Man erkennt den Falken am Flug. Zum Falkenlied des Kürenbergers (um 1155)
12. Mai 2021 1 Kommentar
Sänger: Knud Seckel
Der von Kürenberg [Ich zôch mir einen valken] Ich zôch mir einen valken mêre danne ein jâr. dô ich in gezamete als ich in wolte hân und ich im sîn gevidere mit golde wol bewant, er huop sich ûf vil hôhe und floug in anderiu lant. Sît sach ich den valken schône fliegen: er fuorte an sînem fuoze sîdîne riemen, und was im sîn gevidere alrôt guldîn. got sende si zesamene die gerne geliep wellen sîn! [Ich zog mir einen Falken länger als ein Jahr Doch als er, wie ich wollte, von mir gezähmet war Und ich ihm sein Gefieder mit Golde wohl bewand, Hob er sich auf gewaltig und flog hinweg in andres Land. Drauf sah ich den Falken herrlich fliegen; Er führt' an seinem Fuße seidene Riemen, Auch war ihm sein Gefieder ganz rot von Gold: Gott bringe sie zusammen, die sich einander lieb und hold.] [Text und Übersetzung: www.arts.uwaterloo.ca]
Mit dem Falkenlied des Kürenbergers lesen bzw. hören wir ein Lied aus der Anfangszeit des deutschen Minnesangs, die allgemein als ,Phase des donauländischen Minnesangs‘ bezeichnet und auf die ersten beiden Jahrzehnte nach der Mitte des 12. Jahrhunderts datiert wird (vgl. Brunner, 1997, S. 108-116). Die Rede vom ,donauländischen Minnesangs‘ hat sich eingebürgert, weil man zwei Dichter dieser Zeit – Meinloh von Sevelingen und den Burggrafen von Regensburg – geographisch präzise einordnen kann; andere, wie Dietmar von Aist oder unseren Kürenberger wurden dieser Gruppe einfach zugeschlagen, obwohl man sie regional nicht wirklich begründet lokalisieren kann (vgl. Schweikle, 1995, S. 84). Eine Reihe formaler und inhaltlicher Eigenschaften wie Einstrophigkeit, Verwendung von Langzeilen, Halbreimlizenz, Rollenlyrik in Form von Männer- und Frauenstrophen, häufig auch im sog. ,Wechsel‘, gegenständliche Anschaulichkeit u.a. verbinden die frühen Minnelieder und lassen sie gegenüber jenen der Hochphase um 1200 als ,archaisch‘ erscheinen (ebd. S. 84 f.). Bei jüngeren Interpretationen des Falkenlieds habe ich öfter den Eindruck, dass es zu schnell im Lichte eines Kontextwissens interpretiert wird, das aus der Blütezeit der mhd. Literatur abgeleitet wird.
Es scheint nicht unplausibel, in der desaströsen Kreuzzugserfahrung von 1147-49 gewichtige Anstöße für die Entfaltung des Minnesangs im deutschen Sprachgebiet (sowie zeitgleich in Nordfrankreich) zu suchen. Deutsche Ritter kamen während dieses Kriegszugs mit französischen Kollegen in Kontakt, die schon seit ca. 1100 mit dem Phänomen der provenzalischen Troubadourlyrik bekannt waren, lernten den ,Frauenpreis‘ der arabischen Hochkultur kennen und erlebten zugleich einen außerordentlichen moralischen Verfall der Kirche, die bislang das Kulturschaffen in Deutschland dominiert hatte. Der aufflammende Investiturstreit zwischen den sakralen und weltlichen Führungsinstanzen der Christenheit trug vor diesem Hintergrund ebenso zur Entfaltung einer säkularen Kultursphäre bei wie neuartige gesellschaftliche Entwicklungen innerhalb der Adelsschicht (vgl. hier Köhlers ,Ministerialenthese‘ oder das zivilisationsgeschichtliche Erklärungsmodell von Norbert Elias). Sicher hat Günther Schweikle recht, wenn er betont, dass bei der Entwicklung des Minnesangs jede monokausale Theorie zu kurz greift:
„Grundlegend waren wohl die sozialen und mentalen Veränderungen im Verlaufe des 12. Jh.s, die Neustrukturierung der feudalen Gesellschaft […]. Insbes. die Lehensstruktur mit den zentralen Werten dienest und triuwe lieferte eine innerweltliche Werteskala, welche das Funktionieren dieses Sozialgefüges erleichtern und garantieren sollte. Mit den sozialen Entwicklungen vollzog sich auch eine Erkenntniserweiterung, welche die sozialen Bedingtheiten reflektierte, und eine emotionale Bewußtseinsvertiefung, bei welcher v.a. zwischenmenschliche Bindungen wie bes. die Geschlechterliebe, einen neuen Stellenwert erhielten. Aus dieser historischen Realität entnahm der Minnesang seinen Bild- und Vorstellungsrahmen: in der Metapher des Frauendienstes wurde sowohl die Dienstideologie gerechtfertigt und sublimiert, wurden aber auch […] existentielle Probleme ins Bild gefasst.“ (Schweikle, 1995, S. 77 f.)
