstliebekinderklassiker Und ganz doll mich umgedichtet wurde. Verstärkt wird die Assoziation zu Volker Lechtenbrinks Lied noch dadurch, dass das Video zu Burgers Song eine ungebrochene Werbeclipästhetik nutzt.

Sänger, Zimmermann, Landwirt, Fischer ruft jedoch über seine Aufzählungsstruktur im Refrain („Ich bin…“) noch eine weitere intertextuelle Folie auf: Meredith Brooks’ Hit Bitch aus dem Jahr 1991

Meredith Brooks

Bitch

I hate the world today
You’re so good to me, I know, but I can’t change
Tried to tell you but you look at me like maybe
I'm an angel underneath
Innocent and sweet

Yesterday I cried
You must have been relieved to see the softer side
I can understand how you’d be so confused
I don’t envy you
I’m a little bit of everything all rolled into one

I’m a bitch, I’m a lover
I’m a child, I’m a mother
I’m a sinner, I’m a saint
I do not feel ashamed
I’m your hell, I’m your dream
I’m nothing in between
You know you wouldn’t want it any other way

So take me as I am
This may mean you’ll have to be a stronger man
Rest assured that when I start to make you nervous 
And I'm going to extremes
Tomorrow I will change and today won't mean a thing

I’m a bitch, I’m a lover […]

Just when you think you got me figured out
The season’s already changing
I think it’s cool, you do what you do
And don’t try to save me

I’m a bitch, I’m a lover […]

I’m a bitch, I’m a tease
I’m a goddess on my knees
When you hurt, when you suffer
I’m your angel undercover
I’ve been numb, I’m revived
Can’t say I’m not alive
You know I wouldn’t want it any other way

     [Meredith Brooks: Blurring The Edges. Capitol Records 1997.]

Auch Brooks Ich zählt eine Vielzahl von Rollen auf, die es einnimmt. Doch während sich die Rollen bei Burger (abgesehen von vorstellbaren Zeitmanagementproblemen) konfliktfrei miteinander verbinden lassen, beansprucht das Ich in Bitch konträre Rollen und insistiert zudem darauf, „nothing in between“ zu sein. So stellt das Lied ein Bekenntnis zur Vielschichtigkeit, zur Vielgestaltigkeit und Widersprüchlichkeit einer Persönlichkeit dar und reflektiert, dass dies sowohl für die Person selbst als auch für deren Partner durchaus herausfordernd werden kann – dennoch wünschen sich beide nicht, dass die vielen widersprüchlichen Persönlichkeitsaspekte harmonisch in eine stabile Ich-Einheit integriert werden.

Der in Brooks’ Lied affirmierten postmodernen Freiheit, alles sein zu können, stellt Burger die libertäre Freiheit entgegen, alles tun zu können („im Rahmen der freiheitlich demokratischen Grundordnung, versteht sich“, um Franz Josef Degenhardt zu zitieren – schließlich trägt Burgers Soloalbum den Titel Kontrollierte Anarchie). Die verschiedenen Tätigkeiten des musikalischen und reisefreudigen Naturburschen stehen auch nicht im Widerspruch zu traditionellen Rollenbildern, denn die Verbindung von Handwerk, Reisen, Gemeinschaft, Trinken und Gesang ist beileibe kein neuer Topos in der Geschichte des deutschen Lieds, man denke an die zahlreichen Wandergesellen- und Fahrtenlieder. Keine der aufgezählten Tätigkeiten irritiert. Vielmehr ergeben sie zusammen das sehr konsistente Bild eines Mannes, der traditionellen Männerbeschäftigungen nachgeht.

Eine wichtige Funktion für die Stärkung des Identitätsgefühls kommt dabei der gleichgeschlechtlichen peer group zu: „Zusammen fischen gehen, ein Feierabendbier / Gemeinsam Lieder singen, mein Herz es schlägt dafür.“ Auffallend ist, gerade im Vergleich zu Brooks‘ Lied, was in der umfangreichen Aufzählung fehlt: Es wird kein Bezug zu einer Partnerin hergestellt, das Ich erfährt sich nicht in einer Liebesbeziehung, sondern im verschworenen Männerbund, nicht in der Auseinandersetzung mit dem Anderen, in der es sich auch selbst verändert, sondern in der Übereinstimmung mit Gleichen, die ihm Stabilität vermittelt.

Martin Rehfeldt, Bamberg

The Times Are A-Changing. Zu Hubert von Goiserns „Heast as nit“ (1992)

Erlauben Sie mir einen persönlichen Einstieg zu dieser Analyse. Es ist meine erste in vielen Jahren. Wo Dylans Song The Times They are A-Changing (1964) von den Zeiten, die sich ändern, von einer Kulturenwende träumt, kann man sagen, von einem Anders-Sein und Anders-Tun, von einer Art messianischer Volksparade, die von Blumenkindern inspiriert ins Prä-Woke-Zeitalter taumelt, da spricht Hubert von Goiserns Heast as nit von einer Zeitenwende existentieller, universaler Dimension. Wo sich die Zeiten ändern, altmodisch formuliert ‘a-changing‘ sind, da ist was los. Wo man aufgefordert wird, das Vergehen der Zeit zu hören, sitzt die schmerzliche Nostalgie, vielleicht die Unaufhörlichkeit des Vergangen-Werdens: die Unwiederbringlichkeit des Dahin-Seins.

Bob Dylan

The times they are a-changin'

Come gather 'round people
Wherever you roam
And admit that the waters
Around you have grown
And accept it that soon
You'll be drenched to the bone
If your time to you is worth savin'
And you better start swimmin'
Or you'll sink like a stone
For the times they are a-changin'

[...]

[Kommt, versammelt euch Leute, /wo auch immer ihr herumstreunt, / und gesteht’s euch doch ein, dass die Wasser / angestiegen sind um euch her, /und nehmt es einfach an, / dass ihr bald nass bis auf die Knochen sein werdet, / wenn eure Zeit für euch des Aufsparens wert ist/ Und lernt mal besser schwimmen, / oder ihr werdet sinken wie ein Stein, Denn: Die Zeiten ändern sich] [frei übersetzt durch den Verf.]

     [Bob Dylan: The Times They Are A-Changin'. Columbia 1964.]

In Dylans Strophe gibt es amerikanische Aktivität und Aufbruchstimmung: Schwimmenlernen, Zusammenkommen, auch gibt es eine persönliche Wahlfreiheit – lernt schwimmen oder sinkt.

