Man erkennt den Falken am Flug. Zum Falkenlied des Kürenbergers (um 1155)

Sänger: Knud Seckel

Der von Kürenberg

[Ich zôch mir einen valken]
 
Ich zôch mir einen valken   mêre danne ein jâr.
dô ich in gezamete   als ich in wolte hân
und ich im sîn gevidere   mit golde wol bewant,
er huop sich ûf vil hôhe   und floug in anderiu lant.

Sît sach ich den valken   schône fliegen:
er fuorte an sînem fuoze   sîdîne riemen,
und was im sîn gevidere   alrôt guldîn.
got sende si zesamene   die gerne geliep wellen sîn!


[Ich zog mir einen Falken   länger als ein Jahr
Doch als er, wie ich wollte,   von mir gezähmet war
Und ich ihm sein Gefieder   mit Golde wohl bewand,
Hob er sich auf gewaltig   und flog hinweg in andres Land.

Drauf sah ich den Falken   herrlich fliegen;
Er führt' an seinem Fuße   seidene Riemen,
Auch war ihm sein Gefieder   ganz rot von Gold:
Gott bringe sie zusammen,   die sich einander lieb und hold.]

     [Text und Übersetzung: www.arts.uwaterloo.ca]

Mit dem Falkenlied des Kürenbergers lesen bzw. hören wir ein Lied aus der Anfangszeit des deutschen Minnesangs, die allgemein als ,Phase des donauländischen Minnesangs‘ bezeichnet und auf die ersten beiden Jahrzehnte nach der Mitte des 12. Jahrhunderts datiert wird (vgl. Brunner, 1997, S. 108-116). Die Rede vom ,donauländischen Minnesangs‘ hat sich eingebürgert, weil man zwei Dichter dieser Zeit – Meinloh von Sevelingen und den Burggrafen von Regensburg – geographisch präzise einordnen kann; andere, wie Dietmar von Aist oder unseren Kürenberger wurden dieser Gruppe einfach zugeschlagen, obwohl man sie regional nicht wirklich begründet lokalisieren kann (vgl. Schweikle, 1995, S. 84). Eine Reihe formaler und inhaltlicher Eigenschaften wie Einstrophigkeit, Verwendung von Langzeilen, Halbreimlizenz, Rollenlyrik in Form von Männer- und Frauenstrophen, häufig auch im sog. ,Wechsel‘, gegenständliche Anschaulichkeit u.a. verbinden die frühen Minnelieder und lassen sie gegenüber jenen der Hochphase um 1200 als ,archaisch‘ erscheinen (ebd. S. 84 f.). Bei jüngeren Interpretationen des Falkenlieds habe ich öfter den Eindruck, dass es zu schnell im Lichte eines Kontextwissens interpretiert wird, das aus der Blütezeit der mhd. Literatur abgeleitet wird.

Es scheint nicht unplausibel, in der desaströsen Kreuzzugserfahrung von 1147-49 gewichtige Anstöße für die Entfaltung des Minnesangs im deutschen Sprachgebiet (sowie zeitgleich in Nordfrankreich) zu suchen. Deutsche Ritter kamen während dieses Kriegszugs mit französischen Kollegen in Kontakt, die schon seit ca. 1100 mit dem Phänomen der provenzalischen Troubadourlyrik bekannt waren, lernten den ,Frauenpreis‘ der arabischen Hochkultur kennen und erlebten zugleich einen außerordentlichen moralischen Verfall der Kirche, die bislang das Kulturschaffen in Deutschland dominiert hatte. Der aufflammende Investiturstreit zwischen den sakralen und weltlichen Führungsinstanzen der Christenheit trug vor diesem Hintergrund ebenso zur Entfaltung einer säkularen Kultursphäre bei wie neuartige gesellschaftliche Entwicklungen innerhalb der Adelsschicht (vgl. hier Köhlers ,Ministerialenthese‘ oder das zivilisationsgeschichtliche Erklärungsmodell von Norbert Elias). Sicher hat Günther Schweikle recht, wenn er betont, dass bei der Entwicklung des Minnesangs jede monokausale Theorie zu kurz greift:

„Grundlegend waren wohl die sozialen und mentalen Veränderungen im Verlaufe des 12. Jh.s, die Neustrukturierung der feudalen Gesellschaft […]. Insbes. die Lehensstruktur mit den zentralen Werten dienest und triuwe lieferte eine innerweltliche Werteskala, welche das Funktionieren dieses Sozialgefüges erleichtern und garantieren sollte. Mit den sozialen Entwicklungen vollzog sich auch eine Erkenntniserweiterung, welche die sozialen Bedingtheiten reflektierte, und eine emotionale Bewußtseinsvertiefung, bei welcher v.a. zwischenmenschliche Bindungen wie bes. die Geschlechterliebe, einen neuen Stellenwert erhielten. Aus dieser historischen Realität entnahm der Minnesang seinen Bild- und Vorstellungsrahmen: in der Metapher des Frauendienstes wurde sowohl die Dienstideologie gerechtfertigt und sublimiert, wurden aber auch […] existentielle Probleme ins Bild gefasst.“ (Schweikle, 1995, S. 77 f.)

Das Gesagte darf man für das sog. Falkenlied des Kürenbergers übernehmen, der zwischen 1150 und 1160 aktiv war. Mit ihm, der in den Handschriften, die seine 15 auf uns gekommenen Liedstrophen tradieren, einmal „Der von Kürenberg“, ein andermal „Der herre von Churenberch“ genannt wird, setzt der deutsche Minnesang relativ autonom ein. Vermutlich konnte er aber auf Textformen und Töne der altfranzösischen Troubadourlyrik, auf Motivbestände antiker und mittellateinischer Liebesdichtung sowie auf Gesten und Sprachformeln der Marienverehrung zurückgreifen. Die Manessische Handschrift (auch ,Große Heidelberger Liederhandschrift‘ genannt und in der Mediävistik üblicherweise mit der Sigle C bezeichnet) überliefert auf der Rückseite von Blatt 63 alle fünfzehn Strophen des Kürenbergers, während die Vorderseite des Pergaments eine Miniatur des Sängers zeigt. Die Handschrift markiert zwar den Beginn jeder neuen Strophe mit einer farbigen Initiale, zeigt aber nicht an, wo ein Lied anfängt bzw. endet. Nun war für die Frühzeit des Minnesangs, wie schon oben vermerkt, Einstrophigkeit die Norm, so wie das mhd. Wort liet übrigens auch als Einzelstrophe zu übersetzen ist.

Unter diesen 15 Strophen lassen sich die meisten eindeutig einer männlichen bzw. weiblichen Sprecherinstanz zuordnen. Dass man die achte und neunte Strophe dieser Handschrift zu einem zweistrophigen Text zusammengefasst und – das gilt jedenfalls für die Mehrzahl der heutigen Experten – einer Frau in den Mund gelegt hat, sind schon interpretatorische Entscheidungen (vgl. zur Zuordnungsproblematik Schweikle, 2001, Sp. 451-455). Knud Seckel, unser Sänger im oben verlinkten Video, hängt an das Falkenlied noch eine weitere, thematisch verwandte Strophe an. Dabei handelt es sich um die letzte Kürenberger-Strophe im Codex Manesse (Nr. 15), die eindeutig als Männerstrophe zu betrachten ist und mit Sicherheit nicht als intendierte Schluss-Strophe des Falkenlieds verstanden werden kann. Motiviert hat den Sänger dazu offensichtlich der Umstand, dass in dieser Strophe noch einmal von einem Jagdvogel („vederspil“) die Rede ist. („Vederspiel“ wird wortgeschichtlich erst später die Bedeutung eines Instruments zur Lockung und Zähmung von Beizvögeln annehmen.) In dieser Zusatzstrophe symbolisiert der Jagdvogel aus männlicher Perspektive eine edle Dame. Man sollte sich durch diese Strophenzusammenstellung also auf keinen Fall dazu verführen lassen, das Falkenlied als dreistrophiges Gefüge aufzufassen oder auch nur die beteiligten Personen miteinander zu identifizieren! Für Interessierte gebe ich nachfolgend dennoch den Text der Strophe C 15 wieder:

Wîb und vederspil,   die werdent lîhte zam.
swer sî ze rehte luket,   sô suochent sî den man.
als warb ein schoene ritter   umbe eine frouwen guot.
als ich dar an gedenke,   sô stêt wol hôhe mîn muot.

