Die „Hymne des jüdischen Unbekannten Soldaten“. Ein Soldatenlied als ‚umkämpfter‘ Gedächtnisort.
8. November 2016 Hinterlasse einen Kommentar
Alfred Winzer Hymne des jüdischen Unbekannten Soldaten Brüder, Freunde und Kampfgenossen! Was hat uns eher zusammengeschlossen, Stolz im Leben und mutig im Tod? Was hat uns aneinandergekettet? Was hat uns aus der Hölle gerettet? Leiblicher, geistiger, seelischer Not? – Mutig sind wir ins Feld gezogen, Haben der Begeisterung Wogen Ehrlich empfunden und glühend entfacht. Haben tapfer gekämpft und gestritten, Haben für unsere Heimat gelitten, Gut und Blut ihr zum Opfer gebracht. Zahllose unserer tapferen Lieben Sind am Felde der Ehre geblieben. Hingemäht von des Würgers Hand. Haben ihr junges, blühendes Leben Opferbereit dahingegeben Für die Heimat, für’s Vaterland. Daß wir uns mutig wie Helden geschlagen. Davon zeugen aus jenen Tagen Mancher Orden, manch’ Ordensband Davon zeugen die Wunden, die Narben, Die wir in blutigem Kampfe erwarben Für die Heimat, für’s Vaterland. Heldenbücher wurden geschrieben – Wo ist der Dank für uns Juden geblieben? – Ward unser Heldentum anerkannt? – Rings umbrandet uns wildes Hassen, „Juda verrecke!“ schallt’s in den Gassen In der Heimat, im Vaterland. Offen wird unsere Ehre geschändet, Offen wird Unrecht in Recht gewendet, Und die Heimat, – die Heimat bleibt stumm! Wofür haben wir Juden gestritten? – Wofür den Heldentod erlitten? – Menschheitsfragen: Wofür? Warum? – Brüder, Freunde und Kampfgenossen! Wißt Ihr, was uns zusammengeschlossen: Völkerundank und Völkerhaß, Blut uns’rer Helden, umsonst vergossen, Tränen der Mütter, umsonst geflossen, Heiliges, unersetzliches Naß. Dennoch! Wenn Feinde die Heimat bedräuen, Werden wir wieder in alten Treuen Unser Leben der Heimat weih’n. Werden wie in vergangenen Zeiten Wieder für Recht und Freiheit streiten, Treue Söhne der Heimat sein. Kameraden, haltet zusammen! Nähret der heil’gen Begeisterung Flammen Für die Gerechtigkeit schimmernde Wehr! Wehret unsere heiligsten Güter: Seid der jüdischen Ehre Hüter! Gott mit uns und für Judas Ehr’! ! ! [Zitiert nach Jüdische Front: offizielles Organ des Bundes jüdischer Frontsoldaten Österreich (im Folgenden JF), 30.1.1933, S. 4.]
Entstehungskontext
Am 30. Jänner 1933 erschien in der Jüdischen Front, dem offiziellen Publikationsorgan des Bundes jüdischer Frontsoldaten Österreich die Hymne des jüdischen Unbekannten Soldaten. Der 1932 von jüdischen Frontsoldaten gegründete Veteranenverband bezeichnete diese Version als erste offizielle Vereinshymne (vgl. JF, 30.1.1933, S. 4f.). Alfred Winzer konzipierte den Text in neun Strophen. Diese spiegeln die Wahrnehmung der Kriegserfahrungen ebenso wie den ‚umkämpften‘ Erinnerungsdiskurs durch zunehmenden Antisemitismus, Nationalsozialismus und antidemokratische Tendenzen der Zwischenkriegszeit wider.
