Zwischen Zuversicht und Zukunftsangst: Zu Martin Behm: „Wie lieblich ist der Maien“

Martin Behm 

Wie lieblich ist der Maien 

1. Wie lieblich ist der Maien
aus lauter Gottesgüt,
des sich die Menschen freuen,
weil alles grünt und blüht!
Die Tier sieht man jetzt springen
mit Lust auf grüner Weid,
die Vöglein hört man singen,
die loben Gott mit Freud.

2. Herr, dir sei Lob und Ehre
für solche Gaben Dein.
Die Blüt zur Frucht vermehre,
lass sie ersprießlich sein.
Es steht in Deinen Händen,
Dein Macht und Güt ist groß,
drum wollst Du von uns wenden
Mehltau, Frost, Reif und Schloss.

3. Herr, lass die Sonne blicken
ins finstre Herze mein,
damit sich’s möge schicken,
fröhlich im Geist zu sein,
die größte Lust zu haben
allein an Deinem Wort,
das mich im Kreuz kann laben
und weist des Himmels Pfort.

4. Mein Arbeit hilf vollbringen
zu Lob dem Namen Dein,
und lass mir wohl gelingen,
im Geist fruchtbar zu sein;
die Blümlein lass aufgehen
von Tugend mancherlei,
damit ich mög bestehen
und nicht verwerflich sei.

     [1604; Sprache modernisiert] 

Wie hat es sich eigentlich so gelebt im frühen siebzehnten Jahrhundert? Der vorliegende Text gibt uns die Möglichkeit einen Eindruck dieser Zeit zu gewinnen; so erzählt er von Bauern, die um ihre Existenz bangten, der lutherischen Theologie, dem alltägliche Leben in der Frühen Neuzeit und vielem mehr. Geschrieben wurde er von dem lutherischen Pfarrer Martin Behm (Varianten seines Namens sind auch Böhme, Behme oder Bohemus), der am 16. Dezember 1557 geboren wurde und am 5. Februar 1622 starb. Behm verbrachte den Großteil seines Lebens in seiner Geburtsstadt Lauban, die heute in Polen liegt und Lubań heißt. Lauban gehörte dem 1346 gegründeten Oberlausitzer Sechsstädtebund an (neben Bautzen, Görlitz, Zittau, Kamenz und Löbau), wodurch die Stadt – und somit auch der Stadtprediger Behm – verhältnismäßig wichtig war. Die sechs Städte waren regional bedeutsam und waren zentrale religiöse, wirtschaftliche und politische Zentren der Oberlausitz. Wie schnell sich allerdings auch das Glück einer relativ bedeutenden Stadt wenden konnte, zeigt ein genaueres Betrachten des Liedtextes.   

Dieser beginnt, wie viele Frühlingslieder, mit dem Dank für den Beginn der neuen Jahreszeit.  Durch die „Gottesgüt“ können sich die Menschen an der grünenden Natur und den singen Vögeln erfreuen. Doch bereits in dieser ersten Strophe, die im Gegensatz zu anderen Teilen des Liedes beschreibend und nicht als Hoffnung formuliert ist, zeigt sich, dass es im Text auch um ganz praktische Belange geht. Denn die Tatsache, dass nun wieder Tiere im Wald zu sehen sind, lässt sich nicht nur so verstehen, dass diese schön anzusehen sind, sondern auch, dass es eine Nahrungsquelle gibt, auch wenn viele Formen der Jagd den Eliten vorbehalten waren.  

Das Thema der Abhängigkeit von der Natur wird dann in der zweiten Strophe ausgeführt. Blüten sind nett anzusehen, aber, was noch wichtiger ist, sie werden auch „zur Frucht“ und somit zu Nahrung. Gängigen frühneuzeitlichen Ansichten folgend, wird so festgestellt, dass ästhetisch schöne Dinge auch nützlich sind. Selbstverständlich hat Gott das letzte Wort und so wird er gelobt und ihm für seine bisherigen Gaben gedankt, um dies dann mit der Hoffnung zu verbinden, dass sich eine gute Ernte auch tatsächlich einstellt.

In der letzten Zeile des Liedes kommt dann zum ersten Mal eine Form der Zukunftsangst zum Ausdruck. So wird direkt von der abstrakten Macht und Güte Gottes auf die sehr konkreten Schäden durch „Mehltau, Frost, Reif und Schloss“ verwiesen. Das hier befürchtete schlechte Wetter konnte die Existenz von Bauern zunichte machen. Erklären lässt sich dies auch mit der ‚kleinen Eiszeit‘, welche zwischen 1570 und 1630 für besonders kalte und lange Winter sorgte und so die Bevölkerung vor große Probleme stellte. (vgl. Wikipedia). Der zunehmend bittende Ton des Textes schlägt sich auch sprachlich in hoffnungsvollen Imperativen nieder („lass[…]blicken“; „hilf[…]vollbringen“; „lass mir wohl gelingen“, etc.). Der Dank der ersten Strophe wandelt sich so, ähnlich einem Gebet, in den Wunsch nach göttlicher Hilfe. Diese Elemente der Zukunftsangst und Überlebensprobleme erreichten mit dem Ausbruch des Dreißigjährigen Krieges wenig später nochmals ein ganz neues Ausmaß.   

Wie lässt sich der Fokus auf die ländlich-bäuerliche Gesellschaft damit vereinbaren, dass sich Behm im städtischen Milieu aufhielt? Lauban war mit einigen Tausend Einwohner eine größere Stadt, was sie aber auch von den umliegenden Bauern abhängig machte und bedeutete, dass eine schlechte Ernte sich auch negativ auf die Stadt selber auswirkte. Teuerungen und schlechtes Wetter betrafen ganze Landstriche. Der Fokus auf die Ernte und die Jagd in der ersten Strophe verdeutlicht aber auch, dass ein Pfarrer wie Behm ein großes Einzugsgebiet haben konnte und er mit dem Liedtext auch Bauern aus umliegenden Dörfern ansprach.

Die dritte Strophe zeigt klar die Konfession des Verfassers. Dem sündereichen Menschen („finsre[s] Herz“) wird die Gnade Gottes entgegengesetzt („lass die Sonne blicken“). Diese Zeilen können auch als subtile Anspielung auf Luthers ‘nur die Gnade Gottes‘ (sola gratia)verstanden werden. Und auch die weiteren lutherischen solae werden aufgegriffen. Nur durch die Schrift („an deinem Wort“) und dem Glauben an Christus („das mich im Kreuz kann laben“) kann der Gläubige in den Himmel gelangen („und weist des Himmels Pfort“). In einer Strophe wird somit sola gratia, sola fide, sola Christus und sola scriptura thematisiert. Heilige, die in katholischen Gebeten bei schlechtem Wetter angerufen wurden, finden selbstverständlich, wie dies das Luthertum vorsah, keine Erwähnung. Eine ähnliche Betonung auf Christus und die Schrift findet übrigens in einem Stich von Behm seinen Ausdruck, in dem er ein Buch, wohl die Bibel, hält und eine Darstellung eines Kruzifixes an der Wand hängt.

Unbekannter Künstler: Martin Behm, Stich, ca. 1600 (https://commons.wikimedia.org)

Möglicherweise war es Behm auch ein Bedürfnis seiner Gemeinde auf diese Weise die lutherische Theologie näher zu bringen, weil in Lauban im siebzehnten Jahrhundert noch immer Nonnen lebten. Auch wenn der Großteil der Bevölkerung im sechzehnten Jahrhundert lutherisch geworden war, behaupteten sich die Magdalenerinnen-Nonnen in der Stadt und teilten sich mit den Lutheranern die Kirche (siehe dazu: Martin Christ: Biographies of a Reformation. Religious Change and Confessional Coexistence in Upper Lusatia, 1520-1635. Oxford University Press 2021).

