„Wenn ich Arschloch denk‘, will ich nicht Blödmann sagen“. Tic Tac Toe stellen sich vor in „Schubidamdam“

Tic Tac Toe 

Schubidamdam (Text: Tic Tac Toe, C. A. Wohlfromm und T. Börger)

hallo wir sind TIC TAC TOE und du willst mir erzählen wir ham kein niveau
weil wir wörter benutzen die dich verdutzen
die deiner meinung nach die umwelt verschmutzen
laber laber laber ich brauch dich nicht
vielleicht brauchst du mich du blockflötengesicht
unsere konversation ist keine kommunikation
denn deine präsentation bringt keine stimulation

intellekt intellektuell oh wow bist du schlau nurn bißchen
grau im kopf n bißchen kleinkariert
aber trotzdem vielen dank ich hab mich köstlich amüsiert

ich quassel wie und was ich will
ich weiß vielleicht nicht viel aber ich sag was ich fühl
drum echauffier dich nicht du kleines arschgesicht
denn wenn ich ehrlich bin du interessierst mich nicht

piss off i'm not your bitch
i'm not your baby i'm just a witch
piss off i'm not ya bitch
i'm not your schubidubidubidamdam

wir sagen was wir denken und wir denken was wir sagen
wenn ich arschloch denk will ich nicht blödmann sagen
denn das wär nicht ehrlich das wär gefährlich
ne schere im kopf wär dann unentbehrlich
ich bin wie ich bin mich zu verstellen macht keinen sinn
ich hab keine lust schubidubi zu sing
drum find dich damit ab daß die straße ihre eigne sprache hat
und die ist nicht glatt

aber sie drückt mit drei worten aus wozu du 120 brauchst
deine impertinenz unsere verbalexistenz zu denunzieren
kann ich so nicht akzeptieren un schon gar nicht kapieren
aber wegen dir werd ich bestimmt nicht meine contenance verlieren

drum echauffier dich nicht du kleines arschgesicht
denn wenn ich ehrlich bin du interessierst mich nicht

     [Tic Tac Toe: Klappe die 2te. RCA 1997.]

Nie als Single veröffentlicht findet sich etwas versteckt auf dem mit Klappe die 2te betitelten zweiten Album der Gruppe Tic Tac Toe das Lied Schubidamdam, das man als eine Art Visitenkarte der Mitglieder Lee, Ricky und Jazzy auffassen kann. Das Album erschien am 24. April 1997 und zu diesem Zeitpunkt hatten die drei schon einiges hinter sich.

In der ursprünglichen Besetzung (spätere Comeback-Versuche nicht mitgerechnet) dauerte die Karriere der Band nur zwei Jahre. Im November 1995 wurde die erste Single Ich find‘ dich scheiße veröffentlicht, im November 1997 kam es auf einer Pressekonferenz zum Zerwürfnis.

Rückblickend betrachtet befand sich das Trio von Anfang an in einem Spannungsfeld zwischen Authentizität und Künstlichkeit. Bezüglich seiner Entstehung wurde die Legende lanciert, die Mädchen hätten sich im April 1995 im Kolpingheim in Dortmund beim „Freestyle-Hip-Hop-Jam“ kennengelernt und die zufällig anwesende Managerin Claudia A. Wohlfromm sei von der gemeinsamen Performance der drei so angetan gewesen, dass sie sie spontan unter Vertrag genommen habe. Kurioserweise erzählen zwei 1997 erschienene Bücher für Fans der Band die Geschichte jeweils etwas unterschiedlich: Laut Hans S. Mundi sei Jazzy als Erste zu Lee auf die Bühne geklettert und Ricky habe sich zunächst nicht getraut, laut Julia Edenhofer sei es genau umgekehrt gewesen.

Das ansonsten wohlinformierte Portal laut.de erzählt die Geschichte von einem Hip-Hop-Wettbewerb bis heute, dabei berichtete Wohlfromm im Jahre 2014 in einem Interview, wie sich alles tatsächlich zugetragen hatte: „Die Idee mit Lee und Ricky eine Band zu machen, gab es schon. Jazzy habe ich dann bei einer Jam entdeckt und die drei zusammen geführt […] Lee kenne ich schon, seit sie klein war. Die hat damals in meinem Studio gesungen. Als sie 15 war, habe ich ihr schon gesagt, dass ich irgendwann kommen und sie holen werde.“

Julia Edenhofer wirft in ihrem Buch auf S. 10 f. den Begriff „Girlpower“ in den Raum und definiert ihn u. a. dadurch, dass die Bandmitglieder sich „nicht von irgendeinem Manager oder Produzenten wie Marionetten vorführen lassen“ und dass sie „Freundinnen sind, die zueinander stehen“. Auf S. 16 wird Ricky mit den Worten „Wir wurden nicht gecastet, und wir sind auch kein Schubladenprojekt“ zitiert – zurechtgebogene Wahrheit. Sowohl Edenhofer als auch Mundi ziehen die zur gleichen Zeit erfolgreichen Spice Girls aus Großbritannien als Vergleich heran, wobei es sich hierbei ebenfalls um eine gecastete Band handelte. Beide Fan-Bücher zitieren aus Interviews mit den Bandmitgliedern, in denen diese betonen, dass die Songs in (harmonischer und freundschaftlicher) Gemeinschaftsarbeit mit Wohlfromm und dem Produzenten Torsten Börger entstehen.

Mundis Buch erschien Anfang 1997, noch vor dem Release des zweiten Albums und zu einem Zeitpunkt, als die Welt noch in Ordnung war. Die Geburtsjahre von Ricky, Jazzy und Lee werden mit 1978, 1977 und 1977 angegeben. Bei Edenhofer, deren Buch nur wenige Monate später veröffentlicht wurde, steht bereits 1978, 1975 und 1974, wobei die Erkenntnis, dass zwei der drei Mädchen älter waren als ursprünglich angegeben, nur die Spitze des Eisbergs war. Liane „Lee“ Wiegelmann betreffende Skandale kamen ans Licht: Ihr (von ihr nie erwähnter) Ehemann hatte sich nach Scheitern der Beziehung erhängt und sie hatte für kurze Zeit als Prostituierte gearbeitet. Hassbotschaften bis hin zu Morddrohungen waren die Folge, dennoch fand die geplante Tour im April/Mai 1997 statt und die Fans zeigten mit Plakaten und Sprechchören, dass sie hinter ihrer Lieblingsband standen.

Auch Schubidamdam erklang damals auf diversen Bühnen im deutschsprachigen Raum. In diesem Lied stellt sich ein „Wir“ bzw. „Ich“ (das Trio als Einheit?) gegen ein „Du“. „hallo wir sind TIC TAC TOE“, heißt es zu Beginn. Die sprechende Entität ist nicht gebildet, aber ehrlich und direkt („ich weiß vielleicht nicht viel aber ich sag was ich fühl“), sie kommt von der Straße und ist weder willens noch in der Lage, sich zu verstellen. Die als „Du“ angesprochene Partei ist langweilig und steif („nurn bißchen / grau im kopf n bißchen kleinkariert“), versteht sich als intellektuell und braucht „120“ Worte, um auf den Punkt zu kommen. Ihre Meinung interessiert und beeindruckt Tic Tac Toe nicht. Der lautmalerische Titel steht für belanglose, inhaltsleere Texte, die die Gruppe eben nicht vortragen möchte: „ich hab keine lust schubidubi zu sing“.