In Form des Denkmals für den Unbekannten Soldaten in der Krypta am äußeren Burgtor in Wien war das Heldengedenken in der Ersten Republik in Österreich, wie der Historiker Gerald Lamprecht konstatiert, zwar namen- aber nicht konfessionslos. Das Gedenken an die Gefallenen des Ersten Weltkriegs war katholisch konnotiert (vgl. Gerald Lamprecht: Geteilte Erinnerung. Der Bund jüdischer Frontsoldaten. In: ders. / Ursula Mindler / Heidrun Zettelbauer (Hg.): Zonen der Begrenzung. Aspekte kultureller und räumlicher Grenzen in der Moderne, Bielefeld 2012, S. 87-104, S. 87f.) Seit 2014 gibt es ein Projekt zur Neugestaltung des Heldendenkmals am äußeren Burgtor unter der Leitung von Heidemarie Uhl und Dieter A. Binder. Ein Denkmal für die jüdischen Soldaten blieb indes lange verwehrt. Erst auf das jahrelange Bestreben der jüdischen Kultusgemeinde hin konnte 1927 ein Denkmal in Auftrag gegeben werden. Dieses wurde am Wiener Zentralfriedhof errichtet und schließlich im Oktober 1929 fertiggestellt und feierlich eingeweiht. Das Denkmal erinnert namentlich an die gefallenen „Glaubensbrüder“ (vgl. Martin Senekowitsch: Ein ungewöhnliches Kriegerdenkmal. Das jüdische Heldendenkmal am Wiener Zentralfriedhof. Wien 1994 wie auch Susanne Korbel: Der Bund jüdische Frontsoldaten Österreich. (Jüdische) Identitätskonstruktionen in der Zwischenkriegszeit. (Dipl.A.) Graz 2014. Zur Einweihung vgl. Die neue Welt, 18.10.1929, S. 5-8. Zu den Gedenkfeiern des Bundes jüdischer Frontsoldaten, die u.a. beim Denkmal am Zentralfriedhof abgehalten wurden vgl. JF, 8.7.1933, S. 2).
Als Erinnerung an die unbekannten und jüdischen Soldaten stellt das Lied von Alfred Winzer hingegen einen Einzelfall dar. Lediglich unter den Soldatenliedern des Zweiten Weltkriegs findet sich im zweiten Band der 1940 erschienen Liedersammlung des Großdeutschen Rundfunks ein Lied mit dem Titel Unbekannter deutscher Soldat (Johannes Jäschke: Unbekannter deutscher Soldat. Es liegt ein Grab in Polenland. In: Alfred-Ingemar Berndt (Hg.): Das Lied der Front. Liedersammlung des Großdeutschen Rundfunks. Heft 2. Wolfenbüttel 1940, S. 61. Archiv des Salzburger Volksliedwerkes, SVLW GIVa179b).
Im Folgenden möchte ich das Lied anhand zweier Beobachtungen vorstellen: Zum einen soll die Verwendung des Liedes als Hymne und Erinnerungsmedium herausgearbeitet werden. Zum anderen wird die Transformation des Textes durch die Veränderung der politischen Umstände skizziert.
Konzeption des Liedes/der Hymne als Erinnerungsmedium
Der in Myslowitz (Schlesien) geborene Alfred Winzer, lebte seit 1912 in Wien, wo er ursprünglich als Kaufmann tätig gewesen war. Winzer war als Soldat der k.u.k. Armee im Ersten Weltkrieg und in späterer Folge aktiv im jüdischen Veteranenverein, dem Bund jüdischer Frontsoldaten Österreich tätig. Wegen des nationalsozialistischen Terrors musste er 1939 nach Shanghai emigrieren. (vgl. Wiener Stadt- und Landesarchiv (WStLA), Meldeunterlagen, K3, D-Antiquariat: Meldezettel Alfred Winzer, 21.5.1887. Für das Zurverfügungstellen der Unterlagen möchte ich mich bei Georg Gänser bedanken.).
Alfred Winzer konzipierte das Lied als Ballade. Die Ballade kann, wie Nicolas Detering feststellt, als dominante Gattung populärer Kriegslyrik bezeichnet werden (vgl. Nicolas Detering: Kriegslyrik im Ersten Weltkrieg – Germanistische Perspektiven. in: ders. / Michael Fischer / Aie-Marlene Gerdes (Hg.): Populäre Kriegslyrik im Ersten Weltkrieg. Münster, New York 2013, S. 9-41, hier 31). Der in Balladen verfolgbare Erzählstrang bot sich an für die Darstellung des stets manifester werdenden Antisemitismus in Österreich im frühen 20. Jahrhundert. Die neun Strophen geben einen prägnanten Überblick über Denunziationen und Diskriminierung im zunehmenden Antisemitismus in der Zwischenkriegszeit. Der Antisemitismus drohte nicht nur die jüdischen Veteranen aus dem Erinnerungsdiskurs sondern letztlich die jüdische Bevölkerung aus der Gesellschaft zu verdrängen.
