„Es geht eine dunkle Wolke herein“ – ein rätselhaftes Strophenpuzzle

Anonym

Es geht eine dunkle Wolke* herein

1.Es geht eine dunkle Wolke herein.
Mich deucht, es wird ein Regen sein,
ein Regen aus den Wolken
wohl in das grüne Gras.

2.Und kommt die liebe Sonn nit bald,
so weset alls im grünen Wald;
und all die müden Blumen,
die haben müden Tod.

3.Es geht eine dunkle Wolke herein.
Es soll und muss geschieden sein.
Ade Feinslieb, dein Scheiden
macht mir das Herze schwer.

[* oftmals auch „Wolk‘“]

Herkunft und Entstehung

Das Lied wurde lange Zeit aufgrund des angenommenen Entstehungsjahres (1646) als typisches „Zeitdokument des Dreißigjährigen Krieges“ (Wikipedia) charakterisiert, wozu der Text und die schwermütige Melodie beigetragen haben. Da es jedoch viel älter ist, wird es mittlerweile, vor allem wegen der dritten Strophe, eher als Liebes- und Abschiedslied eines Handwerksgesellen angesehen.

Die 1. Strophe steht in der Liederhandschrift des Benediktinerpaters Johann Werlin (1588–1666), der sie 1646 in der Einführung zum neunten Kapitel in sieben Bänden mit 3.000 geistlichen und weltlichen Liedern aufgeführt hat. Als Textfragment findet sie sich aber bereits 1540 in Georg Forsters (um 1500–1568) Frischen Teutschen Liedlein, Band 2: „Es geht ein finster Wöckle herein“ (vgl. Theo und Sunhilt Mang, Liederquell, 2015, S. 289). Aus dem Jahr 1630 existiert eine Flugschrift mit einem 13-strophigen Abschiedslied, von dem jedoch nur die oben aufgeführte erste Strophe beginnend mit Es geht ein dunckels Wölcklein herein in unser Lied übernommen wurde.

Später hinzugekommen sind die Strophen zwei und drei. Ob die 2.  Strophe tatsächlich vom Herausgeber des für die Jugendbewegung bedeutendsten Liederbuchs (geschätzte Gesamtauflage über eine Million) Der Zupfgeigenhansl, Hans Breuer (1883–1918) stammt, ist nicht gesichert. Vermutlich ist diese Zuweisung dadurch entstanden, dass Breuer zum ersten Mal die obigen drei Strophen zusammenhängend in die späteren Ausgaben des Zupfgeigenhansl aufgenommen hat (2. Auflage 1910 und 4. Auflage 1911).

Gemäß den Liedforschern Theo und Sunhilt Mang wurde die 3. Strophe unter Abänderung der letzten Zeile dem etwa seit 1840 im Kuhländchen (einer deutschsprachigen Region an der Oder in Tschechien) bekannten Handwerksburschenlied Ich waß wohl, wenn‘s gut wandern ist entnommen.

Die noch heute gesungene Form der Melodie hatte Wolfgang Schmeltzl (geboren 1500 oder 1505, gestorben 1564) in seine Quodlibet-Sammlung 1544 aufgenommen. Bekannte spätere Bearbeitungen stammen von Hugo Distler (1932) und Hanns Eisler (1953).

Interpretation

Vergleicht man Es geht eine dunkle Wolk‘ herein mit anderen Volksliedern, die eine Geschichte erzählen, eine Stimmung wiedergeben oder chronologisch aufgebaut sind, so fällt auf, dass die drei Strophen so recht nicht zueinander passen wollen. Das ist nicht weiter verwunderlich, stammen sie doch, wie bereits oben ausgeführt, aus verschiedenen Zeiten und verschiedenen Liedern.

Die Deutung der Metapher „dunkle Wolk‘“ als schicksalsschweres Ereignis in Bezug auf den Dreißigjährigen Krieg, wie manche Interpreten es sehen, lässt sich meines Erachtens aus dem Text nicht ableiten. Die erste Zeile könnte sich an dem Einleitungssatz (Incipit) des aus dem Jahr 1535 stammenden Liedes Es dunkelt schon in der Heide (Interpretation hier) orientiert haben. Im „Heidelied“ ist man froh, dass das Korn, bevor es regnet, schon geschnitten ist; in unserem Lied scheint man auf den Regen zu warten, der dafür sorgt, dass das Gras grün bleibt und sich nicht wie häufig in heißen Sommern gelb-bräunlich färbt.

In der zweiten Strophe dagegen wünscht man sich die Sonne herbei, da sonst alles im Wald verwesen würde. Gemeint dürfte sein, dass die Sonne feuchte Stellen bzw. Pflanzen trocknen soll, bevor sie der Fäulnis anheimfallen. Dass jedoch die „müden Blumen“ ohne Hilfe des Sonnenscheins einen „müden Tod“ erleiden, ist für mich nicht nachzuvollziehen, benötigen Blumen, die ihre „Köpfe haben hängen lassen, doch eher Wasser als zusätzlichen Sonnenschein.   

In der dritten Strophe ist „dunkle Wolk‘“ eine Metapher, die andeutet, dass es sich um ein trauriges Ereignis handelt, und zwar, wie in den Folgezeilen erkennbar, um ein Abschiednehmen. Es wird klar, warum das Lied als Abschiedslied und Lied der Wandergesellen gilt, zumal einige Zeilen der dritten Strophe wörtlich aus der letzten Strophe des Wanderliedes Ich waß wohl, wenn‘s gut wandern stammen (s.o.), das Wandergesellen gern sangen.

In der Zeit der Entstehung der dritten Strophe musste man, um ein bestimmtes Handwerk ausüben zu dürfen, einer zuständigen Zunft beitreten und die jeweilige Zunftordnung erfüllen. Unabhängig von der Art der Zunft mussten die jungen Männer, nachdem sie ihre Gesellenprüfung abgelegt hatten, drei Jahre und einen Tag von Meisterbetrieb zu Meisterbetrieb durch ganz Deutschland wandern. Diese „Lehr- und Wanderjahre dienten dazu, ihre bereits erworbenen handwerklichen Fähigkeiten anzuwenden und zu verbessern und auch neue, in anderen Regionen gebräuchliche Techniken und Fertigkeiten zu erlernen. Hier, wie auch in anderen Liedern der Handwerksburschen, z.B. Es, es, es und es, es ist ein harter Schluss (Interpretation hier) und Das Wandern ist des Müllers Lust, muss der Sänger schweren Herzens von seiner Liebsten scheiden.

Das Lied wurde im Ersten Weltkrieg als „Gaskampflied“ mit weiteren Strophen versehen (Text nach (Dr. Erwin Wolfgang Koch, Assistenzarzt bei den Pionieren). Hier die erste Strophe:

Es geht eine dunkle Wolk‘ herein
mich dünkt, es wird ein Angriff sein
Ein Angriff von den Feinden
mit dunkelgrünem Gas.

Heuzutage könnte man die „dunkle Wolk‘ “ als Metapher für die Corona-Pandemie verstehen, die wie ein Platzregen über uns kam. 

Rezeption

Einer der Ersten, der das Lied erstmals mit drei Strophen in eine Liedersammlung (Altdeutsches Liederbuch) aufnahm, war 1877 der Liederforscher Franz Magnus Böhme (1827–1898).

Ab 1909 folgten Liederbücher des Wandervogels, darunter Der Zupfgeigenhansl (Auflage bis etwa 1930 geschätzt über 1 Million) und ab 1921 zahlreiche der Jugendbewegung, einige davon mit mehreren Auflagen, z. B. das 1925 von Fritz Sotke (1902–1970) herausgegebene Unsere Lieder (5. Auflage 1931) und Was singet und klinget – Lieder der Jugend (9. Auflage 1926). Auch einige Schulbücher übernahmen Es geht eine dunkle Wolk‘ herein. Geht man von den mir in Online-Archiven und Privatbibliotheken zugänglichen Liederbüchern aus, wurde von 1921 bis 1931 im Durchschnitt pro Jahr ein Liederbuch mit der „dunklen Wolk‘“ herausgegeben.

In der Zeit des Nationalsozialismus erschienen mit dem Lied nicht nur dem NS-Regime nahestehende Liederbücher wie Lieder der Arbeitsmaiden (2. Auflage 1939, herausgegeben vom Reichsarbeitsdienst) und Schulbücher mit NS-Liedern, sondern auch von der katholischen Pfadfinderschaft St. Georg das Lied der deutschen Jugend (1935) und von evangelischer Seite Ein neues Lied – Liederbuch für die deutsche evangelische Jugend (1938). Erstaunlich für mich ist, dass die Deutsche Wehrmacht das traurige Abschiedslied noch 1944 in ihr Chorbuch für Front und Heimat – Kameradschaft im Lied aufgenommen hat.

Die Anzahl der Liederbücher mit Es geht eine dunkle Wolk‘ herein nach dem Zweiten Weltkrieg ist schier unüberschaubar. Hier sollen nur exemplarisch einige angeführtwerden. Bereits 1946 erschien das Liederheft Singt mit (herausgegeben vom Magistrat der Stadt Berlin), Der helle Ton der evangelischen Jugend (1948 in der 5. Auflage) und 1951 im Altenburger Singebuch der katholischen Jugend. Etliche Schulbücher folgten, wovon das Chorbuch Die Garbe – ein Musikwerk für die Schule wegen der 12. Auflage 1956 und Musik im Leben – Schulwerk für die Musikerziehung (12. Auflage 1963) hervorzuheben sind.  