Hubert von Goisern & Die Alpinkatzen

Heast as nit

Heast as nit
Wia die Zeit vergeht
Huidiei jodleiri Huidiridi

Gestern no'
Ham d'Leut ganz anders g'redt
Huidiei jodleiridldüeiouri

Die Jungen san alt wordn
Und die Altn san g'storbn
Duliei, Jodleiridldudieiouri

     [Hubert von Goisern & Die Alpinkatzen: Heast as nit. Ariola 1992.]

Von Goisern hingegen verliert wenige Worte. Ganz unaufgeregt schildert die Sprechinstanz die Sachlage: Gestern noch haben die Leute anders geredet. Das Gestern wird zur Generationenfrage. Und die Generationenfrage zum Kreislauf des Lebens in unanfechtbarer Kettung: „Die Jungen san alt wordn / Und die Altn san g’storbn“. Das Adjektiv wird zum Substantiv und beschreibt nicht mehr nur eine Altersstufe, sondern eine Gruppenexistenz. Schwimmen braucht keiner zu versuchen, höchstens vielleicht Jodeln in die transzendentalen Berglandschaften des ewigen Lebens hinein.

Natürlich kann man literaturwissenschaftlich keck argumentieren, das Lied stelle eine Frage, die es selbst beantworte: Hörst du nicht, wie die Zeit vergeht? Doch, klar. Du hörst, was man paradoxerweise gar nicht wirklich hören kann. Hier ist ein Lied darüber. Aber diese Pointe griffe zu kurz. Wenn man sinnlich erfahrbar das Vergehen der Existenz hervorruft, dann wird da ein Gefühl ganz deutlich auf den Punkt gebracht: Das Gefühl, das im Moment vielleicht viele teilen – nach mehr als zwei Jahren Corona. Plötzlich ist da Zeit vergangen, und man hat es erst gar nicht gemerkt, gar nicht gehört, aber nun spürt man die historische Distanz, das Zerfallen ins Früher, damals, vor der Mauer, als die Butter noch günstig war, als es Frieden gab in Europa, und heute, hinter der Mauer, wo alles schlechter ist, so fühlt man, wo die Bahnen nicht fahren, noch weniger als sonst, die Flüge nicht fliegen, die Oma vom Ende der Straße hinter dem Mundschutz sitzt und gar nicht weiß, ob sie soll, ob sie darf, mit Leuten sprechen, sozial sein, im Sozialen noch leben kann. Selbst jahrelanges geisteswissenschaftliches Studium ermöglicht es in diesem Radikalzerfall ins Gestern und Heute nur noch schwer, das Nicht-Binäre zu finden. War denn früher wirklich alles besser?, fragt der weise Philologe. Nein, freilich, es fuhren früher auch schon kaum Züge. Ist denn heute wirklich alles schlecht?, fragt die Optimistin. Nein, so gesehen, könnte es uns schlechter gehen.

Aber darum geht es nicht im Lied und im Gefühl, im Nachhören, wie die Zeit vergeht. Es geht nicht um ein besseres Früher und ein schlechteres Heute, es geht um das plötzliche Spüren, dass etwas zu Ende geht, vergeht, zu Ende gegangen ist, rheinländisch gesprochen am zu-Ende-gehen ist. Der Trost steckt im: Es war schon immer so, in der Kettung ‚Junge sind alt geworden, Alte sind gestorben.‘ Und wie geht es dann weiter? Es fängt wieder mit den Jungen an? Goisern spendet Seelsorge mit dem Immer-so-des-Lebens.

Roger Willemsen (inzwischen auch schon tot, früher nicht) hat in seinem Buch Der Knacks (2009) das Gefühl ‚Hörst du nicht, wie die Zeit vergehet‘ theoretisch gefasst. Bei ihm ist es das diffuse Erfahren des Futurums II, einmal wird etwas abgeschlossen sein. Noch bevor man es weiß, überhaupt merkt, noch bevor man die Zeit vergehen hört, ist man sich schon bewusst, dass es eine Zeit geben wird, gegeben haben wird, in der sie vergangen sein wird. Der Knacks, in Willemsens Metapher, ist das Gefühl, das Spüren des allmählichen Ablösens der Illusion (Überzeitlichkeit, Unsterblichkeit?) von der Wirklichkeit (Altern, Verlust – oder auch Gewinn?). Es ist das Bewusstsein des Verlierens, das er beschreibt. Und vielleicht war es in unserer post-post-modernen Welt, die sich für Dekaden in Sicherheit fühlte, noch nie so bewusst, dass etwas verloren gegangen – im verloren gehen ist.

Die Butter, sagt man, ist ja noch nicht ganz so teuer, der Krieg, denkt man, ist ja noch nicht ganz so da. Aber es wird vielleicht eine Zeit geben, in der das Futurum II zugeschlagen haben wird, bereits Vergangenheit ist. Und dann hören wir vielleicht Goisern, und denken, nun habe ich es doch wieder überhört, gestern waren die Zeiten andere. Heute, meint man, ist gestern noch fast Wirklichkeit, noch keine Metapher. Morgen, ahnt man, ist allerdings auch das schon passé.

Was bleibt, scheinbar unverändert? Na, hören Sie’s nicht?

Florian Seubert, London

Mehr Oberindianer war nie – Udo Lindenbergs „Sonderzug nach Pankow“ (1983)

Udo Lindenberg

Sonderzug nach Pankow

Entschuldigen Sie, ist das der Sonderzug nach Pankow?
Ich muß mal eben dahin, mal eben nach Ost-Berlin.
Ich muß da was klären, mit eurem Oberindianer,
Ich bin ein Jodeltalent, und ich will da spielen mit 'ner Band.
Ich hab'n Fläschchen Cognac mit und das schmeckt sehr lecker,
Das schlürf' ich dann ganz locker mit dem Erich Honecker
Und ich sag: Ey, Honey, ich sing' für wenig Money
Im Republik-Palast, wenn ihr mich lasst …

All die ganzen Schlageraffen dürfen da singen,
Dürfen ihren ganzen Schrott zum Vortrage bringen,
Nur der kleine Udo, nur der kleine Udo,
Der darf das nicht - und das versteh'n wir nicht.

Ich weiß genau, ich habe furchtbar viele Freunde
In der DDR und stündlich werden es mehr.
Och, Erich ey, bist du denn wirklich so ein sturer Schrat,
Warum lässt du mich nicht singen im Arbeiter- und Bauernstaat?

Ist das der Sonderzug nach Pankow?

Ich hab'n Fläschchen Cognac mit […]

Honey, ich glaub', du bist doch eigentlich auch ganz locker,
Ich weiß, tief in dir drin, bist du eigentlich auch'n Rocker.
Du ziehst dir doch heimlich auch gerne mal die Lederjacke an
Und schließt dich ein auf'm Klo und hörst West-Radio.