Weil sich, wie auch Luther selber wusste, theologische Konzepte gut in Lieder verpacken ließen und sich so auch rasant verbreiten konnten, ist es nicht verwunderlich, dass Behm dieses Medium wählte um zentrale Punkte des lutherischen Glaubens darzustellen. Gleichzeitig schaffte er es in dem Text alltägliche Ängste der Menschen (möglicherweise auch seine eigenen) zu thematisieren und diese dann mit der Hoffnung auf die Gnade Gottes zu verbinden.

Wenden wir uns noch kurz der letzten Strophe zu. Sie beginnt mit der Bitte an Gott für eine produktive Arbeit. Zwei Lesarten sind hier möglich: Entweder es handelt sich, in Verbindung mit dem früher im Lied erwähnten Obst und Wild, um körperliche Arbeit wie Ernten und Jagen oder, wie der Mittelteil der Strophe nahelegt, um geistige Arbeit („im Geist fruchtbar zu sein“), die Behm als Pfarrer und Schriftsteller auch selbst erbrachte. So oder so wird weiterhin auf Gottes Einfluss im alltäglichen Leben gehofft. Schließlich endet das Lied mit dem Wunsch nach einem tugendhaften Leben („Tugend mancherlei“, „nicht verwerflich sei“). Verbunden ist dies mit der Metapher einer aufgehenden Blume, die dem Text, welcher sich damit wie schon zu Beginn, auf die Natur bezieht, einen passenden Rahmen gibt.

Im Gegensatz zu anderen Frühlingsliedern zeigt Wie lieblich ist der Maien, das auch im evangelischen Gesangbuch zu finden ist, nicht nur die guten Seiten des Frühlings. Während in Wie schön blüht uns der Maien (Interpretation hier) und auch moderneren Stücke wie Im Märzen der Bauer (Interpretation hier) die Frühlingszeit insgesamt als positiv beschrieben wird, ist Wie lieblich ist der Maien ambivalenter gehalten. Mit dem Monat Mai ist auch die Furcht vor schlechtem Wetter verbunden, was die Hoffnung auf die Gnade Gottes besonders wichtig werden lässt. Im Lied treffen somit Hoffnung und Zukunftsangst aufeinander und nur Gott, in der Vorstellung der Frühen Neuzeit Lenker aller Dinge, kann dabei helfen etwas so Unberechenbares wie das Wetter zu steuern. So gewährt uns das Lied einen kleinen Blick in das siebzehnte Jahrhundert.

Martin Christ, Erfurt

Den Frühling begrüßen: „So treiben wir den Winter aus“

So treiben wir den Winter aus

So treiben wir den Winter aus
durch unsre Stadt zum Tor hinaus
und jagen ihn zuschanden,
hinweg aus unsern Landen.

Wir stürzen ihn von Berg zu Tal,
damit er sich zu Tode fall.
Wir jagen ihn über die Heiden,
daß er den Tod muss leiden.

Wir jagen den Winter vor die Tür,
den Sommer bringen wir herfür,
den Sommer und den Maien,
die Blümlein mancherleien.

 

Noch im 19. Jahrhundert wurde am dritten Sonntag in der Mitte der Fastenzeit (Mittfasten, im Kirchenjahr Laetare = Freue dich – auf die Auferstehung Jesu) in vielen Regionen Deutschlands der Frühlingsbeginn gefeiert. Heutzutage werden das Winteraustreiben und das Sommereinholen vorwiegend in Mitteldeutschlands und in Südwestdeutschland begangen. Und nach wie vor wird auf dem damit verbundenem Umzug und bei dem sich anschließenden Verbrennen oder Ertränken einer Strohpuppe das Lied So treiben wir den Winter aus gesungen.

Von wem der Text stammt, ist unbekannt; die Melodie geht auf eine alte Volksweise aus der Zeit vor 1540 zurück.

Die Melodie wurde auch für geistliche Umdichtungen benutzt (vgl. Ernst Klusen: Deutsche Lieder, 2. Auflage 1981, S. 822). Hier eine erste Strophe mit „reformatorischer Polemik“ (Theo Mang: Der Liederquell, 2015, S. 102), wobei mit dem Antichristen der Papst gemeint ist:

1. So treiben wir den Winter aus,
Durch unsre Stadt zum Tor hinaus,
Mit sein‘ Betrug und Listen,
Den rechten Antichristen.

Die hinzugefügte vierte Strophe weist auf einen der vier Grundsätze der Reformation hin: sola scriptura: Was die Gläubigen tun müssen, kann ihnen niemanden vorschreiben, es ist nur in der Bibel zu finden.

4. Die Blume sproßt aus göttlich Wort,
Und deutet auf viel schönern Ort,
Wer ist’s der das gelehret?
Gott ist’s, der hats bescheret.

[aus: Achim von Arnim, Clemens Brentano (Hg.): Des Knaben Wunderhorn, 1806, Band 1, S. 106.]

Nachdem Luther kurz vor seinem Tod 1545 eine letzte Schrift gegen die römische Kirche Wider das Bapsttum zu Rom vom Teufel gestifft verfasst hatte, sang einer seiner Mitstreiter, der Pfarrer Johannes Mathesius (1504-1565) die folgenden 1541 auf einem Flugblatt aus Wittenberg dokumentierten drastischen Strophen (hier Auszüge aus Erk/Böhme: Deutscher Liederhort, Band II,  S. 89):

1. Nun treiben wir den Papst heraus,
aus Christus Kirch und Gotteshaus.
Darin er mördlich hat regiert
und unzählich viel Seel’n verführt.

[…]

4. Der römisch Götz ist ausgethan,
Den rechten Papst wir nehmen an:
Das ist Gotts Sohn, der Fels und Christ,
Auf dem sein Kirch erbauet ist.

[…]

7. Er geht ein frischer Sommer herzu,
Verleih uns Christus Fried und Ruh!
Bescher uns, Herr, ein seligs Jahr
Vor’m Papst und Türken uns bewahr!

Dieses Lied erschien auch in gekürzter Form in einigen evangelischen Gesangbüchern, z.B. 1597 im Hofer Gesangbuch mit der Bemerkung „Am Sonntag Laetare, zum Tod austragen, und den Babst aus der Kirche zu jagen“ (zitiert nach Erk/Böhme, S. 89). In mehreren Liederbüchern wird darauf hingewiesen, dass Luther den Text verfasst habe. Der Volksliedforscher Heinz Rölleke hält ihn hingegen lediglich für eine Überarbeitung Luthers (vgl. Das große Buch der Volkslieder, 1993, S. 61). Einig sind sich die Volksliedforscher von Ludwig Erk, Franz Magnus Böhme bis Ernst Klusen bis Heinz Rölleke darin, dass uns „die schöne Melodie“ durch das „reformatorische Kampflied“ (Mang, S. 102) erhalten geblieben ist.