Auch in der Schweiz (z.B. Fahrtenlieder der Schweizer Wandervögel), Österreich (z.B. Deutsche Weise – Die beliebtesten Volkslieder) und in der damaligen DDR(z.B. Leben, kämpfen, singen, 10. Auflage 1964, 17. Auflage 1985) ist bzw. war das Lied gut bekannt.

Von der Vielzahl der Liederbücher seit 1970 sollen nur das Fischer-Taschenbuch Volkslieder aus 500 Jahren (herausgegeben 1978 vom Volksliedforscher Ernst Klusen), die vom Folkduo Zupfgeigenhansel besorgte Sammlung Es wollt‘  ein Bauer früh aufstehn (1979) und die Jurtenburg  des Verbands christlicher Pfadfinderinnen und Pfadfinder (2010) erwähnt werden.

Angesichts der überaus zahlreichen Liederbücher (fast 200) finde ich es bemerkenswert, dass im Katalog des Deutschen Musikarchivs (DMA) nur 2 Tonträger mit dem Lied aufgeführt werden; allerdings weist das DMA 27 Musiknoten, hauptsächlich Chorpartituren, aus. Wie beliebt Es geht eine dunkle Wolk‘ herein noch heute ist, zeigen auch die mehr als 180 Videos bei YouTube, darunter Aufnahmen mit Hannes Wader (s.o.) und Manfred Krug.

Georg Nagel, Hamburg

„Wir sind jung, und das ist schön.“ Zu Jürgen Brands „Wir sind jung, die Welt ist offen“

Jürgen Brand (i.e. Emil Sonnemann)

Wir sind jung, die Welt ist offen

1.Wir sind jung, die Welt ist offen
O du schöne, weite Welt!
Unser Sehnen unser Hoffen
Zieht hinaus durch Wald und Feld.
Bruder, laß den Kopf nicht hängen,
Kannst ja nicht die Sterne sehn!
Aufwärts blicken, vorwärts drängen,
Wir sind jung, und das ist schön.

2.Liegt dort hinter jenem Walde
Nicht ein fernes, fremdes Land?
Blüht auf grüner Bergeshalde
Nicht das Blümlein Unbekannt?*
Laßt uns schweifen ins Gelände,
Über Täler, über Höhn!
Wo sich auch der Weg hinwende,
Wir sind jung, und das ist schön.

3.Auf denn, auf, die Sonne zeige
Uns den Weg durch Wald und Hain;
Geht darob der Tag zur Neige,
Leuchtet uns der Sterne Schein.
Bruder schnell, den Rucksack über,
heute soll`s ins Weite gehn!
Regen, Wind, wir lachen drüber
Wir sind jung, und das ist schön.

Unter dem Pseudonym Jürgen Brand verfasste der Lehrer und Redakteur Emil Sonnemann (1869- 1959) 1914 den Text. Noch im gleichen Jahr vertonte ihn der Arbeiter-Sekretär und erste Chorleiter der Hamburger Arbeiterjugend Michael Englert (1868-1955). Aufgrund des eingängigen Textes gab es weitere Vertonungen; daher wird auch in einigen Liederbüchern als Komponist mal Heinrich Schoof, mal Karl Frantzen angegeben. Brand und Englert, die sich aus der sozialistischen Arbeiter-Jugend kannten, schufen auch das heute fast vergessene Lied Wenn die Arbeitszeit zu Ende. Bekannt und beliebt dagegen sind noch heute die von Englert komponierten Lieder: Und wenn wir marschieren und Wann wir schreiten Seit an Seit (Interpretation), auch als „Hits der Jugendbewegung“ (Lindner) bezeichnet, oder auch Hab‘ Sonne im Herzen, ob’s stürmt oder schneit.

Interpretation

Das Wanderlied ist ein typisches Lied der Jugendbewegung. Es beginnt wie viele andere Lieder (vgl. z. B. Wir wollen zu Land ausfahren [Interpretation], Wir sind durch Deutschland gefahren, Wir lieben die Stürme [Interpretation]) „mit dem bekennenden WIR-Subjekt, wodurch ein Zusammenhalt der Gruppe gegenüber Andersdenkenden erreicht werden sollte. Je mehr sich die Jugendbewegung von der Volksliedkultur weg und zu einer bündischen Tatgesinnung hin entwickelte, desto mehr dominierte das Subjekt in der ersten Person Plural, was ja auch eine metaphorische Kodierung des bündischen Gemeinschaftskultes darstellt“ (Lindner).

Hier freuen sich die Sänger darüber, jung zu sein; sie meinen, dass ihnen die „schöne, weite Welt“ offensteht. Aber so weit wollen sie gar nicht wandern, ihnen reicht es, hinauszuziehen durch Wald und Feld (vgl. auch das ebenfalls 1914 entstandene Gedicht von Hans Riedel Aus grauer Städte Mauern ziehn wir durch Wald und Feld, das 1920 von Robert Götz vertont wurde [Interpretation]). Und sie fordern andere junge Menschen auf, aktiv zu werden, ’nicht den Kopf hängen zu lassen‘, weil man sonst die Sterne, von denen in der 2. Strophe gesungen wird, nicht sehen kann. (Sterne ist hier als Metapher für eindrucksvolle Erlebnisse zu verstehen). Dieser Aufforderung wird mit „aufwärts blicken, vorwärts drängen“ besonderer Nachdruck verliehen.

Heutzutage werden von verschiedenen Jugendgruppen nicht nur Wanderungen und Zeltlager in der näheren Umgebung durchgeführt, sondern, speziell von vielen Stämmen der Pfadfinderverbände, sogenannte Großfahrten ins Ausland unternommen, z.B. in die skandinavischen Länder, Polen, Ungarn, Irland oder England.  Und um die anderen zum Wandern und Entdecken anzuregen, wird in der zweiten Strophe verheißungsvoll gefragt, ob nicht „hinter jenem Walde / Nicht ein fernes fremdes Land“ liege – Verse, die an  „schauen, was hinter den Bergen haust (aus Wir wollen zu Land ausfahren [Interpretation]) erinnern. Die hier gestellte Frage nach dem Blühen des „Blümleins Unbekannt“ wird dort in der vierten Strophe gleich beantwortet: „Es blühet im Walde tief drinnen / die blaue Blume fein

Dass der 15 Jahre als Lehrer tätige Jürgen Brand nicht nur Wandervogellieder, sondern auch viele volksliedhafte Lieder gekannt hat, darauf deuten auch die Verse „Laßt uns schweifen ins Gelände, / über Täler, über Höhn“ hin, die an  Josef von Eichendorffs O Täler weit, o Höhen, o schöner grüner Wald erinnern.

Auch die dritte Strophe zeigt, wie naturverbunden die Sänger sind; es geht durch „Wald und Hain“ bei Tag und bei Nacht. „Sonne“ und „Sterne“, Begriffe aus dem Volksliederkanon, werden aufgegriffen; sie weisen den rechten Weg. Erneut wird an die „Brüder“ appelliert, sich für die Fahrt „ins Weite“ zu rüsten. Mit Brüder sind auch die Schwestern gemeint (vgl. „Alle Menschen werden Brüder“ oder „Brüder, zur Sonne zur Freiheit“ [Interpretation]).

Exkurs: Nach der Gründung des Wandervogels 1896 in Steglitz durch Gymnasialprofessoren bestand er in den Folgejahren aus Jungen höherer Lehranstalten. Dass auch Mädchen gerne wandern würden, wurde erst gar nicht problematisiert. Noch 1904 wurde der Aufnahmeantrag einiger Mädchen abgelehnt. Daraufhin gründete sich 1905 der erste Mädchen-Wandervogel, der „Bund der Wanderschwestern“. Später kam es zu gemeinsamen Touren mit dem „brüderlichen Alt-Wandervogel“. Obwohl einige Wandervogel-Vereine entschieden gegen das gemischte Wandern von Jungen und Mädchen eintraten, kam es 1908 zur allgemeinen Zulassung von Mädchen. Und auf dem bundesweiten Treffen von 14 Jugendverbänden, dem Freideutschen Jugendtag im Oktober 1914 auf dem Hohen Meißner, nahmen Mädchen und junge Frauen ohne Einschränkungen teil.

Wie in den letzten Versen der ersten beiden Strophen wird auch in der letzte Strophe noch einmal betont: „Wir sind jung und das ist schön!“ Das Jungsein ist deshalb schön, weil es „eine privilegierte Form lebensentfesselnder Tatgesinnung darstellt“ (Lindner).

Die Sehnsucht, durch Wald und Feld zu ziehen (vgl. 1. Strophe), ist so stark, dass den Wanderern schlechtes Wetter (hier: „Regen, Wind“, auch als Metapher für die Einengung durch bürgerliche Konventionen zu verstehen, gegen die es anzugehen gilt ) nichts ausmacht (vgl. Aus grauer Städte Mauern  2. Strophe, dritter Vers: „ob heiter oder trübe, wir fahren in die Welt) oder auch in allgemeiner Aufbruchstimmung den Unbilden trotzend: Wir lieben die Stürme).

