Auf Traumpfaden aus dem Alltag: Bernd Clüvers eskapistische Schnulze „Der Junge mit der Mundharmonika“ (1972)
14. April 2014 1 Kommentar
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Bernd Clüver Der Junge mit der Mundharmonika (Text: Peter Orloff) Da war ein Traum, Der so alt ist wie die Welt. Und wer ihn träumt, Hört ihm zu, wenn er erzählt. Der Junge mit der Mundharmonika Singt von dem, was einst geschah In silbernen Träumen. Von der Barke mit der gläsernen Fracht, Die in sternenklarer Nacht Deiner Einsamkeit entflieht. Du hörst sein Lied Und ein Engel steht im Raum. Dann weißt du nicht: Ist es Wahrheit oder Traum? Der Junge mit der Mundharmonika Singt von dem, was einst geschah In silbernen Träumen, Von der Barke mit der gläsernen Fracht, Die in sternenklarer Nacht Deiner Traurigkeit entflieht. Der Junge mit der Mundharmonika Singt von dem, was einst geschah In silbernen Träumen, Von der Barke mit der gläsernen Fracht, Die in sternenklarer Nacht Deiner Traurigkeit entflieht. [Bernd Clüver: Der Junge mit der Mundharmonika. Hansa 1972.]
Das Handbuch der populären Musik (hg. v. Peter Wicke u.a., erw. Neuausgabe Mainz 2007, S. 656) definiert die „Schnulze“ als ein Lied, das Gefühlsklischees anhäuft und Sentimentalität bis zur Rührseligkeit steigert; damit sei die Schnulze „eine Erscheinungsform des musikalischen Kitsches“. Wie Roy Blacks Ganz in weiß (vgl. meine Besprechung in diesem Blog) würde ich auch Bernd Clüvers Junge mit der Mundharmonika diesem Genre zuschlagen, das ich als wissenschaftlichen Gegenstand übrigens ebenso ernst nehme wie jedes andere, befriedigt es doch Grundbedürfnisse des Menschen und kann seine Funktion im Einzelfall besser oder schlechter erfüllen. Beide Lieder thematisieren Träume; während Roy Black mit einer ,weißen Hochzeit‘ den Inbegriff des Happy Ends evoziert und im Traumbild auf Dauer stellt, nimmt Clüvers Schnulze (von Peter Orloff deutsch betextete Coverversion des spanischen Hits El Chico De La Armonica von Micky, Komposition von Fernando Arbex) das Publikum in eine kompliziertere Gedankenbewegung mit, weg von der Realität, wofür die Literaturwissenschaft den Begriff ,Eskapismus‘ anzubieten hat. Clüver spricht/ singt seine HörerInnen mehrfach persönlich an; dabei unterstellt er bzw. setzt voraus, dass diese einsam (V. 10) und traurig (V. 19, 25) sind. Seine durch ein Lied im Lied vermittelten Traumbilder verdichten sich schließlich in einem mythisch-märchenhaften Vehikel (der „Barke mit der gläsernen Fracht“), auf dessen Bewegungsrichtung es vor allem ankommt. Das Fahrzeug „entflieht“ (V. 10, 19, 25) der „Einsamkeit“ bzw. „Traurigkeit“ der Zuhörerschaft. Genau genommen könnte man Clüvers Schlager den Vorwurf machen, dass seine Barke die Fans in ,ihrem Elend‘ sitzen lässt; aber vermutlich funktioniert er ,humaner‘: Die musikalischen und textlichen Stimulantien des Songs und der Vortragsgestus des Interpreten führen beim kongenialen, bevorzugt wohl weiblichen Fan zu einer Abspaltung seiner bzw. ihrer negativen Gefühle. Die Hörerin versenkt sich – jedenfalls für die Dauer des Schnulzen-Erlebnisses – in die Suggestionen der ,silbernen Traumwelt‘, besteigt quasi als blinder Passagier die besungene Barke und reist in die Tiefe eines Raumes, von dem man eigentlich nur sagen kann, dass er irgendwo im Jenseits der Niederungen des Alltags angesiedelt ist.