Hallo Erich, kannst' mich hören?
Hallolöchen – Hallo!
Hallo Honey, kannst' mich hören?
Hallo Halli, Halli Hallo,
Joddelido …

     [Udo Lindenberg: Sonderzug nach Pankow. Polydor 1983.]

Ein Bekannter beendet fast alle seiner schriftlichen Äußerungen mit dem Rat, die Dinge, die man tun will, am besten gleich zu erledigen – schon morgen könnten sie verboten sein oder besteuert werden. Da mir diese Mahnung absolut einleuchtet, werde ich noch heute Udo Lindenbergs Sonderzug nach Pankow besprechen, weil da gleich in der vierten Verszeile ein gefährliches Wort vorkommt, durch den Vorsatz „Ober-“ sogar noch gesteigert! Da wir uns im Vorfeld einer neuen Regierungsbildung bewegen, ist die Einschätzung der Zukunft noch unsicherer als zu normalen Zeiten und das Risiko nicht zu vernachlässigen, schon zu St. Martin nicht mehr „Indianer“ sagen zu dürfen.

Theoretisch hätte ich mir natürlich auch einen anderen Lindenberg-Song mit geringerem Fettnäpfchen-Potential aussuchen können, beispielsweise den Rudi Ratlos oder die Andrea Doria, welche mir sogar immer noch einen Tick besser gefallen haben als der Sonderzug; aber erstens habe ich nicht überprüft, welche Risiken in jenen Texten auf arglose Interpreten lauern, und zweitens halte ich hier ausgewählten Titel für den zeitgeschichtlich bedeutenderen und rhetorisch raffinierteren.

Unser Song steht in einem komplexen historischen Kontext. Man kann auch ohne Kenntnisse dieses Hintergrunds seinen Spaß daran haben, aber ich denke, dass der Gewinn größer ist, wenn man die Vorgänge der Vor- und Nachgeschichte in den Grundzügen kennt, wobei hier mindestens drei Ebenen zu unterscheiden sind, nämlich zum Ersten die Ebene des speziellen Konflikts zwischen Udo Lindenberg, den DDR-Kulturbehörden und Erich Honecker, sodann zweitens die Ebene des innenpolitischen Konflikts der DDR-Führung mit erheblichen Teilen der eigenen Jugend und letztlich drittens auch noch die Ebene der politischen Großwetterlage zwischen BRD, DDR und der Sowjetunion. Die ganze Sache wird noch einmal komplizierter, wenn man sich klarmacht, dass sich die Machtverhältnisse und Interessen auf den genannten Ebenen seinerzeit relativ dynamisch entwickelt haben und die beteiligten Akteure zu bestimmten Zeitpunkten nur vage Vermutungen haben konnten, wohin die Reise gehen würde …

Was Udo Lindenbergs künstlerische und geschäftliche Interessen angeht, ist bekannt, dass er schon seit Beginn der 1970er Jahre wiederholt den Wunsch geäußert hatte, ein Konzert in Ost-Berlin zu geben, lieber noch eine Tournee durch die DDR. Er war schon in den 1970er Jahren in der DDR-Jugendszene ausgesprochen beliebt, nahezu verehrt, und jene über Songs (vgl. „Rock’n’Roll-Arena in Jena“, 1976) und Interviews bekundete Absicht war seiner dortigen Popularität noch einmal zuträglich. Für ihn bedauerlicher, ja geradezu ärgerlicher Weise stieß sein Anliegen bei der DDR-Führung, insbesondere deren Kulturchef Paul Hager, auf entschiedene Ablehnung, was im Rückblick natürlich nicht überrascht. 1974 hatte die Volkskammer ein ,Jugendgesetz‘ beschlossen, dessen Leitidee die Erziehung des eigenen Nachwuchses zur ,wehrhaften, fleißigen, staatstreuen und körperlich ertüchtigten sozialistischen Persönlichkeit‘ war. Da konnte man seine naiven Welpen nicht einfach der Beschallung durch einen Menschen aussetzen, der laut Stasi-Geheimberichten ,durch und durch gleichgültig, pessimistisch und dekadent‘ daherkam (vgl. Grabowsky/ Lücke, 2008, S. 63), zumal man sich der Anfälligkeit des eigenen Nachwuchses für Jeans, Beatrhythmen, lange Haare, Pazifismus und noch Unanständigeres durchaus bewusst war.

Die Sache mit dem geplanten Auftritt in Ostberlin zog sich also in die Länge, bis Lindenberg 1983 mit seinem „Sonderzug-Song“ Bewegung in die Sache brachte. In Westdeutschland avancierte das Lied schnell zum Hit, im Osten wurde es offiziell, zumal vom Oberindianer höchstselbst, als Majestätsbeleidigung aufgefasst und dem entsprechend verboten bzw. boykottiert. Dass es den dortigen Lindenberg-Fans gleichwohl nicht unbekannt blieb, versteht sich. Nun ist es durchaus bemerkenswert, dass die Kontrahenten – Lindenberg und sein Management einerseits, Honecker und seine kulturpolitischen Berater andererseits – zwischenzeitlich klüger geworden waren und ihren ,clash of cultures‘ mit diplomatischen Äußerungen und Gesten abfederten. 

So sandte der Rockstar dem (dabei auch mit dem geziemenden Titel angeredeten) Staatsratsvorsitzenden einen kleinen Beschwichtigungsbrief, im Gegenzug erhielt er von Egon Krenz, dem Ersten Sekretär des Zentralrats der FDJ, der 1983 übrigens der Aufsteiger in der politischen Führungsriege der DDR war, eine Einladung zum ,FDJ-Friedenskonzert‘ im Palast der Republik. Lindenberg nahm an und kam den Programm-Wünschen der Gastgeber die Titelauswahl betreffend weitgehend entgegen, so dass das Konzert (ohnehin vor ausgewählten politischen Kadern, nicht vor seinen Fans) mehr oder minder problemlos über die Bühne ging, selbstverständlich ohne den Oberindianer-Song. Zu einer landesweiten Tournee des Panikorchesters, wie für 1984 angedacht, sollte es erst nach der Wende kommen.