Rezeption

Wir sind jung, die Welt ist offen wurde zum erste Mal öffentlich gesungen im August 1920 auf dem Weimarer Reichsjugendtag der Arbeiterjugend (vgl. Boock). Die ersten mir online zugänglichen Liederbücher (s. www.deutscheslied.com) mit dem Lied sind das 1922 herausgegebene Rüpelliederbuch und das im gleichen Jahr erschienene Jugend-Liederbuch des Verbandes der Arbeiterjugend-Vereine Deutschlands. Seit Erscheinen von Unsere Lieder, mit Wir sind jung, die Welt ist offen (herausgegeben vom Verfasser mehrerer Fahrtenlieder, Fritz Sotke) fand das Wanderlied bis 1933 Aufnahme in zahlreiche Liedersammlungen, darunter 1926 in der 6. Auflage Unsere Lieder und in der 11. Auflage Hamburger Jugendlieder. Im Inhaltsverzeichnis der Liederbücher von Wandervereinen und konfessionellen Jugendgruppen ist das Lied ebenso zu finden wie auch in einigen Schulbüchern.

Auch die Hitler-Jugend nahm das Lied in sein auflagenstarkes Uns geht die Sonne nicht unter auf. Von den anderen NS-Organisationen ist nur der Weckruf – Buch der Lieder im deutschen Arbeitsdienst bekannt. 1942 wurde das Lied in das handschriftliche Lagerliederbuch des KZ Sachsenhausen aufgenommen.

Nach 1945 erschien Wir sind jung, die Welt ist offen in Leben, Kämpfen, singen der Freien Deutschen Jugend. Geht man von den in der BRD zahlreichen Liederbüchern aus, kann man mit Fug und Recht behaupten, dass es in allen Schichten der Bevölkerung und vielen Gruppierungen, seien es bündische, gewerkschaftliche, konfessionelle, scoutische oder parteipolitische, gesungen wurde und zum Teil noch wird. Dazu beigetragen hat vor allem die Mundorgel mit ihrer Textauflage von 1956 bis 2013 von rund 10 Millionen und der Text-Noten-Auflage von über vier Millionen.

Auffällig ist, dass das Lied im Vergleich zu vielen anderen Liedern der Jugendbewegung laut Katalog des Deutschen Musikarchivs Leipzig , dem von jeder musikalischen Veröffentlichung ein Pflichtexemplar zuzusenden ist, nur auf sechs Tonträgern verbreitet wurde. Darunter sind allerdings einige LPs großer Schallplattenverlage wie Ariola, Bertelsmann und Gruner+Jahr – sicherlich mit außerordentlich hohen Auflagen.

Georg Nagel, Hamburg

Literatur

Wolfgang Lindner: Jugendbewegung als Äußerung lebensideologischer Mentalität – Die mentalitäts-geschichtlichen Präferenzen der deutschen Jugendbewegung im Spiegel ihrer Liedertexte. Hamburg 2001, Kapitel 4 und 6.

Wolfgang Lindner: Jugendbewegung als Äußerung lebens­ideo­logischer Mentalität. Die mentalitäts­geschichtlichen Präferenzen der deutschen Jugendbewegung im Spiegel ihrer Liedertexte. Hamburg 2003.

Barbara Boock: „Wir sind jung, die Welt ist offen…“ Über die Überlieferungs- und Melodiegeschichte eines Liedes. In: in: Barbara Stambolis / Jürgen Reulecke (Hg.) Good Bye Memories? – Lieder im Generationengedächtnis des 20. Jahrhunderts. Essen 2007.

 

 

 

 

„Wir lachen der Feinde und aller Gefahren“. Zu „Wir lieben die Stürme“

Anonym

Wir lieben die Stürme

1)Wir lieben die Stürme, die brausenden Wogen,
der eiskalten Winde rauhes Gesicht.
Wir sind schon der Meere so viele gezogen,
und dennoch sank uns're Fahne nicht.
Heijo, heijo, heijo, heijo, heijoho, heijo, heijoho, heijo!

2) Unser Schiff gleitet stolz durch die schäumenden Wogen,
jetzt strafft der Wind uns're Segel mit Macht.
Seht ihr hoch droben die Fahne sich wenden,
die blutrote Fahne, ihr Seeleut‘, habt Acht.

3) Wir treiben die Beute mit fliegenden Segeln,
wir jagen sei weit auf das endlose Meer.
Wir stürzen auf Deck, und wir kämpfen wie Löwen,
hei, unser der Sieg, viel Feinde, viel Ehr!

4) Ja, wir sind Piraten und fahren zu Meere,
wir fürchten nicht Tod und den Teufel dazu,
wir lachen der Feinde und aller Gefahren,
am Grunde des Meeres erst finden wir Ruh.

Entstehung

Entstanden ist das Lied in Kreisen der Pfadfinder; der Verfasser ist unbekannt. Die Melodie stammt gemäß dem Germanisten, Erzähl- und Liedforscher Heinz Rölleke (geb. 1936) aus der Jugendbewegung (vgl. Das große Buch der Volkslieder, 1993, S. 370). Wie zuvor Fritz Sotke (1902 – 1970), der als Herausgeber von Unser Lied fälschlicherweise als Verfasser des Liedes Wilde Gesellen vom Sturmwind durchweht angesehen wird (vgl. Interpretation), wird in manchen Liederbüchern der Musikpädagoge und Lehrer Wilhelm Volk (1909-1994) für den Urheber des Liedes gehalten. Wilhelm Volk hat das Lied in Lieder des Bundes (hg. vom Bund Deutscher Pfadfinder) zusammen mit anderen Liedern erstmals 1933 veröffentlicht.

Wir lieben die Stürme gehört zu der Reihe der jugendbewegten Sturmlieder wie auch Wenn die bunten Fahnen wehen (vgl. Interpretation), wie in der zweiten Strophe deutlich wird: „Blasen die Stürme, / brausen die Wellen, / singen wir mit dem Sturm unser Lied“). Auch Wir wollen zu Land ausfahrender mit dem Vers „Woll’n lauschen, woher der Sturmwind braust“ in der ersten Strophe (vgl. Interpretation) oder das bereits erwähnte Wilde Gesellen vom Sturmwind durchweht gehören dazu.

Interpretation

Die Freude der bündischen Jugendlichen, sich den Elementen, hier dem Sturm, den ‚eiskalten Winden‘ und dem Meer (dem Wasser), auszusetzen und ihnen zu widerstehen, wird deutlich. In ihrer Fantasie sind die unbekannten Verfasser in ihrem Segelschiff über viele Meere gefahren, sie sind stolz darauf, trotz ‚brausender Wogen‘ und Stürme nicht gekentert zu sein, poetisch benannt: „und dennoch sank uns’re Fahne nicht“. Und dem Sturm setzen sie, ähnlich wie in manchen Shanties einen im Chor gesungenen Refrain entgegen: „Heijo, heijo, heijo, heijo, heijoho, heijo, heijoho, heijo! (vgl. „to my hoodah, hoodah, ho“ aus: Ick heff mol een Hamburger Veermaster sehn).

In der zweiten Strophe wird klar: Hier handelt es sich nicht um ein Frachtschiff, geschweige denn um eine Yacht bei einem Segeltörn zum Vergnügen, sondern um ein Piratenschiff. Die Seeleute sind stolz darauf, wie ihr Schiff durch die „schäumenden Wogen“ gleitet und sie sind froh, eine steife Brise (seemännische Untertreibung für starken Wind) erwischt zu haben, die die Segel strafft und nicht wie in einer Flaute oder bei Schwachwind flattern lässt. Und in diesem Wohlgefühl warnen sie andere Seefahrer: Sie sollen den Hinweis auf ihre „blutrote Fahne erkennen und sich in Acht nehmen. Normalerweise ist eine Piratenflagge schwarz, meistens mit einem weißen Totenkopf. Wahrscheinlich haben hier die Verfasser aus dramaturgischen Gründen die Farbe Rot gewählt, die auf bevorstehende Kämpfe hinweist, bei denen Blut fließen wird.

Damit sich ein Frachter, von dem sie sich Beute versprechen, nicht in die Obhut eines Hafens flüchten kann, treiben unsere Piraten ihn „mit fliegenden Segeln / […] weit auf das endlose Meer“. Dort sind die Piraten sicher, dass dem von ihnen angegriffenen Schiff so schnell niemand zu Hilfe kommen kann. Nah genug gekommen, werden die Enterhaken geworfen, übergesetzt und dann auf dem fremden Deck „wie Löwen“ bis zum Sieg gekämpft, selbst wenn der Gegner zahlreich, unter Umständen sogar von der Anzahl her überlegen ist. Wie früher in der Schlacht bei Creazzo 1513, als der Landsknechtführer Georg von Frundsberg mit seinen perfekt gedrillten Landsknechten einen mehrfach zahlenmäßig überlegenen Gegner schlug, gilt dessen Devise auch hier: „Viel Feind, viel Ehr!“ (Offensichtlich hatten die bündischen Gymnasiasten im Geschichtsunterricht gut aufgepasst.)

Sie sind nun mal Piraten und fürchten weder ‚Tod noch Teufel‘. Sie machen sich selbst Mut, indem sie über den Feind und die drohende Gefahr lachen. Zugleich hoffen sie, dass sie noch lange leben werden, aber sie sind sich bewusst, dass auch sie der Tod ereilen kann und sie dann ‚auf dem Grund des Meeres Ruhe finden‘.

Rezeption

Nachdem – noch vor der Machtergreifung der Nationalsozialisten – der Deutsche Pfadfinderbund Wir lieben die Stürme veröffentlicht hatte, übernahmen die Nazis das Lied. Die mitreißende Melodie und der vitalisierende Text passten in ihre ‚Zeit des Aufbruchs‘. Mit der ‚blutroten Fahne‘ konnten sie sich identifizieren (vgl. Unsre Fahne flattert uns voran) und die Devise ‚Viel Feind, viel Ehr‘ wurde von den HJ-Führern schon den Pimpfen und Hitlerjungen nahegebracht.