Das Gesagte darf man für das sog. Falkenlied des Kürenbergers übernehmen, der zwischen 1150 und 1160 aktiv war. Mit ihm, der in den Handschriften, die seine 15 auf uns gekommenen Liedstrophen tradieren, einmal „Der von Kürenberg“, ein andermal „Der herre von Churenberch“ genannt wird, setzt der deutsche Minnesang relativ autonom ein. Vermutlich konnte er aber auf Textformen und Töne der altfranzösischen Troubadourlyrik, auf Motivbestände antiker und mittellateinischer Liebesdichtung sowie auf Gesten und Sprachformeln der Marienverehrung zurückgreifen. Die Manessische Handschrift (auch ,Große Heidelberger Liederhandschrift‘ genannt und in der Mediävistik üblicherweise mit der Sigle C bezeichnet) überliefert auf der Rückseite von Blatt 63 alle fünfzehn Strophen des Kürenbergers, während die Vorderseite des Pergaments eine Miniatur des Sängers zeigt. Die Handschrift markiert zwar den Beginn jeder neuen Strophe mit einer farbigen Initiale, zeigt aber nicht an, wo ein Lied anfängt bzw. endet. Nun war für die Frühzeit des Minnesangs, wie schon oben vermerkt, Einstrophigkeit die Norm, so wie das mhd. Wort liet übrigens auch als Einzelstrophe zu übersetzen ist.
Unter diesen 15 Strophen lassen sich die meisten eindeutig einer männlichen bzw. weiblichen Sprecherinstanz zuordnen. Dass man die achte und neunte Strophe dieser Handschrift zu einem zweistrophigen Text zusammengefasst und – das gilt jedenfalls für die Mehrzahl der heutigen Experten – einer Frau in den Mund gelegt hat, sind schon interpretatorische Entscheidungen (vgl. zur Zuordnungsproblematik Schweikle, 2001, Sp. 451-455). Knud Seckel, unser Sänger im oben verlinkten Video, hängt an das Falkenlied noch eine weitere, thematisch verwandte Strophe an. Dabei handelt es sich um die letzte Kürenberger-Strophe im Codex Manesse (Nr. 15), die eindeutig als Männerstrophe zu betrachten ist und mit Sicherheit nicht als intendierte Schluss-Strophe des Falkenlieds verstanden werden kann. Motiviert hat den Sänger dazu offensichtlich der Umstand, dass in dieser Strophe noch einmal von einem Jagdvogel („vederspil“) die Rede ist. („Vederspiel“ wird wortgeschichtlich erst später die Bedeutung eines Instruments zur Lockung und Zähmung von Beizvögeln annehmen.) In dieser Zusatzstrophe symbolisiert der Jagdvogel aus männlicher Perspektive eine edle Dame. Man sollte sich durch diese Strophenzusammenstellung also auf keinen Fall dazu verführen lassen, das Falkenlied als dreistrophiges Gefüge aufzufassen oder auch nur die beteiligten Personen miteinander zu identifizieren! Für Interessierte gebe ich nachfolgend dennoch den Text der Strophe C 15 wieder:
Wîb und vederspil, die werdent lîhte zam. swer sî ze rehte luket, sô suochent sî den man. als warb ein schoene ritter umbe eine frouwen guot. als ich dar an gedenke, sô stêt wol hôhe mîn muot.