Bei der behutsamen Annäherung zwischen Lindenberg und Honecker in den 1980er Jahren, die nach dem Friedenskonzert noch mit lustigen wechselseitigen Geschenken fortgesetzt wurde, dürfte der Wandel der politischen Großwetterlage eine erhebliche Rolle gespielt haben, der ich hier aber nicht konkreter nachgehen will. Besonders schwierig zu beurteilen scheint mir die Frage, inwieweit für Personen der DDR-Führungsriege (z.B. Krenz) schon spürbar gewesen ist, dass sich in der Sowjetunion größere Veränderungen zusammenbrauten. Eigentlich sollten die großen Reformprogramme zur Modernisierung des Systems – Glasnost (Offenheit) und Perestroika (Umgestaltung) – erst 1987 durch Michail Gorbatschow (der selber erst 1985 zum mächtigsten Mann im Staat aufgestiegen war) öffentlich verkündet werden, doch dürften besagte Programme intern schon einige Jahre früher angedacht und in Pilotversuchen getestet worden sein. Ebenso schwer zu beurteilen sind für mich die politischen Ausstrahlungen der polnischen Streiks (Solidarność-Bewegung seit ca. 1980) auf die DDR. Zu solchen politischen Geschehnissen im Hintergrund, die das kulturpolitische Klima veränderten, dürften vermutlich auch die verschärften ökonomischen Schwierigkeiten der DDR beigetragen haben, die den Einfluss der ,Falken‘ im System schwächten und gleichzeitig die Vertreter ,reformerischen Gruppen‘ auch und gerade der jüngeren Generationen stärkten.

Noch ein kurzes Wort zu den oben erwähnten ,lustigen Geschenken‘. 1987 beglückte Lindenberg Honecker unter Bezug auf seinen Sonderzug-Song mit einer Lederjacke, worauf dieser mit einem einfallsreichen Schreiben (in dem er die Vereinbarkeit von Rockmusik und Sozialismus vom Grundsatz her großzügig bejahte) und einem interessanten Gegengeschenk reagierte. Bei besagter Gegengabe handelte es sich um ein Musikinstrument, allerdings eines, das nicht gerade zur Standardausstattung einer Rockband gehört, obwohl ihm durchaus laute Töne entlockt werden können. Dafür konnte Erich Honecker darauf verweisen, dass ein solches Gerät einstmals von ihm selber gespielt worden war; die Rede ist von einer Schalmei. Dieses Klangwerkzeug, dem der einschlägige Wikipedia-Artikel einen „durchdringenden Klang“ bescheinigt, sollte man jetzt nicht mit den gleichnamigen historischen ,lieblichen‘ Holzblasinstrument (vgl. „Es tönen die Lieder, der Frühling kommt wieder; es flötet der Hirte auf seiner Schalmei …“) in Verbindung bringen. Bei der Honeckerschen Schalmei bestehen verwandtschaftliche Beziehungen eher zu den sog. Rufhörnern (gemeinsprachlich: ,Hupen‘) vorsintflutlicher Automobile. Besonders beliebt waren derartige Schalmeien Anfang des 20. Jahrhunderts speziell bei den Spielmannszügen des Roten Frontkämpferbundes (vgl. in diesem Zusammenhang das Repertoire des Schalmeien-Orchesters Fritz Weineck, mit einschlägigen Hörproben), in denen der seinerzeit noch junge Indianerkrieger nachweislich mitgewirkt hatte.

Dieses Geschenk nutzte wiederum der nette Udo als Steilvorlage für eine weitere Gegengabe: Anlässlich eines Besuchs Honeckers im Westen revanchierte er sich prompt noch im gleichen Jahr vermittels einer E-Gitarre mit der Aufschrift „Gitarren statt Knarren“. Dieser ebenso humorvoll wie anspielungsreich inszenierte Austausch symbolträchtiger Geschenke belegt einerseits den diplomatischen Lernprozess, den beide Seiten im Laufe der Jahre offensichtlich erfolgreich absolvierten, andererseits aber auch ihre Fixierung auf indianische kulturelle Praktiken, was mir für meinen Essay sehr zupass kommt, da ich – wie sich gleich noch genauer zeigen wird – nun einmal den Begriff „Oberindianer“ zum Leit- und Zentralgestirn meiner Interpretation erkoren habe. Klären wir zuvor aber noch kurz, welche kulturellen Praktiken der indigenen amerikanischen Bevölkerung ich wohl im Sinn gehabt haben konnte, als ich Lindenberg und Honecker eine einschlägige Fixierung unterstellte.

Kenner der ethnologischen Materie wissen um die – speziell von Stämmen der nordamerikanischen Pazifikküste praktizierte – Methode rituellen Schenkens, für die sich die Bezeichnung ,Potlatch‘ eingebürgert hat. Hier ist natürlich nicht der richtige Ort, das Phänomen gebührend darzustellen und zu würdigen. Er mag also genügen darauf hinzuweisen, dass bei diesem Ritual durch Art und Wert der ausgewählten Geschenke Ehre erlangt werden kann und nebenbei noch soziale Hierarchien konstituiert werden. Im Prinzip ist es ja auch eine feine Sache, Streitigkeiten per Geschenkorgien auszufechten und nicht mit Hilfe von Knüppeln.

Andererseits hat dieser schöne Brauch aber auch einen Haken, weshalb er zeitweise von der kanadischen Staatsregierung verboten worden war: Indianerhäuptlinge ruinierten im Bestreben, den Gegenpart durch immer wertvollere Geschenke auszustechen, nicht selten sich selbst und ihren ganzen Stamm. Auch in diesem Sinne muss man für die politische Wende von 1989 dankbar sein, die der Schenkerei zwischen Lindenberg und Honecker ein ebenso unspektakuläres wie rasches Ende gesetzt hat! Der Rocker durfte dann auch, ohne weitere Unkosten auf sich nehmen zu müssen, schon im Januar 1990 mitsamt Panikorchester die lang ersehnte DDR-Tour antreten …

Nun aber von den Hinter- zu den Vordergründen! Wie allseits bekannt, dichtete Udo seinen Text auf die Melodie des klassischen Swing-Titels Chattanooga Choo Choo des in den 1930er bis 50er Jahren äußerst erfolgreichen italoamerikanischen Komponisten und Songwriters Harry Warren. Chattanooga war und ist ein wichtiger Knotenpunkt im US-Eisenbahnnetz, war im 19. Jahrhundert Schauplatz blutiger Schlachten des Bürgerkriegs und in den ersten Jahrzehnten nach seiner Gründung (damals noch unter dem Namen Ross’s Landing) mit dem Schicksal der Cherokee-Indianer verbunden. Der Chattanooga Choo Choo-Song (1941) war zunächst für eine verwickelte amerikanischen Filmkomödie (Sun Valley Serenade, dt.: Adoptiertes Glück) geschrieben worden, die von der Produktionsfirma als Mix aus Musikfilm und Eisrevue angelegt worden war, um die vielfache norwegische Eiskunstlauf-Olympiasiegerin und -Weltmeisterin Sonja Henie in einer Hauptrolle glänzen zu lassen.