Durch den gesamten Songtext ziehen sich Binnenreime. An den Stellen, an denen die sprechende Instanz die angesprochene parodiert (und damit zeigt, dass sie sich sehr wohl gebildet ausdrücken könnte, wenn sie nur wollte), kommen Alliterationen hinzu („unsre konversation ist keine kommunikation“, „intellekt intellektuell“). Der Refrain ist – für die Gruppe untypisch – auf Englisch gehalten, während in den Passagen, in denen die Ausdrucksweise der gegnerischen Partei imitiert wird, zahlreiche Entlehnungen aus dem Lateinischen und Französischen auffallen, darunter auch wenig gebräuchliche Wörter wie Impertinenz und Contenance. Im englischsprachigen Refrain finden sich die eher derben Ausdrücke piss off und bitch, die deutschen Strophen warten neben dem originellen Blockflötengesicht mit Arschgesicht und Arschloch (und eben nicht Blödmann) auf. Zur unfeinen Bezeichnung für den Hintern ist zu sagen, dass Tic Tac Toe sie in einem Song auf ihrem ersten nach sich selbst benannten Album (Veröffentlichung im April 1996) bewusst umschiffen: „Leck mich am A, leck mich am B, leck mich am Zeh“, bekommt der Mann zu hören, der sich weigert, beim One-Night-Stand ein Kondom zu benutzen.

Ein anderer im Deutschen höchst beliebter Kraftausdruck wird im Refrain ihrer allerersten Single immer wieder und wieder verwendet: scheiße, gebraucht als Adjektiv. Beim Musiksender VIVA lief das dazugehörige Video nach Veröffentlichung mehrmals am Tag, in den Geschäften war die Single so erfolgreich, dass sie im Mai 1996 für 500.000 verkaufte Exemplare mit Platin ausgezeichnet wurde, doch Radiostationen wollten das Lied mit dem schlimmen Wort zunächst nicht spielen. Wenig zimperlich ist auch der Titel des ersten Nummer-1-Hits des Trios, Release im Dezember 1996: Verpiß dich lautet er und eine Nebenbuhlerin wird im Text als „miese Schlampe“ tituliert.

Moralapostel sind gegen uns, doch sie können uns nicht einschüchtern und uns den Erfolg nicht nehmen, dies ist die Botschaft von Schubidamdam. Zum Songtext passt die folgende Aussage von Lee im als Reaktion auf die Skandale aufgezeichneten Video Die ganze Wahrheit (zitiert nach Edenhofer, S. 55): „[…] Vielleicht sehen die Eltern jetzt ein, warum wir ‚Ich find dich Scheiße‘ singen, und nicht ‚Ich find dich nicht nett‘. […] Wenn ich nicht durch diese Scheiße gestiefelt wäre, könnten wir solche Lieder gar nicht singen. Mein Leben macht viel von diesen Texten aus.“

Kritik an den Zuständen auf der Welt, Abrechnung mit Leuten, die die drei Mädchen nicht mögen (vorwiegend männlichen Geschlechts), und selbstbestimmte weibliche Sexualität sind die Themen, die sich durch beide Alben der Band ziehen. Provokation ja, aber mit Spaß statt Verbissenheit, so beschrieben es Tic Tac Toe damals in Interviews. Ihren Stil bezeichneten sie nicht als Hip-Hop, sondern als „deutschen Sprechgesang, gekoppelt mit jeder Art von Musik“ (zitiert nach Edenhofer S. 19). Ihre Musik sollte gute Laune verbreiten und gleichzeitig eine Botschaft vermitteln, die Songs widmeten sich Themen wie Geld- und Machtgier, Safer Sex und Drogenmissbrauch. Heute rühmen einzelne Stimmen die Bedeutung von Tic Tac Toe als selbstbewusste nicht-weiße Frauen, während sich die Mehrheit vor allem an das Ende mit Knalleffekt auf der unglückseligen Pressekonferenz zu erinnern scheint. Ausschnitte sind im Netz noch einsehbar, unreif und überfordert wirken die drei da. Wenngleich sie nicht ganz so jung waren wie ursprünglich behauptet, war die Älteste gerade einmal 23 Jahre alt.

Nur zwei Jahre währte die Blütezeit, doch in den Erinnerungen vor allem der damals etwa zehn bis fünfzehn Jahre alten Mädchen haben Tic Tac Toe einen festen Platz. Weibliche Stimmen waren im deutschen Hip-Hop in jener Zeit rar gesät, Schimpfwörter aus dem Mund von Frauen im Mainstream unüblich. Und Lee, Ricky und Jazzy konnten mehr als nur Vulgaritäten absondern. Die Band mag das Produkt des kalkulierenden Paars Börger/Wohlfromm gewesen sein (siehe auch hier), doch ihre Texte waren von eigenen Erfahrungen geprägt und die Persönlichkeit der Mitglieder schimmerte zwischen den Zeilen stets hindurch. Die „Ruhrpottniggaz“ (wie ihr erstes Album fast geheißen hätte) sind aus der Geschichte der 90er-Jahre nicht wegzudenken.

Irina Brüning, Hamburg

Literatur:

Hans S. Mundi: TIC TAC TOE – Die Erfolgsstory von Lee, Ricky und Jazzy, Düsseldorf 21997.

Julia Edenhofer: TIC TAC TOE – Kleine Träume werden groß. Die ultimative Biographie der Ruhrpottniggaz, München 1997.

Kiffer vom Dach: „Highnachtsmann“ von GReeeN

GReeeN

Highnachtsmann

Hallo liebes Kind, ich bin der Highnachtsmann
Gib dei’m Vater diesen Keks und er ist gleich entspannt
Und wenn du mich oben auf dem Schornstein siehst
Dann nur, weil da wie an einer Bong dran zieh‘
Ja, mein liebes Kind, ich bin der Highnachtsmann
Bitte nicht verwechseln mit dem Weihnachtsmann
Der Unterschied zu ihm? Ich bin high, verdammt
Und versteck‘ mich vor dei’m Vater im Kleiderschrank

Ich sitz‘ da und roll‘ mir ’n Ofen
Aus meinem Mund kommen Wolken geflogen
Keinen Sack, nur ein’n Beutel voll Drogen
Das Feuerzeug lodert, die Knolle nicht ohne
Die Lichtlein angezündet,
Freude zieht in jeden Raum
Sag mir, Kinder, habt ihr Wünsche?
Heut‘ erfüll‘ ich jeden Traum
Leuchte Licht mit hellem Schein
Vom Kräuter-Spliff, da werd‘ ich high
Hm, duftet das gut, ich freu‘ mich auf die Leckereien
Statt Schnee fallen Blüten vom Himmel
Fröhliche Stimmung, es riecht süß nach Vanille
Grün ist die Brille, ein Jointlein brennt
Erst ein, dann zwei, dann drei, dann vier

Hallo, liebes Kind, ich bin der Highnachtsmann [...]

Und wenn ich heut‘ Nacht bedeutsam ’nen Joint paff‘
Kann es jeder seh’n wegen der unglaublichen Leuchtkraft
Sie renn’n mir hinterher, weil ich supergeiles Zeug hab‘
Ja, daran zerbrach schon so manche Freundschaft
Lass uns froh und munter sein
Ich hab‘ hier grad ’n pures Teil
Ja, mein Dope bleibt unerreicht
Wir ballern uns die Lunte rein
Mein Schlitten kann nicht flieg’n,
im Gegensatz zu seinem
Doch ich bin so high,
ich flieg‘ von ganz alleine
Ich back‘ im Handumdreh’n
’nen Haschisch-Keks
Der im Handumdreh’n
dein’n Verstand zerlegt
Danach kannst du nicht mehr das Alphabet
Und man kann die Sabber seh’n

Hallo, liebes Kind, ich bin der Highnachtsmann […]

Ich bin der Highnachtsmann, ich bin high, verdammt
Ich bin der Highnachtsmann, ich bin high, verdammt
Und ich flieg‘ hier rum, ich flieg‘ hier rum
Ich kiff‘ mich dumm, ich kiff‘ mich dumm

     [GReeeN: Highnachtsmann. 2020.]