Zwar war das Lied im ersten vom Reichsjugendführer Baldur von Schirach herausgegebenen Hitlerjungen-Liederbuch Blut und Ehre (1933) nicht enthalten, aber 1934 wurde es in das am meisten verbreitete Liederbuch der Hitlerjugend (bis 1940 2,5 Millionen Auflage) Uns geht die Sonne nicht unter… aufgenommen. Der Titel entstammt dem Refrain des Liedes Wilde Gesellen vom Sturmwind durchweht, das wie viele andere Lieder der Jugendbewegung, z.B. Aus grauer Städte Mauern (Interpretation),  Im Frühtau zu Berge (Interpretation), Wir sind jung, die Welt ist offen oder Wir wollen zu Land ausfahren (Interpretation), von der HJ und anderen NS-Organisationen übernommen wurde. Und da es sich auf dem zugrunde liegenden 4/4-Takt gut marschieren ließ, folgten ab 1939 mehrere Liederbücher für Soldaten mit dem Lied, z. B. Der Führer hat gerufen – Unser Kriegsliederbuch und Morgen marschieren wir.

Einige Jahre nach dem Zweiten Weltkrieg galt das Lied als NS-belastet, aber seitdem es 1952 als Seemannslied wiederentdeckt wurde (vgl. Knurrhahn – Seemannslieder und Shanties und Die Seemannslust, 1954), setzte geradezu ein Run auf Wir lieben die Stürme ein: Die Sportjugend, die Christliche Pfadfinderschaft, die Turner- wie auch die Waldjugend nahmen das Lied in ihre Liederbücher auf. Da wollte der Deutsche Fußballbund nicht abseits stehen, und auch die konfessionellen Kreise liebten die Stürme, sogar die sonst so in sich gekehrten Schülerbibelkreise. Die größte Verbreitung erfuhren die Stürme seit 1953 durch Die Mundorgel (Textauflage bis 2013: 11 Millionen) mit den vier bekannten Strophen. Dagegen enthielten die ab 1956 hinzu gekommenen Liederbücher der Bundeswehr, wie die Mehrheit der Liedersammlungen, nur die ersten drei Strophen, vermutlich weil in der vierten Strophe vom Tod und vom Sterben die Rede ist.

Nachdem Heino 1965 die erste seiner 15 Schallplatten und CDs (bis 2013) mit dem Lied eingesungen hatte, wuchs die Popularität weiter an. Es erschienen auflagestarke Taschenbücher der Verlage Heyne, Schneider, Moewig, Insel und Reclam; auch namhafte Liederforscher wie Ernst Klusen und Heinz Rölleke nahmen das Lied mit jeweils vier Strophen in ihre Liedersammlungen auf. Die Nachfolgeorganisationen der Wandervögel und der bündischen Jugend scheuten sich ebenfalls nicht, alle vier Strophen des Liedes zu veröffentlichen.

Das Lied ist bis heute beliebt und bekannt geblieben. Dazu beigetragen haben auch die Interpretationen von Freddy Quinn, Hermann Prey, Achim Reichel und von zahlreichen Chören z.B. von Shanty-, Marine- und Polizeichören bis zum Montanarachor und den Alsterspatzen. Noch 2013 erschien eine jazzige Version der Combo Jazz Hoch Drei. Und wie bei beliebten Liedern so üblich, gibt es auch eine parodistische Strophe, die in Schülerkreisen gern gesungen wurde:

Wir lieben die Schule, die brausenden Lehrer,
des eiskalten Rektors graues Gesicht.
Wir sind schon so oft von der Schule geflogen,
und dennoch wankt uns’re Frechheit nicht.

Eine verachtenswerte Umdichtung wurde auf einer Veranstaltung von Pegida Nürnberg vorgetragen (die erste Strophe ist mit dem Original identisch):

2) Wir kommen von Süden und woll’n in die Mitte
Europas, wo Frauen und Geldscheine blühn.
Wir haben Macheten und heilige Bücher,
damit bringen wir Europa zum glühn.

3) Wir gehen in die Boote und lassen uns treiben
vor Libyens Küste, da wartet das Glück,
da warten die Retter, die schützen die Grenzen,
doch niemanden schicken die Retter zurück.

4) Auf unseren Booten ist mancher nicht gläubig,
denn nicht eine Sure kommt aus seinem Mund.
Für Christen und Heiden, da endet die Reise
mit offener Kehle am Meeresgrund.

5) So mancher von uns hat noch viele Geschwister,
die warten nur auf unser Rettungssignal.
Dann werden sie kommen, dann werden wir stärker.
Was wird aus Europa? Das ist uns egal!

6) So hört unsre Botschaft, ihr Frauen und Männer,
wir bringen euch Reichtum besonderer Art.
Wir zeigen euch bald die Gesetze des Dschungels
und wie man im Dschungel mit Wonne sich paart.

7) Denn ihr seid die Knechte und wir sind die Herren
der neuen Bevölkerungsmischungskultur.
Ihr werdet uns weichen, wir werden euch scheuchen
und darauf, da schwören wir jeden Schwur.

Getextet und gesungen wurde das Lied von Ernst Cran, einem ehemaligen evangelischen Pfarrer. Cran, der auch manchmal im schwarz-rot-goldenen T-Shirt auftritt, hält bei Pegida-Veranstaltungen im süddeutschen Raum Reden, in denen er Flüchtlinge ähnlich wie im Lied diskriminiert. Einem Video des Bayerischen Rundfunks ist zu entnehmen, dass Angehörige eines Verstorbenen, vor denen er eine Trauerrede gehalten hatte, völlig fassungslos waren, als sie von seinen Reden bei Pegida-Veranstaltungen hörten. Darauf hingewiesen, zeigte er sich unbeeindruckt: „Da muss ich natürlich intellektuell in einem Rahmen bleiben, der verstehbar ist, und ich muss sprachlich in einer Weise reden“, die dem Anlass entspreche. Mit der Überzeugung als Theologe, als geistig denkender Mensch äußere ich mich auch zu politischen Gegebenheiten“. „Ich schäme mich nicht für das, was ich sage, in keinster Weise“. Wie Ernst Cran die Texte seiner Lieder und Reden mit seinem Selbstbild „als empfindsamer, fühlender, denkender, gottesrufender Mensch“, so seine Worte in einer Nachtcafé-Sendung des SWR, vereinbaren kann, bleibt ein Rätsel.

Georg Nagel, Hamburg

„Hei, die wilden Wandervögel“ – Alfred Zschiesches ‚bündischer Superhit‘ „Wenn die bunten Fahnen wehen“

 

Alfred Zschiesche

Wenn die bunten Fahnen wehen

1.
Wenn die bunten Fahnen wehen,
geht die Fahrt wohl übers Meer.
Woll'n wir ferne Lande sehen,
fällt der Abschied uns nicht schwer.
Leuchtet die Sonne,
ziehen die Wolken,
klingen die Lieder weit übers Meer.

2.
Sonnenschein ist unsre Wonne,
wie er lacht am lichten Tag!
Doch es geht auch ohne Sonne,
wenn sie mal nicht lachen mag.
Blasen die Stürme,
brausen die Wellen,
singen wir mit dem Sturm unser Lied.

3.
Hei, die wilden Wandervögel
ziehen wieder durch die Nacht,
schmettern ihre alten Lieder,
daß die Welt vom Schlaf erwacht.
Kommt dann der Morgen,
sind sie schon weiter,
über die Berge - wer weiß wohin.

4.
Wo die blauen Gipfel ragen,
lockt so mancher steile Pfad.
immer vorwärts, ohne Zagen;
bald sind wir dem Ziel genaht!
Schneefelder blinken,
schimmern von Ferne her,
Lande versinken im Wolkenmeer.

Als einen „bündischen ‚Superhit’“ hat der Kenner der Jugendbewegung Wolfgang Lindner Wenn die bunten Fahnen wehen bezeichnet (in: Jugendbewegung als Äußerung lebensideologischer Mentalität, S. 90). Gehörte das Lied in den 1920er und 30er Jahren zum Kanon der Jugendkultur, so hat es heute den Status eines volkstümlichen Schlagers oder eines Marsches (vgl. www.jugend1918-1945.de; s. Rezeption ab 1945). Der Montanara Chor, Heino und die Fischerchöre haben sicherlich dazu beigetragen, dass das ursprüngliche Fahrtenlied 1975 bei einer repräsentativen Umfrage des Instituts für musikalische Volkskunde, Neuss (heute: Institut für europäische Musikethnologie, Universität Köln) den 5. Rang (76,6 % der Nennungen) der vorgegebenen Lieder eingenommen hat. In den letzten Jahren wird es nach wie vor als Volkslied von Chören und als bündisches Lied in den Nachfolgeorganisationen der Jugendbewegung gesungen.