Im Songtext von Mack Gordon geht es um eine Dampflokfahrt, deren Anfangszeile von Udo Lindenberg im Gestus für seinen Sonderzug nach Pankow übernommen wird. Bei Mack Gordon fragt die Sprecherinstanz „Pardon me boy, is that the Chattanooga Choo Choo?“ – Lindenberg setzt ein mit „Entschuldigen Sie, ist das der Sonderzug nach Pankow?“ Danach streben allerdings die Wege, pardon!, Geleise auseinander …

Erwähnen sollte ich an dieser Stelle vielleicht noch eine frühere deutsche Cover-Version des Chattanooga Choo Choo-Songs von Peter Rebhuhn und Bully Buhlan. Deren Kötschenbroda-Express nahm 1947 satirisch das desolate deutsche Bahnwesen der Nachkriegszeit aufs Korn:

„Verzeih‘n Sie, mein Herr, fährt dieser Zug nach Kötschenbroda?“
„Ja, ja, Herrschaft, vielleicht, wenn‘s mit der Kohle noch reicht.“
„Ist hier noch Platz in diesem Zug nach Kötschenbroda?“
„Oh, das ist nicht schwer, wer nicht mehr steh‘n kann, liegt quer.“

Am Ende lässt die Sprecherinstanz den Freund alleine nach Kötschenbroda fahren und bleibt selber lieber zu Hause.

Indem Udo Lindenberg die erste Zeile des Chattanooga Choo Choo-Songs mehr oder minder übernimmt, erweist er dem Vorbild seine Reverenz, knüpft aber zugleich an eine etablierte Tradition von Wortspielen mit einschlägigem Bezug an. Er richtet seine Frage an einen DDR-Bürger, von dem er erwartet, dass der sich auf dem Bahnhof auskennt, vermutlich einen Bahnbeamten. Zunächst erklärt er diesem sein Gesprächsanliegen (Klärungsbedarf mit dem ,Oberindianer‘) und stellt sich selbstironisch als ,Jodeltalent‘ vor, was die einigermaßen despektierliche Bezeichnung für den Staatsratsvorsitzenden ein bisschen ausbalanciert. Im weiteren Verlauf des Songs verschiebt sich die Rede-Konstellation quasi unter der Hand so, dass die Sprecherinstanz sich nun direkt an Erich Honecker wendet. Halbwegs erklären könnte man diese neue Sprechsituation so, dass sie – der Realität vorausgreifend – vom ,Jodeltalent‘ imaginiert und dem Bahnbeamten vorgespielt wird. Die Schlussverse – „Hallo Erich,“ usw. – wenden sich allerdings dann ganz eindeutig direkt an Honecker, was im gegebenen Kontext nur Sinn macht, wenn die Sprecherinstanz unterstellt, dass dieser über Lausch-Apparaturen mithört, was am Gleis gesprochen wird …

Besonders bemerkenswert an Lindenbergs Songtext sind für mich die Flapsigkeiten, die sich der Sänger gegenüber Erich Honecker herausnimmt, beginnend mit dem Ausdruck „Oberindianer“, weitergeführt über die Vorstellung, mit dem Spitzenpolitiker gemütlich ein eingeschmuggeltes Fläschchen Cognac zu verputzen, die Mahnung, doch nicht den „sture[n] Schrat“ zu geben, bis hin zur Unterstellung, dass der Staatsratsvorsitzende sich heimlich auf dem Klo Rocker-Phantasien hingeben könne. Lindenbergs lyrische Sprache ist generell, d.h. weit über den Sonderzug-Song hinaus, von solchen flapsigen Ausdrücken und ungewöhnlichen Bildern geprägt, die hier nur deshalb so überdeutlich auffallen und seinerzeit den entsprechenden Anstoß erregt haben, weil sie in die verkrustete offizielle Formelsprache des real existierenden Sozialismus eingeschlagen sind.

Man würde Lindenbergs sprachliche Kreativität und lyrische Potenz arg verkennen, wenn man seine Formulierungen leichthin als Schnoddrigkeiten oder schlichte Frechheiten abtun würde. Nein, seine Wortwahl ist wohlüberlegt und funktioniert auf mehreren Ebenen, wie sich am Begriff des ,Oberindianers‘ (Wortbildung analog zu ,Oberwachtmeister‘, ,Oberlehrer‘ oder ,Oberfeldwebel‘ usw.) bestens zeigen lässt. Dieser Ausdruck ist natürlich despektierlich, aber er passt dennoch ziemlich perfekt: U.a. entspricht er der politischen Farbenlehre, derzufolge in Ostberlin ,die Roten‘ regieren. Sodann verweigert er Honecker die wesentlich ehrenvollere Bezeichnung ,Häuptling‘, weil bei „Oberindianer“ vermutlich mitgedacht ist, dass der wahre Häuptling der Roten seinen Wigwam in Moskau aufgeschlagen hat. Weiterhin kann man sich als Rezipient des Songs zumindest vorstellen, dass Lindenberg mit seiner Indianer-Terminologie auch kritisch auf die damalige politische Situation (Kalter Krieg mit Nachrüstungs-Entscheidung im Bundestag, ersten Raketenstationierungen, Friedensdemos und geplatzten Abrüstungsverhandlungen) Bezug nimmt, indem er sie als Cowboy und Indianer-Spiel ,framt‘.

Nicht von ungefähr ist Udo Lindenberg im Laufe seiner Karriere mehrfach für seine Verdienste um die deutsche Sprache ausgezeichnet worden – zunächst für die Tatsache, dass er das Deutsche für Rockmusik hoffähig gemacht hat, in späterer Zeit aber auch für seine Leistungen um dessen Pflege und Weiterentwicklung: Er habe die deutsche Sprache lockerer gemacht, wurde ihm z.B. bei der Verleihung des Jacob-Grimm-Preises (2010) vom Laudator bescheinigt. ,Locker‘ ist nicht mit ,schnoddrig‘ oder ,sorglos‘ zu verwechseln, sondern als ,entspannt‘ und ,entkrampfend‘ zu verstehen. Dass die Konfrontation mit einer solchen Ausdrucksweise für die DDR-Bosse zunächst schockierend gewesen sein muss, ist gut nachvollziehbar, hatte der östliche Teil Deutschlands die große gesellschaftliche ,Lockerung‘, die Westdeutschland in den 1960er Jahren erlebt hatte, doch weitgehend unterdrückt. Umso bemerkenswerter scheint mir in diesem Zusammenhang das Tempo, wie schnell sich die DDR-Führung in den Folgejahren auf Lindenberg und seinen Stil einstellen konnte (vgl. die oben behandelte Verständigungs-Diplomatie).

