Romantik und Metaphysik mit Hausmeistern. „Da Schnee“ von Ernst Molden, Willi Resetarits, Walther Soyka und Hannes Wirth (2013)

Molden, Resetarits, Soyka, Wirth

Da Schnee

wos bei mia wichdig is kummd ollas vo dia				 1
en resd hob i nua zum iagndwaun wieda valian
die haubdallee mochd heid kaan don kaa geräusch
mia schbüün en an schdumfüm und olle sans gleich wäus gfrian

und iangdwea haud owe an schnee 	    				 5
vo gaunz gaunz weid om aum juchee
un de hausmasda sogn okee
gengan owe und schaufen den schnee
daun ee							

mia schdendan in schnee und d wöd hod a end				10
mia schaub auf de fiass de ma noch und noch nimma akennd
und wos mi vuan schdeam schizzd san deine hend
i hoeds fest und gee duach duach oes wos en mein feia vabrennd

und iangdwea haud owe an schnee […]

     [Molden, Resetarits, Soyka, Wirth: Ho Rugg. Monkey 2013. Text zitiert nach dem Booklet der CD.]

Zugegeben, ich hab’s schon mit dem Schnee! Eigentlich mit allen seinen H2O-basierten Erscheinungsformen, die mir im Laufe meines Lebens mal mehr, mal minder freundlich begegnet sind: zu Bällen gepresst, Schaufeln beschwerend, Kufen, Brettern und zur Not auch dem Hinterteil eine rutschige Unterlage  bietend, als unverzichtbares winterliches Dekomaterial ebenso wie als vermutlich eher verzichtbarer Matsch auf städtischen Straßen und Fußwegen. Und so sympathisiere ich auch schon fast grundsätzlich mit musikalischen Referenzen an die weiße Pracht – mit traditionellen Kinder- (Schneeflöckchen, Weißröckchen) und Adventsliedern (Leise rieselt der Schnee), amerikanischen Winter- und Weihnachtsschnulzen (Jingle Bells, White Christmas), Einladungen zum Winterschlaf (Ludwig Hirsch) usw. usf. Insofern war mehr oder minder zu erwarten, dass mir das hier zu besprechende Lied gefallen würde; aber dann übte Moldens Schnee-Song, den ich der Einfachheit halber wie viele andere Produktionen der Formation Molden-Resetarits-Soyka-Wirth unter ,Big City Blues‘ einsortiere, auf mich doch noch einmal eine ganz spezielle Faszination aus …

Der Dichter (die Begriffe ,Texter‘ oder ,Songwriter‘ scheinen mir in diesem Kontext nicht richtig zu passen) fügt sein Lied aus drei Inhaltskomponenten zusammen: einer Liebeserklärung, der Beschreibung einer bestimmten Wiener Lokalität und der Darstellung eines winterlichen Wetterereignisses. Wie er diese Faktoren dann allerdings sprachlich und musikalisch (langsam, leise, unaufgeregt) zur Erscheinung bringt, mit Gefühlen auflädt und diese, quasi nebenbei und ganz unaufdringlich, mit Hilfe einer dezenten Dosis Schmäh wieder einfängt, bevor das Pathos in Kitsch umschlägt, ist… na ja, zu Lesern meiner Generation würde ich jetzt sagen: große Kunst, für jüngere Zeitgenossen moderner formuliert: einfach geil! Für Wiener: leiwand! 

Das Lied beginnt mit einer indirekten Liebeserklärung, die von der Sprecherinstanz in Form einer Feststellung höchster Wertschätzung vorgetragen wird: Alles wirklich Wichtige verdanke das Ich dem Du, sein ganzer übriger ,Besitz‘ (materieller oder anderer Art) sei im Vergleich dazu nur belangloses Zeug, von dem man sich irgendwann ohne größeres Bedauern wieder trennen werde. Mit dieser Aussage konstatiert das Ich eine provozierend absolute Abhängigkeit seiner Existenz und Identität von den Zuwendungen der Bezugsperson, die – zumindest mir – Assoziationen an religiöse Kontexte aufgedrängt hat, an Gebete, Bekenntnisse und Kirchenlieder, in denen fromme Autoren ihr gesamtes Sein tief dankbar auf einen Schöpfer bzw. Erlöser ausrichten.