Eine auf einem Wortspiel basierende Alberei in der Tradition deutscher ‚Blödelbarden‘ wie Insterburg & Co., Mike Krüger oder Jürgen von der Lippe – so könnte man das Lied abtun, ggf. noch ergänzt um die biographistische Spekulation, dass dessen Verfasser bei der Niederschrift des Textes eventuell selbst unter Substanzeinfluss stand. Oder man könnte das Stück in der Traditionslinie der Kifferlieder stellen, einem international seit den 1960ern etablierten Genre (vgl. dazu etwa dieses Ranking), das Ton Steine Scherben mit ihrem Shit-Hit für die deutsche Musik adaptierten, das Hans Söllner (u.a. mit Marihuanabam) fortführte und das im Deutschrap endgültig mehrheitsfähig gewordenen ist (vgl. etwa entsprechende Listen auf rap.de oder backspin.de). Auch der Rapper und Reggae-Sänger GReeeN hat bereits einige erfolgreiche Songs zum Thema veröffentlich, z.B. THC oder Stoned durch den Wald. Und doch handelt es sich bei Highnachtsmann nicht einfach um ein weiteres Gute-Laune-Kiffer-Lied.

Das liegt vor allem daran, dass die Haschkekse nicht dem angesprochenen Kind angeboten werden, sondern für dessen Vater bestimmt sind. Dieser erscheint als durchaus bedrohliche Figur, die mit der Droge besänftigt werden soll und vor der sich der Highnachtsmann im Schrank verstecken muss. Damit steht der Highnachtsmann in der Tradition von Figuren, die Kindern dabei helfen, sich gegen eine oppressive erwachsene Autorität zu behaupten – man denke daran, wie Karlsson vom Dach Fräulein Bock tirrituiert.

Dazu passt auch, dass der Highnachtsmann ausdrücklich Wert darauf legt, nicht mit dem Weihnachtsmann verwechselt zu werden. Zwar begründet er dies vordergründig mit Äußerlichkeiten (kein fliegender Schlitten, Drogenbeutel statt Geschenkesack, high statt nüchtern) und führt für ähnliches Verhalten (Aufenthalt auf dem Schornstein) eine abweichende Motivation an; doch lässt sich die Abgrenzung auch auf die unterschiedlichen Funktionen der Figuren beziehen: Der Weihnachtsmann fungiert üblicherweise als Handlanger der Erwachsenenwelt – selbst wenn er nicht, wie der verwandte Nikolaus, Züchtigungsinstrumente oder furchterregende Begleiter (Knecht Rupprecht, Krampus etc.) dabei hat, die in Geiste einer – hier auch wörtlich zu verstehenden – schwarzen Pädagogik Kinder ängstigen und so zu normgerechtem Verhalten bewegen sollen; denn dass nur „brave“ resp. „artige“ Kinder Geschenke erhalten, gehört fest zur Weihnachtsmannmythologie. Er mag, speziell in der amerikanischen Santa Claus-Spielart, deren Ikonographie maßgeblich von der Coca Cola-Werbung mitgeprägt worden ist, zwar eine gütige Autorität sein, subversiv ist er jedoch in der klassischen Überlieferung nicht (um so attraktiver ist es natürlich, ihn in satirischen Texten zu einer solchen zu machen wie Robert Gernhardt in Die Falle. Eine Weihnachtsgeschichte oder Paul Maar in Das Sams feiert Weihnachten).

Aber zurück zu unserem Highnachtsmann: Bei aller Abgrenzung vom rotbemützten Ordnungshüter ist er doch keine amoralische Figur: Denn er kommt keineswegs als Dealer ins Kinderzimmer, sondern bietet dem Kind lediglich einen Ausweg an, wie es Konflikten mit der anderen Autoritätsfigur des Textes, dem Vater, vorbeugen kann. Darüber hinaus fällt seine Schilderung des eigenen Konsums durchaus ambivalent aus: Beginnt sie noch mit im Rap gängigen grotesken Prahlereien (der Schornstein als Bong, was en passant die textliche Fixierung vieler Rapper auf die Größe ihres Geschlechtsteils parodiert) und der Schilderung weihnachtsähnlich gemütlicher Stimmung, führt sie über Allmachtsphantasien („Heut‘ erfüll‘ ich jeden Traum“) in soziale Isolation („Ja, daran zerbrach schon so manche Freundschaft“) und körperliche Degeneration („Der im Handumdreh’n / Dein’n Verstand zerlegt / Danach kannst du nicht mehr das Alphabet / Und man kann die Sabber seh’n“, „Ich kiff‘ mich dumm“). Eine ähnliche, pädagogisch wertvolle Warnung vor übermäßigem Drogenkonsum findet sich übrigens auch in Stoned durch den Wald:

Es ist wahr, ich verbrenn gerne Dope
Sei dir gewiss, ich bin nicht ständig stoned
Nüchternsein ist das Wahre und bleibt Nummer eins
Nüchtern schreib ich in fünf Minuten 200 Lines

Bemerkenswert an diesem Bekenntnis zur überwiegenden Nüchternheit ist auch, dass es explizit poetologisch begründet wird: Entgegen der oft kolportierten These, dass Künstler unter Drogeneinfluss besonders kreativ seien, betont das Sprecher-Ich hier (wieder hyperbolisch) seine immense Produktivität in nüchternem Zustand.

Doch zurück zu unserem Lied: Ist der Highnachtsmann, der sich selbst als warnendes Beispiel vor exzessivem Drogenkonsum vorstellt, mithin vielleicht ein lediglich modern daherkommender Verwandter seines Beinahe-Namensvetters und fungiert wie dieser letztlich doch als Erziehungsgehilfe der Eltern? Nein. Denn er begegnet dem Kind ja als Verbündeter gegen den Vater, dem er allerdings keineswegs überlegen ist – sonst müsste er sich nicht im Schrank verstecken. Der Highnachtsmann steht somit auf der Seite des Kindes (und ist auch selbst reichlich kindisch-albern) und zeigt ihm einen Weg auf, sich zu behaupten – er schiebt den Keks ja nicht etwa selbst dem Vater unter, sondern ermuntert das Kind dazu. Im Vorschlag, dem angespannten Vater einen Haschgebäck zu verabreichen, klingt außerdem die soziale und politische Utopie an, die oft in Plädoyers für Marihuanakonsum angeführt wird: Die Droge habe befriedende Wirkung auf ihre Konsumenten: Würden, so die Theorie, alle – erwachsenen – Menschen, gerade die zur Aggression neigenden, regelmäßig kiffen, würde dies zu einem harmonischeren Miteinander führen – sowohl, wie im Lied ausbuchstabiert, in der Familie als auch im größeren gesellschaftlichen und politischen Rahmen.

Doch gilt auch hier, so zeigt der Highnachtsmann mit den drastischen Schilderungen der Folgen übermäßigen Konsums, dass die Dosis das Gift macht. Und so geht es ja auch beim geplanten Haschkeksunterschub nicht darum, den Vater in den Zustand eines sabbernden Analphabeten zu versetzen, sondern ihm die – mutmaßlich aus seinem (beruflichen) Erwachsenenleben nach Hause mitgebrachte – Anspannung zu nehmen. Der Highnachtsmann fungiert hier als eine Art Familienhelfer in der Tradition von Mary Poppins – sobald die Voraussetzung wieder hergestellt ist, dass der nunmehr entspannte Vater sich seinem Kind zuwendet, wird wohl auch er wieder verschwinden, ebenso wie es das schirmreisende Kindermädchen schließlich tut. Und er wird im besten Fall eine Familie zurücklassen, die auch nach dem Abklingen der beruhigenden Drogenwirkung beim vormals gestressten Vater ein glückliches Weihnachtsfest gemeinsam verbringt. Und sollte doch ein Streit aufziehen, steht ja die Keksdose bereit.

Jedoch erschöpft sich das Lied nicht darin, die Tradition fantastischer Helferfiguren für Kinder fortzuschreiben und für sein Genre ungewöhnlich kritisch Nutzen und Gefahren des Marihuanakonsums zu reflektieren; es ist vor allem ein großer Spaß, mit dem im Ohr sich auch die Lichterorgien öffentlicher Weihnachtsdekorationen als psychedelisch goutieren lassen. Und so kann es vielleicht, ganz unabhängig von den jeweils präferierten Plätzchenrezepten, zu einem fröhlichen und entspannten Weihnachten beitragen – wir alle haben es zum Ende dieses Jahres wohl nötig. In diesem Sinne: Ein frohes Fest!