Eine andere Umdichtung des Liedes ist Nun treiben wir den Tod hinaus. Obwohl der Brauch des Todaustreibens bereits seit 1439 bezeugt ist (vgl. Rölleke, S. 68), wurde dieses Lied erst etwa ab Mitte des 16. Jahrhunderts bekannt. Gesungen wurde es bei prozessionsartigen Umzügen an Mittfasten. Dazu wurde aus Pappe oder Stroh eine Puppe gebastelt, häufig in weiße Tücher gehüllt, durch die Straßen getragen und dabei Folgendes gesungen:

So treiben wir den Tod hinaus,
Den alten Weibern in das Haus,
Den Reichen in den Kasten
Heute ist Mitterfasten.

Nachdem „der Tod“ schließlich auf einem Platz verbrannt oder ins Wasser geworfen wurde, stimmten alle folgende Strophe an:

Den Tod haben wir ausgetrieben,
Den Sommer bring’n wir wieder,
Das Leben ist zu Haus geblieben
Drum singen wir fröhliche Lieder.

Oder statt der beiden letzten Verse auch:

Des Sommers und des Maien,
Des wollen wir uns erfreuen.

[Aus: Franz Magnus Böhme, Altdeutsches Liederbuch 1877, S. 608.]

So verquickten sich die Themen des Winteraustreibens und der reformatorischen Gedanken mit denen des Todaustreibens, bis der Text schließlich zu einem allgemein bekannten und beliebten Frühlingslied mit drei Strophen wurde (vgl. Rölleke, S. 68).

Foto: www.brauchwiki.de

An Mittfasten wurden auch andere Lieder gesungen, so z.B. das heute noch bekannte Lied Trarira, der Sommer, der ist da (auch Trariro, der Sommer der ist do; s. auch eine Variante von Hoffmann von Fallersleben, www.lieder-archiv.de). 1778 wurde es zum ersten Mal aufgezeichnet mit der Anmerkung: „In der Pfalz und in den umliegenden Gegenden gehen am Sonntag Lätare, welchen man den Sommersonntag nennt, die Kinder auf den Gassen herum mit hölzernen Stäben, an welchen eine mit Bändern geschmückte Brezel hängt, und singen den Sommer an, worüber sich jedermann freut“ (zitiert nach Ernst Klusen: Deutsche Lieder, 2. Band, S. 824). Die dritte Strophe lautet:

Trarira, der Sommer, der ist da!
Der Sommer hat gewonnen,
Der Winter hat ist zerronnen.
Ja, ja, ja, der Sommer der ist da!

Ob der etwa aus dem Jahr 1580 stammende Text mit der Melodie von 1646 (vgl. Klusen, S. 823) Heut ist ein freudenreicher Tag auf Mittfasten gesungen wurde, ist nicht überliefert. In der fünften  von 13 Strophen (s. www.lieder-archiv.de) wird der Winter direkt angesprochen:

Winter, wir haben dein genug,
nun heb dich aus dem Land mit Fug!
Alle ihr Herren mein, der Sommer ist fein.

In einer anderen Version heißt es:

O Winter, du darfst jetzt nicht viel sagn,
bald werd ich dich aus dem Sommerland jagn!
Ihr Herren mein, der Sommer ist fein

Während Trarira… in rund 200 und Trariro… in 80 mir online und privat zugänglichen Liederbüchern vertreten ist, habe ich Heut ist ein freudenreicher Tag nur in einem Schulliederbuch gefunden (Der Hamburger Musikant, Teil A vom 3. – 6. Schuljahr, 1952, S. 100). Nun (bzw. So) treiben wir den Winter aus ist in rund 250 Liederbücher aufgenommen worden. So treiben wir den Papst hinaus habe ich nur in älteren Liedersammlungen vor 1900 entdeckt.

Während das Datum des Mittfasten-Sonntags (Laetare) abhängig ist vom Ostersonntag, findet das Winteraustreiben in Nordfriesland jedes Jahr am 21. Februar statt. Beim sogenannten Biikebrennen (Biike = Bake, Feuerzeichen) wird ein riesiger aus Tannenbäumen und anderen Hölzern pyramidenhaft aufgeschichteter Haufen angezündet, was den Winter vertreiben soll.

Foto: Sönke Rahn.

Auf Sylt wird vorher eine Ansprache auf Friesisch gehalten, in vielen Dörfern hält häufig der Bürgermeister oder der Pastor eine Rede; manchmal sagen auch Kinder Gedichte in einem der nordfriesischen Dialekte auf.

In manchen Orten wird eine Strohpuppe verbrannt, Petermännchen genannt. Die bei Wikipedia (vgl. Stichwort Todaustragen, s. a. Biikebrennen)  angeführte Vermutung, dass diese Bezeichnung mit dem Vertreiben des Papstes (dem Petrus-Amt) zu tun habe, ist aus meiner Sicht abwegig. Seit etwa Mitte des 19. Jahrhunderts, als die heute üblichen großen Feuerstöße entstanden, war der reformatorische Eifer, den Papst auszutreiben, lange vorbei. Die einheitliche Festlegung des Biikebrennens am Abend des 21. Februars, die erst Ende des 19. Jahrhunderts eingeführt wurde, könnte allerdings mit dem Vorabend des katholischen Festtags Kathedra Petri, kurz Petritag, zusammenhängen. Dieser Feiertag geht auf das 4. Jahrhundert zurück: Am 22. Februar fand die Berufung des Apostel Petrus zum Lehramt in der Kirche und damit die Übernahme des römischen Bischofsstuhls (Cathedra) statt.

Am 22. Februar endete die Winterpause für die mittelalterliche Schifffahrt, nachdem für die Hansestädte und die Küstenorte zwischen Martini (Martinstag, 11. November, Festtag des hl. Martin von Tours) und Petri Stuhlfeier die Schifffahrt geruht hatte. So wurden bereits vor der Reformation mit den Biikefeuern der Frühling und damit die Wiederaufnahme der Arbeit auf den Seeschiffen begrüßt.

Georg Nagel, Hamburg

 

Romantisiertes Landleben. Zu „Im Märzen der Bauer“

Anonym

Im Märzen der Bauer

Version A

1.
Im Märzen der Bauer
die Rößlein einspannt.
Er setzt seine Felder
und Wiesen instand.
Er pflüget den Boden
er egget und sät
und rührt seine Hände
frühmorgens und spät.

2.
Die Bäuerin, die Mägde
sie dürfen nicht ruh´n.
Sie haben im Haus
und im Garten zu tun.
Sie graben und rechen
und singen ein Lied
und freu´n sich, wenn alles
schön grünet und blüht.

3.
So geht unter Arbeit
das Frühjahr vorbei.
Dann erntet der Bauer
das duftende Heu.
Er mäht das Getreide,
dann drischt er es aus.
Im Winter da gibt es
manch herrlichen Schmaus.

Version B

1.
Im Märzen der Bauer
Die Rößlein einspannt;
Er pfleget und pflanzet
All' Bäume und Land.
Er akkert, er egget,
Er pflüget und sät
Und regt seine Hände
Gar früh und noch spät.

a.
Den Rechen, den Spaten,
Den nimmt er zur Hand
Und ebnet die Äcker
Und Wiesen im Land.
Auch pfropft er die Bäume
Mit edlerem Reis
Und spart weder Arbeit
Noch Mühe und Fleiß.

2.
Die Knechte und Mägde
Und all sein Gesind,
Das regt und bewegt sich
Wie er so geschwind.
Sie singen manch munteres,
Fröhliches Lied
Und freu'n sich von Herzen,
Wenn alles schön blüht.

3.
Und ist dann der Frühling
Und Sommer vorbei,
So füllet die Scheuer
Der Herbst wieder neu.
Und ist voll die Scheuer,
Voll Keller und Haus,
Dann gibt's auch im Winter
Manch fröhlichen Schmaus.