Zusätzlich verkompliziert wird die Überlieferungslage des Falkenlieds durch eine weitere mittelalterliche Handschrift, das sogenannte ,Budapester Fragment‘ (Sigle Bu, Datierung umstritten; abgedruckt und übersetzt in Minnesang, 2010, S. 13). Die Version dieser Handschrift weicht ein wenig von C 8/9 ab, wobei speziell die Schlusszeile durch ihre Formulierung eine Pointe setzt, die nach Meinung mancher Forscher (zu denen ich mich aber nicht zähle!) den Sinn des Liedes deutlich verändert, je nach Interpretation sogar praktisch umkehrt. In Bu endet das Lied mit der Langzeile got sol si nimmer gescheiden,    die lieb reht einander sîn. (Gott soll sie niemals trennen, die einander richtig liebhaben.) Die zeitliche Relation beider Handschriften zueinander ist unklar, so dass wir nicht eindeutig sagen können, welche Variante die ,ursprünglichere‘ ist.

Zum Einstieg in die Diskussion referiere ich in Grundzügen die Deutung des Falkenlieds in Sieglinde Hartmanns Einführungsbuch Deutsche Liebeslyrik vom Minnesang bis zu Oswald von Wolkenstein (2012, S. 89-95). Wie die überwiegende Mehrheit älterer und neuerer Mediävisten rechnet sie beide Strophen des Falkenlieds einer weiblichen Sprecherinstanz zu, die sich wehmütig daran erinnert, wie ein von ihr offenkundig geliebter und gehätschelter Falke eines Tages das Weite gesucht hat, mit den Worten des Kürenbergers in anderiu lant entschwebt ist. Sie versteht die Formulierung als Anzeichen für Untreue, so dass man die Phrase auch als Durchbrennen, als Aufbruch in fremde Reviere übersetzen könnte. Einem Falken scheint das (ungebundene) Fliegen angeboren, so dass ihm dieses Bedürfnis auch durch liebevolles ,Ziehen‘ (im Sinne von aufziehen), ,Zähmen‘ (im Sinne von erziehen), Schmücken und Fesseln (vgl. die seidenen Riemchen in Str. 2,2 als metaphorische Liebesfesseln) nicht auszutreiben seien. Bis zur vorletzten Verszeile des Gedichts, so Hartmann, könnte man vielleicht noch der Meinung sein, dass eine edle Dame hier lediglich einem durchgegangenen Jagdfalken nachblicke, melancholisch gestimmt, dabei aber immer noch dessen schönen Flug bewundernd. Mit der Schlusswendung werde dann aber doch klar, dass der Jagdvogel nur ein Bild, ein ,Symbol‘ für den verlorenen Geliebten gewesen ist, dem die zurückbleibende Frau gleichwohl seine Freiheit gönnt einschließlich eines möglichen Glücks an der Seite einer Rivalin: Gott schütze die Liebenden und führe sie zusammen! Den Schlussvers wertet Sieglinde Hartmann – wie schon Wapnewski, 1959, S. 12 – als großherzige Geste der  Entsagung einer verlassenen Geliebten. Interpretationen der Segensformel als Bitte um eine zweite Chance für sich selbst oder gar als Ausdruck der Hoffnung auf eine Vereinigung mit dem Geliebten im Jenseits werden zurückgewiesen.

Hartmann befasst sich auch mit der Liedvariante des Budapester Fragments. Hier zeige das Lied einen ganz anderen Frauentypus, deren Herz „von kleinlichen Bedenken erfüllt“ sei (S. 90) und der der „fürstliche Großmut“ der Liebenden aus Handschrift C völlig abgehe. Das zeichne sich schon in Str. 1, V. 2 ab, wo die Formulierung des ersten Halbverses als ich in dô getrûte so zu verstehen sei, dass die Dame hier den Falken auf sich zu prägen, nicht aber zu höfischer Vollkommenheit zu erziehen suche. In der Schlusszeile des Lieds bitte sie Gott eigensüchtig, Liebende nicht zu trennen, da sie den Geliebten nicht loslassen könne und ihm seine Freiheit nicht gönnte.

Der Kürenberger hat seine überliefertes Gesamtwerk nur auf zwei verschiedene Töne gedichtet; dreizehn seiner fünfzehn Strophen nehmen dabei die Strophenform des später verfassten Nibelungenliedes vorweg. Auch unser Falkenlied folgt diesem metrischen Schema, das sich aus vier Langzeilen mit Zäsur nach der dritten bzw. vierten Hebung zusammensetzt, die An- und Abvers trennt. Die Langzeilen reimen paarweise, wobei in der Frühphase des deutschen Minnesangs noch kein Zwang zum reinen Reim bestand – wie z.B. die ersten beiden Verse erkennen lassen. Aber nicht nur die Strophenform verbindet das Falkenlied des Kürenbergers mit dem deutschen Nationalepos, auch das Falkenmotiv taucht dort in Kriemhilds Traum wieder auf. Sieglinde Hartmann kommentiert diese Parallelen und betont den symbolischen Gehalt des Falkenmotivs für ein neues heldisches Ideal des hohen Mittelalters: Hatte man früher große Krieger mit starken wilden Tieren wie Löwen, Wölfen oder Ebern verglichen, um ihren Mut oder ihre Kampfeskraft zu preisen, so tritt uns im Falkenlied des Kürenbergers und im Kriemhildentraum des Nibelungenlieds plötzlich ein völlig gewandeltes Männlichkeitsideal entgegen, „das von inneren Werten geprägt ist, von höfischer Erziehung und Frauenminne“ (S. 95).

Die bislang referierte Interpretation des Falkenlieds durch Sieglinde Hartmann erscheint durchaus eingängig, verliert aber an Überzeugungskraft, sobald man sich mit der langen Kette unterschiedlichster Deutungsversuche dieses berühmten Textes befasst. Die Reihe einschlägiger Interpretationsversuche reicht bis in die Anfänge der institutionalisierten Hochschulgermanistik bei Wilhelm Scherer zurück und ist bis auf den heutigen Tag nicht abgerissen. So ist man im Laufe der Zeit z.B. darauf gekommen, das Lied ganz wörtlich zu nehmen und jeden symbolischen Überschuss abzulehnen: Dann ginge es einfach um den Verlust eines wertvollen Jagdvogels und die Trauer des Falkners. Da viele Gedichte des frühen Minnesangs bekanntlich der Form des sog. Wechsels (Abwechslung monologischer Männer- und Frauenstrophen) folgen, suchten mehrere Interpreten nach sinnvollen Konstellationen, die einen Wechsel männlicher und weiblicher Sprecherinstanzen rechtfertigen würden; so kam man auf die Idee, dass der Falke ein Liebesbote sein könnte (vgl. Hatto, 1959), den ein Ritter in der ersten Strophe zu seiner Herzensdame fliegen lässt und der von dieser in der zweiten Strophe erkannt und freudig begrüßt wird. Ein Wechsel wurde versuchsweise aber auch durch die Auffassung des Textes als Brautlied (vgl. Jansen, 1970) begründet: ein Vater würde seine erwachsene Tochter schweren Herzens ziehen lassen, die Schlusszeile sei Teil einer Hochzeitsliturgie. Aber auch bei der Annahme einer identischen Sprecherinstanz in beiden Strophen könnte man auf die Idee kommen, dass hier keine Geliebte spricht, sondern eine liebende Mutter, die ihren gerade ,flügge‘ gewordenen Sohn als Ritter in die Welt entlässt, womöglich gar zu einem Kreuzzug …