Martin Rehfeldt, Bamberg

Vom König zum Kumpel. Zu „Fußball ist immer noch wichtig“ von Fettes Brot, Bela B., Marcus Wiebusch und Carsten Friedrichs

Fettes Brot, Bela B., Marcus Wiebusch und Carsten Friedrichs 

Fußball ist immer noch wichtig

Manchmal kommst du noch vorbei an diesem Klotz aus Beton
Dein Club hat wieder mal bloß an Erfahrung gewonnen
Kein Bock auf eine weitere verkorkste Saison
Und Fußball ist gar nicht so wichtig
Jetzt stehst du da allein vor′m Stadion,
Bist fest entschlossen, nicht mehr wieder zu kommen
Die zweite Halbzeit hat gerade begonnen,
Das Flutlicht geht an, nur für dich nicht

Ich hör sie alle schreien: "Macht es noch mal!
Für unseren Verein! Holt den Pokal!
Mensch mach das Ding jetzt rein, wie ist egal!"
Doch Fußball ist gar nicht so wichtig

Mittlerweile denkst du nicht mehr allzu häufig daran,
Weißt immer irgendwas mit deiner Zeit anzufangen
Dein Lieblingstrikot vergammelt hinten im Schrank
Und Fußball ist nicht mehr so wichtig

Jetzt standen da heut auf einmal deine Freunde vor der Tür - alle Mann
Erst wolltest du nicht so recht, dann bist du doch mitgegangen
Und nun stehst du in der Kurve, wo alles begann
Und weißt wieder, hier bist du richtig
Und Fußball ist immer noch wichtig

Ich hör sie alle schreien: "Macht es noch mal!
Für unseren Verein! Holt den Pokal!
Mensch mach das Ding jetzt rein, wie ist egal!"
Und Fußball ist immer noch wichtig

So soll's für immer sein, unser Schicksal,
Kann regnen oder schnei′n, König Fußball,
"Du gehst niemals allein" steht auf unserem Schal
Und Fußball ist immer noch wichtig

Fußball, mein alter Kumpel Fußball,
Ich glaube nicht an Zufall,
Ich glaube an dich, Fußball, Fußball

Dies ist nicht für RTL, ZDF und Premiere,
Ist nicht für die Sponsoren oder die Funktionäre,
Nicht für Medienmogule und Öl-Milliardäre,
Das hier ist für uns, für euch, für alle!

Für Fußball, du wunderschöner Fußball,
Wir glauben nicht an Zufall,
Wir glauben an dich Fußball, Fußball!

     [Fettes Brot, Bela B., Marcus Wiebusch und Carsten Friedrichs: Fußball ist immer noch wichtig. ‎ Fettes Brot Schallplatten 2006.]

Wenn es um die Wichtigkeit von Fußball geht, kommt man an zwei Namen nicht vorbei: Bill Shankley und Nick Hornby. Shankly, legendärer Trainer des FC Liverpool von 1959 bis 1974, wird mittlerweile auch auf Kleidungsstücken mit der Sentenz zitiert: „Some people believe football is a matter of life and death, I am very disappointed with that attitude. I can assure you it is much, much more important than that.“ Die überraschende Pointe entsteht dadurch, dass man natürlich nach dem ersten Satz erwartet, die Bedeutung des Fußballs werde à la Dragoslav Stepanović relativiert („Lebbe geht weider“). Indem Shankly stattdessen vorgibt, dass ihm die Auffassung von Fußball als Frage von Leben und Tod noch nicht weit genug gehe, erhält das Zitat über die Komik hinaus auch eine schwebene romantische Ironie, da es explizit die immense Bedeutung des Fußballs betont und sie gleichzeitig durch die Steigerung ins Absurde implizit relativiert. Direkter, aber nicht weniger komisch hat Nick Hornby in seiner autobiographischen Mutter aller Fußballromane, Fever Pitch, geschildert, wie das Fansein ein Leben prägen, ja beherrschen kann, aber auch, dass es schließlich gelingen kann, ihm seinen Platz in einem erfüllten bürgerlichen Leben mit Familie zuzuweisen.

Der Protagonist unseres Liedes ist zu dessen Beginn sogar noch einen Schritt weiter gegangen und hat den Fußball ganz aus seinem Leben verbannt. Der Prozess einer aus Frustration („Kein Bock auf eine weitere verkorkste Saison“) entstandenen Entfremdung scheint abgeschlossen, wenn das Heimstadion, früher jener Ort, an dem die Fans als ‚zwölfter Mann‘ mit ihrer Mannschaft zu einer Einheit verschmelzen, abwertend als „Klotz aus Beton“ bezeichnet wird. Als positiv wird hingegen der Zugewinn an frei verfügbarer Zeit erlebt – die Taktung des übrigen Lebens durch den Spielplan ist auch ein zentrales Motiv in Hornbys Roman. In die fußballfreie, aber auch etwas dröge wirkende häusliche Idylle platzt plötzlich die alte Fan-Clique hinein, um den Protagonisten, keinen Widerspruch duldend, ins Stadion mitzunehmen. Dort erkennt er, dass ihm Fußball, insbesondere das gemeinsame Erlebnis im Stadiom, nach wie vor viel bedeutet – statt allein vor dem Stadion steht er nun mit seinen Freunden als Teil der noch größeren Gruppe der Fans darin.

Soweit die recht einfache Geschichte, die bis hierhin erzählt wird – eine Geschichte, in der sich sicherlich viele leidgeprüfte Fußballfans wiederfinden, wobei die in Liedtexten eher seltene Verwendung der Du-Form die Identifikation noch unterstützt.

Komplexer wird es allerdings, wenn man die noch folgenden Verse betrachtet. Dabei stechen besonders zwei Formulierungen hervor: „Fußball, mein alter Kumpel Fußball“ erhält seine Bedeutung vor der intertextuellen Folie des frühen Fußballhits Fußball ist unser Leben (Interpretation hier), gesungen von der Deutschen Nationalmannschaft zur WM 1974. In dessen Refrain heißt es „Fußball ist unser Leben, / denn König Fußball regiert die Welt“. Vor diesem Hintergrund stellt die Bezeichnung des Fußballs als „Kumpel“ eine Degradierung dar, die zeigt, dass der Fußball zwar wieder einen Platz im Leben des Protagonisten hat, allerdings keinen so zentralen mehr, wie mutmaßlich zuvor. Denn während ein König traditionell uneingeschränkt herrscht, so ist ein Kumpel jemand, mit dem man zwar hin und wieder gerne Zeit verbringt, der aber für das eigene Leben nicht unverzichtbar ist. So erzählt dieses Lied nicht nur vom Wiedereinzuig des Fußballs ins Leben des Protagonisten, sondern auch – wiederum wie Hornbys Roman – davon, erwachsen zu werden, in ein Leben hineinzuwachsen, in dem Fußball eben nicht mehr alles beherrschend im Zentrum steht.

Die zweite auffallende Formulierung lautet „Ich glaube nicht an Zufall, / Ich glaube an dich, Fußball“. Zunächst könnte man im Glauben an den Fußball einen Widerspruch zu dessen eben angesprochener Relativierung sehen: Fasst man ‚glauben‘ religiös auf, so begegnete der Fußball hier als Gottheit (mit dieser Form quasi-religiösen Fantums spielt etwa der Titel des Fanzines Schalke Unser). Doch scheint in unserem Text, bei genauerer Betrachtung, etwas anderes gemeint zu sein: Der Glauben an Fußball wird nämlich als Gegenentwurf zur Vorstellung der bloßen Zufälligkeit von Ereignissen – im Kontext: Spiel- und Saisonverläufen – präsentiert. Diese Vorstellung der Folgerichtigkeit ist bis in Floskeln hinein („Die Tore, die man vorne nicht macht, bekommt man hinten rein.“ – rein logisch besteht hier kein Zusammenhang) in der Fußballfankultur verankert. Und sie macht wohl einen erheblichen Teil der Faszination dieses Sports aus – es gibt zwar schnellere, akrobatischere, härtete und ästhetischere Sportarten als Fußball – jedoch erreicht kaum eine sein narratives Potential, wozu u.a. die potentiell spielentscheidende Bedeutung eines einzelnen Tores beiträgt.