Entstehung

Verfasser des Liedes ist Alfred Zschiesche (1908–1992), Mitglied des Nerother Wandervogels. Alf, so sein Fahrtenname, hat über 100 Lieder geschrieben und zum großen Teil auch komponiert. Zur Entstehung seines bekanntesten Liedes schreibt Zschiesche:

Das Lied „Wenn die bunten Fahnen wehen“ entstand, als ich 24 Jahre alt […] im Dezember 1932. […] Als ich damals meine Akkorde und Melodieimprovisationen ausprobierte, stand ich noch ganz im Bann einer Film- und Liederveranstaltung des Nerother Wandervogels, die ich […] erlebt hatte. Es handelte sich um den Film „Iguassu, das große Wasser” von der Weltfahrt einer Nerother Gruppe nach Südamerika. Nun ereignete sich das für mich höchst Erstaunlichste, dass sich die Eindrücke des großartigen Films und meine eigenen viel bescheideneren bisherigen Fahrtenerlebnisse auf einmal in Worten und Tönen verdichteten, die mit unerhörter Geschwindigkeit in meinem Bewusstsein auftauchten. Es war fast, als ob mir eine Stimme die Melodie mitsamt den vier Textstrophen diktiere.

Ich hatte Notenpapier zur Hand und schrieb in größter Eile mit einer Art improvisierter Kurzschrift das Vernommene auf […]“. [www.buendische-blaue-blume.de]

Zschiesche war auch nach dem Verbot der freien Jugendbünde im Juni 1933 bei den Nerothern aktiv; bereits 1933 kam er wegen „bündischer Umtriebe“ vier Wochen ins Gefängnis (es genügte, mit einer Gruppe, die nicht der Hitlerjugend angehörte, auf Fahrt zu gehen). Zschiesche ist der bündischen Idee bis zu seinem Tod mit 84 Jahren treugeblieben. Noch bis ins hohe Alter war er außerdem als Schriftsteller, Fotograf und Zeichner tätig.

Wir können vermuten, dass „die Stimme, die die Melodie mitsamt der vier Textstrophen diktier[t]e“, nicht ganz unbeeinflusst war vom Hören anderer bündischer Lieder. Bereits zu seinem titelgebenden Liedanfang könnte Zschiesche durch den Refrain der ersten Strophe „Laß die bunten Fahnen wehen“ von Jürgen Riehls Lied Kameraden, wir marschieren inspiriert worden sein. Offensichtlich ist auch die Ähnlichkeit zwischen Riels „wollen fremdes Land durchspüren“ und Zschiesches „wollen fremde Lande sehen“. Da sich Riels Lied bereits im Jahr seiner Entstehung 1932 in der bündischen Jugend wie ein Lauffeuer verbreitet hatte, besteht eine hohe Wahrscheinlichkeit, dass Zschiesche es im Dezember 1932 kannte. Auf vergleichbare Passagen der 4. Strophe mit Hjalmar Kutzlebs Wir wollen zu Land ausfahren (1911), komme ich noch zu sprechen.

Interpretation

Wie in vielen Liedern der Jugendbewegung drückt sich auch in Wenn die bunten Fahnen wehen das Fernweh und die Sehnsucht nach der Natur aus. Es geht hinaus „aus grauer Städte Mauern“ „über die Fluren weit“; „unser Sehen, unser Hoffen zieht hinaus durch Wald und Feld“, so in der ersten Strophe des 1919 von Jürgen Brand verfassten Lieds Wir sind jung, die Welt ist offen. Und wie es rückblickend in einem anderen, mündlich überlieferten Wandervogellied heißt „Wir sind durch Deutschland gefahren, / vom Meer bis zum Alpenschnee“; eine Fahrt (vgl. auf Fahrt gehen), wie sie auch hier beschrieben wird.

Wenn in der ersten Strophe „die Fahrt wohl übers Meer“ geht, ist nicht anzunehmen, dass die Nerother gesegelt sind – Segeltouren sind aus der Jugendbewegung nicht bekannt. Die Fahrtengruppe wird sich wohl an Bord eines großen Schiffes begeben haben und dann dort die bunten Fahnen wehen lassen haben. Vielleicht aber sind hier auch die bunten Flaggen gemeint, die beim Ablegen über Topp aufgezogen werden. Dass den jungen Leuten der Abschied nicht schwer fällt, ist verständlich, geht es doch „fernen Landen“ entgegen, warten Neues und damit verbundene Abenteuer auf sie. Und wenn dann noch die Sonne scheint und die Wolken (ruhig) ziehen, dann wird die Seefahrt ein Vergnügen, und sie singen aus voller Kehle ihre Lieder, sie „klingen weit übers Meer“. So sehr der Sonnenschein begrüßt wird, vor allem, wenn er den (ganzen) Tag lang lacht, so macht es den Jugendlichen nichts aus, wenn die Sonne einmal nicht scheint (vgl. auch „Regen, Wind, wir lachen drüber“, aus: Wir sind jung, die Welt ist offen). Wenn die Stürme blasen und die Wellen brausen, singen sie „mit dem Sturm [ihr] Lied“. Sie „lieben die Stürme, die brausenden Wogen“, wie es in einem anderen seit 1933 bekannten jugendbewegten Lied heißt – wahrscheinlich so lange, bis Sturm und Wellen weiter zunehmen und die Landratten seekrank werden.

In der 3. und 4. Strophe geht es in die Berge. Beim Auftakt „Hei“ merkt man den „wilden Wandervögeln“ die Freude an, wieder auf Fahrt zu gehen. Warum sie allerdings durch die Nacht ziehen, bleibt unklar; eventuell, weil es abenteuerlicher ist, wie es der Verfasser dieses Artikels vor Jahrzehnten bei Nachtwanderungen im CVJM (Christlicher Verein Junger Männer, seit den 1970er Jahren: Menschen) erlebt hat. Oder es sind romantische Vorstellungen, wie sie in der dritten Strophe von Wir wollen zu Land ausfahren angesprochen werden: „Dämpfet die Stimme, die Schritte im Wald, / so hör’n, so schau’n wir manch Zaubergestalt, / die wallt mit uns durch die Nacht“.

Hier aber sind die Wandervögel nicht gerade leise; im Gegenteil „sie schmettern ihre alten Lieder“ (vielleicht, um sich gegen aufkommende Ängste Mut zu machen). Auf Fahrt wurden die Lieder häufig „geschmettert“ (um nicht zu sagen gegrölt); man war in der Natur und störte niemanden, scheuchte schlimmstenfalls Hasen und Rehe auf. Im Text wird eine Begründung gegeben: „daß die Welt vom Schlaf erwacht“. Ja, so waren sie, die Wandervögel; sie waren nicht nur selbstbewusst, sondern auch sendungsbewusst, wie es auch die Aufforderung in einem bündischen Lied von Wilhelm Sell zeigt: „In die Sonne, in die Ferne hinaus, / laßt die Sorgen, den Alltag zu Haus!“ Die Wandervögel ziehen weiter, „wer weiß wohin?“. Eine Frage, die Zschiesche 1935 in einem seiner anderen Lieder aufgreift: Wo wollt ihr hin, ihr tollen Jungen? und er gibt gleich die Antwort: „Wir wissen’s nicht, in fremdes Land“. Hier zeigt sich erneut die Sehnsucht nach Neuem, Unbekanntem – ein Motiv, das sich in anderen Liedern ebenfalls findet, z.B. in Wir sind jung, die Welt ist offen: „Liegt dort hinter jenem Walde / nicht ein fernes, fremdes Land?“

Doch zurück zum „schmettern“: Wolfgang Lindner führt zu dem „bündischen ‚Superhit’“ aus: „ein von der Jugendmusik-Bewegung [s. Wikipedia, auch zu Fritz Jöde und Walther Hensel] bekritteltes herrlich pubertäres ‚Radau‘-Lied“ (Lindner s.o., Abschnitt 2.2.3: Genuine Lieder der Jugendbewegung, S. 90). Auch die Mehrheit der Herausgeber von Liederbüchern mit dem Fahrtenlied fand das laute Singen wohl unpassend und ersetzte das „schmettern“ durch „singen“ oder ließ die dritte Strophe ganz weg (s. Abschnitt Rezeption).

Wie in Kutzlebs Lied von 1911 („Wir wollen zu Land ausfahren / über die Gipfel weit, / aufwärts zu den klaren, / Gipfeln der Einsamkeit“ gilt es auch hier, auf „steilen Pfaden“ zu den „blauen Gipfeln“ zu wandern.

By Paulito89 (Own work) [CC BY-SA 4.0 (http://creativecommons.org/licenses/by-sa/4.0)%5D, via Wikimedia Commons

Und wenn das Hochsteigen auch manchmal schwerfällt, so machen sich die Wandervögel selbst Mut mit dem verheißenden Hinweis „bald sind wir dem Ziel genaht“. Dort, am Ziel, findet man die Stille, die Besinnung, die Einsamkeit. Belohnt werden die Wanderer mit dem Blick in die Weite, wo die „Schneefelder blinken“. Sie sind weit weg vom Alltag, vom Trubel der Städte, fühlen sich frei und ungebunden und lassen zeitweise alles hinter sich: „Lande versinken im Wolkenmeer“.  Ein Gefühl, das 36 Jahre später der deutsche Chansonnier Reinhard Mey nachempfunden hat: „Über den Wolken muss die Freiheit grenzenlos sein.“ 

Rezeption 1932 bis 1945

Nachdem Zschiesche Wenn die bunten Fahnen wehen zur Burg Waldeck an den Bruder des Bundesführers der Nerother geschickt hatte und noch 1933 die ersten beiden Liederbücher – das von Zschiesche herausgegebene gleichnamige Liederbuch und das Nerother Fahrtenliederbuch Hejo, der Fahrtwind weht – mit dem Lied erschienen waren, verbreitete es sich schnell in der gesamten bündischen Jugend. Beide Liederbücher enthielten die 3. Strophe Hei, die wilden Wandervögel, die weder gedruckt noch gesungen werden durfte. Nach Bekanntwerden musste der Verlag Günther Wolff, Plauen, den Vertrieb des von Zschiesche herausgegebenen Buches einstellen. Trotzdem wurde das Lied, auch mit der „Wandervogel-Strophe“, weiterhin gesungen. 1937 kam es zu einem Prozess, in dem mehreren Nerothern vorgeworfen wurde, verbotene Fahrten (s. oben) und verbotenen Lieder gesungen zu haben. Ein alter Nerother weiß von einer damaligen Gerichtsverhandlung zu berichten:   

In dem Moment, als ihr Verteidiger sein Plädoyer hielt, marschierte eine Hitlerjugend-Gruppe am Gerichtsgebäude vorbei, und sie sangen: Wenn die bunten Fahnen wehen! Geistesgegenwärtig ließ der Anwalt sämtliche Fenster des Gerichtssaal öffnen: „Sehen sie, meine Herren Richter, diese Jugend hier, die sie verurteilen wollen, den Nerother Wandervögeln, von denen ist auch dieses Lied, was jetzt draußen die HJ gesungen hat.“ Der Vorfall war ausschlaggebend für den Freispruch der Angeklagten.    