Zusätzlich verkompliziert wird die Überlieferungslage des Falkenlieds durch eine weitere mittelalterliche Handschrift, das sogenannte ,Budapester Fragment‘ (Sigle Bu, Datierung umstritten; abgedruckt und übersetzt in Minnesang, 2010, S. 13). Die Version dieser Handschrift weicht ein wenig von C 8/9 ab, wobei speziell die Schlusszeile durch ihre Formulierung eine Pointe setzt, die nach Meinung mancher Forscher (zu denen ich mich aber nicht zähle!) den Sinn des Liedes deutlich verändert, je nach Interpretation sogar praktisch umkehrt. In Bu endet das Lied mit der Langzeile got sol si nimmer gescheiden, die lieb reht einander sîn. (Gott soll sie niemals trennen, die einander richtig liebhaben.) Die zeitliche Relation beider Handschriften zueinander ist unklar, so dass wir nicht eindeutig sagen können, welche Variante die ,ursprünglichere‘ ist.
Zum Einstieg in die Diskussion referiere ich in Grundzügen die Deutung des Falkenlieds in Sieglinde Hartmanns Einführungsbuch Deutsche Liebeslyrik vom Minnesang bis zu Oswald von Wolkenstein (2012, S. 89-95). Wie die überwiegende Mehrheit älterer und neuerer Mediävisten rechnet sie beide Strophen des Falkenlieds einer weiblichen Sprecherinstanz zu, die sich wehmütig daran erinnert, wie ein von ihr offenkundig geliebter und gehätschelter Falke eines Tages das Weite gesucht hat, mit den Worten des Kürenbergers in anderiu lant entschwebt ist. Sie versteht die Formulierung als Anzeichen für Untreue, so dass man die Phrase auch als Durchbrennen, als Aufbruch in fremde Reviere übersetzen könnte. Einem Falken scheint das (ungebundene) Fliegen angeboren, so dass ihm dieses Bedürfnis auch durch liebevolles ,Ziehen‘ (im Sinne von aufziehen), ,Zähmen‘ (im Sinne von erziehen), Schmücken und Fesseln (vgl. die seidenen Riemchen in Str. 2,2 als metaphorische Liebesfesseln) nicht auszutreiben seien. Bis zur vorletzten Verszeile des Gedichts, so Hartmann, könnte man vielleicht noch der Meinung sein, dass eine edle Dame hier lediglich einem durchgegangenen Jagdfalken nachblicke, melancholisch gestimmt, dabei aber immer noch dessen schönen Flug bewundernd. Mit der Schlusswendung werde dann aber doch klar, dass der Jagdvogel nur ein Bild, ein ,Symbol‘ für den verlorenen Geliebten gewesen ist, dem die zurückbleibende Frau gleichwohl seine Freiheit gönnt einschließlich eines möglichen Glücks an der Seite einer Rivalin: Gott schütze die Liebenden und führe sie zusammen! Den Schlussvers wertet Sieglinde Hartmann – wie schon Wapnewski, 1959, S. 12 – als großherzige Geste der Entsagung einer verlassenen Geliebten. Interpretationen der Segensformel als Bitte um eine zweite Chance für sich selbst oder gar als Ausdruck der Hoffnung auf eine Vereinigung mit dem Geliebten im Jenseits werden zurückgewiesen.
Hartmann befasst sich auch mit der Liedvariante des Budapester Fragments. Hier zeige das Lied einen ganz anderen Frauentypus, deren Herz „von kleinlichen Bedenken erfüllt“ sei (S. 90) und der der „fürstliche Großmut“ der Liebenden aus Handschrift C völlig abgehe. Das zeichne sich schon in Str. 1, V. 2 ab, wo die Formulierung des ersten Halbverses als ich in dô getrûte so zu verstehen sei, dass die Dame hier den Falken auf sich zu prägen, nicht aber zu höfischer Vollkommenheit zu erziehen suche. In der Schlusszeile des Lieds bitte sie Gott eigensüchtig, Liebende nicht zu trennen, da sie den Geliebten nicht loslassen könne und ihm seine Freiheit nicht gönnte.
