Kann Spuren von Liedtext enthalten. Zu Knorkators „Zoo“

Florian Seubert gewidmet

 

Knorkator

Zoo

Elefanten, Pinguine, Leoparden und Delphine
Fledermäuse, Paviane, Wasserbüffel, Pelikane
Dromedare, Borkenkäfer, Krokodile, Siebenschläfer
Schildkröten, Nacktschnecken, Kängurus, Marabus und Heuschrecken

Nasenbären, Schnabeltiere, Erdmännchen und Tapire
Schwarzer Panther, Weißer Hai, Orang-Utan und Papagei
Skorpione, Leguane, Klapperschlangen und Kormorane
Zwergmakaken, Zwergmapissen, Kapuzineraffen und Hornissen

Zoo, Zoo, Zoo
Zoo, Zoo, Zoo

Vogelspinne, Seidenraupe, Ringelnatter und Turteltaube
Antilope, Tiger, Löwe, Pferd, Hund, Schaf, Katze, Maus und Möwe
Nachtigall, Oktopus, Storch, Koala, Hängebauchschwein, Anakonda, Impala
Buntspecht, Waschbär, Frosch und Libelle, Nacktnasenwombat und Gazelle

Zoo, Zoo, Zoo
[…]

     [Knorkator: We want Mohr. Tubareckorz 2014.]

Was ist ein Liedtext? Lassen sich beliebige Worte, die über Musik gesungen werden, bereits als ein Liedtext, als, wie es in der Beschreibung dieses Blogs heißt, „Lyrik“, bezeichnen? Im Nachfolgenden soll diese Frage bei der Interpretation eines auf den ersten Blick eher banalen Textes der Berliner „Spaßrocker“ Knorkator im Mittelpunkt stehen. Dabei wird argumentiert, dass es sich bei dem Liedtext zum 2014 erschienen Zoo um eine Art dekonstruierten Liedtext handelt, der nur noch in Ansätzen traditionellen Lyrics ähnelt. Mit ihrer inhaltlich und stilistisch minimalistischen Herangehensweise machen sich Knorkator auch über die in vielen (modernen) Liedtexten vorhandenen sprachlichen Unzulänglichkeiten lustig.

Doch zum Text: Es handelt sich dabei um eine Aufzählung von Tieren. Denkbar wäre als Sprecher ein kleines Kind, das sich durch einen Zoo bewegt und Tiernamen auf den dazugehörigen Schildern liest, unterbrochen von gelegentlichen „Zoo“ Schreien. Aber das ist reine Spekulation und würde vielleicht sogar die Intention des Textes verfehlen. Denn ein Charakteristikum ist eben, dass es kein Narrativ gibt und kein Spaziergang durch einen Zoo beschrieben wird, sondern der Text lediglich aus den Elementen ‚Tier‘ und ‚Ort‘ besteht, die von einer gänzlich unbekannten Sprech-Instanz aufgezählt werden.

Übergeordnete Ordnungsprinzipien sind dabei kaum zu erkennen. Lediglich in der zweiten Zeile der dritten Strophe lässt sich so etwas wie ein gemeinsamer Nenner erkennen. Zunächst werden die exotischen Tiere „Antilope, Tiger, Löwe“ erwähnt, denen dann Bauernhoftiere folgen („Pferd, Hund, Schaf, Katze, Maus“). Doch sogar diese lose Ordnung wird dann durch das letzte Tier in der Reihe, die Möwe, wieder gebrochen. Diese würde wohl eher in eine Kategorie mit Küstentieren passen.

Daneben bildet die Zeile ohnehin die Ausnahme und andere Zusammenstellungen scheinen gänzlich zufällig. Ein Beispiel: „Nachtigall, Oktopus, Storch, Koala, Hängebauchschwein, Anakonda, Impala“. Hier werden sowohl lokale als auch exotische, gefährliche und harmlose, in Gewässern lebende, aber auch auf dem Land beheimatete Lebewesen genannt, Vögel, Säugetiere, ein Reptil und mit dem Oktopus ein Weichtier werden aufgezählt.

Natürlich gibt es doch ein übergeordnetes Ordnungsprinzip, nämlich den (wohl imaginären) Zoo. Und selbstverständlich gibt es innerhalb vieler Genres, beispielsweise beim Musiktheater, interessante Texte, die sich vor allem mit Tieren beschäftigen und im Rahmen der animal studies immer wieder analysiert werden. Mit dem Rahmen des Zoos hat Knorkators Text noch Ansätze eines konventionellen Textes, irgendeine Art von Zusammenhang. Aber es gibt kein Narrativ, keine Moral und keine Handlung. Doch deskriptiv ist der Text auch nicht, denn die Tiere und der Zoo werden nicht näher beschrieben.

Stilistisch und sprachlich arbeitet der Text auf einer ähnlichen Ebene: Genauso wie der große Zusammenhang ‚Zoo‘ einen sehr losen Rahmen gibt, werden auch einfache Stilmittel verwendet. Man könnte den Text damit als minimalistisch, vielleicht sogar partiell dekonstruiert, bezeichnen. Es wird mit dem denkbar einfachsten Stilmittel gearbeitet, einem reinen Reim („Pinguine […] Delphine“, „Schnabeltiere […] Tapire“). In der Grundschule schon gelernt, handelt es sich dabei um eines der zugänglichsten und elementarsten Stilmittel.

Daneben gibt es weitere rhetorische Figuren. Der Gegensatz zwischen „Schwarze[m] Panther“ und „weiße[m] Hai“ stellt eine Art sprachliche Antithese dar. Der Verweis auf „Frosch und Libelle“ stellt hingegen eine Art biologischen Gegensatz dar, bei dem der Frosch als natürlicher Feind der Libelle fungiert. Hier und da finden sich noch weitere Stilmittel, so die Alliteration bei „Maus und Möwe“ oder die Wiederholung im Refrain und natürlich die Aufzählung selber. Bedenkt man aber, dass der Text eine gänzlich lose Struktur hat und somit alle Türen für die Verwendung von Stilmitteln offenständen, ist ihre Verwendung relativ spärlich.