Um der Beliebtheit des Liedes etwas entgegen zu setzen, sah sich die  NS-Reichsjugendführung unter Baldur von Schirach veranlasst, für den Film Hitlerjunge Quex (Uraufführung September 1933) eigens ein Lied in Auftrag zu geben. Mit dem Refrain „Die Fahne flattern uns voran“ wurde es als Vorwärts, vorwärts, schmettern die hellen Fanfaren „bald zum offiziellen Lied der HJ erhoben und musste wie das Deutschlandlied und das Horst-Wessel-Lied mit erhobenem Arm gesungen werden – anders als bei den Nationalhymnen allerdings nur während des Refrains“ (www.jugend1918-1945.de). Und 1934 zog die katholische Jugend mit ihrem christlich geprägten Seht die bunten Fahnen wehen nach (Text Georg Thurmair).

Doch Wenn die bunten Fahnen wehen wurde in der HJ – allerdings ohne dritte Strophe – weiterhin gern gesungen, so dass der Parteidichter Herybert Menzel 1938 mit Wenn wir unter Fahnen stehen einen weiteren Versuch unternahm, das bündische Lied zurückzudrängen. Zur Zeit des Nationalsozialismus war jedoch die Beliebtheit des Fahrtenliedes der Nerother nicht einzudämmen, wie auch aus der Anzahl der Veröffentlichungen zu ersehen ist. Von 1934 bis 1944 war es in mehr als 30 Lieder- und Schulbüchern vertreten. Bereits 1936 erschien es in mehreren Auflagen von Frisch gesungen im neuen Deutschland (Band 3) und im NS- Liederbuch (beide in der 6. Auflage) sowie im  auflagestarken Unser Liederbuch –  Lieder der HJ. Da man nach dem im 4/4-Takt stehenden Lied gut marschieren konnte, wurde es auch in etliche Soldatenliederbücher, z.B. ins NSDAP-Soldatenliederbuch, in Soldatenlieder von Front und Heimat (beide 1940) und in Unsere Soldatenlieder (1942) aufgenommen.

So gut wie alle NS-Lieder- und Schulbücher erschienen ohne 3. Strophe (Ausnahme: Im deutschen Land marschieren wir [1934]); die NS-Führung wollte nicht, dass die verbotenen bündischen Gruppierungen mit „Hei, wir wilden Wandervögel“ aufgewertet würden. Zu den wenigen Liederbüchern der NS-Zeit, die die 3. Strophe enthielten, gehörten das bündische St. Georg Liederbuch der deutschen Jugend (in der 2. Auflage 1935), das bereits erwähnte Hejo, der Fahrtwind weht, Zschiesches Wenn die bunten Fahnen wehen und das handschriftliche, vor den KZ-Wächtern geheim gehaltene Lagerliederbuch des „Konzentrationslagers“ Sachsenhausen (Der Gründer des Nerother Wandervogel, Robert Oelbermann, Mentor von Zschiesche, war einige Jahre in Sachsenhausen, bevor er im KZ Dachau 1941 zu Tode kam).

Rezeption ab 1945

Nach dem Zweiten Weltkrieg hielt die Beliebtheit des Liedes an. In den ersten Nachkriegsjahren erschienen gleich mehrere Liederbücher und Schulbücher mit dem Fahrtenlied. Das Verhältnis von je zur Hälfte mit drei bzw. vier Strophen pendelte sich bis heute ein. Verständlich, dass vier Strophen überwiegend in Liedersammlungen (etwa 20 % aller untersuchten Liederbücher) der Nachfolgeorganisationen der Jugendbewegung zu finden sind, zuletzt im Heft Singt Freunde zum Treffen des Verbands Christlicher Pfadfinderinnen und Pfadfinder auf der Burg Waldeck (2011) und in Lieder zur Sommerfahrt (nach Kanada) des Weinbacher Wandervogels (2013). Wenn die bunten Fahnen wehen wurde und wird, geht man von den in Online-Archiven aufgeführten und meinen eigenen Liederbüchern aus, in allen Kreisen der Bevölkerung gesungen, z.B. in sportlich engagierten (Liederbuch des Deutschen Fußballbundes und Liederbücher der Sport- und Turnerjugend und des Gebirgs- und Alpenvereins. Außerdem wurde das Fahrtenlied in soldatische Liederbücher, z.B. Hell klingen unsere Lieder (1976) und in christliche Liedersammlungen,  aufgenommen, z.B. in Der Turmhahn (ev. 1963) und Jugend singt (kath. 6., Auflage 1956) sowie in viele weitere Gebrauchsliederbücher und natürlich in Die Mundorgel, das deutsche  Liederbuch mit der höchsten Auflage: 1953 bis 2013 11 Millionen Text- und 3 Millionen Notenauflage.

Aus dem Katalog des Deutschen Musikarchivs (DMA), Leipzig, dem seit 1956 von jeder musikalischen Veröffentlichung auf Tonträgern oder als „Musikdruck“ je ein Exemplar zugewiesen werden muss, geht hervor, dass Wenn die bunten Fahnen wehen nach dem Zweiten Weltkrieg das erste Mal  etwa 1960 auf einer Schellack-Schallplatte (17 cm) erschienen ist. Die gleichnamige Platte wurde vom Botho Lucas Chor besungen. 1963 folgte der Montanara Chor, der bis 1989 insgesamt 17 Schallplatten bzw. CDs – 1978 Gold – mit dem Fahrtenlied herausbrachte, darunter 1976 eine LP mit dem nicht gerade passenden Titel Non-stop Party Hits. Mit 13 Tonträgern, 1965 bis 1992 von einer Single bis zu CDs und einer weiteren CD 2015, kommt gleich danach Heino, der sich ja an einer Vielzahl von Volksliedern versuchte. Weit verbreitet war eine LP, die vom Verlag Das Beste herausgeben wurde: Die schönsten Lieder zum Wandern (1979), die auf Grund der großen Nachfrage 1981 neu aufgelegt wurde. Von insgesamt 75 Tonträgern weist der DMA-Katalog als 2012 zuletzt erschienene CD De Windbräkers aus, auf der das Fahrtenlied von einem Shantychor gesungen wird. Auffällig viele Chöre haben das Lied in ihr Repertoire aufgenommen, vom Posaunenchor und dem Chor der Bundeswehr über nicht namhafte Männer- und Jugendchöre bis hin zu berühmten Chören wie den Regensburger Domspatzen oder den Fischerchören, wie auch die Mehrheit der rund 400 Videos auf Youtube (allerdings viele Aufnahmen mehrfach vertreten) zeigen.

Georg Nagel, Hamburg

Nachtrag:

Nur in einem Liederbuch ist eine 5. Strophe veröffentlicht worden, nämlich in Heidenlieder, 2009 (Dank an Hubertus Schendel Archiv):

Wenn die großen Trommeln schlagen,
Fähnrich, dann ist Fahrenszeit.
Unsre Fahne selbst zu tragen,
sind wir allezeit bereit.
Heute und morgen
geht die große Trommel um,
heute und morgen wissen wir warum.

Wer etwas zum Verfasser, zur Herkunft und/oder zum Jahr der Entstehung dieses Verses beitragen kann, möge das im Kommentarfenster schreiben.

Romantische Wandervogelhymne: Horants „Wir wollen zu Land ausfahren“

Horant (Hjalmar Kutzleb)

Wir wollen zu Land ausfahren

Wir wollen zu Land ausfahren
wohl über die Fluren weit,
aufwärts zu den klaren
Gipfeln der Einsamkeit.
Woll´n lauschen, woher der Sturmwind braust,
schauen, was hinter den Bergen haust
und wie die Welt so weit, 
und wie die Welt so weit.

Fremde Wasser dort springen,
sie soll´n uns´re Weiser sein,
froh wir wandern und singen
Lieder in das Land hinein.
Und glüht unser Feuer an gastlicher Statt,
so sind wir geborgen und schmausen uns satt,
und die Flamme leuchtet darein
und die Flamme leuchtet darein.

Und steigt aus tiefem Tale
heimlich und still die Nacht,
und sind vom Mondenstrahle
Gnomen und Elfen erwacht,
dämpfet die Stimme, die Schritte im Wald
so hör'n, so schau'n wir manch Zaubergestalt,
die wallt mit uns durch die Nacht,
die wallt mit uns durch die Nacht.