Um sich nicht in einer Fülle von Spekulationen zu verlieren, scheint es mir unumgänglich zu sein, zwei Fehler zu vermeiden: Einerseits sollte man sich diesem Lied nicht ohne solide Vorkenntnisse in mittelalterlicher Falknerei (und der einschlägigen Fachterminologie, vgl. Reiser, 1963) zuwenden, andererseits ist es bei Interpretationsthesen fatal, zeitliche Kausalitäten vertauschen, also etwa von hochmittelalterlichen Belegen (nehmen wir etwa Kriemhildens  Falkentraum) her den Sinngehalt des Kürenberger-Gedichts aus der Frühphase des mhd. Minnesangs festzulegen. Um entsprechende Fehlschlüsse zu vermeiden, ist es auch nützlich zu wissen, dass und wie sich die Falknerei bzw. höfische Beizjagd in deutschen Landen zwischen 1150 und 1250 entwickelt hat. Einschlägige Arbeiten betonen, dass diese Entwicklung rasant war, die Beizjagd zu Anfang der genannten Zeitspanne z.B. noch von der Kirche verketzert wurde, an ihrem Ende aber als prestigeträchtigster Trendsport der gesellschaftlichen Elite zu sehen ist, der selbstverständlich auch von Fürstbischöfen mit größtem Pomp zelebriert wurde (vgl. Die Beizjagd, 1979; Falknerei, 1989; „Von der Kunst mit Vögeln zu jagen“, 2008).

Fundiertes Wissen zur mittelalterlichen Falknerei und seiner literarischen Verwertung stellt Irmgard Reiser in ihrer Dissertation von 1963 zur Verfügung, die sich laut Titel mit dem Falkenmotiv der mhd. und frühneuzeitlichen Dichtung befasst. Dank ausgezeichneter Fachkenntnisse – praktischer wie terminologischer Art – kann die Autorin die ersten sieben Gedichtzeilen des Falkenlieds überzeugend auf den Vorgang der Aufzucht eines Jagdfalkens über die kritische erste Mauserphase hinaus bis zum ersten, immer hochriskanten Freiflug und darüber hinaus erklären (vgl. S. 139-144). Dieser Freiflug misslingt gründlich; die Formulierung in 1,4 in anderiu lant bedeutet in der mhd. Fachsprache der Falkner, dass sich der Vogel ,verstieß‘, also nicht auf das Luder zurückkam. Aus der Tatsache, dass sich der Falke gegen den Willen seines Herrn/seiner Herrin entfernte, ist aber weder auf eine böse Absicht, auf Untreue oder überhaupt auf bewusste Absicht zu schließen noch auf eine unwiderrufliche Flucht in die Freiheit. Dass sich ein Beizvogel verfliegt und nicht zurückfindet ist grundsätzlich immer möglich und Teil des Nervenkitzels dieses Jagdsports. Der erste Halbvers der vierten Zeile deutet sogar einen möglichen Grund für das Verstoßen an: er huop sich ûf vil hôhe. Dass ein Falke ,sehr hoch‘ aufsteigt, belegt einerseits den besonderen Adel und Wert dieses speziellen Vogels, der dadurch beweist, dass er für die ,edelste‘ und angesehenste Form der Beizjagd, nämlich die in luftiger Höhe auf Milane oder Reiher geeignet ist, andererseits kann bei zu großer Flughöhe die Verbindung zum Falkner leicht abreißen und der Falke die Orientierung verlieren.

Zu Beginn der zweiten Strophe sieht der Falkner, der eindeutig dieselbe Sprecherinstanz von Strophe 1 darstellt, seinen Vogel schône, d.h. in prächtigem Flug, über dem heimischen Revier kreisen. Der Falke, der vom Falkner in Str. 2,2 und 3 an Geschüh und Jagdschmuck eindeutig wiedererkannt wird, hat also zu seinen heimischen Gefilden, aber nicht zum Luder seines ehemaligen Besitzers zurückgefunden. Nun stellt sich die höchst spannende Frage, wie die Geschichte zu Ende geht. Die Schlusszeile gibt darauf keine endgültige Antwort, aber sie öffnet die Erzählung vom entflogenen Jagdfalken durch ihre allgemein gehaltene, gebetsartige Formulierung für weitere Sinn-Aufladungen in Richtung eines erotischen Verhältnisses zwischen Falkner(in) und Geliebter/ Geliebtem. Diverse gesellschaftliche und literarische Kontexte (im Kürenberger-Strophenverbund, im Minnesang-Kontext usw.) sprechen dafür, die Falkner-Rolle einer Frau, die Falken-Rolle einem Mann zuzuweisen. Somit kann der Schlussvers, wie oben im Anschluss an Sieglinde Hartmann referiert, als ,seelischen Kraftakt‘ (Formulierung von Peter Wapnewski) der Entsagung gedeutet werden, bietet gleichwohl andere mögliche Lösungen an. Die Sprecherin könnte ja auch Gott bitten, sie und ihren nahen (!) Geliebten wieder zusammenzuführen, oder aber – vom eigenen Schicksal, dem gegenseitige Liebe nun einmal nicht gegönnt war, abstrahierend – darin glücklicheren Paaren Gottes Segen wünschen (vgl. Reiser, 1963, 149).

Zustimmen könnte ich aber auch der offener gehaltenen Deutung Gayle Agler-Becks (1978), die Reisers ,falknerischen‘ Ausführungen für die ersten sieben Verse folgt, sich aber weigert, die Sprecherrolle als weiblich zu spezifizieren und im Grunde nur an einer emotionalen Grundstruktur mit den Konstituenten ,Verlusterfahrung‘, ,Liebe‘, ,Ungewissheit‘, ,Sehnsucht‘ und ,Hoffnung‘ (vgl. auch Hensel, 1997, S. 36-38) festhält: „In the training and care of a falcon and ist subsequent loss, a process and situation is described which has human significance. To specify further by fixing the roles and the utterances ist to rob the poem of its essential quality, that of the universality of the experience of joy and pain, liep and leit, vröide and trûre. It is an experience which applies to two lovers, two friends, to any pair in any combination” (S. 128). Mit dieser Interpretation kann ich gut leben.       

Hans-Peter Ecker, Bamberg

Literatur

Gayle Agler-Beck: Der von Kürenberg: Edition, Notes and Commentary. Amsterdam: John Benjamins, 1978 (German Language and Literature Monographs 4).

Horst Brunner: Geschichte der deutschen Literatur des Mittelalters und der Frühen Neuzeit im Überblick. Stuttgart: Reclam, 1997 (RUB 17680).

Die Beizjagd. Ein Leitfaden für die Falknerprüfung hrsg. von Heinz Brüll. Hamburg und Berlin: Paul Parey, 3., neubearbeitete Aufl. 1979.

Sieglinde Hartmann: Deutsche Liebeslyrik vom Minnesang bis zu Oswald von Wolkenstein. Wiesbaden: Reichert, 2012 (Einführung in die deutsche Literatur des Mittelalters 1).

A. T. Hatto: Das Falkenlied des Kürenbergers. In: Euph. 53 (1959), S. 20-23.

Andreas Hensel: Vom frühen Minnesang zur Lyrik der Hohen Minne. […] Frankfurt a. Main u.a.: Lang, 1997 (Europäische Hochschulschriften 1611).

Rudolf K. Jansen: Das Falkenlied Kürenbergs. Eine Arbeitshypothese. In: DVjs 44, 1970, S. 585-594.

Minnesang. Mittelhochdeutsche Liebeslieder. Eine Auswahl. Mittelhochdeutsch/ Neuhochdeutsch. Hrsg., übersetzt und kommentiert von Dorothea Klein. Stuttgart: Reclam, 2010, S. 204-206.

Irmgard Reiser: Falkenmotive in der deutschen Lyrik und verwandten Gattungen vom 12. bis zum 16. Jahrhundert. Diss. Augsburg 1963.

