„Es geht eine dunkle Wolke herein“ – ein rätselhaftes Strophenpuzzle
16. November 2021 3 Kommentare
Anonym Es geht eine dunkle Wolke* herein 1.Es geht eine dunkle Wolke herein. Mich deucht, es wird ein Regen sein, ein Regen aus den Wolken wohl in das grüne Gras. 2.Und kommt die liebe Sonn nit bald, so weset alls im grünen Wald; und all die müden Blumen, die haben müden Tod. 3.Es geht eine dunkle Wolke herein. Es soll und muss geschieden sein. Ade Feinslieb, dein Scheiden macht mir das Herze schwer. [* oftmals auch „Wolk‘“]
Herkunft und Entstehung
Das Lied wurde lange Zeit aufgrund des angenommenen Entstehungsjahres (1646) als typisches „Zeitdokument des Dreißigjährigen Krieges“ (Wikipedia) charakterisiert, wozu der Text und die schwermütige Melodie beigetragen haben. Da es jedoch viel älter ist, wird es mittlerweile, vor allem wegen der dritten Strophe, eher als Liebes- und Abschiedslied eines Handwerksgesellen angesehen.
Die 1. Strophe steht in der Liederhandschrift des Benediktinerpaters Johann Werlin (1588–1666), der sie 1646 in der Einführung zum neunten Kapitel in sieben Bänden mit 3.000 geistlichen und weltlichen Liedern aufgeführt hat. Als Textfragment findet sie sich aber bereits 1540 in Georg Forsters (um 1500–1568) Frischen Teutschen Liedlein, Band 2: „Es geht ein finster Wöckle herein“ (vgl. Theo und Sunhilt Mang, Liederquell, 2015, S. 289). Aus dem Jahr 1630 existiert eine Flugschrift mit einem 13-strophigen Abschiedslied, von dem jedoch nur die oben aufgeführte erste Strophe beginnend mit Es geht ein dunckels Wölcklein herein in unser Lied übernommen wurde.
Später hinzugekommen sind die Strophen zwei und drei. Ob die 2. Strophe tatsächlich vom Herausgeber des für die Jugendbewegung bedeutendsten Liederbuchs (geschätzte Gesamtauflage über eine Million) Der Zupfgeigenhansl, Hans Breuer (1883–1918) stammt, ist nicht gesichert. Vermutlich ist diese Zuweisung dadurch entstanden, dass Breuer zum ersten Mal die obigen drei Strophen zusammenhängend in die späteren Ausgaben des Zupfgeigenhansl aufgenommen hat (2. Auflage 1910 und 4. Auflage 1911).
Gemäß den Liedforschern Theo und Sunhilt Mang wurde die 3. Strophe unter Abänderung der letzten Zeile dem etwa seit 1840 im Kuhländchen (einer deutschsprachigen Region an der Oder in Tschechien) bekannten Handwerksburschenlied Ich waß wohl, wenn‘s gut wandern ist entnommen.
Die noch heute gesungene Form der Melodie hatte Wolfgang Schmeltzl (geboren 1500 oder 1505, gestorben 1564) in seine Quodlibet-Sammlung 1544 aufgenommen. Bekannte spätere Bearbeitungen stammen von Hugo Distler (1932) und Hanns Eisler (1953).
Interpretation
Vergleicht man Es geht eine dunkle Wolk‘ herein mit anderen Volksliedern, die eine Geschichte erzählen, eine Stimmung wiedergeben oder chronologisch aufgebaut sind, so fällt auf, dass die drei Strophen so recht nicht zueinander passen wollen. Das ist nicht weiter verwunderlich, stammen sie doch, wie bereits oben ausgeführt, aus verschiedenen Zeiten und verschiedenen Liedern.
Die Deutung der Metapher „dunkle Wolk‘“ als schicksalsschweres Ereignis in Bezug auf den Dreißigjährigen Krieg, wie manche Interpreten es sehen, lässt sich meines Erachtens aus dem Text nicht ableiten. Die erste Zeile könnte sich an dem Einleitungssatz (Incipit) des aus dem Jahr 1535 stammenden Liedes Es dunkelt schon in der Heide (Interpretation hier) orientiert haben. Im „Heidelied“ ist man froh, dass das Korn, bevor es regnet, schon geschnitten ist; in unserem Lied scheint man auf den Regen zu warten, der dafür sorgt, dass das Gras grün bleibt und sich nicht wie häufig in heißen Sommern gelb-bräunlich färbt.
In der zweiten Strophe dagegen wünscht man sich die Sonne herbei, da sonst alles im Wald verwesen würde. Gemeint dürfte sein, dass die Sonne feuchte Stellen bzw. Pflanzen trocknen soll, bevor sie der Fäulnis anheimfallen. Dass jedoch die „müden Blumen“ ohne Hilfe des Sonnenscheins einen „müden Tod“ erleiden, ist für mich nicht nachzuvollziehen, benötigen Blumen, die ihre „Köpfe haben hängen lassen, doch eher Wasser als zusätzlichen Sonnenschein.
In der dritten Strophe ist „dunkle Wolk‘“ eine Metapher, die andeutet, dass es sich um ein trauriges Ereignis handelt, und zwar, wie in den Folgezeilen erkennbar, um ein Abschiednehmen. Es wird klar, warum das Lied als Abschiedslied und Lied der Wandergesellen gilt, zumal einige Zeilen der dritten Strophe wörtlich aus der letzten Strophe des Wanderliedes Ich waß wohl, wenn‘s gut wandern stammen (s.o.), das Wandergesellen gern sangen.