Das Lied spricht sich daher auch für „Einigkeit der jüdischen Bevölkerung“ aus. Diese Aufforderung wird versucht über die Erinnerung an den Ersten Weltkrieg – oder vielmehr das Hinweisen auf die Verdrängung aus der kollektiven Erinnerung – und ebenso Exklusionserfahrungen in der Zwischenkriegszeit zu transportieren. Die Form der Ballade, für die eine Pointierung des verfolgten Narratives in der Schlussstrophe typisch ist, ermöglicht Winzer. das Lied in der Aufforderung des Bundes jüdischer Frontsoldaten nach „Einigkeit der jüdischen Bevölkerung Österreichs“ gewissermaßen teleologisch gipfeln zu lassen (etwa JF, 14.5.1934, S. 1). Ob eine musikalische Begleitung für diese erste Version komponiert wurde, lässt sich nicht rekonstruieren.
Doch ist die Hymne als Soldaten- oder Veteranenlied zu kategorisieren? Die Komposition ist eindeutig auf die Zeit nach dem Ersten Weltkrieg zu datieren. Es handelt sich nicht um ein Lied, dass an der Front gesungen wurde. Vielmehr haben wir es mit einem Lied zu tun, das von Veteranen gemeinsam vorgetragen wurde. Über das Kriegserlebnis wie auch über andere Versatzstücke wurde versucht, performativ zur Konstruktion von Identität über Erinnerung beizutragen. Neben den „Brüdern“ ist die Erwähnung von „Kampfgenossen“ – jüdischen wie nichtjüdischen – zentral, was zeigt, dass nicht von einem ‚getrennten‘ Erinnerungsdiskurs ausgegangen werden kann.
Besonders spannend erscheint daher die Titulierung des Liedes als Hymne zur Erinnerung an den jüdischen Unbekannten Soldaten. Nach Benedict Anderson gibt es bekanntlich keinen definitiveren Ausdruck der Kultur der Nationalismen als Gräber unbekannter Soldaten (vgl. Benedict Anderson: Die Erfindung der Nation. Zur Karriere eines folgenreichen Konzepts. Frankfurt / New York 2005). Das Lied respektive die Hymne als ein performatives Grab wird im Akt des gemeinsam Sprechens oder Singens, durch ein Zusammenfließen der aktiven Komponente des Erinnerns mit der passiven des Gedächtnisses, zum Gedächtnisort (vgl. Jay Winter: Sites of Memory, Sites of Mourning: The Great War in European Cultural History. Cambridge 2014). Gedächtnisorte konstituieren sich nach Pierre Nora immer dann, wenn Erinnerungsgemeinschaften zu verschwinden drohen (Siehe lieux und millieux de memoire bei Nora Pierre: Zwischen Geschichte und Gedächtnis. Berlin 1990, S. 11-15). Das Soldatenlied oder vielmehr das Veteranenlied spielt auf vielfältige Weise damit, wie ein (jüdischer) Soldat unbekannt sein/werden kann: entweder dadurch, dass er im Felde fiel und sein Name nicht bewahrt wurde, oder durch den Versuch, bewahrte Name Gefallener und Überlebender aus dem Erinnerungsdiskurs zu verdrängen.
Transformation und Adaption des Textes
Winzers Text war ab 1933 die offizielle Hymne des Bundes jüdischer Frontsoldaten, die bei sämtlichen Anlässen gespielt wurde. Nach den Februarkämpfen 1934 und der Etablierung des Austrofaschismus änderte Alfred Winzer die Hymne für den Generalappell des Bundes jüdischer Frontsoldaten ab (vgl. Hymn of the Bund jüdischer Frontsoldaten Österreichs (words: Alfred Winzer, music: Kurth Pahlen) Yad Vashem, 030/4):
Der Kaiser rief, – wir eilten zu den Fahnen
Treu dem Gebot der pflichtbewußten Ahnen,
Das uns an Gott und an die Heimat band.
Wir haben in den schicksalsschweren Tagen
Am Feld der Ehre tapfer uns geschlagen –
Mit Gott für Kaiser und für’s Vaterland!Wir standen in der Glut des Weltenbrandes
Als treue Söhne uns’res Vaterlandes
In Nord und Süd in jedem Kampfbereich.