Günther Schweikle: Minnesang. Stuttgart und Weimar: Metzler, 2., korr. Aufl. 1995 (Sammlung Metzler 244).

Günther Schweikle: Kürenberg (Der von Kürenberg) (1984). In: Deutschsprachige Literatur des Mittelalters. Studienauswahl aus dem ,Verfasserlexikon‘ (Band 1-10) besorgt von Burghart Wachinger. Berlin und New York: de Gruyter, 2001, Sp. 449-456.

„Von der Kunst mit Vögeln zu jagen“. Das Falkenbuch Friedrichs II. Kulturgeschichte und Ornithologie. Begleitband zur Sonderausstellung „Kaiser Friedrich II. (1194-1250). Welt und Kultur des Mittelmeerraums“ im Landesmuseum für Natur und Mensch Oldenburg. Hrsg. von Mamoun Fansa und Carsten Ritzau. Mainz: Philipp von Zabern, 2008 (Schriftenreihe des Landesmuseums für Natur und Mensch 56).

Peter Wapnewski: Des Kürenbergers Falkenlied. In: Euph. 53 (1959), S. 1-19.

Kann Spuren von Liedtext enthalten. Zu Knorkators „Zoo“

Florian Seubert gewidmet

 

Knorkator

Zoo

Elefanten, Pinguine, Leoparden und Delphine
Fledermäuse, Paviane, Wasserbüffel, Pelikane
Dromedare, Borkenkäfer, Krokodile, Siebenschläfer
Schildkröten, Nacktschnecken, Kängurus, Marabus und Heuschrecken

Nasenbären, Schnabeltiere, Erdmännchen und Tapire
Schwarzer Panther, Weißer Hai, Orang-Utan und Papagei
Skorpione, Leguane, Klapperschlangen und Kormorane
Zwergmakaken, Zwergmapissen, Kapuzineraffen und Hornissen

Zoo, Zoo, Zoo
Zoo, Zoo, Zoo

Vogelspinne, Seidenraupe, Ringelnatter und Turteltaube
Antilope, Tiger, Löwe, Pferd, Hund, Schaf, Katze, Maus und Möwe
Nachtigall, Oktopus, Storch, Koala, Hängebauchschwein, Anakonda, Impala
Buntspecht, Waschbär, Frosch und Libelle, Nacktnasenwombat und Gazelle

Zoo, Zoo, Zoo
[…]

     [Knorkator: We want Mohr. Tubareckorz 2014.]

Was ist ein Liedtext? Lassen sich beliebige Worte, die über Musik gesungen werden, bereits als ein Liedtext, als, wie es in der Beschreibung dieses Blogs heißt, „Lyrik“, bezeichnen? Im Nachfolgenden soll diese Frage bei der Interpretation eines auf den ersten Blick eher banalen Textes der Berliner „Spaßrocker“ Knorkator im Mittelpunkt stehen. Dabei wird argumentiert, dass es sich bei dem Liedtext zum 2014 erschienen Zoo um eine Art dekonstruierten Liedtext handelt, der nur noch in Ansätzen traditionellen Lyrics ähnelt. Mit ihrer inhaltlich und stilistisch minimalistischen Herangehensweise machen sich Knorkator auch über die in vielen (modernen) Liedtexten vorhandenen sprachlichen Unzulänglichkeiten lustig.

Doch zum Text: Es handelt sich dabei um eine Aufzählung von Tieren. Denkbar wäre als Sprecher ein kleines Kind, das sich durch einen Zoo bewegt und Tiernamen auf den dazugehörigen Schildern liest, unterbrochen von gelegentlichen „Zoo“ Schreien. Aber das ist reine Spekulation und würde vielleicht sogar die Intention des Textes verfehlen. Denn ein Charakteristikum ist eben, dass es kein Narrativ gibt und kein Spaziergang durch einen Zoo beschrieben wird, sondern der Text lediglich aus den Elementen ‚Tier‘ und ‚Ort‘ besteht, die von einer gänzlich unbekannten Sprech-Instanz aufgezählt werden.

Übergeordnete Ordnungsprinzipien sind dabei kaum zu erkennen. Lediglich in der zweiten Zeile der dritten Strophe lässt sich so etwas wie ein gemeinsamer Nenner erkennen. Zunächst werden die exotischen Tiere „Antilope, Tiger, Löwe“ erwähnt, denen dann Bauernhoftiere folgen („Pferd, Hund, Schaf, Katze, Maus“). Doch sogar diese lose Ordnung wird dann durch das letzte Tier in der Reihe, die Möwe, wieder gebrochen. Diese würde wohl eher in eine Kategorie mit Küstentieren passen.

Daneben bildet die Zeile ohnehin die Ausnahme und andere Zusammenstellungen scheinen gänzlich zufällig. Ein Beispiel: „Nachtigall, Oktopus, Storch, Koala, Hängebauchschwein, Anakonda, Impala“. Hier werden sowohl lokale als auch exotische, gefährliche und harmlose, in Gewässern lebende, aber auch auf dem Land beheimatete Lebewesen genannt, Vögel, Säugetiere, ein Reptil und mit dem Oktopus ein Weichtier werden aufgezählt.

Natürlich gibt es doch ein übergeordnetes Ordnungsprinzip, nämlich den (wohl imaginären) Zoo. Und selbstverständlich gibt es innerhalb vieler Genres, beispielsweise beim Musiktheater, interessante Texte, die sich vor allem mit Tieren beschäftigen und im Rahmen der animal studies immer wieder analysiert werden. Mit dem Rahmen des Zoos hat Knorkators Text noch Ansätze eines konventionellen Textes, irgendeine Art von Zusammenhang. Aber es gibt kein Narrativ, keine Moral und keine Handlung. Doch deskriptiv ist der Text auch nicht, denn die Tiere und der Zoo werden nicht näher beschrieben.

Stilistisch und sprachlich arbeitet der Text auf einer ähnlichen Ebene: Genauso wie der große Zusammenhang ‚Zoo‘ einen sehr losen Rahmen gibt, werden auch einfache Stilmittel verwendet. Man könnte den Text damit als minimalistisch, vielleicht sogar partiell dekonstruiert, bezeichnen. Es wird mit dem denkbar einfachsten Stilmittel gearbeitet, einem reinen Reim („Pinguine […] Delphine“, „Schnabeltiere […] Tapire“). In der Grundschule schon gelernt, handelt es sich dabei um eines der zugänglichsten und elementarsten Stilmittel.

Daneben gibt es weitere rhetorische Figuren. Der Gegensatz zwischen „Schwarze[m] Panther“ und „weiße[m] Hai“ stellt eine Art sprachliche Antithese dar. Der Verweis auf „Frosch und Libelle“ stellt hingegen eine Art biologischen Gegensatz dar, bei dem der Frosch als natürlicher Feind der Libelle fungiert. Hier und da finden sich noch weitere Stilmittel, so die Alliteration bei „Maus und Möwe“ oder die Wiederholung im Refrain und natürlich die Aufzählung selber. Bedenkt man aber, dass der Text eine gänzlich lose Struktur hat und somit alle Türen für die Verwendung von Stilmitteln offenständen, ist ihre Verwendung relativ spärlich.

Dennoch zeigt der Text auch eine gewisse Freude an den Tiernamen. So ist es wohl kein Zufall, dass komische Namen wie Hängebauchschwein und Nacktnasenwombat im Text Verwendung finden. Der komischen Wirkung dient ebenfalls die Erfindung von „Zwergmapissen“, einer fäkalhumoristischen Analogbildung zu den tatsächlich existenten „Zwerkmakaken“.

Sowohl wegen der Stilmittel, als auch der Verwendung solcher Tiernamen handelt es sich bei dem Text dann doch um etwas mehr als eine bloße Aufzählung. In diesem Sinne hat der Liedtext dann wieder mehr mit traditionellen Lyrics gemein, als dies das fehelende Narrativ nahelegen würde. Ganz so radikal wie er erscheint, ist der Text auf dieser Ebene doch nicht, was fragen lässt, ob jeder Liedtext zumindest ein paar Stilmittel benötigt, um zu funktionieren, sogar ein radikaler wie der Knorkators.