Zu den weiteren kreativen ,Unverschämtheiten‘ in Lindenbergs Song wären noch manche Anekdoten und ästhetische Würdigungen (etwa zu dem wunderbaren Reim ,Schrat – Arbeiter- und Bauernstaat‘) nachzutragen, doch irgendwann muss jeder Beitrag einmal sein Ende ansteuern. Somit schließe ich mit einem kleinen Nachtrag zu den „Schlageraffen“, die zu Lindenbergs offensichtlichem Missvergnügen alle schon in der DDR singen durften. Bei meinen Recherchen konnte ich nicht ermitteln, ob er sich hier auf bestimmte Personalien bezieht oder nur allgemein auf den Umstand abhebt, dass das Schlager-Genre in der DDR als politisch harmlos gesehen wurde, so dass erfolgreichen Sängerinnen und Sängern aus dem westlichen Ausland häufig Auftritte im Palast der Republik und sogar beste Sendezeiten im Ost-Fernsehen eingeräumt worden sind. Auf alle Fälle lässt die Begriffswahl des Jodeltalents für seine Schlager-Konkurrenz vermuten, dass hier eine gewisse Energie im Spiel war …

Hans-Peter Ecker, Bamberg

Literatur:

Jacob-Grimm Preis an Udo Lindenberg. In: Zeit-Online vom 23. Oktober 2010.

Udo Lindenberg mit Thomas Hüetlin: Udo Lindenberg. Köln: Kiepenheuer & Witsch, 2018.

Zahlreiche einschlägige Wikipedia-Artikel, u.a. zum Chattanooga Choo Choo-Song und seinen vielfältigen Bezügen.

Warum der Regenbogen ins Stadion gehört. Zu „Der Tag wird kommen“ von Marcus Wiebusch

Marcus Wiebusch

Der Tag wird kommen

Und der Tag wird kommen, an dem wir alle unsere Gläser heben
Durch die Decke schweben, mit 'nem Toast den hochleben lassen
Auf den ersten, der's packt, den Mutigsten von allen
Der erste, der's schafft
Es wird der Tag sein, an dem wir die Liebe, die Freiheit und das Leben feiern
Jeder liebt den, den er will, und der Rest bleibt still
Ein Tag, als hätte man gewonnen
Dieser Tag wird kommen

Dieser Tag wird kommen, jeder Fortschritt wurde immer erkämpft
Ganz egal, wie lang' es dauert, was der Bauer nicht kennt
nicht weiß, wird immer erstmal abgelehnt
Und auf den Barrikaden die Gedanken und Ideen,
dass das Nötige möglich ist, wie Freiheit und Gleichheit,
Dass nichts wirklich unmöglich und in Stein gemeißelt ist
Bis einer vortritt „Schluss jetzt mit Feigheit“
Geschichte ist Fortschritt im Bewusstsein der Freiheit
Wir den aufrechten Gang haben, nicht mehr in Höhlen wohnen
Nicht mehr die Keulen schwingen, Leute umbringen
Nicht umherstreifen in kleinen Herden
Weil Menschen nicht ewig homophobe Vollidioten bleiben werden

Und der Tag wird kommen, an dem wir alle unsere Gläser heben [...]

A-Jugend Leistungsklasse Wilhelmsburg-Süd
Ein verschworener Haufen und einer machte den Unterschied
Mit so viel mehr Talent und mit mehr Willen als alle
"Oh, das wird mal ein Profi", stolz wussten wir das alle
U17, U19, Hamburger Auswahl
Bei fast jedem Heimspiel mehrere Scouts da
Nur 'ne Frage der Zeit, bis das Angebot kam
1. Liga, drei Jahre und ein Traum wurde wahr
Und am Abend des Deals, als wir es krachen lassen wollten
Er sich uns anvertraute und sich nichts ändern sollte
Denn die einen ahnten es, den anderen war es längst klar
Manche wussten es schon, es war uns allen egal
Es war uns vollkommen egal ob er straight oder schwul war
Wir spielten zusammen seit der F-Jugend Fußball
Eine Gang, ein Team, ein "You'll never walk alone"
So wurde es beigebracht, so wird es jetzt gemacht, mein Sohn
Dann besoffene Tränen und die große Erleichterung
Oh, dieser Tag kommt aus genau dem gleichen Grund
Weil wir Menschen nicht danach bewerten, wen sie lieben
Ihr Sex ihre Sache ist und sie es nicht verdienen
Von den Dümmsten der Dummen beurteilt zu werden
Von den Dümmsten der Dummen beurteilt zu werden
Um von ihnen dann verurteilt zu werden

Und er nahm seinen Traum, zog in die fremde Stadt
Und wir behielten sein Geheimnis, blieben zurück und in Kontakt

Und der Tag wird kommen, an dem wir alle unsere Gläser heben [...]

Nicht den Anschein erwecken in der großen Maskerade
Agenturen stellen die Freundin und besorgen die Fassade
Die gestellten Urlaubsfotos und den öffentlichen Auftritt
Warten, bis die ganze Scheiße auffliegt
Nicht den Anschein erwecken, auf dem Feld härter spielen
Zehn gelbe, zwei rote Karten und die auch verdienen

"Du kennst mich, ich war nie ein unfairer Spieler
Und jetzt gelt' ich als Treter der Liga
Du weißt nicht, wie das ist, wenn man immer eine Maske trägt
Immer aufpassen muss, wer man ist, wie man lebt
Permanent, eigentlich die ganze Zeit Angst
Und du spielst in dem Mist dann so gut wie du kannst
Und der sehnliche Wunsch und die Frage, wie es wäre
Hier ein anderer zu sein, jetzt mit dieser Karriere
Wenn ich es ändern könnte, dieses traurige Leben
Für mein Fühlen nie entschieden und so ist es eben“

"Wir waren zusammen in Stadien, vor ca. 20 Jahren
Als sie farbige Spieler mit Bananen beworfen haben
Dann die Affenlaute, bei jeder Ballberührung
Diese Zeiten vorbei und keine glückliche Fügung
Sondern Fortschritt, Veränderung, wir sind auf dem Weg
Außenminister, Popstars, Rugby-Spieler zeigen, dass es geht
Früher undenkbar, heute normal, ich wette 90% ist es egal
Und dann erinner' dich an die Erleichterung als es raus war
Wie dein Herz zersprang, als die Wörter rauskamen
Die finden das zwei Wochen spannend und der Spuk ist verschwunden
Und du hättest deinen Frieden gefunden"

„Kein Verein will den Rummel, kein Team den Alarm
Und der Vertrag, den ich hab', geht so schnell wie er kam
Dass kann keiner absehen, wenn der Sturm losbricht
Und der Sturm wird kommen, ob man will oder nicht
Du bist dann der Erste, der Homo, der Freak
Es gibt dann keinen, der in dir nur noch den Fußballer sieht
Aber ja, es wird besser und der Tag ist in Sicht
Einer wird es schaffen, aber ich bin es nicht"