Der Kürenberger hat seine überliefertes Gesamtwerk nur auf zwei verschiedene Töne gedichtet; dreizehn seiner fünfzehn Strophen nehmen dabei die Strophenform des später verfassten Nibelungenliedes vorweg. Auch unser Falkenlied folgt diesem metrischen Schema, das sich aus vier Langzeilen mit Zäsur nach der dritten bzw. vierten Hebung zusammensetzt, die An- und Abvers trennt. Die Langzeilen reimen paarweise, wobei in der Frühphase des deutschen Minnesangs noch kein Zwang zum reinen Reim bestand – wie z.B. die ersten beiden Verse erkennen lassen. Aber nicht nur die Strophenform verbindet das Falkenlied des Kürenbergers mit dem deutschen Nationalepos, auch das Falkenmotiv taucht dort in Kriemhilds Traum wieder auf. Sieglinde Hartmann kommentiert diese Parallelen und betont den symbolischen Gehalt des Falkenmotivs für ein neues heldisches Ideal des hohen Mittelalters: Hatte man früher große Krieger mit starken wilden Tieren wie Löwen, Wölfen oder Ebern verglichen, um ihren Mut oder ihre Kampfeskraft zu preisen, so tritt uns im Falkenlied des Kürenbergers und im Kriemhildentraum des Nibelungenlieds plötzlich ein völlig gewandeltes Männlichkeitsideal entgegen, „das von inneren Werten geprägt ist, von höfischer Erziehung und Frauenminne“ (S. 95).
Die bislang referierte Interpretation des Falkenlieds durch Sieglinde Hartmann erscheint durchaus eingängig, verliert aber an Überzeugungskraft, sobald man sich mit der langen Kette unterschiedlichster Deutungsversuche dieses berühmten Textes befasst. Die Reihe einschlägiger Interpretationsversuche reicht bis in die Anfänge der institutionalisierten Hochschulgermanistik bei Wilhelm Scherer zurück und ist bis auf den heutigen Tag nicht abgerissen. So ist man im Laufe der Zeit z.B. darauf gekommen, das Lied ganz wörtlich zu nehmen und jeden symbolischen Überschuss abzulehnen: Dann ginge es einfach um den Verlust eines wertvollen Jagdvogels und die Trauer des Falkners. Da viele Gedichte des frühen Minnesangs bekanntlich der Form des sog. Wechsels (Abwechslung monologischer Männer- und Frauenstrophen) folgen, suchten mehrere Interpreten nach sinnvollen Konstellationen, die einen Wechsel männlicher und weiblicher Sprecherinstanzen rechtfertigen würden; so kam man auf die Idee, dass der Falke ein Liebesbote sein könnte (vgl. Hatto, 1959), den ein Ritter in der ersten Strophe zu seiner Herzensdame fliegen lässt und der von dieser in der zweiten Strophe erkannt und freudig begrüßt wird. Ein Wechsel wurde versuchsweise aber auch durch die Auffassung des Textes als Brautlied (vgl. Jansen, 1970) begründet: ein Vater würde seine erwachsene Tochter schweren Herzens ziehen lassen, die Schlusszeile sei Teil einer Hochzeitsliturgie. Aber auch bei der Annahme einer identischen Sprecherinstanz in beiden Strophen könnte man auf die Idee kommen, dass hier keine Geliebte spricht, sondern eine liebende Mutter, die ihren gerade ,flügge‘ gewordenen Sohn als Ritter in die Welt entlässt, womöglich gar zu einem Kreuzzug …
Um sich nicht in einer Fülle von Spekulationen zu verlieren, scheint es mir unumgänglich zu sein, zwei Fehler zu vermeiden: Einerseits sollte man sich diesem Lied nicht ohne solide Vorkenntnisse in mittelalterlicher Falknerei (und der einschlägigen Fachterminologie, vgl. Reiser, 1963) zuwenden, andererseits ist es bei Interpretationsthesen fatal, zeitliche Kausalitäten vertauschen, also etwa von hochmittelalterlichen Belegen (nehmen wir etwa Kriemhildens Falkentraum) her den Sinngehalt des Kürenberger-Gedichts aus der Frühphase des mhd. Minnesangs festzulegen. Um entsprechende Fehlschlüsse zu vermeiden, ist es auch nützlich zu wissen, dass und wie sich die Falknerei bzw. höfische Beizjagd in deutschen Landen zwischen 1150 und 1250 entwickelt hat. Einschlägige Arbeiten betonen, dass diese Entwicklung rasant war, die Beizjagd zu Anfang der genannten Zeitspanne z.B. noch von der Kirche verketzert wurde, an ihrem Ende aber als prestigeträchtigster Trendsport der gesellschaftlichen Elite zu sehen ist, der selbstverständlich auch von Fürstbischöfen mit größtem Pomp zelebriert wurde (vgl. Die Beizjagd, 1979; Falknerei, 1989; „Von der Kunst mit Vögeln zu jagen“, 2008).