Dennoch zeigt der Text auch eine gewisse Freude an den Tiernamen. So ist es wohl kein Zufall, dass komische Namen wie Hängebauchschwein und Nacktnasenwombat im Text Verwendung finden. Der komischen Wirkung dient ebenfalls die Erfindung von „Zwergmapissen“, einer fäkalhumoristischen Analogbildung zu den tatsächlich existenten „Zwerkmakaken“.

Sowohl wegen der Stilmittel, als auch der Verwendung solcher Tiernamen handelt es sich bei dem Text dann doch um etwas mehr als eine bloße Aufzählung. In diesem Sinne hat der Liedtext dann wieder mehr mit traditionellen Lyrics gemein, als dies das fehelende Narrativ nahelegen würde. Ganz so radikal wie er erscheint, ist der Text auf dieser Ebene doch nicht, was fragen lässt, ob jeder Liedtext zumindest ein paar Stilmittel benötigt, um zu funktionieren, sogar ein radikaler wie der Knorkators.

Wenden wir uns abschließend noch dem Refrain zu. Als hätte man nach einer Erwähnung des gemeinsamen Nenners nicht schon das recht einfache Prinzip des Liedtextes durchschaut wird einem im Refrain das Wort ‚Zoo‘ geradezu um die Ohren gehauen. Der Rahmen wird so der Zuhörerin oder dem Zuhörer im Refrain fast schon penetrant nahegelegt. Dies wird übrigens musikalisch auch durch die andere Singtechnik im Refrain, eine Art growling, besonders deutlich.

Schließlich wird der Text zum Ende hin dann vollständig dekonstruiert. Nachdem in den drei Strophen noch Tiere genannt wurden, kommt es dann nur noch zur sinnfreien Wiederholung des Wortes Zoo, das dann schließlich in einem „Ooo“ endet, womit das Wort durch einen Laut ersetzt wird und somit der Minimalismus und die Dekonstruktion zu ihrem logischen Schluss kommen.

Was, also, kann uns der Liedtext über das Genre des Liedtextes beibringen? Die Abwesenheit einer Handlung gibt anderen Liedtexten, die eine Geschichte erzählen, schärfere Konturen und verdeutlicht, dass irgendeine Art von Aussage oder Handlung gemeinhin als zentraler Bestandteil eines Textes verstanden wird. Handelt es sich also bei dem Knorkator-Text überhaupt nicht um einen Liedtext, sondern etwas anderes? Reicht es einige Tiere aneinanderzureihen? Eine ähnliche Kohärenz hätte beispielsweise ein vertonter Einkaufszettel. Im Sinne der Arbeiten von John Cage ließe sich auch Fragen, ob es einen Liedtext ohne Text geben kann.

Interessant ist die Herangehensweise von Knorkator auch, weil sie andere Texte (vermutlich unbewusst) ad absurdum führt. Der an anderer Stelle auf diesem Blog kritisch besprochene Liedtext von Adel Tawils Lieder  stellt beispielsweise eine ähnliche Aneinanderreihung von Liedtextzitaten anderer Künstlerinnen und Künstlern dar, wie sie auch bei Knorkator in der Kategorie ‚Tiere‘ zu finden ist. Im Gegensatz zu diesem Text aber versucht Knorkator anhand einer solchen Aneinanderreihung nicht größere Zusammenhänge darzustellen, sondern lässt den Text einfach so stehen. Wie die Frage, was nun einen Liedtext ausmacht, keine klare Antwort hat, bleibt Knorkators Text im Raum stehen. Zusammenhänge oder ein Narrativ können sich im Kopf der Leserinnen oder Leser bilden – oder der Text kann einfach ohne einen solchen Zusammenhang stehen bleiben. Eine Funktion kann dabei natürlich auch ein so dekonstruierter Text erfüllen. Im hier vorgestellten Beispiel stehen vermutlich humoristische Aspekte im Vordergrund.

Knorkators Text kann in dieser Lesart auch als Kritik an einer verkrampften Suche nach Sinnzusammenhängen in Texten verstanden werden. So könnte man argumentieren, dass Knorkator damit die Häufung an schiefen Metaphern und inhaltlich fragwürdigen Liedtexten kritisiert.  Solche fehlgeschlagenen Versuche besonders literarisch wertvolle Texte zu kreieren wurden auf diesem Blog auch immer wieder besprochen (etwa Hämatoms Zu wahr um schön zu sein).Knorkator hingegen benutzten zwar Stilmittel, aber nicht im Übermaß. Vielleicht auch, weil sie ihre rhetorischen Grenzen einzuschätzen wissen und deshalb mit einfachen Reimen zufrieden sind. Damit unterwandern Knorkator letztlich den Zwang besonders wertvolle Lyrik zu schaffen und hinterfragen stattdessen auf eine radikale Weise, was ein Liedtext überhaupt ist.

Martin Christ, Tübingen

Die Furcht vor der Andersartigkeit. Zu Knorkators „Dämon“

Knorkator

Dämon

Ein Dämon streift im Wald umher
Zwei Rüssel hat er im Gesicht
Sein Atem stinkt nach faulem Fleisch
Und seine Wunden heilen nicht

Ein Dämon streift im Wald umher
Durchkämmt den Hügel und die Schlucht
Sein Maul ist hässlich schwarz und tief
Und selbst der Wolf ergreift die Flucht

Er schaut dich an  (Er schaut dich an)
Du senkst den Blich (du senkst den Blick)
Er beugt sich vor (er beugt sich vor)
Du weichst zurück (du weichst zurück)

Ein Dämon streift im Wald umher
In seinem Magen liegt ein Stein
Ihm läuft der Speichel aus dem Maul 
Und rinnt hinab an seinem Bein

Ein Dämon streift im Wald umher
Der Boden zittert wenn er schreit
Ein jedes Tier von Angst erfüllt
Und nichts mehr regt sich weit und breit

Er schaut dich an [...] 