Es blühet im Walde tief drinnen
die blaue Blume fein,
die Blume zu gewinnen
zieh‘n wir ins Land hinein.
Es rauschen die Bäume, es murmelt der Fluss,
und wer die blaue Blume finden will,
der muss ein Wandervogel sein,
ein Wandervogel sein.

Das „bekannteste Lied der Wandervogelbewegung“ (www.volksliederarchiv.de), ist seit seiner Entstehung 1911 bis heute populär geblieben. Die „Wandervogelhymne“ (Wolfgang Lindner) spiegelt die romantischen Bestrebungen der Jugendbewegung wieder, die Natur freier zu erleben, um sich von den einengenden Verhältnissen der Industrialisierung und zunehmenden Verstädterung zu lösen. Noch 2013 wurde das Lied beim „Fest der Jugend – Jugend in Bewegung“ auf dem höchsten Berg der Kasseler Kuppe, dem Hohen Meißner, von Pfadfindern, Wandervögeln und Jungenschaftlern gesungen. 1913 fand dort der Erste Freideutsche Jugendtag statt, das Treffen jugendbewegter Gruppierungen als Gegenprogramm zu den patriotisch-chauvinistischen Gedenkveranstaltungen anlässlich des 100. Jahrestages der Völkerschlacht bei Leipzig.

Entstehung

Verfasst wurde das Lied 1911 von Horant, i.e. der bündische Name des Schriftstellers und Pädagogen, Hjalmar Kutzleb (1885 bis 1959). Kutzleb, der über 60 Romane, Novellen und Sachbücher verfasste, vorwiegend „von germanisierend-nationaler Erziehungstendenz“ geprägt (Walter Killy: Literaturlexikon) und verbunden mit einer „antisemitischen Einstellung“ wurde 1935 Professor an der Hochschule für Lehrerfortbildung in Weilburg (Wikipedia). Als frühes Mitglied des Alt-Wandervogels (AWV) übernahm Kutzleb 1905 die Leitung des AWV Sachsen und Schlesien. Nachdem er 1910 in den neu gegründeten Jung-Wandervogel (1912 62 Ortsgruppen, AWV 300 Ortsgruppen) übergetreten war, lernte er den preußischen Landrat Kurt von Burkersroda (bündischer Name bux, 1877 bis 1918) kennen, der 1912 Kutzlebs Verse vertonte.

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Interpretation

So wie der Begriff Jugend-Bewegung etwas Dynamisches assoziieren lässt, so könnte man das Lied ein Bewegungslied nennen. Heraklits panta rhei, alles fließt, ist nicht nur wörtlich zu nehmen – „fremde Wasser dort springen“ – , sondern zieht sich durch alle Strophen: ‚ausfahren, brausen, wandern, wandelt, Schritte, wallet, zieh‘n, rauschen, (Fluss) murmelt, finden‘. Sich bewegen, körperlich und geistig, sich er-fahren war das Bestreben der Wandervögel, permanent unterwegs sein im Sinne von Konfuzius: „Der Weg ist das Ziel“. Dies kommt in mehreren Liedern zum Ausdruck, die untereinander motivische Parallelen aufweisen:

   A: Wir wollen zu Land ausfahren, Text: Hjalmar Kutzleb, Melodie: Kurt von Burkersroda

   B: Aus grauer Städte Mauern, Text: 1-3: Hans Riedel, 4: Hermann Löns, Melodie: Robert Götz

   C: Wir sind durch Deutschland gefahren. Mündlich überliefert

   D: Wir sind jung, die Welt ist offen, Text: Jürgen Brand, Melodie: Michael Englert

Das hier besprochene Lied beginnt mit der Aufforderung an die Wandervögel selbst: „Wir wollen zu Land ausfahren“. Fahren hier auch gemeint in der etymologischen Verwandtschaft mit Gefahr und Erfahrung; die Wandervögel wollen unterwegs neue Erfahrungen machen, Abenteuer erleben, Gefahren trotzen. Es geht heraus aus den Großstädten (vgl. B: Aus grauer Städte Mauern) – die Wandervogelbewegung ist ja in Berlin-Steglitz entstanden – in die Natur: „über die Fluren weit“, in die Berge und durch den Wald (s. A, 2. und 3. Strophe). Das Motto der deutschen Lebensreformbewegung um die Jahrhundertwende (1900), „Zurück zur Natur“, wurde umgesetzt, zunächst durch Wanderungen in die Umgebung, dann auf Fahrt durch ganz Deutschland (vgl. C: Wir sind durch Deutschland gefahren) und schließlich auf „Großfahrt“ ins europäische Ausland und sogar nach Übersee: …„und wie die Welt so weit, / und wie die Welt so weit“ (A, Strophe 1; vgl. D: Wir sind jung, die Welt ist offen).

Sprachlich steckt das Lied voller Neo-Romantizismen: Hier geht es nicht „hinaus durch Wald und Feld“ (D, 1. Strophe), sondern „über die Fluren weitA, 1. Strophe); man orientiert sich nicht an fließenden Bächen, sondern an „springenden Wassern“, neben denen man empor wandert – „aufwärts zu den klaren Gipfeln der Einsamkeit. Dort sucht man die Stille, die Besinnung, die Einsamkeit. Ähnlich in Alfred Zschiesches Wenn die bunten Fahnen wehen: „Wo die blauen Gipfel ragen, / lockt so mancher steile Pfad“ (3. Strophe). Man hört nicht den Wind oder den Sturm, sondern man will „lauschen, woher der Sturmwind braust“. Die Nacht bricht nicht an, sondern „steigt aus dem Tale“ und das „heimlich und still“. Dazu gehören dann auchdie Gnomen und Elfen“, die erwacht sind. Und wenn man leise geht, die „Schritte im Wald dämpft“, dann kann man auch Stimmen hören und „manch Zaubergestalt „schau’n, die nicht durch die Nacht schwebt, sondernmit uns durch die Nacht wallt“. Auch hier stellte sich „die Jugendbewegung […] damals bewußt in die Tradition der Romantik – dies nicht nur in der Übernahme von sprachlichen Bildern, sondern auch als ein Versuch der ‚Wiederverzauberung der Welt‘: einer technisierten, säkularisierten, verstädterten Welt“ (Winfried Mogge).

Als jemand, der in jungen Jahren manche Nachtwanderung beim CVJM (Christlicher Verein junger Menschen) mitgemacht hat, kann ich bestätigen, dass auch wir manches Mal ähnliche mystische Empfindungen hatten. Auch wie geborgen wir uns gefühlt haben, wenn wir uns am Lagerfeuer, natürlich nicht im Wald, sondern „an gastlicher Statt“ gewärmt haben und wir uns satt gegessen hatten – hier „satt geschmaust“.

Aber die Nacht geht vorüber und wir müssen weiter, „unser Sehnen, unser Hoffen“ (A, 1. Strophe; vgl. auch „und tief in der Seele das Ferne, / das Sehnen, das nimmermehr ruht aus“, C, 3. Strophe) gilt der ‚blauen Blume, die im Walde tief drinnen blüht‘. Und sei die Welt noch so weit, uns ist kein Weg zu weit, um die Blume (vgl. A, 4. Strophe) zu finden; und so zieh‘n wir ins Land hinein“, bereit auch zu „schauen, was hinter den Bergen haust“. Eine Parallele findet sich in der 2. Strophe des Liedes von Jürgen Brand (D):Liegt dort hinter jenem Walde / nicht ein fernes, fremdes Land? / Blüht auf grüner Bergeshalde / nicht das Blümlein Unbekannt?“

Lange vor der Romantik findet nach einer mir nicht näher bekannten Sage ein Wanderer eine blaue Wunderblume, die ihn zu verborgenen Schätzen führt. In der Romantik steht die blaue Blume für „Sehnsucht und Liebe und für das metaphysische Streben nach dem Unendlichen“ (Wikipedia). Populär wurde das Symbol durch Novalis‘ (1772-1801) Romanfragment Heinrich von Ofterdingen (1800, veröffentlicht 1802). Bei Eichendorff (1788-1857) ist die Suche nach der blauen Blume die Suche nach dem Glück, dem Erkennen der Natur und des eignen Selbst. Sein Gedicht Die blaue Blume endet damit, dass der Sprecher sie doch nicht finden kann: „Ich wandre schon seit lange, / hab lang gehofft, vertraut, / doch ach, noch nirgends hab ich / die blaue Blum‘ geschaut.“

Die Lehrer, Studenten und Gymnasiasten, die 1901 die erste Wandervogelgruppe in Steglitz gründeten, kannten „ihren“ Novalis. Sie griffen das Symbol auf, und so wurde die blaue Blume auch ein Sinnbild der Sehnsucht nach der Ferne und ein Symbol der Wanderschaft: „Wenn hell die goldne Sonne lacht, / muß in die Welt ich ziehn, / denn irgendwo muß voller Pracht / die blaue Blume blühn“ (Entstehung und Näheres unbekannt). Zur heutigen Verwendung des Begriffs Blaue Blume s. letzten Abschnitt Rezeption ab 1945.