Wenden wir uns abschließend noch dem Refrain zu. Als hätte man nach einer Erwähnung des gemeinsamen Nenners nicht schon das recht einfache Prinzip des Liedtextes durchschaut wird einem im Refrain das Wort ‚Zoo‘ geradezu um die Ohren gehauen. Der Rahmen wird so der Zuhörerin oder dem Zuhörer im Refrain fast schon penetrant nahegelegt. Dies wird übrigens musikalisch auch durch die andere Singtechnik im Refrain, eine Art growling, besonders deutlich.

Schließlich wird der Text zum Ende hin dann vollständig dekonstruiert. Nachdem in den drei Strophen noch Tiere genannt wurden, kommt es dann nur noch zur sinnfreien Wiederholung des Wortes Zoo, das dann schließlich in einem „Ooo“ endet, womit das Wort durch einen Laut ersetzt wird und somit der Minimalismus und die Dekonstruktion zu ihrem logischen Schluss kommen.

Was, also, kann uns der Liedtext über das Genre des Liedtextes beibringen? Die Abwesenheit einer Handlung gibt anderen Liedtexten, die eine Geschichte erzählen, schärfere Konturen und verdeutlicht, dass irgendeine Art von Aussage oder Handlung gemeinhin als zentraler Bestandteil eines Textes verstanden wird. Handelt es sich also bei dem Knorkator-Text überhaupt nicht um einen Liedtext, sondern etwas anderes? Reicht es einige Tiere aneinanderzureihen? Eine ähnliche Kohärenz hätte beispielsweise ein vertonter Einkaufszettel. Im Sinne der Arbeiten von John Cage ließe sich auch Fragen, ob es einen Liedtext ohne Text geben kann.

Interessant ist die Herangehensweise von Knorkator auch, weil sie andere Texte (vermutlich unbewusst) ad absurdum führt. Der an anderer Stelle auf diesem Blog kritisch besprochene Liedtext von Adel Tawils Lieder  stellt beispielsweise eine ähnliche Aneinanderreihung von Liedtextzitaten anderer Künstlerinnen und Künstlern dar, wie sie auch bei Knorkator in der Kategorie ‚Tiere‘ zu finden ist. Im Gegensatz zu diesem Text aber versucht Knorkator anhand einer solchen Aneinanderreihung nicht größere Zusammenhänge darzustellen, sondern lässt den Text einfach so stehen. Wie die Frage, was nun einen Liedtext ausmacht, keine klare Antwort hat, bleibt Knorkators Text im Raum stehen. Zusammenhänge oder ein Narrativ können sich im Kopf der Leserinnen oder Leser bilden – oder der Text kann einfach ohne einen solchen Zusammenhang stehen bleiben. Eine Funktion kann dabei natürlich auch ein so dekonstruierter Text erfüllen. Im hier vorgestellten Beispiel stehen vermutlich humoristische Aspekte im Vordergrund.

Knorkators Text kann in dieser Lesart auch als Kritik an einer verkrampften Suche nach Sinnzusammenhängen in Texten verstanden werden. So könnte man argumentieren, dass Knorkator damit die Häufung an schiefen Metaphern und inhaltlich fragwürdigen Liedtexten kritisiert.  Solche fehlgeschlagenen Versuche besonders literarisch wertvolle Texte zu kreieren wurden auf diesem Blog auch immer wieder besprochen (etwa Hämatoms Zu wahr um schön zu sein).Knorkator hingegen benutzten zwar Stilmittel, aber nicht im Übermaß. Vielleicht auch, weil sie ihre rhetorischen Grenzen einzuschätzen wissen und deshalb mit einfachen Reimen zufrieden sind. Damit unterwandern Knorkator letztlich den Zwang besonders wertvolle Lyrik zu schaffen und hinterfragen stattdessen auf eine radikale Weise, was ein Liedtext überhaupt ist.

Martin Christ, Tübingen

Einmal Dieb, immer Dieb: „Fuchs, du hast die Gans gestohlen“ von Ernst Anschütz (1824)

Ernst Anschütz

Fuchs, du hast die Gans gestohlen

Fuchs, du hast die Gans gestohlen,
gib sie wieder her,
gib sie wieder her,
sonst wird dich der Jäger holen
mit dem Schießgewehr,
sonst wird dich der Jäger holen
mit dem Schießgewehr.

Seine große, lange Flinte
schießt auf dich den Schrot,
schießt auf dich den Schrot,
dass dich färbt die rote Tinte
und dann bist du tot.

Liebes Füchslein, lass dir raten,
sei doch nur kein Dieb,
sei doch nur kein Dieb,
nimm, du brauchst nicht Gänsebraten,
mit der Maus vorlieb.

     [Text nach Ingeborg Weber-Kellermann: Das Buch der Kinderlieder. Mainz 1999, 
     S. 108.]

Wie in so manchem Kinderlied älterer Bauart und ländlicher Herkunft (vgl. Alle meine Entchen) geht es mal wieder ums liebe Essen, hier speziell im Modus des Futterneids. Eine Gans ist weg und schon ist der Schuldige ausgemacht: Reinecke Fuchs! Im Lied wird mit keinem Wort angedeutet, dass man ihn in flagranti ertappt hätte (dafür ist er ja auch zu gerissen!), kein Zeuge hat am vermeintlichen Tatort seine Lunte gesichtet, geschweige denn sein Kennzeichen notiert. Nicht einmal einen genetischen Fingerabdruck scheint es zu geben – aber für die Sprechinstanz ist dennoch sofort ausgemacht, dass nur der berüchtigte Rotrock vom Stamme der Hundeartigen (Canidae) als Täter in Frage kommt. Obwohl sich die gegebene Indizienlage denkbar bescheiden ausnimmt, droht der Kläger dem Fuchs mit dem allmächtigen Sheriff des Märchenwalds, dem Jäger, der bekanntlich schon mit härteren Brocken – ich erinnere nur an Rotkäppchens Isegrim – kurzen Prozess gemacht hat.

Bei einem ordentlichen Gerichtsverfahren hätte ich als Reinekes Verteidiger zunächst einmal eingewandt, dass ja noch gar nicht ausgemacht ist, dass der abgängigen Gans etwas Schlimmes zugestoßen ist. Man wisse ja, wie neugierig diese großen Entenvögel, zumal im Teenie-Alter, zu sein pflegen: „Gänschen klein, ging allein, in die weite Welt hinein …“. Ein paar Tage später finden sich die naseweisen Ausreißer dann regelmäßig wieder bei Muttern ein: „… aber Mama weinte sehr, weil sie hat kein Gänschen mehr, da besinnt sich das Kind, eilt nach Haus geschwind.“ Vermutlich würde der Staatsanwalt darauf dem Gericht als Beweisstück ein Exemplar der Mittelbayerischen Zeitung vom 11. Juni 2009 präsentieren, worin von einem rheinland-pfälzischen Fuchs berichtet wird, der im Dorf Föhren über einige Wochen hinweg über 120 Schuhe geklaut hat; da sehe man es: Füchse sind chronische Diebe und wer vor den Schuhen seiner Nachbarn nicht zurückschreckt, habe sicher auch keine Hemmungen vor arglosen Gänsen! Nicht von ungefähr habe die christliche Ikonographie die Sünde über Jahrhunderte hinweg als Fuchs personifiziert …

Die Verteidigung empörte sich daraufhin medienwirksam, ließe beiläufig Reizwörter wie „Generalverdacht“, „Pauschalisierung“ oder „Rassismus“ fallen, um zu guter Letzt als Trumpf-As einen Artikel der Augsburger Allgemeinen vom 29. Dezember 2009 aus dem Ärmel zu ziehen, der vom friedlich-multikulturellen Zusammenleben von Füchsen und Brandgänsen berichtet, und zwar ausgerechnet in Malepartus (Fuchs-Kessel), also quasi im Herzen der Finsternis. Wobei wir unser besonderes Augenmerk auch noch auf den Aspekt legen sollten, dass Brandgänse (Tadorna tadorna) als Halbgänse eine ziemlich kleine, für Füchse eigentlich mundgerecht proportionierte Gänsespezies darstellen. Spätestens hier dürfte die Anklage in sich zusammenbrechen.