Aktuell hat die dänische Nationalmannschaft mit ihrem 4:1-Sieg gegen die russische eine weitere schlüssige Erzählung hervorgebracht: Wie ihr Kapitän Christian Eriksen nach seinem Herzstillstand im ersten Spiel buchstäblich vom Tod ins Leben zurückgekehrt ist, so ist seine Mannschaft nach zwei Niederlagen doch noch im Turnier weitergekommen. Diese Geschichte ist wesentlich faszinierender als die konkurrierende, den Faktor Zufall betonende Betrachtung, derzufolge die russische Mannschaft durchaus auch hätte in Führung gehen können und auf der anderen Seite das zweite Tor der Dänen aus einem aberwitzigen Fehlpass resultierte und das dritte ein klassischer Sonntagsschuss war. Hier bedarf es des Glaubens an den Fußball und seine innere Sinnhaftigkeit, also der Einnahme einer spezifischen Rezeptionshaltung ähnlich der des „willing suspension of disbelief“ (Samuel Taylor Coleridge) bei der Lektüre literarischer Texte. Die Europameisterschaft zeigt wieder einmal, dass es sich – trotz allen Ärgers über Fernsehvermarktung, Sponsoren und alle weiteren Aspekte, die unter dem Schlagwort „Kommerzialisierung“ verhandelt werden – lohnt, an den Fußball als große Geschichtenmaschine zu glauben.

Martin Rehfeldt, Bamberg

„Auszuloten, was erlaubt und was verboten“ – Zur Meinungs- und Kunstfreiheit in Danger Dans Klavierstück „Das ist alles von der Kunstfreiheit gedeckt“

Danger Dan

Das ist alles von der Kunstfreiheit gedeckt

Also jetzt mal ganz spekulativ
Angenommen, ich schriebe mal ein Lied
In dessen Inhalt ich besänge, dass ich höchstpersönlich fände
Jürgen Elsässer sei Antisemit
Und im zweiten Teil der ersten Strophe dann
Würde ich zu Kubitschek den Bogen spannen
Und damit meinte ich nicht nur die rhetorische Figur
Sondern das Sportgerät, das Pfeile schießen kann

Juristisch wär‘ die Grauzone erreicht
Doch vor Gericht machte ich es mir wieder leicht
Zeig' mich an und ich öffne einen Sekt
Das ist alles von der Kunstfreiheit gedeckt

Also jetzt mal ganz spekulativ
Ich nutze ganz bewusst lieber den Konjunktiv
Ich schriebe einen Text, der im Konflikt mit dem Gesetz
Behauptet, Gauland sei ein Reptiloid
Und angenommen, der Text gipfelte in ei'm
Aufruf, die Welt von den Faschisten zu befreien
Und sie zurück in ihre Löcher reinzuprügeln noch und nöcher
Anstatt ihnen Rosen auf den Weg zu streuen

Juristisch wär‘ die Grauzone erreicht
Doch vor Gericht machte ich es mir wieder leicht
Zeig‘ mich an und ich öffne einen Sekt
Das ist alles von der Kunstfreiheit gedeckt

Vielleicht habt ihr schon mal von Ken Jebsen gehört
Der sich über Zensur immer sehr laut beschwert
In einem Text von meiner Band dachte er, er wird erwähnt
Und beschimpft und hat uns vor Gericht gezerrt
Er war natürlich nicht im Recht und musste dann
Die Gerichtskosten und Anwältin bezahlen
So ein lächerlicher Mann, hoffentlich zeigt er mich an
Was dann passieren würde? Ich kann es euch sagen

Juristisch wär‘ die Grauzone erreicht
Doch vor Gericht machte ich es mir wieder leicht
Zeig‘ mich an und ich öffne einen Sekt
Das ist alles von der Kunstfreiheit gedeckt

Nein, ich wär‘ nicht wirklich Danger Dan
Wenn ich nicht Lust hätte auf ein Experiment
Mal die Grenzen auszuloten, was erlaubt und was verboten ist
Und will euch meine Meinung hier erzählen
Jürgen Elsässer ist Antisemit
Kubitschek hat Glück, dass ich nicht Bogen schieß'
An Reptilienmenschen glaubt nur der, der wahnsinnig ist
Gauland wirkt auch eher wie ein Nationalsozialist
Faschisten hören niemals auf, Faschisten zu sein
Man diskutiert mit ihnen nicht, hat die Geschichte gezeigt
Und man vertraut auch nicht auf Staat und Polizeiapparat
Weil der Verfassungsschutz den NSU mit aufgebaut hat
Weil die Polizei doch selbst immer durchsetzt von Nazis war
Weil sie Oury Jalloh gefesselt und angezündet haben
Und wenn du friedlich gegen die Gewalt nicht ankommen kannst
Ist das letzte Mittel, das uns allen bleibt, Militanz

Juristisch ist die Grauzone erreicht
Doch vor Gericht mach' ich es mir dann wieder leicht
Zeig‘ mich an und ich öffne einen Sekt
Das ist alles von der, alles von der, alles von der, alles von der
Alles von der Kunstfreiheit gedeckt

     [Danger Dan: Das ist alles von der Kunstfreiheit gedeckt. Antilopen Geldwäsche 2021.]

Mit seinem Klavierlied Das ist alles von der Kunstfreiheit gedeckt reiht Danger Dan sich in die immer wieder erstarkende Diskussion über die Grenzen der Meinungs- und Kunstfreiheit ein und erinnert dabei an einen anderen berühmt gewordenen Fall: Im März 2016 trug der Moderator Jan Böhmermann in seiner Fernsehsendung NEO Magazin Royale ein satirisches Gedicht mit dem Titel Schmähgedicht vor, womit er einen Skandal entfachte, der als „Causa Böhmermann“ und „Erdogate“ nicht nur medial hohe Wellen schlug, sondern gar eine diplomatische Staatskrise mit der Türkei auslöste, deren Staatspräsident das Gedicht Böhmermanns gewidmet war.

Parallelen zu Böhmermanns Schmähgedicht lassen sich in Danger Dans Klavierlied Das ist alles von der Kunstfreiheit gedeckt durchaus erkennen, wenngleich eine Eskalation wie in der Böhmermann-Affäre bisher ausblieb. Ähnlich dem Vorgehen des Fernsehmoderators, der während des Vortrags seines Gedichts immer wieder schelmisch betonte, das, was er vortrage, dürfe man keinesfalls öffentlich sagen, verwendet Danger Dan zu Beginn seines Liedtextes bewusst den Konjunktiv: „Also jetzt mal ganz spekulativ / Angenommen, ich schriebe mal ein Lied“ und später dann: „Ich nutze ganz bewusst lieber den Konjunktiv“. Nicht nur führt er mit seinen folgenden ebenfalls konjunktivisch formulierten Passagen die Meinungsfreiheit ad absurdum, indem er Behauptungen auf eine Weise äußert, die suggerieren soll, er würde sie gar nicht wirklich so meinen, obwohl er sie ja doch kundtut, auch greift er damit die Rhetorik derer auf, die er mit Elsässer, Kubitschek, Gauland und Jebsen exemplarisch anspricht: Die Grenzen des Sagbaren werden gerade von Führungsfiguren der Neuen Rechten oft besonders weit ausgelegt und provokante Aussagen werden von ihnen so formuliert, dass sie sich vermeintlich noch innerhalb der Ränder der Meinungsfreiheit bewegen.