Rezeption bis 1933

Wie viele andere Lieder der Jugendbewegung ist Wir wollen zu Land ausfahren zunächst „auf Fahrt“ oder am Lagerfeuer mündlich weitergetragen worden. Vor dem Ersten Weltkrieg tauchte das Lied nur in wenigen Liederbüchern auf, z. B. im Rhein-Wander-Liederbuch Frischauf (1913) oder im Wandervogel-Singebuch (1914). Dann aber erlebte es seinen Durchbruch durch die Aufnahme in zahlreiche Liederbücher nicht nur bündischer Provenienz, sondern auch der Arbeiter- und der Kaufmännischen Jugend, christlicher und deutsch-völkischer Kreise und natürlich der Wandervereine. Die von Fritz Sotke edierten Liedersammlungen wie Unsere Lieder (1929, 19.-25. Tausend) und Fahrtenlieder (1930, 54.-56. Tausend) gehörten wie Das Liederbuch der deutschen Kaufmannsjugend (1928, 51.-56. Tausend) zu den auflagestärksten Liederbüchern vor 1933, übertroffen nur von dem von einer Genossenschaft herausgegebenen Hamburger Jugend Liederbuch mit einer Auflage von 61.-65. Tausend (1929).

1933 bis 1945

In den ersten Jahren der NS-Zeit wurde Wir wollen zu Land ausfahren wie viele andere Lieder der Jugendbewegung, z. B. Aus grauer Städte Mauern oder Im Frühtau zu Berge auch von der Hitlerjugend gesungen (vgl. die Aufnahme in Liederbücher wie Uns geht die Sonne nicht unter, erschienen Anfang 1934 im bündischen Günther Wolff Verlag, oder Liederbuch des Bundes Deutscher Mädel); die Jugendlichen, die aus den nach der Machtübernahme aufgelösten Bünden in die HJ gekommen waren, sangen weiterhin ihre alten Lieder. Und auch das vom Reichsjugendführer Baldur von Schirach herausgegebene Liederbuch Blut und Ehre (1933) nahm nicht nur die wenigen bereits vorhandenen nationalsozialistischen Lieder auf, sondern griff ebenfalls auf bündisches Liedgut zurück.

All das konnte auf Dauer auch der Reichsjugendführung nicht verborgen bleiben. Noch im Jahr 1934 wurde das HJ-Liederbuch dem Wolff Verlag entzogen und unter gleichem Titel in Köln in einem den Nazis genehmen Verlag neu aufgelegt. Einige bündische Lieder (z.B. Hohe Tannen weisen die Sterne) oder solche, die als „defätistisch“ galten (Soldat, du bist mein Kamerad), waren entfernt worden. Es fehlte nun auch Die Gedanken sind frei, und wenig später verschwand auch das Lied Wilde Gesellen vom Sturmwind durchweht. Der Titel des Liederhefts Uns geht die Sonne nicht unter, der Schlussvers jeder Strophe aus den Wilden Gesellen, wurde beibehalten. Das in den Bünden in den 1920er Jahren weit verbreitete Lied Wir wollen zu Land ausfahren, eigentlich ein harmloses Fahrtenlied, wurde ebenfalls aus dem Liederbuch „getilgt“, fanden sich darin doch die Verse „und wer die blaue Blume finden will, / der muss ein Wandervogel sein“. Solch romantisches Ansinnen passte ebenso wenig zur HJ wie das Gebaren der Wilden Gesellen. „Die Hitlerjungen sollten keine Blumen suchen, sondern exerzieren; und wenn schon Fahrtenleben, dann in militärisch straffer Haltung, in wahrlich riesigen Zeltstädten mit lückenlos durchorganisiertem Lagerleben, mit dem Sieg in irgendeinem Wett-Kampf als Ziel. Auch Fernweh, fremde Länder und Naturereignis – all das waren bzw. wurden Sehnsüchte, die im neuen HJ-Liedgut ab 1934/35 seitens der Verantwortlichen keinen Raum mehr finden durften“ (Martin Rüther: „Wo keine Gitarre klingt, da ist die Luft nicht rein!“ Anmerkungen zum Singen in der NS-Zeit)

Bald erschien in der Zeitschrift Jungvolk, dem Zentralorgan für das Deutsche Jungvolk (Jugendorganisation der Hitlerjugend für 10- bis 14-Jährige), ein Artikel, in dem gegen das Singen spezifisch bündischer Lieder polemisiert wurde: „Hört doch einmal die Texte verschiedener Lieder, die auch bei uns gesungen werden, an, z. B. … Und wer die blaue Blume finden will, der muß ein Wandervogel sein. Paßt das zu unserer kämpferischen harten Haltung? […] Es ist doch geradezu lächerlich, daß dieses ‚Liedgut‘ – teils musikalischer Kitsch, teils textliche Unmöglichkeit – überhaupt bei uns Eingang fand.“ (www.jugend1918-1945.de). Und ab 1935 fehlten in den NS-Liederbüchern nicht nur die die o.a. Lieder, sondern auch Hohe Tannen weisen die Sterne und Wir wollen zu Land ausfahren. Nicht romantischen Gedanken sollten die Hitlerjungen anhängen, sondern in vormilitärischen Geländespielen und Wettkämpfen „flink wie Windhunde, zäh wie Leder und hart wie Kruppstahl“ werden (Hitler in einer Rede 1935 vor 50.000 Hitlerjungen).

Mit Ausnahme des 1941 im Hermann Schroedel Verlag erschienenen Liederbuchs Sonnenlauf IIIn Lied und Spruch um die Gezeiten der Feste des Jahres, das auch einige NS-Lieder enthielt, ist nach meiner Kenntnis bis 1945 keine weitere Liedersammlung mit Wir wollen zu Land ausfahren veröffentlicht worden.

Rezeption ab 1945

Geht man von den bereits in den ersten Jahren nach dem Zweiten Weltkrieg erschienenen Liederbüchern aus, dann wurde Wir wollen zu Land ausfahren in politischen, gewerkschaftlichen und christlichen Jugendgruppen gesungen. Auch in der damaligen Ostzone nahm die Freie Deutsche Jugend (FDJ) das Lied in ihr erstes Liederbuch der deutschen Jugend (1946) auf. Nachdem das Wanderlied in Schul- und anderen Liederbüchern der Schweiz und in Österreich auftauchte, war es bald auch in allen Liederbüchern der Nachfolgeorganisationen der Jugendbewegung, häufig mit mehreren Auflagen, zu finden.

Ab 1953 fand es Aufnahme in Die Mundorgel (Auflage bis 2013: Textausgabe rund 10 Millionen, Notenausgabe 4 Millionen), sowie in späteren Jahren in die auflagestarken Taschenbücher Die schönsten deutschen Volkslieder (Heyne), Volkslieder aus 500 Jahren (Hg. vom Volkskundler Ernst Klusen, Fischer TB) und in das weit verbreitete Liederheft Liederkarren (4. Auflage 1992, seit 1999 bei Schott Music).

Auch auf Tonträgern ist das Lied weit verbreitet; der Katalog des Deutschen Musikarchivs, Leipzig, weist über 40 LPs und CDs aus. Heino allein interpretierte das Lied auf seine Art von 1965 bis 1992 auf acht LPs bzw. CDs.

Wie beliebt Wir wollen zu Land ausfahren nach wie vor ist, zeigen auch die neun Liederbücher, die seit 2000 herauskamen und vor allem die vielen Videos auf Youtube.

Nicht nur das Lied ist populär geblieben, auch die blaue Blume blüht ins 20. Jahrhundert hinein. So erschien 1960 vom Schriftsteller und Nerother Wandervogel Werner Helwig (1905-1985) Die Blaue Blume des Wandervogels mit dem Untertitel Vom Aufstieg, Glanz und Sinn einer Jugendbewegung. 1968, zur Zeit der Außerparlamentarischen Opposition, forderten Germanistikstudenten, anstelle traditioneller Literatur moderne Arbeiterliteratur in Vorlesungen und Seminaren zu behandeln: „Schlagt die Germanistik tot, färbt die blaue Blume rot!“ Die Deutsche Nationalbibliothek führt allein für die vergangenen 20 Jahre 27 belletristische Werke mit der blauen Blume im Titel auf. Seit 2012 wird die „Blaue Blume“ verliehen, ein Preis für romantische Kurzfilme. Noch heute heißen einige Hotels und Restaurants und sogar eine Online-Buchhandlung „Blaue Blume“, und eine Frankfurter Künstlergruppe, ein skandinavisches Gesangsquartett und eine dänische Indie-Pop-Gruppe nennen sich „Blaue Blume“; das dänische Porzellan Royal Copenhagen heißt ebenfalls „Blaue Blume“. Und für 2016 hat die Deutsche Literaturgesellschaft die Herausgabe eines Buches zur erzählenden Natur mit dem Titel „Die Blaue Blume“ angekündigt. Der Bundeswehr dagegen schien die blaue Blume wohl zu romantisch – vom ‚Wandervogelsein‘ ganz zu schweigen – in den vom Bundesministerium für Verteidigung 1958 bis 1991 herausgegebenen Liederbüchern (Liederbuch der Bundeswehr, Hell klingen unsre Lieder und Kameraden singt) ist die 4. Strophe von Wir wollen zu Land ausfahren nicht enthalten.

Georg Nagel, Hamburg

Quellen (Auswahl):

Wolfgang Lindner: Jugendbewegung als Äußerung lebensideologischer Mentalität. Hamburg 2003.

Winfried Mogge: „Ihr Wandervögel in der Luft…“ Fundstücke zur Wanderung eines romantischen Bildes und zur Selbstinszenierung einer Jugendbewegung. Würzburg 2008.