Wir trugen unser Schicksal unverdrossen
Und haben stürmend unser Blut vergossen
Für unser Heimatland, für Österreich. –Wer fragte damals wohl nach Stamm und Rasse?
Die Kugel nicht, auch nicht die breite Masse.
Wir waren alle Brüder, alle gleich.
Nicht Polen waren wir, nicht Tschechen, nicht Kroaten,
Wir waren österreichische Soldaten,
Und kämpften für ein freies Oesterreich.Nun, da es gilt, die Heimat aufzubauen
Nun, da die Männer, denen wir vertrauen
Die Zügel halten in erprobter Hand
Die Männer, die mit uns im Schützengraben
Schulter an Schulter einst gefochten haben
Für Oesterreich, für unser Vaterland,Nun gilt’s, wenn rot-weiß-rote Wimpel wehen
Für Kampfgenossen mannhaft einzustehen,
Zu wehren jedem Judenhaß und Hohn,
Zu bannen jene Falschheit, Schmach und Schande! –
Als Gleichberechtigte in diesem Lande
Woll’n wir Gerechtigkeit, und keinen Lohn.Wir wollen gleiche Pflichten, gleiche Rechte,
Woll’n Kinder dieses Landes sein, nicht Knechte,
Die man als Parias in ein Ghetto sperrt.
Wir kämpften einst für Oesterreichs Schirm und Wehre,
Und kämpfen heut für Judenrecht und -Ehre,
Die ungesühnt man durch die Gosse zerrt. –Mög’ diesem Land die Sonne wieder scheinen!
Mög’ Einsicht alle Landeskinder einen,
Und Frieden herrschen, der die Not verscheuch’!
Dann wird kein Zwist die Aufbaukräfte lähmen,
Dann wird man sich des Judenhasses schämen –
Gott sei mit uns, Gott sei mit Oesterreich! [JF, 31.5.1934, S. 1.]
Die Musik zu der neuen Version wurde von Kurth Pahlen komponiert. In dieser Form wurde die Hymne fortan bei den Einweihungen von Erinnerungstafeln, den jährlichen Heldengedenkfeiern und Generalappellen vorgetragen. 1936 schließlich wurde mit dieser Version der Weltkongress jüdischer Frontsoldaten, der in Wien stattfand, eröffnet (vgl. Korbel: Bund jüdische Frontsoldaten, S. 51).
Der Bund jüdische Frontsoldaten war darum bemüht, auf eine möglichst breite Basis an potentiellen Mitgliedern zurückgreifen zu können. So versuchte die Frontkämpfervereinigung auch Kinder, Jugendliche und Frauen anzusprechen. In der ersten Version des Lied wurden explizit nur die weinenden Mütter als Nachkriegssujet verwendet. Die zweite Version referiert hingegen, in Folge der zunehmenden politischen Gefahr, stärker auf unterschiedliche Bevölkerungsgruppen.
Die evidente Bedrohung und Referenz auf Österreich ist Ausdruck des Hoffens auf ein Weiterbestehen der Ersten Republik, respektive des Austrofaschismus als Gegenposition zum nationalsozialistischen Deutschland. Der Bund jüdische Frontsoldaten bekannte sich zu der austrofaschistischen Regierung (die als „Frontkämpferregierung“ gesehen wurde). Der optimistisch fordernde Duktus ist in der Umbruchssituation und dem Hoffen auf eine damit einhergehende Änderung des Politischen zu sehen.
Fazit
Aus der Hymne des jüdischen Unbekannten Soldaten wurde eine Hymne der sich zu einem – wenn auch faschistischem – Österreich bekennenden jüdischen Frontkämpfervereinigung. In der Form der Hymne des jüdischen Unbekannten Soldaten wurde die Metapher von Gedächtnistkunst und Totenmemoria (vgl. Aleida Assmann: Erinnerungsräume. Formen und Wandlungen des kulturellen Gedächtnis. München 2010, speziell S. 33 und S. 43f.) augenfällig. Durch den Liedern eigenen performativen Charakter – ein Lied ist bekanntlich immer etwas, das durch und in der Aufführung lebt – gingen aktive und passive Komponenten des (kollektiven) Gedächtnisses ineinander über. In der Transformation des Textes zeigte sich letztlich die Dynamik und Wechselseitigkeit von Gedächtnisdiskursen.
Susanne Korbel, Graz und Budapest