Dabei verdient der Aufbau der eskapistischen Suggestion noch eine genauere Betrachtung. Das Lied setzt mit vier Zeilen ein, die als eine Art Prolog oder Rahmung die Hörerschaft auf die spätere Traumvision vorbereiten und ihr mit der Autorität der Sängerinstanz erster Ordnung (also der Kunstfigur ,Bernd Clüver‘) eine gewisse ,Dignität‘ zuschreiben. Diese Zeilen künden von der Existenz eines uralten Traums, dem schon sein mythisches Alter Wert verleiht. Wer immer diesen Traum träumt, wird seiner Erzählung folgen. Die Formulierung der Verse 3 und 4 spricht im Grunde nur einen trivialen Sachverhalt aus (,wer träumt, folgt einem Traum‘!), suggeriert aber zwischen den Zeilen eine besondere Qualität des alten (kollektiven) Traums. Vom Inhalt dieses Traums verraten die vier Eingangszeilen noch nichts. Mich befällt beim Lesen dieser Verse die starke Vermutung, dass sich Texter Peter Orloff hier an Hugo von Hofmannsthals berühmtes Gedicht Weltgeheimnis („Der tiefe Brunnen weiß es wohl …“) anhängt, das in ähnlicher Weise von einem alten Menschheitstraum aus mythischer Vorzeit (bzw. individualgeschichtlich vorpubertärer Kindheit) raunt, der ,inzwischen‘ dem profanen Alltagsbewusstsein des in der Moderne angekommenen Erwachsenen abhanden gekommen ist, von dem aber der begnadete Seher-Künstler als ein zweiter Orpheus noch weiß und künden kann. Man mache selber den Versuch und höre Clüvers Lied im Anschluss an eine Lektüre des genannten Gedichts! (Evtl. spielen auch die sog. ,Traumpfade‘ australischer Ureinwohner eine gewisse inspirierende Rolle, für die man sich seinerzeit in Deutschland zu interessieren begann.)
Mit seinem zweiten Versblock führt der Schlager eine Sängerinstanz zweiter Ordnung ein, den ,Jungen mit der Mundharmonika‘. Dass Konstruktion und Ausgestaltung dieser Instanz gewisse Schwierigkeiten (Wie passen Mundharmonikaspiel und Gesang zusammen, da doch eine dieser Tätigkeiten die andere verhindert? Als bekannte einschlägige Vorbilder standen einem Publikum der frühen 1970er Jahre überdies Bob Dylan und/oder Charles Bronson in seiner Western-Rolle als ,Mundharmonika‘ vor Augen, wobei sich jede dieser Figuren mit Clüvers Traumsänger ,beißt‘.) mit sich gebracht haben dürften, schadete dem Erfolg des Schlagers ganz offensichtlich nicht. Das Musikinstrument passt rhythmisch und klanglich in den Duktus des Textes, der Sänger steht als „Junge“ auf der Schwelle von der Kindheit zum Erwachsenenalter und erfüllt insofern bestens die Kategorien des ,unschuldigen‘ Künders vom Weltentraum einerseits, des vom (jungen wie ,mütterlichen‘) weiblichen Fan anhimmelbaren Künstlers andererseits. Irgendwo scheint er dann auch noch mit dem optischen und stimmlichen Erscheinungsbild des damals 25jährigen Bernd Clüver (weiches Gesicht, knabenhafte Gestalt, spezielle Föhnfrisur mit langen, nach innen gedrehten Locken) vereinbar, so dass beim ,träumerisch‘ unscharfen Zuhören die Sängerinstanzen erster und zweiter Ordnung vermutlich schnell verschwommen sind.
Nach sechs Zeilen Vorspann und Einführung ist das Lied beim Inhalt des alten Weltentraums angekommen. Nachdem der aber nur vermittelt überliefert wird, geht es zu wie bei jeder ,stillen Post‘: Den Empfänger der Botschaft erreichen am Ende nur noch Traum-Fragmente, die keinen klaren Sinn ergeben. Einen solchen würde man bei Träumen sowieso nicht unbedingt erwarten und bei uralten Weltenträumen schon gar nicht. Anders formuliert: Die Traum-Fragmente im Gesang des Jungen mit der Mundharmonika, von denen wiederum Bernd Clüver singt, sind einigermaßen deutungsbedürftig.
Wovon dürfen wir ausgehen? Das Lied des Jungen mit der Mundharmonika spricht von Geschehnissen in uralten Träumen, einer mythisch-märchenhaften Vorzeit der Menschheit. Es gehört zum kulturellen Wissen der 1970er Jahre, dass derartige Geschichten seelische Vorgänge des Menschen beschreiben und insofern nach wie vor relevant sind. V. 7 bezeichnet jene Träume als ,silbern‘ und wählt damit ein recht ungewöhnliches Attribut. Normalerweise sind Träume ,schwer‘, ,klar‘ oder verworren‘, ,angenehm‘ oder ,stressig‘, meinetwegen auch ,feucht‘, aber ,silbern‘? Einen gewissen poetischen Sinn macht dieses seltsame Beiwort für Träume in Clüvers Lied allerdings insofern, als es sich zwei semantischen Sinnlinien (Isotopien) des Textes einfügt. Zum einen gibt es ein Wortfeld von Preziosen („Barke“ statt Kahn, „gläserne Fracht“ statt Kies, Kohle oder anderes Schüttgut, „Engel“), zum anderen von anorganisch-kaltem Gefunkel („gläsernen Fracht“, „in sternenklarer Nacht“).