„Es ist deine Entscheidung, ganz egal wer was sagt“
Beim Abschied geflüstert „With hope in your heart“
Noch Einigkeit erzielt, dass der Tag kommen wird
Und das nächste Heimspiel wohl gewonnen wird
Auf dem Nachhauseweg, dieser eine Gedanke
Und fasst schon ein Lächeln
All ihr homophoben Vollidioten, all ihr dummen Hater
All ihr Forums-Vollschreiber, all ihr Schreibtischtäter
All ihr miesen Kleingeister mit Wachstumsschmerzen
All ihr Bibel-Zitierer mit euer'm Hass im Herzen
All ihr Funktionäre mit dem gemeinsamen Nenner
All ihr harten Herdentiere, all ihr echten Männer
Kommt zusammen und bildet eine Front
Und dann seht zu was kommt

Und der Tag wird kommen an dem wir alle unsere Gläser heben [...]

Dieser Tag wird kommen
Dieser Tag wird kommen

     [Marcus Wiebusch: Konfetti. ‎Grand Hotel Van Cleef 2014.]

Für die Niederlage der deutschen Nationalmannschaft gegen die englische werden in den professionellen Kommentaren verschiedene Ursachen diskutiert: die zu lange Amtszeit des Trainers, eine zu defensive Taktik, zu späte Einwechslungen; in den Leserkommentaren darunter erfreute sich eine weitere Erklärung großer Beliebtheit: Es war die Regenbogenarmbinde Manuel Neuers! Diese These mutet nicht nur deshalb seltsam an, weil der englische Kapitän Harry Kane ebenfalls eine solche trug; sie impliziert außerdem, dass Fußballer sich nicht mit Unwichtigem (Menschenrechte) vom Wichtigen (Fußball) ablenken lassen sollten.

Doch dass diejenigen, die im Stadion Regenbogenfarben tragen, auf dem Platz oder auf den Rängen, die Politik in den Fußball brächten, ist falsch. Denn sie war schon vorher dort, getarnt als angeblich „normale“ Fankultur. Wenn in politischen Debatten von Normalität geredet wird, wird damit die eigene Position für sakrosankt erklärt und wird alles vom „gesunden Empfinden“ Abweichende als abnormal denunziert. Indem so politische Gegenpositionen zu sittlichen Defiziten erklärt werden, wird nicht nur der politische Gegner auch menschlich abgewertet, sondern zugleich auch die eigene Haltung aus dem Bereich des Politischen und damit Verhandelbaren herausgenommen. Zu beobachten ist dieses Muster etwa auch bei vielen „unpolitischen“ Skinhead-Bands, die darauf insistieren, dass etwa die Ablehnung von Migranten oder die ausgestellte Abscheu vor Homosexuellen unpolitisch seien, gleichsam ein natürlicher Reflex; politisch und damit die Szene spaltend seien hingegen diejenigen, die dies als Rassismus und Homophobie kritisierten.

Ganz ähnlich verläuft die Argumentation bei manchen Fußballfans. Nicht diejenigen, die dunkelhäutige Spieler mit Affenlauten beleidigen oder Spieler der gegnerischen Mannschaft, um sie herabzuwürdigen, als schwul bezeichnen, sind politisch, sondern diejenigen, die dagegen protestieren. Politik ist aber bereits mit jedem Affenlaut, jedem „XY ist homosexuell, homosexuell, homosexuell“-Sprechchor, mit jedem Absingen des U-Bahn-Lieds („Eine U-Bahn, eine U-Bahn, eine U-Bahn bauen wir, von [Heimatstadt der Gegenmannschaft] bis nach Auschwitz, eine U-Bahn bauen wir!“) im Stadion. Es geht denjenigen, die im Namen der Einheit der Fangemeinschaft gegen antirassistische und antihomophobe Faninitiativen angehen, keineswegs um den Erhalt eines politikfreien Raums, sondern um die Aufrechterhaltung ihrer eigenen politischen Lufthoheit.

Nun könnte man als Gegenstrategie dafür plädieren, entsprechendes Verhalten einfach zu ignorieren in der Hoffnung, die Provokationen würden damit ihren Reiz verlieren. Jedoch hat „Ignorier sie einfach“ schon auf dem Schulhof meistens nicht funktioniert. Und außerdem geht es denjenigen, die Rassismus und Homosexuellenfeindlichkeit als normale Teile einer rauen, „männlichen“ Fankultur begriffen wissen wollen, ja nicht primär um Provokation, sondern um die Etablierung bzw. demonstrative Aufrechterhaltung ihrer Auffassung von Normalität, weshalb der ausbleibende Widerspruch als stumme Zustimmung verstanden werden dürfte – auch z.B. von Jugendlichen, die in die Fanszenen hineinwachsen und sich an den Älteren orientieren. Doch auch über diesen immer noch recht überschaubaren Personenkreis hinaus hat die Frage, wie man mit zur Schau gestelltem Rassismus und Homosexuellenfeindlichkeit in Fußballstadien umgeht, Bedeutung, wird Fußball, zumal der von Nationalmannschaften, doch oft in Bezug zur Gesellschaft gesetzt: Man denke nur an die „deutschen Tugenden“ früher Nationalmannschaftsjahrgänge oder die Interpretation späterer, ethnisch vielfältiger Nationalmannschaften als Vorbilder gelungener Integration – worin vermutlich der Hauptgrund dafür zu sehen ist, dass gerade sich so bezeichnende „Patrioten“ in Kommentarspalten der deutschen Nationalmannschaft mit solchem Ingrimm begegnen.

Zu all diesen mittelbaren Folgen kommt hinzu, dass Homophobie in Fußballstadien ganz unmittelbar diejenigen trifft, wegen derer man in ein Fußballstadion geht: die Spieler, speziell wenn sie, was statistisch gesehen in jedem Spiel auf einen Spieler zutreffen müsste, nicht heterosexuell sind. Und davon handelt das Lied von Marcus Wiebusch, der sich schon mit …but alive, Rantanplan und Kettcar immer auch an politischen Debatten beteiligt hat.