Herkunft

Erstmals veröffentlicht wurde das uns heute geläufige Lied (A) 1923 in der von Walther Hensel herausgegebenen Liedersammlung Das Aufrecht Fähnlein. Hensel (1887–1956), der Musikpädagoge und Mitbegründer der Jugendmusikbewegung, hat das unter B aufgeführte Lied textlich und musikalisch bearbeitet, wie auch andere Volkslieder (vgl. auch Im Frühtau zu Berge in diesem Blog).

Ursprünglich stammen Text und Melodie aus Nordmähren, wo es „von der deutschen Landbevölkerung der mährischen Sudeten häufig und gern gesungen wurde“ (so der österreichische Ethnomusikologe Josef Pommer, 1845-1918). Die Version B taucht erstmalig 1884 im Liederbuch für die Deutschen in Österreich (Hrsg. Pommer) auf. Laut Eckart John, dem Volksliedforscher und Herausgeber des online verfügbaren Historisch-kritischen Liederlexikons, gehen beide Versionen auf die vierte Strophe des Liedes So hasset alle Sorgen, verjaget sie gar zurück:

Im Märzen der Bauer die Ochsen anspannt.
Er pflüget die Felder und bauet das Land.
Er pflüget und pflanzet die Bäumchen und Land.
Das bringet uns öfter ein‘ fröhlichen Stand.

Unbekannt geblieben ist, von wem Text und Weise dieses vom Beginn des 19. Jahrhunderts stammenden Kalenderliedes – jeder Monat wird einzeln besungen – stammen (vgl. liederlexikon.de).

Melodie

Formal ist das Lied dreiteilig aufgebaut: A B A, ein Aufbau wie er auch häufig bei Kinderliedern zu finden ist, z. B. Es tanzt ein Bi-Ba-Butzemann oder Weißt du wie viel Sternlein stehen. Hier wird der erste Formteil zu Beginn wiederholt: |:A:| B A. Die Formteile bestehen aus nur 4 Takten, wobei alle Formteile mit einem Auftakt beginnen wie viele Volkslieder (vgl. z. B. Aus grauer Städte Mauern oder Kommt ein Vogel geflogen). Die Melodie umfasst eine Oktave; sie enthält ausschließlich Viertelnoten, lediglich am Schluss eines jeden Formteils steht wegen des Auftaktes eine halbe Note. Die Textverteilung ist syllabisch, d.h. auf jeden Ton kommt eine Silbe.

Begleiten lässt sich die meistens in G-Dur notierte Melodie mit zwei Hauptharmonien, der Tonika und der Dominante; farbiger wird das Begleitspiel unter Einbeziehung des Dominantseptakkords. Die eingängige und einfache Melodie im Dreivierteltakt und sein leicht verständlicher Inhalt haben zur Beliebtheit des Liedes beigetragen, in den letzten Jahrzehnten vor allem bei Kindern und Kinderchören.

Interpretation

Das Lied gibt uns ein idyllisches Bild von der Arbeit auf dem Lande. Zwar wird von „früh bis spät“ gearbeitet, aber von der Härte der Arbeit ist nicht die Rede, und außerdem helfen dem Bauern beim Pflügen und Eggen „die Rößlein“, die ja eigentlich Ackergäule sind. Es scheint, als ob er anschließend ohne Hilfe nur noch das Säen besorgen müsste.

In der zweiten Strophe werden die Arbeiten der Bäuerin und der Mägde im Haus erwähnt und im Garten mit „graben und rechen“ beschrieben. Nach dem Motto Mit einem Liedchen auf den Lippen fließt die Arbeit munter fort „singen sie ein Lied“. Wer schon einmal ein Beet umgegraben hat, wird gemerkt haben, dass einem dabei nicht gerade nach Singen zumute ist. Zu der Zeit dienten die Gärten von Bauern fast ausschließend dem Anbau von Gemüse; blühende Stauden werden nicht zu sehen gewesen sein. Hier aber heißt es romantisierend „sie freun sich, wenn alles /  schön grünet und blüht“.

Darüber, wie schweißtreibend und anstrengend das Mähen in der (noch) nicht technisierten Landwirtschaft mit der Sense war, erfahren wir ebenso wenig wie über das tagelange Dreschen des Getreides mit dem Flegel. Aber im Winter geht es den Landleuten gut, „da gibt es manch fröhlichen Schmaus“. Auch hier dürfte die Realität geschönt worden sein. So viel Geld, wie für Fleisch und andere Zutaten zu einem fröhlichen Schmaus nötig war, hat der (Klein-)Bauer wohl kaum eingenommen. Also ist davon auszugehen, dass der Bauer nicht nur „ Rößlein“, sondern, wie selbst bei ärmeren Bauern üblich, Federvieh, mindestens eine Kuh und ein, zwei Schweine besessen hat und Bäuerin und Bauer sowie die Mägde davon profitieren konnten. Das aber würde bedeuten, dass eine Menge zusätzliche Arbeit in die Tierhaltung, ins Füttern, Melken, Stall ausmisten usw. gesteckt werden musste, wie es auch in der dritten Strophe einer Neudichtung von O. Haen (veröffentlicht 1973 in der Sammlung Der Liederquell) heißt:

Dann hat er das Tagwerk noch lang nicht vollbracht,
er füttert die Tiere noch ehe es Nacht.
Die Rösslein, das Kälbchen, das Lämmchen, die Kuh,
und geht dann mit Frieden im Herzen zur Ruh.

(liederlexikon.de)

Doch davon ist in unserem Lied keine Rede. Im Gegensatz zu dem an der Wirklichkeit des damaligen Bauernlebens vorbeigehenden Lied zeichnen uns frühere Bauernlieder ein ganz anderes Bild.

Bauernleben

In den Bauernliedern, die Der Große Steinitz, Deutsche Volkslieder demokratischen Charakters aus sechs Jahrhunderten ausweist (vgl. S. 53 ff.), geht es tatsächlich alles andere als idyllisch zu. Da mussten Fron- und Anspanndienste (Ackerbau und Arbeiten mit eigenen Zugtieren für den Grund- oder Leibherrn) geleistet werden, die häufig zu Lasten der Arbeit auf dem eigenen Acker gingen, der Zehnte an die Kirche und hohe Steuern gezahlt und auch noch „Pickdienste“ (Drill- und Kriegsdienste – „Ich trag ein Pick im vierten Glied“ heißt es in der 21. Strophe der Schwäbischen Bauernklage) erfüllt werden. Steinitz weist unter dem Titel Ich bin ein armer Bauer neun Lieder bzw. Gedichte über Bauernklagen aus. In dem unter dem Titel wohl bekanntesten Lied aus dem 17. Jahrhundert mit dem Untertitel „Wie sich der Baur beklagt wegen der grossen Contribution (Grundsteuer) und Beschwärnussen“ heißt es in der ersten von 31 Strophen:

Ach ich bin wol ein armer Baur,
Mein Leben wird mir mächtig saur,
Ich mein, ich könn oft nimmermehr:
Ach daß ich nie geboren wär!

Eine Variante aus dem Jahr 1818, die die ersten beiden Zeilen aufnimmt, stammt aus Mähren:

Ei, Pauer, liewer Pauer,
Dos Lawe fällt mer sauer,
Dos Lawe fällt mer a su schwer,
Ich woll‘, dos ich kae Pauer wär.