In der Zeit der Entstehung der dritten Strophe musste man, um ein bestimmtes Handwerk ausüben zu dürfen, einer zuständigen Zunft beitreten und die jeweilige Zunftordnung erfüllen. Unabhängig von der Art der Zunft mussten die jungen Männer, nachdem sie ihre Gesellenprüfung abgelegt hatten, drei Jahre und einen Tag von Meisterbetrieb zu Meisterbetrieb durch ganz Deutschland wandern. Diese „Lehr- und Wanderjahre“ dienten dazu, ihre bereits erworbenen handwerklichen Fähigkeiten anzuwenden und zu verbessern und auch neue, in anderen Regionen gebräuchliche Techniken und Fertigkeiten zu erlernen. Hier, wie auch in anderen Liedern der Handwerksburschen, z.B. Es, es, es und es, es ist ein harter Schluss (Interpretation hier) und Das Wandern ist des Müllers Lust, muss der Sänger schweren Herzens von seiner Liebsten scheiden.
Das Lied wurde im Ersten Weltkrieg als „Gaskampflied“ mit weiteren Strophen versehen (Text nach (Dr. Erwin Wolfgang Koch, Assistenzarzt bei den Pionieren). Hier die erste Strophe:
Es geht eine dunkle Wolk‘ herein mich dünkt, es wird ein Angriff sein Ein Angriff von den Feinden mit dunkelgrünem Gas.
Heuzutage könnte man die „dunkle Wolk‘ “ als Metapher für die Corona-Pandemie verstehen, die wie ein Platzregen über uns kam.
Rezeption
Einer der Ersten, der das Lied erstmals mit drei Strophen in eine Liedersammlung (Altdeutsches Liederbuch) aufnahm, war 1877 der Liederforscher Franz Magnus Böhme (1827–1898).
Ab 1909 folgten Liederbücher des Wandervogels, darunter Der Zupfgeigenhansl (Auflage bis etwa 1930 geschätzt über 1 Million) und ab 1921 zahlreiche der Jugendbewegung, einige davon mit mehreren Auflagen, z. B. das 1925 von Fritz Sotke (1902–1970) herausgegebene Unsere Lieder (5. Auflage 1931) und Was singet und klinget – Lieder der Jugend (9. Auflage 1926). Auch einige Schulbücher übernahmen Es geht eine dunkle Wolk‘ herein. Geht man von den mir in Online-Archiven und Privatbibliotheken zugänglichen Liederbüchern aus, wurde von 1921 bis 1931 im Durchschnitt pro Jahr ein Liederbuch mit der „dunklen Wolk‘“ herausgegeben.
In der Zeit des Nationalsozialismus erschienen mit dem Lied nicht nur dem NS-Regime nahestehende Liederbücher wie Lieder der Arbeitsmaiden (2. Auflage 1939, herausgegeben vom Reichsarbeitsdienst) und Schulbücher mit NS-Liedern, sondern auch von der katholischen Pfadfinderschaft St. Georg das Lied der deutschen Jugend (1935) und von evangelischer Seite Ein neues Lied – Liederbuch für die deutsche evangelische Jugend (1938). Erstaunlich für mich ist, dass die Deutsche Wehrmacht das traurige Abschiedslied noch 1944 in ihr Chorbuch für Front und Heimat – Kameradschaft im Lied aufgenommen hat.
Die Anzahl der Liederbücher mit Es geht eine dunkle Wolk‘ herein nach dem Zweiten Weltkrieg ist schier unüberschaubar. Hier sollen nur exemplarisch einige angeführtwerden. Bereits 1946 erschien das Liederheft Singt mit (herausgegeben vom Magistrat der Stadt Berlin), Der helle Ton der evangelischen Jugend (1948 in der 5. Auflage) und 1951 im Altenburger Singebuch der katholischen Jugend. Etliche Schulbücher folgten, wovon das Chorbuch Die Garbe – ein Musikwerk für die Schule wegen der 12. Auflage 1956 und Musik im Leben – Schulwerk für die Musikerziehung (12. Auflage 1963) hervorzuheben sind.
Auch in der Schweiz (z.B. Fahrtenlieder der Schweizer Wandervögel), Österreich (z.B. Deutsche Weise – Die beliebtesten Volkslieder) und in der damaligen DDR(z.B. Leben, kämpfen, singen, 10. Auflage 1964, 17. Auflage 1985) ist bzw. war das Lied gut bekannt.
Von der Vielzahl der Liederbücher seit 1970 sollen nur das Fischer-Taschenbuch Volkslieder aus 500 Jahren (herausgegeben 1978 vom Volksliedforscher Ernst Klusen), die vom Folkduo Zupfgeigenhansel besorgte Sammlung Es wollt‘ ein Bauer früh aufstehn (1979) und die Jurtenburg des Verbands christlicher Pfadfinderinnen und Pfadfinder (2010) erwähnt werden.
Angesichts der überaus zahlreichen Liederbücher (fast 200) finde ich es bemerkenswert, dass im Katalog des Deutschen Musikarchivs (DMA) nur 2 Tonträger mit dem Lied aufgeführt werden; allerdings weist das DMA 27 Musiknoten, hauptsächlich Chorpartituren, aus. Wie beliebt Es geht eine dunkle Wolk‘ herein noch heute ist, zeigen auch die mehr als 180 Videos bei YouTube, darunter Aufnahmen mit Hannes Wader (s.o.) und Manfred Krug.
Georg Nagel, Hamburg