Auch die Barke würde ich zum ,Gefunkel‘ rechnen, da einiges dafür spricht, sie als Mond-Metapher zu lesen. Eine Barke ist ein mastloses kleineres Schiff, das im antiken Ägypten das Standard-Wasserfahrzeug auf dem Nil war; außerdem besaß es im Zusammenhang mit dem Kult des Sonnen- und Schöpfergottes Re religiöse Bedeutung. Nach altägyptischer Vorstellung zog Re bei Tage in seiner goldenen Sonnenbarke über den Himmel; abends stieg er dann in seine Nachtbarke (die wir uns gerne silbern vorstellen dürfen!) um, schipperte durch das Totenreich, um am nächsten Tage als Neugeborener den Kreislauf von Neuem zu starten. Orloff und Clüver tun gut daran, diese Bezüge im Dunkeln und ihr Lied entsprechend geheimnisvoll zu belassen.
Nach dem Refrain folgen vier Verszeilen, die metanarrativ den Traum-Gesang des Mundharmonika-Jungen verlassen und dessen Wirkung auf den Hörer schildern: Der ist vom quasi-orphischen Gesang ,ergriffen‘ und weiß nicht, ob seine Wahrnehmungen wahr oder eingebildet (geträumt) sind. Das Bild vom „Engel“ im Raum kann – je nach persönlicher Disposition – mehr oder minder wörtlich oder metaphorisch genommen werden. In jedem Fall deutet die (faktische bzw. symbolische) Anwesenheit des Geistwesens auf die spirituelle Magie des Gesangs hin. Niemand ist da, um den träumerisch gestimmten Hörer zu „zwicken“ (vgl. Wolfgang Ambros‘ Zwickt’s Mi), also darf er weiter in seiner melancholisch-romantischen Stimmung verweilen und sich im gedanklichen Gefolge der Mondbarke mit ihrer gläsernen Fracht, die ich mir als ,Himmels-Leuchtelichtlein‘ erkläre, über die Depressionen der Alltags-Existenz (Einsamkeit, Traurigkeit) erheben. Das ist zum Weinen schön und wird unseren eingangs zitierten Kriterien für Kitsch und Schnulze gerecht. Die Erfolgsgeschichte dieses Schlagers und weiterer, ähnlicher Produktionen aus der Zusammenarbeit der Freunde Orloff und Clüver zeigen, dass Lieder dieser Art tief sitzende Bedürfnisse von Menschen ansprechen und ihnen – wahrscheinlich – auch dabei helfen, ihr Leben ein Stückchen leichter zu bewältigen (vgl. Die 100 Schlager des Jahrhunderts, vorgestellt von Ingo Grabowsky und Martin Lücke. Hamburg: Europäische Verlagsanstalt 2008, S. 114-116).
Genau deshalb verwende ich Begriffe wie ,Kitsch‘ und ,Schnulze‘ immer nur beschreibend, nie despektierlich abwertend, weder im ästhetischen noch gar im moralischen Sinn. Ein genialer Kommentar zu Bernd Clüvers Schlager Der Junge mit der Mundharmonika ist Rainer Moritz in seiner Interpretations-Anthologie Schlager, die wir nie vergessen (hg. v. Max & Moritz. Leipzig: Reclam 1997, S. 233-236) in der Form einer Satire gelungen, die ihrem Objekt allerdings mit kongenialem Verständnis begegnet. Moritz schlüpft dort in die Rolle der zwischenzeitlich um zweieinhalb Jahrzehnte gealterten und ein wenig abgeklärter gewordenen Bernd-Clüver-Verehrerin Uschi Kittelmeier (die erste Frau des Sängers hieß Ute Kittelberger), die ihm anlässlich einer nostalgischen Fernseh-Schlagersendung einen Fan-Brief schreibt. Darin gesteht sie ihrem Idol, wie sehr sie durch seinen Mundharmonika-Jungen seinerzeit ins Herz getroffen wurde: „Verstanden hab ich das eigentlich nie so richtig, wer der Junge da ist, wo der herkommt und von was der da singt und wieso die Träume silbern sind. Das mit der Barke, das hat mich an die Connie Francis erinnert, die hat, als ich jünger war […] von einer ,Barcarole in der Nacht‘ gesungen, die ,die Einsamkeit gebracht‘. Auch schön, und das mit der gläsernen Fracht, ja, ich weiß nicht, da muß ich immer an das arme Schneewittchen denken in seinem Glassarg. Tot oder so gut wie, und man kann reinsehen, wie es da so liegt, das arme Ding, das hat irgendwie so was Mystisches […]. Am meisten mußte ich immer bei den Liedern weinen, die so … so irgendwie anders waren, und das haben Sie, lieber Herr Clüver, am besten gekonnt.“ (S. 234 f.)
Hans-Peter Ecker, Bamberg