Das Lied setzt ein mit dem Refrain, in dem antizipiert wird, dass es eines nicht mehr allzu fernen Tages Anlass zum Feiern geben wird – das erste Outing eines aktiven und erfolgreichen Profifußballers in der jüngeren Vergangenheit (Justin Fashanu unternahm diesen Schritt, nachdem seine Karriere de facto beendet und seine Homosexualität bereits gegen seinen Willen bekannt gemacht worden war). Dieses Ereignis wird vom Sprecher-Ich mit großer Bedeutung aufgeladen: „Es wird der Tag sein, an dem wir die Liebe, die Freiheit und das Leben feiern / Jeder liebt den, den er will, und der Rest bleibt still / Ein Tag, als hätte man gewonnen“ – es geht hier also um nicht weniger als um den Triumph liberaler humanistischer Werte. Das Wir, das diesen Moment zumindest kurz als Sieg empfindet – im Irrealis „als hätte man gewonnen“ klingt bereits die Skespis über dessen Dauerhaftigkeit an – kann als die Fußballclique, von der in den nachfolgenden Strophen die Rede ist, verstanden werden, aber auch als Gemeinschaft derjenigen, die diese Werte teilen – so können sich auch Rezipierende des Lieds mitgemeint fühlen bzw. laut oder leise mitsingend zum Teil dieses Wir werden.

Die folgende erste Strophe steht noch ganz in der Tradition des politischen Lieds, das mit Argumenten überzeugen und mit Pathos mitreißen will: Der Kampf um die Akzeptanz von Homosexualität (auch) im Fußball wird in die Reihe großer sozialer Bewegungen (im Video konkretisiert bezogen u.a. auf Sufragetten und die amerikanische Bürgerrechtsbewegung), ja sogar der Menschheitsentwicklung seit der Steinzeit, gestellt.

Die zweite Strophe wechselt ins Narrative: Erzählt wird die alte Geschichte von den elf Freunden – mit der neuen Wendung, dass das tradierte Ethos der verschworenen Gemeinschaft angewendet wird auf die Frage nach der sexuellen Präferenz („So wurde es beigebracht, so wird es jetzt gemacht, mein Sohn“): Das Outing des begabtesten Spielers, der eine Profikarriere vor sich hat, verläuft bestmöglich, nämlich unspektakulär: „Es war uns vollkommen egal ob er straight oder schwul war“. Er hat ein unterstützendes Umfeld – bessere Voraussetzungen also als viele.

Dennoch wagt er das öffentliche Outing als Profi nicht und beginnt ein professionell inszeniertes Scheinleben mit einer angeblichen Freundin; das Doppelleben hat nicht nur negative psychische Folgen für ihn, sondern wirkt sich auch auf sein Spiel aus, insofern er versucht, besonders mann-männlich aufzutreten und mehr foult, als er es bisher getan hat – was wiederum sein öffentliches Bild negativ beeinflusst.

Über diese Situation spricht er mit einem oder mehreren seiner alten Freunde. Sein Gegenüber versucht ihn unter Verweis auf die Erfolge im Kampf gegen offenen Rassismus in Fußballstadien sowie mit weiteren Argumenten zu ermuntern, sich zu outen. Damit steuert die Geschichte auf ihren Höhepunkt zu – man erwartet, dass der Protagonist der im Refrain besungene erste offen homosexuelle Fußballprofi wird, dass es eine „Gemeinsam sind wir stark“-Geschichte mit Happy End wird. Stattdessen bekräftigt er zwar, dass die allgemeine Situation bald das Outing eines Fußballprofis zulassen werde, konstatiert aber angesichts der immer noch erwartbaren Belastung durch die mediale Aufmerksamkeit, dass er selbst diesen Schritt nicht gehen wird. Sein zugleich hoffnungsvolles und resigniertes „Einer wird es schaffen, aber ich bin es nicht“, hervorgehoben durch das vorübergehende Aussetzen der instrumentellen Begleitung, bildet den emotionalen Höhepunkt des Lieds – aber noch nicht den Endpunkt der erzählten Geschichte.

Denn das Lied endet nicht mit dem Eingeständnis, dass die eigene Kraft nicht ausreicht, diesen Kampf für alle Nachfolgenden, die es ungleich leichter haben werden, zu führen, sondern mit der Reaktion des solidarischen Gegenübers: Dieses nimmt den homosexuellen Profi nicht in die Pflicht, sich für die gemeinsame politische Sache zu opfern, sondern praktiziert stattdessen die zutiefst humane Haltung, die überhaupt erst die Grundlage dafür ist, als Heterosexuelller für die Akzeptanz Homosexueller zu kämpfen: Er stellt das Individuum und dessen Recht auf persönliches Glück über die politische Agenda. Und wenn es seinem Freund zum Schluss mit „With hope in your heart“ einen Vers aus You’ll never walk alone zuflüstert, so nimmt das nicht nur das Pathos der verschworenen Gemeinschaft, in deren Kontext das Lied in der zweiten Strophe zitiert wurde, auf, evoziert nicht nur Szenen von singenden Fans in Anfield und anderswo, sondern ruft auch eine intertextuelle Folie auf: You’ll never walk alone, in der Coverversion von Gary & the Pacemakers zur Stadionhymne des FC Liverpool geworden, wurde für das 1945 uraufgeführte Musical Carousel (von Benjamin Glazer, Richard Rodgers und Oscar Hammerstein II nach einen Stück von Ferenc Molnár) geschrieben, worin es einer armen jungen schwangeren Frau, die ihren kriminellen Mann durch Suizid verloren hat, Mut machen soll. Zwar sind verschiedene Diskriminierungen nicht in eins zu setzen, aber die Situation einer alleinerziehenden Mutter mit dieser Vorgeschichte in den 1940er Jahren dürfte ebenfalls keine erfreuliche Perspektive gewesen sein. In der Parallelisierung dieses Schicksals mit dem des homosexuellen Profis wird zugleich die eingangs allgemein geschilderte mögliche progressive Entwicklung von gesellschaftlichen Verhältnissen aufgenommen: Wie heute der Status als Alleinerziehende gemeinhin nicht mehr als Makel angesehen wird, so steht zu hoffen, dass dies bald auch für Homosexuelle (im Fußball und anderswo) gelten wird. So werden die Themen Fußballfankultur und gesellschaftlicher Fortschritt mit diesem Liedzitat noch einmal zusammengeführt.

Nicht zuletzt kann der Bezug zu You’ll never walk alone auch autoreflexiv auf die mögliche Funktion von Liedern als Ermutigung gelesen werden, als Bestätigung nicht allein zu sein. Und genau darauf zielte ja auch die Regenbogenarmbinde. Und sollte Manuel Neuers und Harry Kanes Geste auch nur einem einzigen homosexuellen Jugendlichen, der die Übertragung des Spiels gesehen hat, dieses Gefühl gegeben haben und ihn dadurch möglicherweise vom Suizid (das Suizidrisiko für homosexuelle Jugendliche liegt ca. vier mal höher als für gleichaltrige Heterosexuelle) abgehalten haben, so wäre das allemal die Niederlage gegen England wert gewesen.

Martin Rehfeldt, Bamberg