Die Haut ist blass (Die Haut ist blass)
Die Augen leer (Die Augen leer)
Doch er hält durch (Doch er hält durch)
Und streift umher (Und streift umher) 

Ahh, ahh, ahh

Ein Dämon streift im Wald umher
Schiebt seinen Fuß durch welkes Laub
Lässt eine Schleimspur hinter sich
Sie trocknet aus und wird zu Staub 

Er schaut dich an [...]

Er streift umher

     [Knorkator: Ich bin der Boss. Tubareckorz 2016.]

Die meisten Dämonen teilen sich einige wesentliche Attribute: ein erschreckendes, möglicherweise hässliches oder unnatürliches Äußeres, eine flexible Form, die es ihnen in vielen Fällen ermöglicht Besitz von anderen Wesen zu ergreifen, und eine Verbindung zum Satanischen. Auch der in Knorkators Lied besungene Dämon scheint ein unnatürliches Mischwesen zu sein. Da hören die Parallelen zu einem ‚klassischen Dämon‘ aber auch schon auf.

Das Aussehen des Dämons ist andersartig, aber nicht auf eine furchteinflößende Art und Weise. Ist Knorkator also ihre Darstellung schlicht misslungen? Nein, dazu sind die Brüche zu traditionellen Darstellungen eines Dämons zu offensichtlich. Man muss sich das beschriebene Wesen nur bildlich vorstellen: Zwei Rüssel und ein Maul aus dem Speichel fließt, dazu ein großer schwarzer, hässlicher Mund. Andersartig ist dies sicherlich, aber furchteinflößend nicht. Außerdem hat der Dämon eine sehr konkrete Form, nichts von der Fähigkeit sich aufzulösen oder von anderen Besitz zu ergreifen. In mancherlei Hinsicht erinnert dieser Dämon so an den britischen Kinderbuchklassiker The Gruffalo.

Knorkator gehen dabei aber noch weiter, denn an manchen Stellen erregt der Dämon sogar Mitleid, beispielsweise wenn beschrieben wird, dass seine Wunde nicht heilen, er einen Stein im Magen hat und sein Atem nach faulem Fleisch riecht. Diese drei Eigenschaften hören sich eher nach medizinischen Problemen als nach höllischen Attributen an. Wieder wird dem Zuhörer dadurch die Körperlichkeit des Dämons ins Gedächtnis gerufen, was auch dazu führt, dass der dämonische Protagonist verletzlich gemacht wird. Doch der Dämon wird dadurch sogar als lächerlich dargestellt. Wer würde sich schon überlegen, was im Magen eines wirklich Angst erregenden Dämons zu finden ist? Der Speichel des Dämons, der ihm vom Mund aus das Bein herunterläuft trägt zu diesem Eindruck der dysfunktionalen Körperlichkeit noch bei. An diesem Dämon ist nichts Furchteinflößendes zu finden.

Dieses Gefühl verstärkt sich noch, wenn Knorkator besingen, wie der Dämon alleine durch Wald, Hügel und Schlucht streift. Das Verb suggeriert, dass der Dämon ohne genaueres Ziel durch die Landschaft läuft. Der einfache Beat, die repetitive musikalische Untermalung und wiederholte Verwendung der Zeile „Ein Dämon streift im Wald umher“ verstärken diesen rastlosen Eindruck. Später wird das „streifen“ noch weiter qualifiziert, nun „schiebt“ der Dämon „seinen Fuß durch welkes Laub“. Die Beschreibung dieser Fortbewegung lässt ahnen, dass der Dämon keineswegs angsteinflößend und majestätisch durch den Wald stolziert, stattdessen schlurft er durch welkes Laub, was hier auch als Metapher für den Gefühlszustand des Dämons verstanden werden kann.

Die Tiere haben Angst und „Selbst der Wolf ergreift die Flucht“, womit der Dämon auch von seinen animalischen Genossen im Stich gelassen wird. Wohin soll sich der Dämon also wenden? Im Gegensatz zu seinen Artgenossen kann er nicht einfach zurück in die Hölle, und auch die Tiere fliehen vor seiner Andersartigkeit. Dies ist also kein Dämon, vor dem man sich fürchten müsste. Vielmehr handelt es sich hier um einen einsamen Dämonen. So können die leeren Augen und die blasse Haut auch als Ausdruck der Einsamkeit des Dämons verstanden werden. Der Schrei, welcher den Boden zum Zittern bringt, ist in dieser Lesart ein Zeichen der Frustration und nicht ein Versuch, den Waldbewohnern Angst einzuflößen.

Schließlich trifft der Dämon dann doch noch auf einen Besucher, nämlich den Zuhörer. Doch als der Dämon diesen anschaut, senkt der Zuhörer den Blick. Dann beugt sich der Dämon vor, aber auch diese Wortwahl deutet auf keine Aggressivität von Seiten des Dämons, sondern vielmehr auf Neugier. Doch der Zuhörer weicht instinktiv zurück. Der Dämon greift den Zuhörer nicht etwa an und so entsteht eine Situation in der der Dämon mit seinen zwei Rüsseln, triefendem Speichel und stinkendem Atem dem Zuhörer gegenüber steht, dieser aber, fast reflexartig, zurückweicht. Der Dämon streift so weiter durch den Wald, und nicht einmal seine Schleimspur bleibt, denn (chemisch wohl unerklärlich) verwandelt sich diese in die Vergänglichste aller Materialformen: Staub. Nur so kann auch die Zeile im Refrain „Doch er hält durch“ verstanden werden, denn ein unbeschwerter Dämon, der Spaß daran hat, Mensch und Tier zu verängstigen, müsste nicht „durchhalten“. Ein Dämon, der auf Grund seiner Andersartigkeit ausgeschlossen wird, hingegen schon.