Fundiertes Wissen zur mittelalterlichen Falknerei und seiner literarischen Verwertung stellt Irmgard Reiser in ihrer Dissertation von 1963 zur Verfügung, die sich laut Titel mit dem Falkenmotiv der mhd. und frühneuzeitlichen Dichtung befasst. Dank ausgezeichneter Fachkenntnisse – praktischer wie terminologischer Art – kann die Autorin die ersten sieben Gedichtzeilen des Falkenlieds überzeugend auf den Vorgang der Aufzucht eines Jagdfalkens über die kritische erste Mauserphase hinaus bis zum ersten, immer hochriskanten Freiflug und darüber hinaus erklären (vgl. S. 139-144). Dieser Freiflug misslingt gründlich; die Formulierung in 1,4 in anderiu lant bedeutet in der mhd. Fachsprache der Falkner, dass sich der Vogel ,verstieß‘, also nicht auf das Luder zurückkam. Aus der Tatsache, dass sich der Falke gegen den Willen seines Herrn/seiner Herrin entfernte, ist aber weder auf eine böse Absicht, auf Untreue oder überhaupt auf bewusste Absicht zu schließen noch auf eine unwiderrufliche Flucht in die Freiheit. Dass sich ein Beizvogel verfliegt und nicht zurückfindet ist grundsätzlich immer möglich und Teil des Nervenkitzels dieses Jagdsports. Der erste Halbvers der vierten Zeile deutet sogar einen möglichen Grund für das Verstoßen an: er huop sich ûf vil hôhe. Dass ein Falke ,sehr hoch‘ aufsteigt, belegt einerseits den besonderen Adel und Wert dieses speziellen Vogels, der dadurch beweist, dass er für die ,edelste‘ und angesehenste Form der Beizjagd, nämlich die in luftiger Höhe auf Milane oder Reiher geeignet ist, andererseits kann bei zu großer Flughöhe die Verbindung zum Falkner leicht abreißen und der Falke die Orientierung verlieren.
Zu Beginn der zweiten Strophe sieht der Falkner, der eindeutig dieselbe Sprecherinstanz von Strophe 1 darstellt, seinen Vogel schône, d.h. in prächtigem Flug, über dem heimischen Revier kreisen. Der Falke, der vom Falkner in Str. 2,2 und 3 an Geschüh und Jagdschmuck eindeutig wiedererkannt wird, hat also zu seinen heimischen Gefilden, aber nicht zum Luder seines ehemaligen Besitzers zurückgefunden. Nun stellt sich die höchst spannende Frage, wie die Geschichte zu Ende geht. Die Schlusszeile gibt darauf keine endgültige Antwort, aber sie öffnet die Erzählung vom entflogenen Jagdfalken durch ihre allgemein gehaltene, gebetsartige Formulierung für weitere Sinn-Aufladungen in Richtung eines erotischen Verhältnisses zwischen Falkner(in) und Geliebter/ Geliebtem. Diverse gesellschaftliche und literarische Kontexte (im Kürenberger-Strophenverbund, im Minnesang-Kontext usw.) sprechen dafür, die Falkner-Rolle einer Frau, die Falken-Rolle einem Mann zuzuweisen. Somit kann der Schlussvers, wie oben im Anschluss an Sieglinde Hartmann referiert, als ,seelischen Kraftakt‘ (Formulierung von Peter Wapnewski) der Entsagung gedeutet werden, bietet gleichwohl andere mögliche Lösungen an. Die Sprecherin könnte ja auch Gott bitten, sie und ihren nahen (!) Geliebten wieder zusammenzuführen, oder aber – vom eigenen Schicksal, dem gegenseitige Liebe nun einmal nicht gegönnt war, abstrahierend – darin glücklicheren Paaren Gottes Segen wünschen (vgl. Reiser, 1963, 149).