Sicherlich gibt es auch aus früheren Zeiten Bauernlieder, die von zufriedenen Bauern handeln, besonders nachdem Fron- und Pickdienste abgeschafft waren, so z. B. Ich lebe als Landmann zufrieden (1880) oder Ich bin das ganze Jahr vergnügt, im Frühling wird das Feld gepflügt (um 1900) (weitere Bauernlieder s. volksliederarchiv.de).

 Im Märzen der Bauer19. Jahrhundert, unbekannter Maler

 

Rezeption

Ob die Henselsche Fassung in der späten Jugend- und Wandervogelbewegung gesungen wurde, ist nicht bekannt. In die einschlägigen Liederbücher ist es nicht aufgenommen worden, jedoch in viele Schulbücher der Weimarer Zeit und in einige Liederbücher der Wanderburschen.

In der Zeit des NS-Staats fand es als Frühlings- oder Kinderlied Aufnahme in zahlreiche Schulbücher. Während es den meisten NS-Organisationen wahrscheinlich als zu unpassend für „Aufbau oder Stärkung des Nationalsozialismus“ erschien, fand es Platz im Liederbuch Werkleute singen der NS-Gemeinschaft Kraft durch Freude und in der Sammlung Lieder der Arbeitsmaiden.

Geht man von der Anzahl der Liederbücher (über 250) im Schendel-Archiv (www.deutscheslied.com) sowie der Platten, CDs (rund 70) und Partituren fast (200) des Deutschen Musikarchivs Leipzig aus, wurde Im Märzen der Bauer nach dem Zweiten Weltkrieg bis heute gern gehört und gesungen. Da es auch als Kinderlied gilt, singen es vor allem Kinderchöre, wie die Wiener Sängerknaben, die Regensburger Domspatzen und der Tölzer Knabenchor u.v.a., aber auch Nena auf der Kinderlieder-CD Unser Apfelhaus. In ihr Repertoire nahmen es auch der Tenor Peter Schreier und der Bariton Peter Schreyer auf. Bei den über 100 Videos von Youtube überwiegen die Interpretationen als Kinderlied.

Parodien

Wie populär ein Lied ist, kann sich auch in Parodien oder Umdichtungen zeigen, wobei häufig die erste Zeile (sog. Incipit) als Aufmacher bzw. Titel dient. Von acht mir bekannten Parodien aus den vergangenen Jahrzehnten handeln sieben von der Mechanisierung der Landwirtschaft. Statt der „Rösslein“ wird zum Pflügen ein „Traktor“ eingesetzt; dafür gibt es ein überzeugendes Beispiel: Im Märzen der Bauer Motoren anwirft (m. E. sehens- und hörenswert dieses Youtube-Video). In dreien dieser Varianten wird zusätzlich der übermäßige Einsatz von Düngemitteln und Giften angeprangert. Folgerichtig heißt es einem Lied des früheren Mitglieds der Münchner Lach- und Schießgesellschaft, Klaus Peter Schreiner:

Er [der Bauer, Anm. d. Verf.] fährt in die Kreisstadt
– er ist ja nicht dumm,
und kauft im Reformhaus
– er weiß schon, warum.

Politische Variante

Zum Schluss noch die Variante, die am schärfsten die Verwendung von Chemikalien anprangert. Das folgende Lied wurde anlässlich der Demonstrationen im Mai 2013 „March against Monsanto“ von A. E. Corvis verfasst:

Der Bauer im 21. Jahrhundert

Im Märzen der Bauer den Traktor anspannt
er spritzt tonnenweise Glyphosat auf das Land.
Kein Regenwurm lebt mehr, kein Pflänzchen, o Graus!
Nur Saat von Monsanto mit Genen hält‘s aus!

April ist‘s, der Bauer die Felder schön düngt,
er spritzt reichlich Gülle, das ganze Land stinkt.
Dazu noch Ammoniumnitrat und Phosphat,
ganz dick und massiv bald empor wächst die Saat.

Im Maien der Bauer das Rapsfeld einsprüht.
Besonders gut wirkt‘s, wenn der Raps goldgelb blüht.
Es sterben die Bienen, und krank wird das Vieh,
doch die Aktien von Bayer, die steigen wie nie!

Im Juni der Bauer mit Ammoniak aast,
ganz tief wird mit Düsen der Acker vergast.
Kein Vöglein mehr singt, da die Lunge verätzt,
die Kröten am Boden gleich werden zersetzt!

Im Juli der Bauer mit Gift um sich spritzt,
damit ihm kein Käfer ein Körnchen stibitzt.
Von Jahr zu Jahr stärker das Gift wird dosiert,
doch sind die Insekten längst immunisiert.

Im Herbste dem Bauern die Ernte verdorrt,
die Bank um Kredit er vergebens anschnorrt.
Der Herr von Monsanto verspricht ihm sehr viel:
„Ein paar Zentner Gift noch, dann sind Sie am Ziel!“

Im Winter der Bauer durchs Stadttor einfährt,
damit die Familie gesund sich ernährt.
Er schaut auf dem Markte sich aufmerksam um,
kauft BIO-Gemüse, er weiß schon, warum!

Georg Nagel, Hambung

Frühlings- und Liebeslied. Zu „Der Winter ist vergangen“

Anonym

Der Winter ist vergangen

1.
Der Winter ist vergangen,
ich seh des Maien Schein,
ich seh die Blümlein prangen,
des ist mein Herz erfreut.
So fern in jenem Tale,
da ist gar lustig sein,
da singt die Nachtigale
und manch Waldvögelein.

2.
Ich geh, ein Mai zu hauen*,
hin durch das grüne Gras,
schenk meinem Buhl* die Treue,
die mir die liebste was.
Und bitt, daß sie mag kommen,
all vor dem Fenster stahn,
empfangen den Mai mit Blumen,
er ist gar wohl getan.

3.
Und als die Allerliebste
sein Reden hatt gehört
da stand sie Traurigliche***
und sprach zu ihm ein Wort
"Ich hab den Mai empfangen
mit großer Würdigkeit!"****
Er küßt sie an die Wangen
war das nicht Ehrbarkeit?

4.
Er nahm sie sonder Trauern
in seine Arme blank,
der Wächter auf der Mauern
hub an ein Lied und sang:
"Ist jemand noch darinnen,
der mag bald heimwärts gahn.
Ich seh den Tag herdringen
schon durch die Wolken klar."

5.
"Ach Wächter auf der Mauern,
wie quälst du mich so hart!
Ich lieg in schweren Trauern,
mein Herze leidet Schmerz.
Das macht die Allerliebste,
von der ich scheiden muß;
das klag ich Gott dem Herren,
daß ich sie lassen muß.“

6.
Ade, mein Allerliebste,
ade, schöns Blümlein fein,
ade, schön Rosenblume,
es muß geschieden sein!
Bis daß ich wieder komme,
bleibst du die Liebste mein;
das Herz in meinem Leibe
gehört ja allzeit dein.

     * Ein alter Brauch, nachdem ein Mann der von ihm Umworbenen eine junge Birke vor
     ihr Fenster stellt oder Birkenzweige anbringt
     ** Buhl = Liebste, Geliebte 
     *** von trouwen, trauen, hier im Sinn von Vertraut; vertrauensvoll
     **** würdig von wert, etwas wert sein, etwas wertschätzen.