Auf einer abstrakteren Ebene kann diese Darstellung von Andersartigkeit auch als ein gesellschaftlicher Kommentar verstanden werden. Wegen der äußerlichen Andersartigkeit wird der Dämon ausgegrenzt und nicht etwa, weil er jemanden angreift. Vielmehr erschrecken sich Tiere und der Zuhörer vor dem Wesen, weil es anders ist als sie, und vermutlich auch, weil das Klischee des Dämons eben das eines teuflischen Wesens ist. Somit kann der Liedtext auch als Aufruf verstanden werden, nicht vor Andersartigkeit zurückzuschrecken. So ist vielleicht auch zu erklären, dass der an den Zuhörer gewandte Refrain keinen klaren Abschluss findet: der Dämon beugt sich vor, der Zuhörer weicht zurück, und dann beginnt die nächste Strophe. Dies kann als ein bewusst offenes Ende der Auseinandersetzung mit Andersartigkeit verstanden werden. Ob die Andersartigkeit akzeptiert wird, oder der Zuhörer sich davon abwendet, wird ihm selbst überlassen.

Martin Christ, Oxford

Schuld sind immer die Eltern: Erziehungstips von unerwarteter Seite in Sidos „Augen Auf“ und Knorkators „Kinderlied“

Sido

Augen auf

Hey, hallo Kinder! (Hallo Sido!)
Hi Anna, Hi Thorsten und die andern.
Levent, leg das Handy weg!
OK, soll ich euch mal 'ne Geschichte erzählen? (Ja!)
Dann hört zu jetzt!

Die kleine Jenny war so niedlich, als sie sechs war
Doch dann bekam Mama ihre kleine Schwester
Jetzt war sie nicht mehr der Mittelpunkt, sie stand hinten an
Und dann mit zwölf fing sie hemmungslos zu trinken an
Das war sowas wie ein Hilfeschrei, den keiner hört
Bei jedem Schluck hat sie gedacht: „Bitte, Mama, sei empört!"
Doch Mama war nur selten da, keiner hat aufgepasst
Papa hat lieber mit Kollegen einen drauf gemacht
Jenny war draußen mit der Clique, hier war sie beliebt
Hier wird man verstanden, wenn man oft zu Hause Krise schiebt
Sie ging mit 13 auf Partys ab 18
Schminken wie 'ne Nutte und dann rein in das Nachtleben
Ecstasy, Kokain, ficken auf'm Weiberklo
Flatrate saufen, 56 Tequila Shots einfach so
Wieviel mehr kann dieses Mädchen vertragen?
Und ich sag: Kinder kommt, wir müssen den Eltern was sagen
Und das geht (Hey)

Mama, mach die Augen auf! (Aha)
Treib mir meine Flausen aus!
Ich will so gern erwachsen werden
Und nicht schon mit 18 sterben
(Hey) Papa, mach die Augen auf (Aha)
Noch bin ich nicht aus'm Haus
Du musst trotz all der Schwierigkeiten
Zuneigung und Liebe zeigen

(Yeah) Der kleine Justin war nicht gerade ein Wunschkind
Doch seine Mama ist der Meinung abtreiben gleich umbringen
Das Problem war nur, dass Papa was dagegen hatte
Deshalb fand man Justin nachts in der Babyklappe (Oh Scheiße!)
Er wuchs von klein auf im Heim auf
Doch wenn der Betreuer was sagte, gab er ein' Scheiß drauf
Er hat schnell gemerkt, dass das nicht sein Zuhause ist
Hier gibt man dir das Gefühl, dass du nicht zu gebrauchen bist
Dass er jemals 18 wird, kann man nur wenig hoffen
Denn er raucht mit sechs, kifft mit acht und ist mit zehn besoffen
Sag, wieviel mehr kann dieser Junge vertragen?
Und ich sag: Kinder kommt, wir müssen den Eltern was sagen
Und das geht (Hey)

Mama mach die Augen auf! (Aha) [...]

Ein Kind zu erziehen ist nicht einfach, ich weiß das
So hast du immer was zu tun, auch wenn du frei hast
Pass immer auf, du musst ein Auge auf dein Balg haben
Am besten lässt du's eine Glocke um den Hals tragen
Kinder sind teuer, also musst du Geld machen
Du musst Probleme erkennen und sie aus der Welt schaffen
Du musst zuhören, in guten und in miesen Zeiten
Du musst da sein, und du musst Liebe zeigen
Wer Kinder macht, der hat das so gewollt
Doch sobald es ernst wird mit der Erziehung, habt ihr die Hosen voll
Wie viel mehr kann die Jugend in Deutschland vertragen? (Wie viel?)
Hört hin, wenn eure Kinder euch jetzt was sagen
Und das geht (Hey)

Mama, mach die Augen auf! (Aha) [...]
(Hey)
Mama, mach die Augen auf! (Aha) [...]

     [Sido: Augen auf / Halt dein Maul. Aggro Berlin 2008.]

Knorkator

Kinderlied

Unsere Väter sind Versager,
haben's nie zu was gebracht,
träumten stets vom großen Durchbruch,
doch das ist nicht so einfach.
 
Heute steh'n sie vor den Trümmern
ihrer schnöden Existenz,
machen immer noch den Affen
für ein paar hundert Fans.
 
Mittlerweile über vierzig,
alle Skrupel abgelegt,
wird jetzt schon der eigene Nachwuchs
mit ins Rennen geschickt.
 
"Komm, wir machen euch zum Popstar",
haben sie vergnügt gesagt.
Doch ob wir das wirklich wollen,
hat uns niemand gefragt.
 
Nun stehn wir da
im Rampenlicht,
werden vorgeführt.
Man starrt uns an.
Wir können uns nicht wehren.
Sind viel zu klein
fürs Business,
für den Rock'n'Roll,
fühl'n uns verheizt
für eure Gier und Eitelkeit.
 