Zustimmen könnte ich aber auch der offener gehaltenen Deutung Gayle Agler-Becks (1978), die Reisers ,falknerischen‘ Ausführungen für die ersten sieben Verse folgt, sich aber weigert, die Sprecherrolle als weiblich zu spezifizieren und im Grunde nur an einer emotionalen Grundstruktur mit den Konstituenten ,Verlusterfahrung‘, ,Liebe‘, ,Ungewissheit‘, ,Sehnsucht‘ und ,Hoffnung‘ (vgl. auch Hensel, 1997, S. 36-38) festhält: „In the training and care of a falcon and ist subsequent loss, a process and situation is described which has human significance. To specify further by fixing the roles and the utterances ist to rob the poem of its essential quality, that of the universality of the experience of joy and pain, liep and leit, vröide and trûre. It is an experience which applies to two lovers, two friends, to any pair in any combination” (S. 128). Mit dieser Interpretation kann ich gut leben.
Hans-Peter Ecker, Bamberg
Literatur
Gayle Agler-Beck: Der von Kürenberg: Edition, Notes and Commentary. Amsterdam: John Benjamins, 1978 (German Language and Literature Monographs 4).
Horst Brunner: Geschichte der deutschen Literatur des Mittelalters und der Frühen Neuzeit im Überblick. Stuttgart: Reclam, 1997 (RUB 17680).
Die Beizjagd. Ein Leitfaden für die Falknerprüfung hrsg. von Heinz Brüll. Hamburg und Berlin: Paul Parey, 3., neubearbeitete Aufl. 1979.
Sieglinde Hartmann: Deutsche Liebeslyrik vom Minnesang bis zu Oswald von Wolkenstein. Wiesbaden: Reichert, 2012 (Einführung in die deutsche Literatur des Mittelalters 1).
A. T. Hatto: Das Falkenlied des Kürenbergers. In: Euph. 53 (1959), S. 20-23.
Andreas Hensel: Vom frühen Minnesang zur Lyrik der Hohen Minne. […] Frankfurt a. Main u.a.: Lang, 1997 (Europäische Hochschulschriften 1611).
Rudolf K. Jansen: Das Falkenlied Kürenbergs. Eine Arbeitshypothese. In: DVjs 44, 1970, S. 585-594.
Minnesang. Mittelhochdeutsche Liebeslieder. Eine Auswahl. Mittelhochdeutsch/ Neuhochdeutsch. Hrsg., übersetzt und kommentiert von Dorothea Klein. Stuttgart: Reclam, 2010, S. 204-206.
Irmgard Reiser: Falkenmotive in der deutschen Lyrik und verwandten Gattungen vom 12. bis zum 16. Jahrhundert. Diss. Augsburg 1963.
Günther Schweikle: Minnesang. Stuttgart und Weimar: Metzler, 2., korr. Aufl. 1995 (Sammlung Metzler 244).
Günther Schweikle: Kürenberg (Der von Kürenberg) (1984). In: Deutschsprachige Literatur des Mittelalters. Studienauswahl aus dem ,Verfasserlexikon‘ (Band 1-10) besorgt von Burghart Wachinger. Berlin und New York: de Gruyter, 2001, Sp. 449-456.
„Von der Kunst mit Vögeln zu jagen“. Das Falkenbuch Friedrichs II. Kulturgeschichte und Ornithologie. Begleitband zur Sonderausstellung „Kaiser Friedrich II. (1194-1250). Welt und Kultur des Mittelmeerraums“ im Landesmuseum für Natur und Mensch Oldenburg. Hrsg. von Mamoun Fansa und Carsten Ritzau. Mainz: Philipp von Zabern, 2008 (Schriftenreihe des Landesmuseums für Natur und Mensch 56).
Peter Wapnewski: Des Kürenbergers Falkenlied. In: Euph. 53 (1959), S. 1-19.