„Der wynter ys verganngen, ons compt des meyen tyet“ lauten die beiden ersten Zeilen des Liedes, dessen „mittelniederländischer Text auf einem losen Blatt im 15. Jahrhundert (auftaucht), das in Hanau gefunden wurde“ (Nederlandse Liederenbank unter De winter is vergangen). Erstmalig gedruckt erschien es in Het zutphens Liedboek (bekannt als Weimarer Liederhandschrift, 1537-1543, Weimarer Landesbibliothek). 1544 wurde das inhaltlich ähnliche Lied Het viel eens hemels douwe / Voor mijns liefs vensterkijn (Es fiel ein himmlischer Tau auf meiner Liebsten Fenster) in das Antwerp Liederboek aufgenommen, dessen zweite Strophe identisch ist mit der ersten von Der Winter ist vergangen.

Wie beliebt das Lied in den Niederlanden war, zeigen sieben weitere allein im 16. Jahrhundert erschienene Liederbücher. Nach Deutschland gekommen ist De winter is verganghen 1856 durch den Dichter und Germanistik-Professor Heinrich Hoffmann von Fallersleben (1798 – 1874), bekannt wurde es durch die Übersetzung ins Deutsche 1877 des  Volksliedforschers und -sammlers Franz Magnus Böhme (1827 – 1898) und die Aufnahme in seine Sammlung Altdeutsches Liederbuch und populär seit der Aufnahme in die Lieder Sammlung Deutscher Liederhort von Ludwig Erk und Franz Magnus Böhme, Leipzig 1893/94.

Der Verfasser des Liedtextes, der bis heute unbekannt geblieben ist, hat sich offensichtlich von Versen aus dem Hohelied Salomos (Altes Testament) inspirieren lassen:

Zur 1. Strophe:

Denn siehe, der Winter ist vergangen, der Regen ist weg und dahin;
die Blumen sind hervorgekommen im Lande, der Lenz ist herbeigekommen,
und die Turteltaube lässt sich hören in unserm Lande…
Hohelied Salomos, Kapitel 2, Vers 11 und 12.

Zur 2. Strophe:

… und sieht durchs Fenster … Kapitel 2, Vers 8.

Zur 5. Strophe:

Es fanden mich die Wächter, die in der Stadt umgehn … Kapitel 3, Vers 3.

Zur 6. Strophe:

Wie eine Rose …..ist meine Freundin … Kapitel 2, Vers 2.

Wer aber hatte im 15. Jahrhundert derart gute Bibelkenntnisse, wenn nicht ein Theologe oder ein Student der Theologie?

Von wem die Melodie stammt, ist ebenfalls nicht bekannt. Die holländische Liederenbank datiert die erste Notation auf 1591. Einige Quellen gehen davon aus, dass De winter is vergangen eine eigene Melodie hat, so z. B. „Thysius Luitboek“ (etwa 1600). Da jedoch die “Winter-Melodie“ fast identisch ist mit der des Liedes Het viel een hemelse douw (Es fiel ein himmlischer Tau), könnte es zwei ähnliche Melodien gegeben haben (so die Online Dutch Song Database zu beiden Liedern).

Diese beiden einprägsamen Weisen waren derart beliebt, dass im 16. und 17. Jahrhundert in Holland mehr als 20 andere weltliche und kirchliche Lieder mit diesen Melodien entstanden (vgl. Übersicht in der Nederlandse Liederenbank unter De winter is vergangen). Der Hinweis, dass die niederländische Nationalhymne Het Wilhelmus der heutigen „Winter-Melodie“ ähnele (z. B. Hans Rölleke Das große Buch der Volkslieder, S. 60), ist nicht nachzuvollziehen (vgl. die diversen Interpretationen von Wilhelmus von Nassauen auf Youtube); mag sein, dass die Notationen im 16. und 17. Jahrhundert teilweise übereinstimmten.

Im Lied freut sich  der Theologiestudent darüber, dass der Winter vorbei ist; er sieht wie die Natur grünt und blüht und hört die Vögel zwitschern – hier poetisch überhöht ‚die Nachtigall singen‘. Er bekommt „Frühlingsgefühle“, denkt an seine Liebste und stellt ihr als Zeichen seiner Zuneigung eine kleine Birke vors Fenster. Er bittet, dass sie sich am Fenster zeigen und bereit sein möge, ihn zu erhören, den ‚Mai mit Blumen zu empfangen‘. Und die Allerliebste vertraut ihm, gibt ihm zu verstehen, dass sie es schätzen wird, ‚den Mai zu empfangen‘, worauf er sie (zunächst nur) auf die Wangen küsst. In der vierten Strophe wird klar: Dabei ist es nicht geblieben. Das Liebespaar hat die Nacht miteinander verbracht. Und während es in Dat du min Leevsten büst der am frühen Morgen krähende Hahn ist, der zum Aufbruch mahnt, ist es hier der „Wächter auf der Mauern“. Der Protagonist nimmt die Aufforderung ernst, er trauert, sein „Herze leidet Schmerz“, denn er weiß, er muss scheiden, Abschied nehmen. Er nennt seine Allerliebste „Rosenblume“, versichert ihr seine Liebe und Treue – „das Herz in meinem Leibe / gehört ja allzeit dein“und tröstet seine Geliebte und sich damit, dass er ja wieder kommen wird.

Von den frühen Liederbüchern, in die Der Winter ist vergangen Aufnahme fand, sind die Altdeutschen Lieder (Hg. v. Ludwig Böhme, 1877), der Deutsche Liederhort, Band II (Hg. v. Ludig Erk u. Franz Maguns Böhme, 1894) und der Zupfgeigenhansl (Hg. v. Hans Breuer, 1908) insofern herauszustellen, als sie den Siegeszug des Liedes in Deutschland einleiteten. Danach tauchte das Lied in der Weimarer Zeit in mehr als 30 Liederbüchern (vgl. Archiv Hubertus Schendel) verschiedener Provenienz und in Schulbüchern auf.

Einen weiteren Rezeptionshöhepunkt erlebte das Lied in der Nazizeit. Das zeigen die Liederbücher Uns geht die Sonne nicht unter der Hitlerjugend, Werkleute singen der NS-Gemeinschaft Kraft durch Freude, Wir Mädel singen des Bundes Deutscher Mädel und Lieder der Arbeitsmaiden des Reichsarbeitsdienstes mit ihren hohen Auflagen. Auch das SS-Lieder-Buch (9 Auflagen) und zahlreiche Schulbücher zeugen davon, wie dieses unpolitische Lied vom NS-Regime vereinnahmt wurde. Auffällig bei den von den Nazis edierten Liederbüchern ist, dass bei der Mehrzahl der niederländische Ursprung verschwiegen wird; man war bestrebt, diesem Lied eine deutsche Abkunft zu bescheinigen“ (vgl. Historisch-kritisches Liederlexikon). Außer in wenigen konfessionsnahen Liedersammlungen war das Frühlingslied neben dem Moorsoldatenlied, Wilde Gesellen vom Sturmwind durchweht, Ade zur guten Nacht  u. v. a. auch im handschriftlichen Lagerliederbuch des KZ Sachsenhausen enthalten.

Nach dem Zweiten Weltkrieg ist Der Winter ist vergangen ist in zahlreiche Liederbücher aufgenommen worden. Zur großen Verbreitung des Liedes haben vor allem die Mundorgel (1953 bis 2013 über 10 Millionen Auflage), das umfangreichste deutsche Liederbuch Deutschland im Volkslied – 714 Lieder aus deutschsprachigen Landschaften und Europa (1958) und das auflagenstarke  Das große Buch der Volkslieder (Bertelsmann Club, o. J.) beigetragen.