Schon allein die schräge Wortwahl,
die mir fast die Zunge bricht
und meiner kindlichen Rhetorik
überhaupt nicht entspricht.
 
Außerdem kann ich nicht singen,
doch die Technik macht das schon.
Editiert ist am Computer
jeder einzelne Ton.
 
Nun stehn wir da [...]

     [Knorkator: Kinderlied. Tubareckorz 2008.]

Wem würde man wohl weniger zutrauen, hilfreiche Erziehungstips zu geben, einem Berliner Gangsta-Rapper oder einem fäkal-humoristischen Metalsänger? Überaschenderweise geben ausgerechnet zwei solche Künstler ihrem Publikum Ratschläge zum richtigen Umgang mit ihren Sprösslingen. Beiden Liedern ist gemein, dass eine falsche Behandlung der Nachkommen moniert wird – im Falle Knorkators das Ausnutzen der Kinder aus finanziellen Gründen und bei Sido die Vernachlässigung der elterlichen Fürsorge mit drastischen Folgen.

Beide Songs werden zum Teil (Augen auf) bzw. komplett (Kinderlied) von Jungspunden gesungen. Bei Knorkator bilden im gesamten Lied die Kinder der Bandmitglieder, die ihre Väter kritisieren, die Sprecher. Bei Sido hingegen rappt der Künstler die Strophen und Teile des Refrains selbst. Sido besingt in den Strophen in der Dritten Person vernachlässigte Kinder, um dann aus Rolle der Kinder Eltern im Refrain Ratschläge zu erteilen. Dabei verlässt er im gesamten Lied nie die Rolle des moralisch-erzieherisch Überlegenen. Sido gibt anderen Eltern Empfehlungen und kritisiert sie mit einer Bestimmtheit, die suggeriert, dass er selber genau weiß, wie gute Erziehung auszusehen hat. Allerdings sind dann dafür, dass er eine derartige Besserwisserei an den Tag legt („wir müssen den Eltern was sagen“) die Ratschläge doch sehr allgemein gehalten („Zuneigung und Liebe zeigen“). Sozialkritisch wird dabei hingegen kaum argumentiert. Eine detaillierte Problematisierung politischer Versäumnisse im Heimwesen unterbleibt ebenso wie der Hinweis auf mögliche soziale Ursachen für das Versagen der Eltern. Seine moralische Autorität zieht der sich als Opa Besserwisser gerierende Sprecher dabei anscheinend – wie auch in Erziehungsratgebern üblich – aus eigener Erfahrung: „Ein Kind zu erziehen ist nicht einfach, ich weiß das“.

Der Eindruck der moralisierenden Besserwisserei verstärkt sich noch, wenn man einzelne Verse aus dem Text greift. Passagen wie „Schminken wie ’ne Nutte und dann rein in das Nachtleben / Ecstasy, Kokain, ficken auf’m Weiberklo“ illustrieren das generell probelmatische Verhältnis von Rap zu Frauen. Aufgrund als übertrieben empfundener Schminke eine Person (wohlgemerkt eine 13-jährige) in die Nähe einer Nutte zu stellen, stellt eine Spielart von ‚slut shaming‘ dar, bei dem der Kleidungsstil oder das Auftreten einer Frau als ‚Einladung‘ verstanden wird. Dass dies auch noch von einem (inzwischen) wohlhabenden Mann getan wird, ist zwar leider typisch, macht die Aussage aber nur noch verstörender. Interessant ist hier auch, dass Drogenkonsum und sexuelle Aktivität als Zeichen sozialen Abstiegs ausgelegt werden, wohingegen sie in ähnlichen Raptexten, auch solchen Sidos, stolz zur Schau getragen werden. Bei solchen Aussagen fragt man sich, woher Sido seine Kompetenzen auf dem Feld der Erziehung zieht. Der Rapper feiert andernorts seine eigenen Jugensünden (vgl. die Interpretation von Bilder im Kopf) gesteht solche aber, so suggeriert die extreme Sprache, nicht den Mädchen zu.

Doch die moralischen Wertungen enden hier noch nicht: Sido hat offensichtlich auch eine klare Meinung über Abtreibungen: „Doch seine Mama ist der Meinung abtreiben gleich umbringen / […] Deshalb fand man Justin nachts in der Babyklappe.“ Die weitere Beschreibung von Justins Leben scheint nahe zu legen, dass die Mutter das Kind hätte abtreiben sollen. Im Gegenzug zur wertliberalen impliziten Empfehlung einer Abtreibung zeichnet Sido dann aber wiederum ein eher konservatives Familienbild: Im Refrain und in den ersten beiden Strophen werden beide Elternteile angesprochen, was nahelegt, dass für Sido eine gelungene Erziehung nur durch Vater und Mutter vorstellbar ist. Auch die erteilten Erziehungsratschläge selbst erscheinen widersprüchlich: Einerseits wird Zuwendung empfohlen, andererseits gehören die von den Kindern selbst eingeforderten und vom Sprecher propagierten Erziehungsmethoden Strafe („Treib mir meine Flausen aus!“) und Kontrolle („Pass immer auf, du musst ein Auge auf dein Balg haben / Am besten lässt du’s eine Glocke um den Hals tragen“) ins klassische Repertoire autoritärer Erziehung.

Noch pathetischer wird es, wenn sich Sido im Refrain zum Sprecher für die Jugend Deutschlands stilisiert: „Wie viel mehr kann die Jugend in Deutschland vertragen?“ Dieser Vers wird nicht von einem kindlichen Sprecher-Ich gesungen, sondern Sido muss den Kindern (im Gegensatz zur Sprechsituation in Knorkators Lied) die Worte aus dem Mund nehmen und als starker (männlicher) Beschützer der Kinder, ja ganz Deutschlands auftreten. Dementsprechend ist es auch Sido selber, der im zum Song gehörenden Video in Kinderkleidern auftritt. Im Prolog zum Lied („Hey, hallo Kinder! […]“) wendet sich Sido erzieherisch an die Kinder. Im Verlauf des Liedes tut er dies aber auch gegenüber jeglichen Rezipienten. Sido will die Kinder Deutschlands beschützen. Nur, dass ihn keiner darum gebeten hat.