In seinem, wie er es nennt, musikalischen Experiment bleibt Danger Dan auch zunächst verhaftet im Konjunktiv, wenngleich er am Ende der zweiten Strophe zu dem – natürlich rein spekulativen – Aufruf, „die Welt von den Faschisten zu befreien“, auf musikalischer Ebene entschiedenere Töne anstimmt, gefolgt von einer Anspielung auf Kurt Tucholskys Rosen auf den Weg gestreut, einem Gedicht, in dem der Journalist und Schriftsteller Tucholsky den Umgang mit Faschisten satirisch kommentiert. Danger Dan sorgt mit den bis hierhin nur vage beschriebenen Äußerungen für einen Moment der Irritation, scheut er doch mit seiner Band Antilopen Gang keinesfalls klare Statements. So besingt das Trio etwa im Song Beate Zschäpe hört U2 folgende Textzeile: „All die Pseudo-Gesellschaftskritiker / Die Elsässer, KenFM-Weltverbesserer / Nichts als Hetzer in deutscher Tradition / Die den Holocaust nicht leugnen, sie deuten ihn um“. Diese Passage bewegte Ken Jebsen zu einem Antrag auf einstweilige Verfügung, die jedoch vor dem Landgericht Köln abgewiesen wurde mit dem Verweis auf die Freiheit von Kunst, Wissenschaft, Forschung und Lehre. Jebsen musste seinen Antrag nicht nur zurücknehmen, sondern auch für die Gerichts- und die Anwaltskosten der Antilopen Gang aufkommen, was Danger Dan in seinem Solostück aufgreift und mit den Worten kommentiert: „So ein lächerlicher Mann, hoffentlich zeigt er mich an“. Die Berufung auf die Kunstfreiheit ist sodann Kernelement des Refrains. „Juristisch“, behauptet der Musiker, „wär‘ die Grauzone erreicht“, doch sollte es je zu einem gerichtlichen Verfahren kommen, könne er es sich leicht machen, denn: „Das ist alles von der Kunstfreiheit gedeckt“.

Das Hauptstück des Songs offenbart sich schließlich in der letzten Strophe, in der Danger Dan die Intention seines Musikstücks preisgibt: Ein Experiment zu wagen, das die Grenzen der Meinungs- und Kunstfreiheit hinterfragen soll. Und so ist der Konjunktiv ab hier passé; stattdessen spricht Danger Dan nun offen an, was er von den im vorherigen Verlauf des Liedtextes angesprochenen Vertretern der rechten Szene hält: „Jürgen Elsässer ist Antisemit / Kubitschek hat Glück, dass ich nicht Bogen schieß‘ / An Reptilienmenschen glaubt nur der, der wahnsinnig ist / Gauland wirkt auch eher wie ein Nationalsozialist“. Damit aber nicht genug, bezieht der Sänger nun auch Staat, Polizeiapparat und Verfassungsschutz in seine Kritik ein, wobei er Letzterem vorwirft, den NSU mit aufgebaut zu haben, und der Polizei unterstellt, nicht nur von Nazis durchsetzt zu sein, sondern auch den 2005 in seiner Zelle verbrannten Flüchtling Oury Jalloh ermordet zu haben. Musikalisch werden diese Aussagen durch ein eindringliches Crescendo getragen, auf der Bildebene unterstützt durch eine Kameraführung, die das Gesicht des Sängers im Close-Up zeigt, während dieser seine Worte mit ernster Miene an die ZuhörerInnen richtet, ehe er in der abschließenden Zeile die Militanz – passenderweise ist dies auch das letzte Wort der Strophe – als das letzte Mittel gegen Gewalt bezeichnet.

Es ist vor allem der Verweis auf militante Gegenwehr in Kombination mit dem Filmbild des Musikvideos, in dem Danger Dan eine Kalaschnikow in die Höhe hält, der Kritik aufkommen ließ, verherrliche er damit, so der Vorwurf, schließlich Gewalt, die er zuvor noch angeprangert habe. In einem Interview mit dem Bayerischen Rundfunk erklärt der Sänger, er stehe in dieser Szene des Musikvideos auf einer Theaterbühne und das Gesehene sei daher wie ein Theaterstück zu interpretieren, wobei er klarstellt: „Dass ich natürlich nicht der Meinung bin, man sollte mit Kalaschnikows auf irgendwen schießen.“ Inhaltlich, so betont es der Künstler im Verlauf des Interviews, stehe er aber zu dem, was er besingt: „Wenn ich sage, dass das Letzte aller Mittel dann halt doch die Militanz ist, dann meine ich das auch so. Damit möchte ich jetzt nicht zu Gewalt aufrufen. Ich glaube aber auch nicht, dass man dann jetzt einen wütenden Nazi-Mob, der vor einer Geflüchtetenunterkunft steht, mit Lichterketten davon abhalten kann, da rein zugehen oder Leute zu attackieren.“

Besonders in Bezug auf die zuvor angesprochene Theaterbühne lohnt ein genauerer Blick auf das Musikvideo: Der Künstler steht zwar auf einer Bühne, doch wer sein Publikum ist, wird nicht ersichtlich. Vielmehr richtet er seine Worte an die ZuschauerInnen des Musikvideos, indem er während seines Gesangstücks immer wieder den Blick der Kamera sucht. Dabei symbolisiert die Farbgebung des Videos die Entwicklung des musikalischen Textes: Die zuvor farblich entsättigten Filmbilder weichen ab dem Augenblick einer stärkeren Kolorierung, als der Sänger in der letzten Strophe auch verbal „Farbe bekennt“ und seine zuvor im Konjunktiv formulierten Sätze an dieser Stelle als klare Aussagen besingt. Auch die Darstellung des Künstlers betont den inhaltlichen Wechsel zwischen den ersten Textzeilen und der letzten Strophe. So tritt Danger Dan, der sich zuvor noch hinter seinem Klavier „versteckt“ hat, als Künstler vor sein Instrument, sodass die Kamera ihn als Person gänzlich einfangen kann, mehr noch, er tritt auf die Bühne, in Richtung des unsichtbaren Publikums, während das Scheinwerferlicht ihn fokussiert und ihm damit alle Aufmerksamkeit zukommen lässt. Hat er zuvor noch am Klavier gesessen, steht Danger Dan zu Beginn der letzten Strophe im doppelten Wortsinn zu seiner Meinung.

Inszeniert als Theaterstück werden Danger Dans musikalische Aussagen gegen Ende des Videos mit dem Wurf diverser Lebensmittel quittiert – ein durchaus ironischer Moment, in dem der Künstler klarstellt: Wer mit seinen Worten und Handlungen provoziert, der darf sich über harsche Reaktionen nicht wundern. So lässt der Sänger es im Video stoisch über sich ergehen, mit Tomaten, Eiern und Torten beworfen zu werden, während er textlich betont: „Das ist alles von der, alles von der, alles von der, alles von der, alles von der Kunstfreiheit gedeckt.“ Selbst dann also, so suggeriert das Video, wenn sich die Aussagen juristisch gesehen im Rahmen der Meinungsfreiheit befinden, wenngleich sie deren Grenzen ausloten, ist die Gegenwehr zu akzeptieren – auch wenn sie im Falle des Musikvideos gewiss sehr rabiat erscheint. Implizit bezieht sich der Künstler auch an dieser Stelle auf Vertreter der rechten Szene, die selbst gerne provokant auftreten, sich Kritikern und anderen Meinungen aber verwehren.