Populär geworden ist es auch in der DDR durch mehrere Liederbücher, darunter das FDJ-Liederbuch Leben Singen Kämpfen. Gesungen wurde und wird es noch heute in Österreich und England (The night of winter’s over, / The light of spring is here) und in der Schweiz, besonders im Kanton Tessin in italienisch (L’inverno è passato, l’aprile non c’è più / è ritornato il maggio col canto del cucù) mit einer leicht abgewandelten Melodie.

Von den vielen Tonträgern mit dem Frühlingslied seien hier nur die Alben mit hohen Auflagen erwähnt: Freche Lieder – liebe Lieder (Folge 1, 1987) der Büchergilde Gutenberg, Die schönsten Volkslieder (1989) von Das Beste aus Reader Digest und vor allem Volkssänger (1975) und Der Volkssänger (2004) von Hannes Wader. In den letzten 5 Jahren hat das Deutsche Musikarchiv 17 Partituren des Liedes gesammelt; ein Nachweis dafür, dass das Lied noch heute gern gesungen wird.

Die Beliebtheit eines literarischen Werks kann sich in der Verselbständigung der ersten Zeile oder Titels eines Lieds oder Gedichts zeigen. Gerade in der Werbung wird das Incipit gern benutzt,  z. B.: Ein Möbelhaus macht im Frühling eine Zeitungsanzeige mit „Der Winter ist vergangen“ auf, ein Modeschöpfer stellt seine Frühjahrskollektion unter das Motto der ersten Zeile oder ein Wanderverein wirbt im März für seine Wandertage.

Viele andere Dichter benutzen die erste Zeile oder deren Anfang als Einstieg für den weiteren Text; so z B. Wilhelm Raabe (1831 – 1910) 1857 in Der Student von Wittenberg:

Der Winter ist vergangen. Jubilate!,
Die grünen Felder prangen. Jubilate!
Ihr Schüler von den Bänken, Jubilate!
Ihr sollt des Mai’s gedenken, Jubilate!, Jubilate!

und namentlich nicht genannte Wandervögel: „Der Winter ist vergangen, /Es grünet und blühet das Feld“ (WV-Album 1920) bzw. „Der Winter ist vergangen / Sieh, Schnee und Regen sind vorbei“ (WV-Album 1922), Madeline John in Neue Lieder erklingen, 11. Folge 1983, DDR: „Der Winter ist vergangen / vom Frühling eingefangen“.

Der Grad der Popularität eines Liedes ist häufig auch an der Anzahl der Parodien abzulesen. (Parodie im literaturwissenschaftlichen Sinn als Übernahme von Form und Struktur des Vorbilds und Änderung des Textes). Eine der ersten Parodien stammt aus dem Jahr 1817 von einem unbekannten Wandergesellen (2. Strophe):

Der Winter ist gekommen,
die Meister werden stolz
Sie sprechen zu ihren Gesellen:
Geh raus und haue Holz!

(„Holzspalten ist sonst nur eine Sache von Lehrlingen und Tagelöhnern“. Der Grosse Steinitz. Deutsche Volkslieder demokratischen Charakters aus sechs Jahrhunderten. Westberlin 1979, S. 196).

Wandergesellen, deren Wanderschaft sich nicht auf Deutschland beschränkte, scheint also die Melodie bereits vor dem als Entdecker des niederländischen Liedes bezeichneten Heinrich Hoffmann von Fallersleben bekannt gewesen zu sein. Hoffmann hat einen eigenen Text verfasst, vertont vom Volksliedforscher und Liedersammler Ludwig Erk (1807 – 1883), mit folgender erster  Strophe:

Der Frühling ist gekommen
Es grünet Wald und Flur.
Frisch auf, mein Sang, verkünd’ es
Der ganzen deutschen Welt!

Zerspreng des Bannes Schlafe,
drin jetzt noch alles ruht,
und weck in aller Herzen
des Frühlings Lust und Mut.

(Deutscher Liederschatz von Ludwig Erk, Nr. 128, Leipzig 1889).

Auch ein 1983 entstandenes Protestlied gegen die Stationierung von Atomraketen hat sich formal an Der Winter ist vergangen orientiert (2. Strophe):

Ich ging um nachzuschauen
hin durch das grüne Gras
bis daß ein Stacheldraht war,
wo ich solch‘ Inschrift las:

„Hier baut die US-Army
ein Waffenarsenal“.
Da fand ich’s plötzlich gar nicht
mehr lustig in dem Tal.

(Manfred Bonson [Hg.]: Laßt uns Frieden schaffen ohne Waffen. 112 Lieder gegen den Krieg und für den Frieden, Fischerhude 1983.)

ebenso wie Anna Vetter mit ihrer Freude über den an der TU Berlin erlangten Bachelor (1. Strophe):

Der Bachelor ist vergangen,
Ich seh schon meinen Schein.
Ich seh den Abschluss prangen,
Des ist mein Herz erfreut.
Und auf der Abschiedsfeier,
Da ist gar lustig sein.
Da lädt uns der Dekane
zu manchem Biere ein.

(Zeit der Leser, 22. Mai 2012).

Georg Nagel, Hamburg

Vorfreude statt Abschiedsschmerz: „Winter, ade“ von August Heinrich Hoffmann von Fallersleben (1835)

August Heinrich Hoffmann von Fallersleben

Winter, ade

Winter, ade!
Scheiden tut weh.
Aber dein Scheiden macht,
Daß mir das Herze lacht!
Winter, ade!
Scheiden tut weh.

Winter, ade!
Scheiden tut weh.
Gerne vergeß ich dein,
Kannst immer ferne sein.
Winter, ade!
Scheiden tut weh.

Winter, ade!
Scheiden tut weh.
Gehst du nicht bald nach Haus,
Lacht dich der Kuckuck aus!
Winter, ade!
Scheiden tut weh.

Das kleine Abschiedslied auf die Melodie des alten fränkischen Volksliedes Schätzchen ade (vgl. Kommentar im Volksliederarchiv), das sich schnell als Frühlingslied zu erkennen gibt, ist hierzulande gleichermaßen beliebt und bekannt und wird von vielen Menschen als Kinderlied betrachtet. Es verwendet einfache Worte, besitzt eine einprägsame Melodie und zeigt einen klaren gedanklichen Aufbau. In allen drei sechszeiligen Strophen redet die Sprecherinstanz die kalte Jahreszeit an, die –  solcherart personifiziert – jeweils im ersten und fünften Vers explizit verabschiedet wird: „Winter, ade!“ „Ade“ ist eine süd- bzw. südwestdeutsche Variante des französischen Abschiedsgrußes „Adieu“ („bei Gott“ im Sinne von „geh‘ zu/mit Gott“), der in ganz Deutschland bis 1914 vorherrschend war, dann aber mit der nationalistischen Sprachpropaganda zugunsten von „Auf Wiedersehen!“ zurückgedrängt wurde (vgl. http://de.wikipedia.org/wiki/Adieu).

Die erste Strophe führt das gedanklich leicht auflösbare Paradox aus, dass Abschiede zwar im Allgemeinen schmerzen, in diesem Fall aber entgegengesetzte Gefühle auslösen. Der Winter verkörpert für die Sprecherinstanz ganz offensichtlich die unwirtliche, karge, beschwerliche und trostlose Jahreszeit, deren Ende die Menschen kaum erwarten können. Das Lied wurde von Hoffmann von Fallersleben 1835 gedichtet, in einer Zeit harter Hungerjahre, als viele Deutsche aus purer Not ihr Land verlassen mussten.