Erfrischend sind dagegen die humoristisch-selbstironischen Erziehungsweisheiten Knorkators, die sich selber und ihre Empfehlungen nicht so ernst nehmen wie Sido dies tut. Knorkator gehen von ihrem eigenen Erfahrhungshorizont aus und verstehen sich nicht als Repräsentanten der Kinder Deutschlands. In erster Linie handelt es sich hier zwar um einen Kommentar zum Showbusiness, aber in einer anderen Lesart kann sich das Lied auch auf Erziehung allgemein beziehen. In für sie typischer Manier nimmt sich die Band zunächst einmal selber auf die Schippe und vermeidet dadurch die bei Sido so stark ausgeprägte Besserwisserei. Schon in der ersten Strophe werden die Väter als „Versager“ bezeichnet und monieren die Kinder deren verpassten Durchbruch. Hier belehren die Kinder ihre Eltern („doch das ist nicht so einfach“), sie selbst singen das ganze Lied und benötigen kein Sprachrohr, wie das bei Sido der Fall ist. Auch wenn sie sich „nicht wehren“ können und für ihre Väter auf die Bühne geschickt werden, melden sie sich doch zumindest im Lied autonom zu Wort.

Im Gegensatz zu der radikalen Sichtweise Sidos, bei dem die Vernachlässigung zum Tod der Kinder zu führen droht („Ich will so gern erwachsen werden / Und nicht schon mit 18 sterben“), beschweren sich Knorkators Sprösslinge lediglich darüber, dass ihre Väter sie auf Grund des mangelnden Erfolges auf die Bühne schicken und sie ungefragt zu Popstars machen wollten. Es geht hier also um das Mitspracherecht von Kindern und Jugendlichen bei Entscheidungen, die über sie getroffen werden. Knorkator treten hier selbstkritisch auf, aber ermöglichen dennoch eine breitere Identifikation mit anderen Eltern, die ihre Kinder in ihre eigenen Vorstellungen zwängen, sei dies nun im Sportverein, beim Instrumentlernen, in der Schule oder eben auf der Bühne. Im Gegensatz zu Sido sehen sich Knorkator aber selbst dieser Kritik ausgesetzt und stellen sich damit auf die selbe Ebene wie die in dieser abstrahierenden Lesart mitkritisierten Eltern. In Knorkators Kinderlied werden, und hierin besteht ein weiterer Unterschied zu Sido, ausschließlich die Väter angesprochen, da die Kinder sich an die männlichen Bandmitglieder richten. Dass der starke pater familias dabei ausgerechnet von seinen eigenen Kindern kritisert wird, kann auch als Dekonstruktion einer hierarchischen Familienstruktur verstanden werden.

Auch wenn Sido mit wesentlich drastischeren Bildern arbeitet, wirken seine Vorschläge für eine bessere Erziehung zugleich banal und arrogant. Knorkator hingegen finden ein adäquates Mittel, indem sie sich nicht anmaßen, mehr zu wissen als die Rezipienten ihres Songs und sich selber „zum Affen“ machen, wie ihre Kinder singen. Auch wenn es in Knorkators Lied primär um die Band selber geht, werden doch auch größere erzieherische Themen angeschnitten. Sido wirkt als Weltretter in einem sprachlich wie inhaltlich fragwürdigen Lied wenig überzeugend, wohingegen Knorkator, indem sie sich aus Kindersicht selbst kritisieren, auch anderen Eltern einen Anlass zur Selbstreflexion liefern, ohne dabei eine überlegene Stellung für sich zu reklamieren. Was würden die selbstbestimmten Jugendlichen in Konorkators Lied wohl sagen, wenn ihnen ein Mann mit silberner Maske vorschreiben würde, wie sie sich zu schminken haben?

Martin Christ, Oxford

Genie und Wahnsinn: „Eigentum“ von Knorkator als Kritik an der Besitzgesellschaft

Knorkator

Eigentum

Das große Leben eines großen Mannes
braucht als Basis einen großen Traum,
den er träumt in einem großen Bett,
und so ein Bett gehört in einen großen Raum.
Große Räume gibt es nur in großen Häusern,
mit großen Fenstern, um hinaus zu schau'n
auf das eigene entsprechend große Land,
das umgeben ist von einem großen Zaun.

Ich bin das Eigentum von meinem Eigentum,
bin allem hörig, was mir gehört.
Ich bin besessen von dem, was ich besitze,
und werd' gefressen von dem, was mich ernährt.
Ich bin der Diener von dem, was ich verdiene,
ich bin der Sklave von dem, was ich versklavt.
Und allen Dingen, über die ich verfüge,
füge ich mich brav.

Ich hab's geschafft, wonach ich immer strebte:
Alle Dinge ringsumher gehören mir.
Doch das Einzige was ich dabei empfinde,
ist die Angst, es wieder zu verlier'n.
Und so verkriech ich mich mit allen meinen Schätzen
ins verkabelte, gepanzerte Versteck.
Ich bin müde, doch wag ich nicht zu schlafen,
sonst kommt der Pöbel und nimmt mir alles weg.

Ich bin das Eigentum von meinem Eigentum,
bin allem hörig, was mir gehört.
Ich bin besessen von dem, was ich besitze
und werd' gefressen von dem, was mich ernährt.
Was ich beherrsche, das raubt mir die Beherrschung,
bin ganz benommen, von dem, was ich mir nahm,
um meinem Schicksal geschickt zu entkommen - doch es kam.

Ich bin das Eigentum von meinem Eigentum,
bin allem hörig, was mir gehört.
Ich bin besessen von dem, was ich besitze
und werd' gefressen von dem, was mich ernährt.
Ich bin erdrückt, von all den Unterdrückten,
und weil mein Reichtum mir immer noch nicht reicht,
bleibt mir als Sicherheit doch nur ein wenig Sicherheit - vielleicht.