Dass nicht zu erkennen ist, wer die Lebensmittel wirft, darf als Anspielung auf die anonyme Kritik verstanden werden, die besonders online zunimmt und die gerade durch die vermeintliche Anonymität des Internets nicht selten unangemessen ausfällt und von konstruktiver Kritik deutlich abweicht. Die Theaterbühne wiederum unterstreicht, dass gerade diejenigen, die – metaphorisch gesprochen – in der Öffentlichkeit eine Bühne betreten und von dieser ihre Parolen verkünden, bewusst Reaktionen des Publikums evozieren. Die Stilisierung zum Opfer, wie Figuren der Neuen Rechten sie gerne für sich beanspruchen, wird hierdurch entlarvt. Auch Danger Dans Musiktext ist als Reaktion auf Worte und Taten derer zu verstehen, die er verbal angreift. Zugleich nimmt das Musikvideo mit dem Wurf der Lebensmittel die Kritik derjenigen vorweg, die den Aussagen des Künstlers nicht zustimmen, und suggeriert: Wie die Lebensmittel, mit denen Danger Dan beworfen wird, prallen Gegenreaktionen auf seine Äußerungen an ihm ab, mehr noch, er tritt ihnen bewusst entgegen. Und so bleibt der Sänger bis zum Schluss auf der Bühne und blickt zum Abschluss des Videos, wenn auch mit beschmiertem Gesicht, noch immer entschlossen in die Kamera und damit seinem Publikum und der Kritik direkt in die Augen.

Catalina Vrabie, Nürnberg

Wenn ein Mensch lebt oder Jegliches hat seine Zeit – Alles nur geklaut?

Die Puhdys

Wenn ein Mensch lebt

Wenn ein Mensch kurze Zeit lebt,
Sagt die Welt, dass er zu früh geht.
Wenn ein Mensch lange Zeit lebt,
Sagt die Welt, es ist Zeit, daß er geht.

Meine Freundin ist schön.
Als ich aufstand, ist sie gegangen.
Weckt sie nicht, bis sie sich regt.
Ich hab' mich in ihren Schatten gelegt.

Jegliches hat seine Zeit,
Steine sammeln, Steine zerstreu'n,
Bäume pflanzen, Bäume abhau'n,
Leben und sterben und Streit.

Wenn ein Mensch kurze Zeit lebt
Sagt die Welt, dass er zu früh geht.
Wenn ein Mensch lange Zeit lebt
Sagt die Welt, es ist Zeit, dass er geht.

Jegliches hat seine Zeit,
Steine sammeln, Steine zerstreu'n,
Bäume pflanzen, Bäume abhau'n
Leben und sterben und Frieden und Streit.

Weckt sie nicht, bis sie selber sich regt.
Ich habe mich in ihren Schatten gelegt.

Wenn ein Mensch kurze Zeit lebt,
Sagt die Welt, dass er zu früh geht.
Wenn ein Mensch lange Zeit lebt
Sagt die Welt, es ist Zeit, dass er geht.

Meine Freundin ist schön,
als ich aufstand, ist sie gegangen.
Weckt sie nicht, bis sie sich regt.
Ich habe mich in ihren Schatten gelegt.

     [Die Puhdys: Die Puhdys. Amiga 1974.]

Entstehung und Vorgeschichte

Die Rockballade der Puhdys Wenn ein Mensch lebt (so der Kurztitel) stammt aus dem erfolgreichen DEFA-Film Die Legende von Paul und Paula. 1973 entdeckte der Filmkomponist Peter Gotthardt (geb. 1941, über 60 Filmmusiken, darunter mehrmals für Polizeiruf) die Band und schrieb für sie sieben Songs. Die Texte dazu wurden von dem Dichter und Schriftsteller Ulrich Plenzdorf (1934–2007) verfasst (berühmtestes Werk Die neuen Leiden des jungen Werther), als Dramaturg auch für das Drehbuch des Films zuständig.

Ob Plenzdorf sich bei den auf „Jegliches hat seine Zeit“ (s.o.) folgenden Dichotomien an den Versen 1 bis 8 des 3. Kapitels Koholet (Die Sprüche Salomos) orientiert hat, ist nicht bekannt. Möglich ist es, da der Textdichter offensichtlich über Bibelkenntnisse verfügte, worauf einige im Liedtext verwendeten Bibelzitate deuten (s. Anm./Interpr.). Unwahrscheinlich ist jedoch, dass Plenzdorf sich für seinen Text von Marlene Dietrichs Version (1963) Glaub, glaub, glaub (Für alles Tun auf dieser Welt kommt die Zeit) (s. u.) hat inspirieren lassen, zumal dieser Version nicht gerade ein großer Erfolg beschert war.

Nach einer anderen Vermutung hat Plenzdorf sich Pete Seegers Turn, turn, turn, turn (s. u.) als Vorlage genommen (vgl. Wikipedia-Artikel zu Turn, turn, turn). Dafür spricht einiges: Seeger und seine Songs waren – wie auch andere Folksinger und ihre Songs – über das Radio DDR Sonderstudio DT 64 und vor allem durch den kanadischen Banjospieler und Sänger Perry Friedman in der DDR bekannt. Friedman, der 1959 in die DDR umgesiedelt war, ist Mitbegründer des Hootenanny-Clubs (Singer-Songwriter-Treff mit geselligen zwanglosen Konzerten), 1966 umbenannt in den systemnahen Oktoberklub.

So wie Plenzdorf sich an bereits vorliegenden Texten orientierte, hatte auch der Filmkomponist Peter Gotthardt seine Vorbilder. Wenn ein Mensch lebt ähnelt auffallend – wie Teile der Interpretation der Puhdys – Spicks and Specks (Where is the sun?) der Bee Gees von 1966 (und Geh zu ihr dem 1972 erschienenen Titel Look Wot You Dun der britischen Rockband Slade).

Anmerkungen / Interpretation

Wie lange ein Mensch lebt, ist von ihm nicht oder nur sehr bedingt (z.B. durch gesunde Ernährung) zu beeinflussen. Und sicherlich bedauern wir, wenn ein Mensch in jungen Jahren oder „im besten Alter“ stirbt. Aber dass man bei alten Leuten sagt, es werde Zeit zu gehen, dürfte i.d.R. nicht zutreffen (es sei denn, ein Mensch ist todkrank). Im Gegenteil, die meisten Menschen sprechen anerkennend von einem „biblischen Alter“.

Im Refrain wird eine Freundin besungen, die ihren Freund verlassen hat. Die rätselhaften Worte „Weckt sie nicht, bis sie sich regt. / Ich hab‘ mich in ihren Schatten gelegtwerden klar, wenn man den Film kennt (Inhaltsangabe auf www.filmzentrale.com). Nach einer kurzen Zeit des Glücks trennt sich Paula von Paul (In Spicks and Specks von den Bee Gees heißt es: „Where is the girl I loved / All along / The girl that I loved / She’s gone / She’s gone“), der sich aus gesellschaftlichen Gründen nicht zur ihr bekennt („als ich aufstand“). Doch Paul erkennt, wie sehr er Paula wirklich liebt, im Lied ausgedrückt durch: „Meine Freundin ist schön“. Als sie ihn eine Zeit lang nicht in ihre Wohnung lässt, legt sich Paul vor ihre Wohnungstür („Ich hab mich in ihren Schatten gelegt“). Schließlich „regt sich“ Paula („Weckt sie nicht, bis sie sich regt“) und sie versöhnen sich; doch ein Happy End gibt es nicht (s. Inhaltsangabe).

Auch hier hat der Liedtext biblische Bezüge: Im Hohe Lied Salomos, Kapitel 1, Vers 15 heißt es: „Siehe, meine Freundin, du bist schön; schön bist du […]“. Und die 7. Zeile des Liedtextes „Weckt sie nicht, bis sie sich regt“ könnte ebenfalls biblisch inspiriert sein (vgl. Das Hohe Lied, Kapitel 2, Vers 7: „Ich beschwöre Euch, […] dass ihr meine Freundin nicht aufweckt noch regt, bis es ihr selbst gefällt“).