In der zweiten Strophe des Liedes schickt das Sprecher-Ich dem Winter noch die Verwünschung hinterdrein, dass er ihm gerne für immer gestohlen bleiben könne:

Gerne vergeß ich dein,
Kannst immer ferne sein.

In der dritten Strophe rahmen die Refrainverse einen Satz, der als Warnung oder sogar als Drohung zu verstehen ist:

Gehst du nicht bald nach Haus,
Lacht dich der Kuckuck aus!

Erst jetzt wird dem Hörer klar, dass der Winter sein Ränzlein offenbar doch noch nicht geschnürt hat, sondern seinen vom Sprecher so sehnlichst erwarteten Abschied hinauszögert. Der häufig wiederholte Abschiedsgruß „Winter ade“ war offensichtlich an einen abschiedsunwilligen ,Gast‘ gerichtet gewesen. Ob die formal-logisch als materiale Implikation (,wenn-dann-Konstruktion‘) formulierte Wendung als Warnung oder Drohung zu betrachten ist, ergibt sich aus der Einschätzung der Beziehung zwischen Sprecherinstanz und Adressaten: Wie sehr sind sich die beiden feind und wie ist das Machtgefälle zwischen beiden einzuschätzen? Vielleicht spielt dabei auch eine Rolle, wie ,bedrohlich‘ das Gespött des Kuckucks dem Winter überhaupt erscheinen mag. Aus unserer Erfahrung mit dem Gang der Jahreszeiten glauben wir zu wissen, dass der Winter mit dem Fortschreiten des Kalenderjahres keine wirkliche Chance mehr hat. Die Sprecherinstanz scheint sich auch auf diesen natürlichen Gang der Dinge zu verlassen, wenn sie sich dem Winter gegenüber einen solch kecken Ton anmaßt. Die Klimageschichte lehrt allerdings, dass es vom Anfang des 15. bis deutlich in das 19. Jahrhundert hinein in Mitteleuropa eine sogenannte ,kleine Eiszeit‘ mit vielen kühlen, verregneten Sommern und entsprechenden Missernten gegeben hat. Insofern schwingt in der zuversichtlich vorgetragenen Verabschiedung des Winters in unserem Lied von 1835 auch eine Portion Optimismus bzw. Wunschdenken mit.

Mit dem Kuckuck verbinden sich traditionell viele unterschiedliche Assoziationen; unser Lied macht allerdings explizit nur von zwei Semantisierungen Gebrauch: der Kuckuck als Spottvogel und als Frühlingsbote.( Eventuell könnte man – bezogen auf den nachfolgend zu besprechenden Hintersinn des Liedes – auch noch an die Rolle des Kuckucks als Prophet denken, der auf die Frage, wie viele Lebensjahre einem noch bleiben, mit seinem Ruf antwortet.)

Ein kleiner Kommentar zu unserem Lied im Volksliederarchiv weist allerdings auch darauf hin, dass der Kuckuck ein Freiheitssymbol der 1848er Revolution gewesen ist und Hoffmann von Fallerslebens Frühlingslied als revolutionärer Text verstanden werden kann. Vieles spricht in der Tat für eine solche zweite Bedeutungsebene des Textes, z.B. die eindeutige politische Symbolik der kalten Jahreszeit (vgl. etwa Heine, Deutschland, ein Wintermärchen). Zu Zeiten des Systems Metternich war es für politische Dichter nicht ratsam, die Abschaffung der repressiven Verhältnisse  offen zu fordern; insofern versteckten Vormärz-Schriftsteller ihre subversiven Botschaften gerne hinter Metaphern und das zeitgenössische Publikum war im Entziffern solcher Texte durchaus versiert. Mit welchen Sanktionen man zu rechnen hatte, wenn man der Obrigkeit unangenehm auffiel, war den Zeitgenossen dank vieler böser Exempel höchst bewusst. Angesichts solcher Rahmenbedingungen ist es erstaunlich, dass Hoffmann sich der politischen Dichtung ausgerechnet nach 1831 mit Vehemenz zuwandte, nachdem er sich durch seine Berufung zum (zunächst a.o., 1835 sogar zum ordentlichen) Professor endlich in einer bürgerlich gefestigten Position etabliert hatte.

Wie v. Wintzingerode-Knorr ausführt, agierte Hoffmann damals gegen die ausdrücklichen Bedenken seiner Freunde, indem er mit der Publikation seiner Unpolitischen Lieder 1840 „sehenden Auges ins Verderben“ marschierte (Karl-Wilhelm Frhr. V. W.-K.: Hoffmann von Fallersleben. Ein Leben im 19. Jahrhundert. In: August Heinrich Hoffmann von Fallersleben 1798-1998. Festschrift zum 200. Geburtstag. Hrsg. von Hans-Joachim Behr, Herbert Blume und Eberhard Rohse. Bielefeld 1999, = Braunschweiger Beiträge zur deutschen Sprache und Literatur 1, S. 11-33, hier S. 26). Der Kommentar des Volksliedarchivs weist allerdings auch zu Recht darauf hin, dass der politische Bezug des hier behandelten Liedes nicht zwingend hergestellt werden musste; ansonsten wäre es auch kaum erklärlich, dass es in Preußen vor dem ersten Weltkrieg im Lehrplan der ersten Klasse stand. Für eine politisch harmlose Aufnahme von Winter ade! spricht der Umstand, dass sich Hoffmann 1835 mit dem Musiklehrer Ernst Richter zusammengefunden hatte, um eine Sammlung schlesischer Volkslieder zu betreiben, wobei er für etliche von Richter aufgetriebene Melodien passende Texte entweder in seiner Bibliothek fand oder selber neu verfasste (vgl. Ingeborg Gansberg: Volksliedsammlungen und historischer Kontext. Kontinuität über zwei Jahrhunderte? Frankfurt a. M. 1986, = Europäische Hochschulschriften XXXVI/17, S. 170).

Eine Einordnung als Volks- bzw. Kinderlied wurde somit also auch dadurch gestützt, dass Hoffmann viele weitere populäre und wohl auch politisch unbedenkliche Lieder wie Alle Vögel sind schon da,  Summ, summ, summ,  Kuckuck! Kuckuck! ruft’s aus dem Wald (alle ebenfalls 1835), Ein Männlein steht im Walde (1843), Der Kuckuck und der Esel (?) und andere mehr geschrieben hatte. Ferner hatte sich der Dichter durch seine einschlägigen Forschungen und Editionen schon einen erheblichen Ruf als Germanist erarbeitet, den er in späteren Jahren noch ausbaute. Heute gilt er sogar als der Vorbereiter der modernen Volksliedforschung (vgl. Otto Holzapfel: Hoffmann und der Beginn kritischer Volksliedforschung in Deutschland. In: Festschrift zum 200. Geburtstag, 1999, S. 183-198).

Der Kuckuck wurde übrigens nicht erst im Zuge der 1948er Revolution (s.o.), sondern schon im 18. Jahrhundert als Freiheitssymbol in deutschsprachigem Liedgut zum Einsatz gebracht. Einen Beleg liefert z.B. das auch heute noch recht bekannte Volkslied Auf einem Baum ein Kuckuck (vgl. http://www.volksliederarchiv.de/text434.html). Dass diese Verbindung des Brutparasiten mit freiheitlichen Konnotationen nie völlig in Vergessenheit geraten ist, zeigen neuere Aufnahmen dieses Liedes durch Sänger wie Hannes Wader oder Rio Reiser.

Hans-Peter Ecker, Bamberg