     [Knorkator: Das nächste Album aller Zeiten. Nuclear Blast 2007.]

Der Grad zwischen Genie und Wahnsinn ist bekanntlich ein schmaler. Betrachtet man den oben stehenden Text, kann man dem Dichter durchaus Tiefgang und Sprachgespür attestieren. Der Topos des Eigentums, das vom Inhaber Besitz ergreift, die Umkehrung des Besitzverhältnisses ist ein beliebtes Thema in Film und Literatur. In der Herr der Ringe-Trilogie wird dies auf die Spitze getrieben, wo der Ring seinen Besitzer letzten Endes kontrolliert. Auch in Tolkiens Hobbit ist der Zwergenkönig Thorin Eichenschild kurz davor seinen Verstand zu verlieren, als es darum geht sein Gold zu verteidigen. Sieht man eine Live-Aufnahme von Knorkator würde einem wohl aber nicht gerade der Liedtext als erstes auffallen. Die Band, die in das paradoxe Genre des Fun-Metal passt, tritt in kuriosen Kostümen auf, animiert das Publikum zu obskuren Gesten oder schmeißt Toastbrote in das Publikum. Ist Eigentum nun also eine smarte Abrechnung mit der Raffgier der Menschen oder doch nur das Werk einiger Tollköpfe, die sich einen Spaß erlauben? Handelt es sich bei dem Song um die sinnfreien Kapriolen einiger „Irrer“ (Bild online) oder geht es hier doch um mehr?

Das Lied wird nicht, wie die meisten anderen Lieder der „Boyband“ (Selbstbeschreibung) Knorkator von dem vielleicht durchgeknalltesten Mitglied Knorkators, dem Sänger Stumpen, sondern von Keyboardspieler Alf Ator gesungen. Der Text führt aus, wie eine Sprechinstanz sich mehr und mehr auf Grund eines Besitzwahnes in Isolation begibt. In der ersten Strophe werden wir in die Gedankenwelt dieser Sprechinstanz eingeführt. Hier wird ein Mann beschrieben, der keine kleinen Gegenstände besitzt: Bett, Haus und Land sind allesamt groß. Bis in das kleinste Detail sind die Gegenstände massiv, inklusive der Fenster und des Zaunes. Schließlich braucht es für große Gedanken große Requisiten. Somit ist der große Mann von großen Dingen umgeben, aber, wie in der zweiten Strophe ausgeführt wird, ist es noch viel wichtiger, wem dieses große Land mit allem was darauf steht gehört, nämlich der Sprechinstanz, die ab dem ersten Refrain in der ersten Person Singular redet, sich vielleicht nun also auch selber für groß genug hält um stärker in Erscheinung zu treten.

In der zweiten Strophe dann wird der Besitzwahn auf die Spitze getrieben. Die zunächst zufriedene Sprechinstanz attestiert sich selber: „Ich hab’s geschafft, wonach ich immer strebte: /Alle Dinge ringsumher gehören mir. / Doch das Einzige was ich dabei empfinde. / Ist die Angst, es wieder zu verlier’n“. Die letzten Zeilen drücken die Kehrseite der Raffgier aus: die konstante Angst, das Gehortete zu verlieren. Wieder trifft ein Vergleich aus dem Herren der Ringe zu, nämlich der mit dem selbst-zerstörerischen Gollum, und auch die Zeile „so verkriech ich mich mit allen meinen Schätzen“ erinnert stark an den abgemagerten, fast verrückten Hobbit und seine Obsession für seinen „Schatz“. Auch die Zwerge aus dem Hobbit fürchten, dass die Menschen oder Elfen ihnen ihren Schatz wegnehmen könnten. Sogar ehemals Verbündete werden in dieser aggresiven Stimmung zu Feinden: allen voran der Hobbit Bilbo.

Die Sprechinstanz fügt nun eine moderne Ebene hinzu, welche jedoch altbekannte Topoi aufgreift. Auch wenn das Versteck „verkabelt [und] gepanzert“ und somit durch die moderne Technik in der Gegenwart lokalisiert ist, ist die Thematik der Habgier epochenübergreifend. Knorkator leisten hier einen Beitrag zu einer Gesellschaftskritik, die in der moderne, genauso wie im Mittelalter und in der Fiktion genauso wie in der Realität präsent ist. Martin Luthers Ablasskritik beispielsweise richtete sich auch gegen den Reichtum der Mönche und des Papsttums, doch genauso versucht manch einer heutzutage seine Reichtümer durch zwielichtige Steuertricks zu schützen. Ein Beispiel, welches aus der fiktiven Literatur besonders passend scheint, ist das der Disney-Figur Onkel Dagobert. Dieser schützt seine Reichtümer gegen die Panzerknacker und andere Bösewichte in seinem überdimensionalen Geldspeicher, an dem aber keiner außer ihm Freude findet. Ebenso wie Onkel Dagobert kann auch die Sprechinstanz nie genug Reichtümer besitzen. Das Lied Eigentum ist somit eine Gesellschaftskritik am besitzorientierten Menschen.

Schließlich wird in den letzten Zeilen der zweiten Strophe mit dem wachsenden Irrsinn der Sprechinstanz gespielt. Die Besessenheit auf den Besitz bringt die Sprechinstanz um ihren Schlaf und shließlich schlägt die Besitzsucht dann in einen Verfolgungswahn um („sonst kommt der Pöbel und nimmt mir alles weg“). Somit zeichnet Knorkator eine Progression (oder Regression) von einem verständlichen Traum nach einem großen Haus, über die Versessenheit auf den Besitz bis hin zum Verfolgungswahn, der wohl nur im Kopf der Sprechinstanz exisitert, gegen den nicht näher spezifizierten Pöbel. Das Plebs-Kollektiv kann nur neidisch auf die Sprechinstanz sein, die natürlich von sich auf andere schließt und somit davon ausgeht, dass alle Alles haben wollen. Dass die Sprechinstanz im dritten Refrain beschreibt, dass sie von Unterdrückten erdrückt wird kann auch als weiterer Verweis auf den Pöbel verstanden werden, der der Sprechinstanz ihren Besitz nehmen will.