Ich vermute, dass die Sprechinstanz unseres Liedes einen solchen – oder ähnlichen – Verlauf eines ordentlichen Prozesses antizipiert hat, weshalb sie sich in der zweiten Strophe statt aufs Argumentieren gleich aufs Drohen verlegt und dem auserkorenen Übeltäter einen Lynchakt mit blutigen, pardon! tintenroten Farben ausmalt. In Kommentaren zum Lied fand ich die Meinung, dass vom Autor die rote Tinte ins Spiel gebracht wird, um die Grausamkeit der Szene für zarte Kinderseelen abzumildern. Das glaube ich nun mitnichten, sondern gehe vom genauen Gegenteil aus. Bauernkindern des frühen 19. Jahrhunderts dürfte Tierblut eine vertraute Flüssigkeit gewesen sein, die mit so angenehmen Vorstellungen wie Schlachtfesten, Blutwürsten, rotem Pressack und ähnlichen Köstlichkeiten verbunden war. Zu roter Tinte sind ihnen dagegen vermutlich öffentliche Demütigungen, Prügelorgien und andere traumatische Erfahrungen eingefallen.

Die Sache mit der roten Tinte bestätigt m. E. auch die Autorschaft von Ernst Anschütz (1780-1861), der das Lied vom Gänseklau erstmals in seinem Musikalischen Schulgesangbuch (1. Heft, Leipzig 1824, S. 38; Angabe nach Weber-Kellermann 1997, S. 108) veröffentlicht hat. Anschütz, übrigens auch Verfasser des beliebten Weihnachtsliedes O Tannenbaum, war hauptberuflich Lehrer und wusste damit sicher bestens über die Möglichkeiten psychologischer Kriegsführung vermittels roter Tinte Bescheid. Mit dieser Anmerkung will ich aber nicht das herausragende musikalische Talent des Verfassers schmälern, der mehrere Instrumente spielte, ein glänzender Organist war und auch die Kunst des Töne-Setzens beherrschte. Die Melodie von Fuchs, du hast die Gans gestohlen stammt dessen ungeachtet nicht von ihm, sondern gilt als volkstümlich und wurde schon für ein Vorgängerlied (Wer die Gans gestohlen hat) verwendet.

Gerade noch in Lynch-Stimmung, rudert die Sprechinstanz in der dritten Strophe mit voller Kraft zurück. Anstatt dem schlimmer Gewalttaten Verdächtigten mit phallischen Flinten, Schrot und pädagogischen Schreckensinsignien zu drohen, bietet sie dem – unversehens verniedlichten – „Füchslein“ einen Handel an: Es solle vom Gänsebraten Abstand nehmen und sich stattdessen von Mäusen ernähren. Ohne Futterkonkurrenz ließe es sich miteinander aushalten. Ich denke, dass sich Reinecke darauf einlassen wird, entsprechen wehrhafte Gänse seinem Beuteschema doch weit weniger als Mäuse. Dass er damit dem Menschen noch sog. ,Schädlinge‘ vom Leib hält, wird er als Teil des Deals billigend in Kauf nehmen. Moderne Füchse, die sich für ein urbanes Leben entschieden haben, bevorzugen übrigens Müll, was aber auch in Ordnung geht, oder?

Hans-Peter Ecker (Bamberg)

Frechheit siegt! „Ich hab drei Haare auf der Brust“ von Bernd Stelter (2001)

Bernd Stelter

Ich hab drei Haare auf der Brust

Ich kam zur Welt mit gut zwölf Pfund, die Mama hat geflucht.
Der Doktor schrieb erst mal'n Briefchen an das Guinnessbuch.
Den ganzen Kopf voll Glatze, wie's für's Baby sich geziert,
nur wo die Haare waren, hat die Mama irritiert:

Ich hab drei Haare auf der Brust, ich bin ein Bär.
Ich zähl sie jeden Tag, es werden halt nicht mehr
So ein Bär scheut in der Tierwelt überhaupt keinen Vergleich,
man kann mit Bären prima kuscheln, denn so'n Bär is herrlich weich.
Wer's einmal ausprobiert hat, will immer mehr – 
ich hab drei Haare auf der Brust, ich bin ein Bär!

[Zusatzstrophe]
Das erste schöne Mädchen hatte ich mit achtzehn Jahrn,
die Bude frei, weil meine Eltern grad beim Kegeln warn.
Keine vier Minuten und wir standen nackig da;
was hat sie sich erschrocken, als sie's Stummelschwänzchen sah:

Ich hab drei Haare auf der Brust, ich bin ein Bär [...] 

„Sie wolln die Hand von meiner Tochter?“, sprach ihr Vater „Komm‘ Se rein!“
Ich sagte „Nur die Hand? Da fällt mir noch was Lustigeres ein...“
„Sie ham‘ kein Haus, kein Boot, kein Auto, also Sie machen mir Spaß!
Sie ham‘ nich mal Kleingeld für die Parkuhr – ham‘ Sie irgendwas?“ 

Ich hab drei Haare auf der Brust, ich bin ein Bär [...] 

Der Vollmond schien, es war November, es war unsre Hochzeitsnacht.
„Na und, wann geht‘s denn weiter?“ hat sie hinterher gefragt.
Nu sei mal nich so ungeduldig, sei schön sittsam und schön brav,
denn so‘n richtig dicker Bär hält nach der Paarung Winterschlaf.

Ich hab drei Haare auf der Brust, ich bin ein Bär [...] 

    [Bernd Stelter: Ich hab drei Haare auf der Brust. Eastwest 2001.]

Bernd Stelter ist ein ebenso vielseitiger wie beliebter Entertainer. Obwohl aus Unna, einer westfälischen Stadt am östlichen Rande des Ruhrgebiet stammend, wo bekanntlich nur ab und an einmal mit der Luftschlange gearbeitet wird, fasste er schon 1988 im Kölschen Karneval Fuß und gilt dort seitdem als feste Größe. Sein Bärenlied war bzw. ist bis heute wahrscheinlich sein größter Erfolgs-Hit. Die Gründe liegen auf der Hand: Erstens ist die Logik des selbstbewusst vorgetragenen Schlusses von drei Brusthaaren auf Bären-Status frappierend komisch; zweitens verkörpert Bernd Stelter figürlich die Maskulinität des vollschlanken Kuschelbärs so sympathisch, dass ihn ein großer Teil des männlichen Publikums mit suboptimalem body shape unschwer zum Rollenvorbild erwählen kann und drittens gewinnt er auch die anwesenden Frauen durch Selbstironie, indem er den mit der Bären-Metaphorik indirekt erhobenen Potenzanspruch witzig mit einer überraschenden Begründung (ein Bär braucht seinen Winterschlaf) zurücknimmt.

Stelters Bärenlied ist – wie viele andere Karnevalslieder auch – ein ,Balzlied‘, das vor Frauen männliche Qualitäten ausstellt; allerdings findet der Sänger dabei einen originellen, durch Witz und Selbstironie bestimmten Weg ins weibliche ,Herz‘. Er parodiert das traditionelle Balzverhalten des Mannes, das Stärke, Macht und Potenz als Argumente auffährt, dabei im Subtext aber auch Dominanzansprüche artikuliert. Stelters Bären-Nummer schüchtert nicht ein, sie zwinkert der angebalzten Frauenschaft auf Augenhöhe zu. Intelligente Frauen, die ein wenig über die erste Nacht hinauszudenken pflegen, werden die partnerschaftlichen Qualitäten eines solchen Menschen wahrscheinlich erkennen und schätzen, selbst wenn der „kein Haus, kein Boot, kein Auto“ (vgl. die bekannte Sparkassen-Werbung) vorzuweisen hat. (Denk ich jedenfalls mal …)

Allerdings lässt sich unser Karnevalslied mit seinem einprägsamen Refrain nicht nur als originelles Balzlied verstehen, sondern auch als Satire auf einen Zeitgeist, dem der Sprecher Hochstapelei und dreistes Anspruchsdenken als Normalverhalten unterstellt. So wie unser Held mit seinen drei Brusthaaren von der Gesellschaft als ,Bär‘ akzeptiert wird, behauptet das Lied auf seiner satirischen Sinnebene, machen heutzutage auch Dumm- und Windbeutel ohne Sachkompetenz Karriere in Politik, Wirtschaft, Wissenschaft und Kultur, weil den Menschen die Maßstäbe fehlen, Schein und Sein zu unterscheiden.