„Jegliches hat seine Zeit“ und die folgenden Zeilen handeln vom Zeitenwandel mit bestimmten, nicht beeinflussbaren Zeitabschnitten – „leben und sterben“ – und bewusst gestalteten – „Bäume pflanzen, Bäume abhau’n“. Dabei greift Plenzdorf das Bibelwort „ein jegliches hat seine Zeit und alles Vornehmen unter dem Himmel hat seine Stunde“ auf (Prediger 3,1). Von den dort erwähnten weiteren zehn zum Teil beeinflussbaren Dichotomien (vgl. Prediger 3, 2b-8a) greift unser Liedtext zusätzlich nur „Steine sammeln, Steine zerstreu’n“ (hebräische Metaphern für männliches und weibliches Begehren) und „Frieden und Streit“ auf. Viele der im Songtext nicht aufgegriffenen Motive aus dem Bibeltext (töten – heilen, weinen – lachen, umarmen – Umarmung lösen, suchen – verlieren, lieben – hassen) werden aber  im Film Die Legende von Paul und Paula thematisiert.

Die vier in der Rockballade beschriebenen Gegensatzpaare stehen exemplarisch für die Ungleichzeitigkeit mancher Ereignisse und dafür, dass alles seine Zeit hat – in Pete Seegers Turn, Turn, Turn heißt es: „To Everything (Turn, Turn, Turn) / There is a season (Turn, Turn, Turn) / And a time for every purpose under Heaven“ (s. u. Synopse). Im Gegensatz zu den von den Puhdys gesungenen Versen hat Pete Seeger alle 14 Dichotomien fast wörtlich der Bibel entnommen, wie folgende Synopse zeigt:

Links der Bibeltext aus dem 10. Jh. v. Chr. stammenden Buch Kohelet (Prediger), (Einheitsübersetzung EKD), rechts der 1960 geschriebene Text von Pete Seeger:

1 Ein jegliches hat seine Zeit, und alles Vornehmen unter dem Himmel hat seine Stunde.
2 Geboren werden und sterben, pflanzen und ausrotten, was gepflanzt ist,
3 würgen und heilen, brechen und bauen,
4 weinen und lachen, klagen und tanzen,
5 Stein zerstreuen und Steine sammeln, herzen und ferne sein von Herzen,
6 suchen und verlieren, behalten und wegwerfen,
7 zerreißen und zunähen, schweigen und reden,
8 lieben und hassen, Streit und Friede hat seine Zeit. 

 

To Everything (Turn, Turn, Turn)
There is a season (Turn, Turn, Turn)
And a time for every purpose, under Heaven
A time to be born, a time to die
A time to plant, a time to reap
A time to kill, a time to heal
A time to build up, a time to break down
A time to laugh, a time to weep
A time to dance, a time to mourn
A time to cast away stones, a time to gather stones together
A time you may embrace, a time to refrain from embracing
A time to gain, a time to lose
A time to rend, a time to sew
A time of love, a time of hate
A time of war, a time of peace
I swear it’s not too late.

Außer dem Text von Plenzdorf hat der Schriftsteller und Dichter Max Colpet (1905-1998) nach der Melodie von Pete Seeger eine Textversion mit dem Titel Glaub, glaub, glaub (linke Spalte) verfasst, die 1963 Marlene Dietrich (1901-1992) interpretiert hat. Hannes Wader (geb. 1942) hat 2012 eine Version mit dem Titel Seit Ewigkeiten (rechte Spalte) veröffentlicht.

Für alles Tun,
Glaub, glaub, glaub,
Auf dieser Welt,
Glaub, glaub, glaub,
Kommt die Zeit, wenn es dem Himmel so gefällt.Die Zeit der Fülle, die Zeit der Not.
Die Zeit der Sorge um’s tägliche Brot.
Die Zeit zum Speisen, die Zeit zum Fasten.
Die Zeit zum Schaffen, Zeit zum Rasten.Für alles Tun […]Die Zeit der Saat, der Erntezeit.
Die Zeit des Danks, dass es soweit!
Die Zeit zum Schweigen, die Zeit zum Reden.
Die Zeit zum Singen, Zeit zum Beten.Für alles Tun […]Die Zeit der Furcht, die Zeit zum Mut.
Die Zeit, die weit von Bös‘ und Gut.
Die Zeit zum Frieden nach all dem Leid.
Denn Streit und Friede hat seine Zeit.

 

 

 

Seit Ewigkeiten seh’n, seh’n, seh’n
Wir diese Welt sich dreh’n, dreh’n, dreh’n
Und doch hat ein jegliches seine Zeit auf Erden.Die Zeit zu ernten, die Zeit zu säen
Die Zeit zu werden, die Zeit zu vergeh’n
Die Zeit der Freude, die Zeit des Leids
Die Zeit des Lachens, die Zeit zu trauern.Seit Ewigkeiten seh’n, seh’n, seh’n […]Die Zeit zu bauen, die Zeit zu zerstör’n
Die Zeit des Duldens, die Zeit sich zu empör’n
Die Zeit zu kämpfen, die Zeit zu fliehen
Die Zeit zu hassen, die Zeit zu lieben.Seit Ewigkeiten seh’n, seh’n, seh’n […]Die Zeit zu verstummen, die Zeit zu schrei’n
Die Zeit der Reue, die Zeit zu verzeih’n
Die Zeit der Erlösung, die Zeit der Qual
Die Zeit der Wende, die Zeit der Kälte.

Seit Ewigkeiten seh’n, seh’n, seh’n […]
Die Zeit zu gewinnen, die Zeit zu verlier’n
Die Zeit des Zorns, die Zeit der Gewalt
Die Zeit der Versöhnung, die Zeit für den Sieg
Den Sieg des Friedens in der Welt über den Krieg.

Die 1963 herausgebrachte Single mit Marlene Dietrichs Interpretation war nicht besonders erfolgreich (So ist sie im Wikipedia-Artikel zu Marlene Dietrich gar nicht aufgeführt).

Wenn ein Mensch lebt dagegen war mit einer verkauften Auflage von fast drei Millionen LPs bzw. CDs. in Gesamtdeutschland ein Hit. Nicht nur in der DDR, wo der Song sogar im Musikunterricht gesungen und besprochen wurde, sondern spätestens seit einem Konzert 1976 in der Hamburger Fabrik, dem ersten Fernsehauftritt 1977 und weiteren Tourneen in Westdeutschland wurde die Rockband auch in der BRD gefeiert. Nach ihrem letzten Konzert 2016 in Berlin löste sich die Band „aus Altersgründen“ (so der Keyboarder und Saxofonist Peter Meyer) auf. Gecovert wurde die Rockballade u.a. von Clueso, Herbert Grönemeyer, Heinz Rudolf Kunze, Matthias Reim und die Sportfreunde Stiller.

Das zum Sprichwort gewordene Bibelwort Ein Jegliches hat seine Zeit ist auch Titel einer von dem Komponisten Ludger Vollmer (geb. 1961) geschaffenen Kantate für Solisten, Chor, Orgel und Orchester. Die Uraufführung fand anlässlich des 30. Jahrestages der Friedlichen Revolution in Jena in einem Festgottesdienst in der Stadtkirche St. Michael statt. Das zeitgenössisch politische Libretto wurde von dem Schriftsteller und Liedermacher Stephan Krawczyk (geb. 1955) verfasst.

Alle drei Liedtexte beziehen sich auf die biblische Aussage „Alles hat seine Zeit“ (vgl. Prediger 3, 1). Machen wir uns diese Lebensweisheit Salomos im alltäglichen Leben bewusst, so können wir manches gelassener nehmen. Wir wissen ja, dass es eine Zeit zum Säen und eine Zeit zum Ernten gibt; wir haben erfahren, dass wir uns nach einem Streit mit Freunden bald wieder mit ihnen versöhnen.

Dass „Alles seine Zeit hat“ klingt allerdings wenig beruhigend in einem Krieg, in den wir als Soldaten, Flüchtlinge oder unter Bomben Leidende involviert sind. Aber irgendwann erfüllen sich unsere Hoffnungen auf Frieden, und so bestätigt sich, dass manches seine Zeit braucht und wir uns in Geduld üben sollen. Der chinesische Philosoph und Begründer des Taoismus Laotse hat bereits um 6. Jh. v.Chr. (umstritten, evtl. auch im 4. Jh.) gelehrt: „Im Nichtstun bleibt nichts ungetan“.

Georg Nagel, Hamburg