Die Erklärung liefert bereits der erste Refrain: In einer Umkehrung der Besitzverhältnisse verliert der Eigentümer seine Wirkmächtigkeit und gibt diese stattdessen an sein Eigentum ab. In cleveren Wortpaarungen variieren Knorkator den Machtwechsel von Besitzer zu Besitz: gehören – hörig, Diener – verdienen, Sklave – versklaven, verfügen – fügen. Das vielleicht interessanteste Oppositionspaar ist hierbei gefressen werden und ernähren. Das Bild der Nahrung, welche einen von innen heraus auffrisst, stellt eine groteske Vorstellung dar. In der westlichen Konsumgesellschaft hat die schädliche Wirkung des Ernährenden auch in der Form von durch starkes Übergewicht hervorgerufene Krankheiten moderne Parallelen. Doch auch hier greifen Knorkator einen jahundertealten Topos auf: Bereits im Mittealalter richtete sich Kritik gegen fettlaibige Regenten und Mönche. Im Herren der Ringe wird dies ebenfalls dargestellt: korrumpiert von Macht interessiert sich Denethor nur für seine eigene Belustigung durch Gesang und Essen und nicht für den nahenden Tod seines Sohnes.

In den letzten Zeilen des dritten Refrains wird die Figur des besitzorientierten Menschen weiter entwickelt: Die Raffgier dient dazu dem Schicksal zu entkommen und Sicherheit zu generieren. Durch den Besitz erhält die Sprechinstanz, so glaubt sie, Macht über ihr Schicksal. Die eigene kleine Welt darf nicht ins Wanken gebracht werden. Doch nicht einmal die Sprechinstanz selber ist vollständig davon überzeugt, dass die Masse des Gehorteten Sicherheit gibt, und beendet somit das Lied mit einem vielsagenden „vielleicht“. Wie uns Finanzkrisen und Naturkatastrophen lehren, gibt einem auch der größte Haufen Besitzes keine absolute Sicherheit. Chronikalische Überlieferungen des Mittelalters und der Frühen Neuzeit spiegeln diese Unsicherheiten über Naturereignisse wieder und legen nahe, dass der Wunsch nach Sicherheit seit vielen Jahrhunderten ein menschliches Verlangen ist. Auch wenn Naturkatastrophen damals oft als Strafe Gottes interpretiert wurden, war das Ergebnis ähnlich wie das von Finanzkrisen oder Unglücksfällen in der Moderne: Der angehäufte Besitz verliert jeglichen Wert. Die Sprechinstanz scheint dies am Ende des Liedes ebenfalls realisiert zu haben.

Knorkator liefert mit diesem Songtext somit eine durchaus interessante und gehaltvolle Kritik an einer ungebremsten Fokusierung auf den eigenen Besitz. Somit geht die „meiste Band der Welt“ (Selbstbeschreibung) sogar noch einen Schritt weiter, als nur eine Konsumgesellschaft anzuprangern. Denn die Sprechinstanz konsumiert das Gehortete nicht einmal, sondern verspricht sich vielmehr Sicherheit nur durch die Tatsache, dass die gerafften Güter vorhanden und intakt sind. „Alles meins“ wird das leitende Mantra des Horters. Durch die Kritik am Horten empfehlen Knorkator sogar implizit den Konsum. Betrachtet man den Song-Text unter monetären Gesichtspunkten, wie es die Anspielungen auf einen Tresor in der zweiten Strophe nahelegen, ist das Lied eine Kritik des Onkel Dagobert-Prinzips: auf seinem Geldhaufen sitzen und dabei zuschauen, wie dieser größer wird. Stattdessen kann das Lied als Aufruf verstanden werden, sich auf nicht-materielle Dinge zu konzentrieren und den Besitz zu verwenden bzw. auszugeben.

Das vorliegende Lied als genial zu bezeichnen wäre vielleicht etwas hoch gegriffen. Knorke ist es auf jeden Fall. Die extravaganten Bühnenauftritte der Band machen es für viele schwierig, die Gruppe und ihre Texte vollständig ernst zu nehmen. Man bedenke, dass Knorkator gelegentlich ihre Auftritte mit einem Badminton-Spiel auf der Bühne unterbrechen und der Sänger Stumpen gerne mal in einer rosa Unterhose auftritt. Auch manche Songtexte scheinen selbst wohlwollend betrachtet nicht allzu tiefgründing. Das Lied Zoo beispielsweise besteht aus einer Aneinanderreihung diverser Zootiere und dem gelegentlich geschrienen Wort „Zoo“. Doch auch solche absurden Texte erfüllen ihre Funktion und sind bewusst sinnfrei gehalten. Knorkator verfolgen in diesen Liedtexten auch einen dekonstruvistischen Ansatz. Abgesehen davon haben die Texte und auch das musikalische Können Knorkators Qualität. Eigentum ist somit keine Ausnahme. So kann z.B. das nihilistische Wir werden alle sterben als Abgesang auf die Leistungsgesellschaft verstanden werden oder das Kinderlied als Kritik an übereifrigen Tiger-Eltern. Nur wegen ihrer Extravaganz Knorkator fehlenden Tiefgang zu attestieren, wäre also eine falsche Fixierung auf Äußerlichkeiten. Werden nicht die Menschen, die wirklich Bahnbrechendes und Neues leisten, oft als Außenseiter und Verrückte gesehen, wie dies auch in Dostojewskis Der Idiot geschieht? Ist es vielleicht das Zeichen des wahren Genies sich als Wahnsinniger zu verkaufen? Vielleicht.

Martin Christ, Oxford