Beide Aspekte gehören zusammen: augenzwinkernde Selbstironie als erotische Strategie und satirische Entlarvung einer dekadenten Gesellschaft, deren Spitzenränge von den dreistesten Eseln besetzt werden. Der Esel ist übriges das Symboltier von Unna (vgl. u.a. die dortige Tierparade von 2009), nicht der Bär.

Hans-Peter Ecker, Bamberg

Man vgl. zum Thema ,Winterschlaf‘ Ludwig Hirschs ebenso betitelten Sprechgesang.

In der Pfanne sind alle Braten grau – miau, miau, miau! „De Wienanz han ‘nen Has‘ em Pott“ von Willi Ostermann (1908)

Willi Ostermann

De Wienanz han ´nen Has´ em Pott 

Em Laurenzgittergäßje, do eß bekränz en Huhs.
Am ehzte Stock vun bovve kütt decke Qualm eruhs.
Die Kinder sin am springe un zweschendurch, wie doll,
„Ja beim Souper“ am singe, in „a“, in „b“ un „moll“.
Was mag dat für ein Juja sein, en Freud un ´ne Buhei?

[Im Laurenzgittergässchen, da gibt’s ein bekränztes Haus,
im ersten Stock von oben kommt dicker Qualm heraus. 
Die Kinder sind am Springen und zwischendurch, wie toll, 
„Ja beim Souper“ am Singen, ein „a“, ein „b“ und moll. 
Was mag das für ein Gejuchze sein, eine Freude und ein Spektakel?]

De Wienanz han ´nen Has´ em Pott, miau, miau, miau.
Dä Höövelmanns ihr Katz es fott, miau, miau, miau.
Dat Dhier, dat sohß noch jestern Naach, miau, miau, miau,
met singem Bräutijam om Dach, miau, miau, miau.

[Die Wienands haben einen Hasen im Topf, miau, miau, miau. 
Den Hövelmanns ihre Katze ist fort, miau, miau, miau. 
Das Tier, das saß noch gestern Nacht, miau, miau, miau – 
mit seinem Bräutigam auf dem Dach, miau, miau, miau.] 

Der Has, dä jetz em Kessel als Broode log zoräch,
dä hat des Ovends vörher ´ne Schoß mém Bässen kräg.
Natürlich wor för immer des Naaks jetz en d´r Kall
et met de Randewühzjer un met d´r Liebe all.
Broch och däm ärmen Dhier et Hätz, die Haupsaach dobei eß:

[Der Hase, der jetzt im Kessel als Braten (schön) zurecht (gemacht) lag, 
der hat am vorherigen Abend einen Schuss mit dem Besen abgekriegt. 
Natürlich war für immer nachts jetzt in der Dachrinne 
es mit den Rendezvüchen und mit der Liebe vorbei.
Brach auch dem armen Tier das Herz, die Hauptsache dabei bleibt (aber):]

De Wienanz han ´nen Has´ em Pott, miau, miau, miau [...]

Wat wor dat för e Kische un Rötsche op de Bänk.
Denn en d´r Schull die Pute, dat Laache nohm kein Engk.
Der Lehrer wor am schänge: „Wollt ihr wohl ruhig sein,
was habt Ihr denn heut morgen, was fällt euch Bengels ein?
Do sung dä kleine Färdenand, met im die ganze Klaß:

[Was war das für ein Brodeln und Gerutsche auf den Bänken! 
Dann in der Schule (im Unterricht?) die kleinen Kröten – das Lachen nahm kein Ende.
Der Lehrer war am Schimpfen: „Wollt ihr wohl Ruhe geben,
was ist den heute morgen mit euch los, was fällt euch Bengels ein?
Da sang der kleine Ferdinand, und mit ihm die ganze Klasse:]

De Wienanz han ´nen Has´ em Pott, miau, miau, miau [...]

Esu en Feßlichkeite, die sin nit alle Dag.
Och sitz zom Zobereite nit immer jet om Daach.
Och broht mer nit zo froge: „Wat eß dat för ´ne Jang?“
Ja wer dat nit kunnt rüche, dä hoht et am Jesang.
Denn deef bes en de Naach eren, do heelten sie sich dran:

[Solche Festlichkeiten, die gibt’s nicht alle Tage. 
Auch sitzt zum Zubereiten nicht immer was auf dem Dach.
Auch braucht man nicht zu fragen: „Was ist das für ein Gang?“
Ja, wer das nicht riechen konnte, der hörte es am Gesang.
Denn tief bis in die Nacht herein, da hielten sie sich dran:] 

De Wienanz han ´nen Has´ em Pott, miau, miau, miau [...]

Willi Ostermann (1876-1936) startete seine überaus erfolgreiche Entertainer-Karriere als sog. Krätzchen-Sänger, -Texter und -Komponist. Unter ,Krätzchen‘ (abgeleitet von ,kleine Schramme‘, ,Hieb‘, ,Schmiss‘ usw.) versteht man im Kölner Raum einen Ulk, Streich oder Alltagsschwank. Diese Schnurren sind zumeist humoristisch-harmloser Natur, gelegentlich versteckt sich darin allerdings auch ein bissiger Hintersinn. Sie werden vom ,Krätzchen-Sänger‘ sparsam instrumentiert und hinreichend langsam vorgetragen, damit das Publikum den Text gut versteht. Krätzchen-Lieder werden gerne, aber nicht ausschließlich zur Karnevalszeit gesungen; berühmte Kölner Karnevalisten wie Karl Berbuer, Jupp Schmitz, das Colonia Duett oder De Bläck Fööss sind diesem Genre eng verbunden. Nicht von ungefähr hat gerade die letztgenannte Gruppe viele Ostermann-Lieder neu aufgenommen (so auch De Wienanz han ´nen Has´ em Pott)

Ostermanns Lied vom unverhofften Festtagsbraten bei Familie Wienand lässt sich gut als krätzchengerechter Alltagsschwank mit kleinen, aber nie verletzenden satirischen Akzentuierungen verstehen. Jüngeren Mitbürgern, denen sog. ,schlechte Zeiten‘ bislang glücklicherweise erspart geblieben sind, die davon vielleicht noch nicht einmal mehr durch Familiengeschichten gehört haben, erklärt das Lied ganz nebenbei, wieso im deutschen Sprachgebrauch Katzen auch als ,Dachhasen‘ bezeichnet werden.

Die erste Strophe setzt der Schnurre zusammen mit der letzten (vor dem abschließenden Refrain) einen gewissen erzählerischen Rahmen. Erregt jene die Aufmerksamkeit des Sprechers, so markiert diese deutlich das Ende der Erzählung, wobei sie noch einige Reflexionen über die Besonderheit des Ereignisses anschließt. Visuelle, olfaktorische („decke Qualm“) und akustische Reize (Kindergesang) wirken zu einem ordentlichen „Buhei“ zusammen, das die Nachbarschaft im „Laurenzgittergäßje“ neugierig zusammenlaufen lässt, darunter auch den Sprecher.

Der folgende Refrain gibt schnell die Antwort, im Prinzip ist sogar schon nach seinem ersten Vers alles klar: „De Wienanz han ´nen Has´ em Pott, miau, miau, miau.“ Die Aufklärung über die wahre Natur des Hasenbratens erfolgt katzenmusikalisch, wirkt in dieser Form überraschend und urkomisch. Diese Komik wird einerseits (im Sinne der Freudschen Witz-Theorie) durch den Bruch eines Speisetabus unserer Kultur befeuert, andererseits durch eine ansteckende Albernheit bei der Nachahmung der Katzenlaute in den nächsten Refrain-Versen am Leben gehalten. Der falsche Hase auf der Wienandschen Herdplatte beweist, dass hier derb und offensichtlich auch ohne schlechtes Gewissen ein zentrales Speisetabu unserer Kultur verletzt wird, verputzt doch der Deutsche (wie man gemeinhin annimmt) ohne größte Not keine Haustiere und schon gar keine Streicheltiere!

Der zweite Refrainvers erhärtet, was eigentlich ohnehin schon klar ist: Bei dem, was da lecker im Topf schmurgelt, muss es sich um Hövelmanns Katze handeln, denn die ist abgängig. Dass diese Zeile nicht langweilig wirkt und die Pointe nicht geschwächt wird, liegt m.E. weniger am Informationszuwachs über die Katze, als an der implizit verdeutlichten Dreistigkeit der Wienands, die Katze einer Familie aus der Nachbarschaft zu verspeisen. Dieser Umstand ist als weiterer (im Freudschen Sinne komischer) Tabubruch einzustufen, und dies umso mehr, als die (nun vermutlich kollektive) Sprechinstanz keinerlei Anzeichen einer Entrüstung zeigt. Es spricht alles dafür, dass in diesem Milieu jeder wie die Wienands gehandelt hätte, hätte sich ihm nur die gleiche Chance geboten. Das auch den zweiten Vers des Refrains abschließende „miau, miau, miau“, das vom semantischen Kontext her ziemlich zynisch bzw. schadenfroh wirkt, drängt sich zum Mitsingen auf und bietet dem Publikum des Krätzchens eine voyeuristische Komplizenrolle an, die unter den modalen Vorzeichen der Fiktivität der Situation und des albernen Herummiauens vermutlich von vielen Menschen gerne angenommen wird.

Die Chance, im Chor gemeinsam „miau“ singen zu dürfen, ist aber auch wirklich zu attraktiv, als dass sie ein Meister der Unterhaltung wie Willi Ostermann nicht bis zum Ende ausreizen würde. So gibt er seinen Zuhörern noch zwei weitere Male die Gelegenheit zu diesem Vergnügen. Dennoch werden die Verse drei und vier des Refrains nicht langweilig, da sich der Sänger als neue Überraschung die Anthropomorphisierung der Katze einfallen lässt; er spielt diese Wendung geschickt und mit perfektem Timing für Pointen über Bande, indem der letzte Vers des Refrains vom ,Bräutigam‘ der Katze spricht, die in Vers drei noch als „Dhier“ bezeichnet worden war. Mit dieser neuen Perspektive bekommt die Schnurre nicht nur Anklänge ans sentimentale, komisch-kitschige ,Küchenlied‘ (,gestern noch Braut auf hohen Rossen, heute falscher Hase, durch die Brust geschossen‘), sondern evoziert, ganz dezent natürlich, auch kannibalistische Assoziationen. In allen vier Verszeilen des Refrains sollte man sich die Miau-Passage anders artikuliert vorstellen: freudig-hungrig in der ersten, klagend in der zweiten, liebeskrank in der dritten und verzweifelt in der vierten.

Die nächste Strophe erzählt die Vor- und Nachgeschichte des Wienandschen Bratenglücks, jene aus Sicht der Jäger, diese aus der Perspektive der verliebten Katzen, wobei der Sprecher im Schlussvers allerdings mit einer ebenso entschlossenen wie herzlosen Geste zur ,Hauptsache‘, d.h. dem Festbraten zurückkehrt. Refrain. Die Bratenepisode hatte Zeugen, was nicht ohne Folgen bleibt: Sie beschäftigt bereits die ganze Schulklasse, die vom Lehrer nicht zu beruhigen ist. Er kann schimpfen, wie er will, das Gegickel ist den kleinen Jungs (den „Pute“) nicht auszutreiben; schließlich klärt ihn der Ferdinand mit Unterstützung seiner Kameraden auf: Bei den Wienands hat’s Hasenbraten gegeben, miau, miau, miau … Die letzte Strophe betont zunächst in lakonisch-schlagender Kürze den ,Sensationswert‘ des Ereignisses: Solche Festlichkeiten kommen im Laurenzgittergäßje nicht allzu häufig vor, zumal auch nicht jeden Tag etwas Nahrhaftes in der Dachrinne sitzt. Daraus mag das Publikum selbst den Schluss ableiten, dass dieser ,novellistische Stoff‘ für ein Krätzchenlied allemal ausreicht. Die folgenden, etwas ,unrund‘ angeschlossenen Verse haben dann eigentlich nur noch die Funktion, einen Anlass zu finden, um noch einmal im Chorgesang die Refrainzeilen zum Besten zu geben.

Willi Ostermann karikiert in diesem Lied humorvoll und mit erkennbarer Sympathie das Klein(st)bürgertum Alt-Kölns. Das Laurenzgittergäßje, der Schauplatz der Schnurre, liegt im alten Judenviertel der Stadt. Da die Juden bereits 1424 durch einen Stadtratsbeschluss ,auf ewige Zeiten‘ aus der Kölner Kernstadt verbannt wurden, sehe ich wenig Sinn darin, über einen möglichen antijüdischen Subtext dieses Liedes nachzudenken. Nein, Ostermanns satirischer Blick ist – wie der Heinrich Zilles (1858-1929) auf sein Berliner ,Milljöh‘ – in vielfacher Hinsicht kritisch, aber nie ,böse‘. Er sieht die Schwächen der Menschen, er gewinnt ihnen komische Pointen ab, aber er denunziert seine Pappenheimer nicht, sondern rechnet sich dazu.

Ostermanns humoristischer Blick selegiert. Der Jubel der Wienands über den ihnen unverhofft in den Pott gefallenen Festbraten steht ganz im Vordergrund, aber auch die Nachbarn kommen nicht zu kurz: Sie haben zumindest den Bratenduft in der Nase, dürfen ordentlich gaffen, tratschen und ein Spektakel genießen, das den üblichen Gang der Dinge so wunderbar unterbricht. (Der gesamte Vorgang erinnert mich massiv an das bereits hier im Blog besprochene hessische ,Krätzchen‘ von der Frau Rauscher aus de Klappergass.) Die weniger lustigen Aspekte des Geschehens werden von Ostermann abgeschattet, verklärt, allenfalls ganz kurz angerissen. So spricht er den mehr als unfreundlichen Akt gegen die Nachbarsfamilie Hövelmann nur indirekt im zweiten Refrainvers an; dass sich die Hövelmanns diesen Streich der Wienands vermutlich merken und bei passender Gelegenheit zum rächenden Gegenschlag ausholen werden, muss sich der Hörer des Liedes selber ausmalen. Ihm bleibt es auch überlassen, sich die Erbärmlichkeit von Lebensverhältnissen vorzustellen, die Menschen dazu treiben, über die Haustiere ihrer Nachbarn herzufallen. Auch die Schul-Strophe dürfte arg geschönt sein; ich bin mir relativ sicher, dass es ein Lehrer jener Zeit nicht beim Schimpfen belassen hätte. Sein Rohrstock dürfte die aufsässigen ,Puten‘ in kürzester Zeit Mores gelehrt haben. Letztlich verklärt das Lied auch die heutigen Städtern mit Sicherheit unerträgliche soziale Kontrolle, die im Laurenzgittergäßje herrschte, im Sinne der Gattung ,Krätzchenlied‘ zur gemütlichen Geselligkeit und nachbarschaftlichen Anteilnahme.

Hans-Peter Ecker, Bamberg