Auf die zweite Strophe vorausblickend, dürfen wir jedoch diesen Verdacht verwerfen; mit einem Gott (oder einer Göttin) würde man doch eher nicht auf der Praterallee im Schnee herumstehen, oder? Nein, in unserem Lied geht es um Zwischenmenschliches.

Die nächsten beiden Verse der ersten Strophe benennen den Ort des Geschehens und vermitteln einen intensiven Eindruck der herrschenden Atmosphäre. Mit der „haubdallee“, die selbstverständlich im Kontext eines Wiener Großstadtblues von Ernst Molden keines erklärenden Zusatzes bedarf, kann nur die schon im 16. Jahrhundert angelegte, 1866/67 erweiterte schnurgerade Verbindung vom Praterstern zum Lusthaus gemeint sein, die an schönen Sommertagen gerne von Spaziergängern, Läufern, Fiakern frequentiert wird, natürlich auch von den allerorten unvermeidlichen Velozipedisten sowie sonstigen freizeitgestaltenden Menschen. (Der einschlägige Wikipedia-Eintrag erwähnt hier ausdrücklich Reiter und Rikschafahrer!) Man beobachtet dort neben diversen Einheimischen, die man etwa an der mitgeführten Rikscha eindeutig als solche klassifizieren kann, auch zahlreiche, ihr Besichtigungsprogramm hurtig absolvierende Touristen.

,Heute‘ jedoch, d.h. zu jener winterlichen Stunde, von der unser Lied erzählt, ist alles anders. Eine ungewohnte Stille beherrscht die Szene. Ohne dass es extra ausgesprochen werden muss, ist klar, dass eine Schneedecke alle Töne erstickt. Zwar halten sich auch an diesem Tag Menschen vor Ort auf, aber sie wirken merkwürdig anders, kaum unterscheidbar. In der Wahrnehmung des Sängers ähneln sie sich zum Verwechseln, weil alle frieren und sich wie die Figuren eines Stummfilms benehmen. Dieser Vergleich entzieht der Szene neben den Geräuschen übrigens auch die Farbe, fügt ihr dafür aber einen Schlag Schmäh hinzu; denn es scheint doch ein wenig komisch, dass ausgerechnet ein Lied, dessen Medium nun einmal die Akustik ist, eine Szenerie völliger Stille entwirft.

Im folgenden Refrain erhält Ernst Molden stimmliche Unterstützung von Willi Resetarits, so dass der Sound einen Tick opulenter wird. Auch die Melodie entwickelt jetzt mehr Schwung und klingt schon beinahe nach ,Wiener Lied‘. Touristen aus dem Rheinland haken einander unter und fangen an zu schunkeln… Schock! – Eh net! (Das war jetzt bloß ein Schmäh auf niederbairisch.)

Und jetzt, im Refrain, fällt endlich auch das Wort „Schnee“, und zwar gleich zweimal. Die beiden Kontexte, in denen vom kristallinen Nass* die Rede ist, stehen einander diametral gegenüber: Einmal richtet sich der Blick weit nach oben, bis zum „Juchee“ hinauf, das andere Mal nach unten, auf die profane Sphäre der Großstadtgassen, wo die armen Hausmeister ihren Job erledigen müssen, um das überirdische weiße Zeugs wieder wegzuschaufeln.

An Vers 5 scheint mir die Personifizierung der Ursache des gewaltigen Schneefalls bemerkenswert: Zwar legt sich der Text auf keine konkrete Person fest – Petrus käme vielleicht in Frage oder Frau Holle, natürlich Gott höchstselbst als oberster Wettermacher, weniger wohl der Kachelmann –, aber er ordnet das Geschehen doch „iangdwea[m]“ zu und macht das Bild dadurch konkreter. Dieser „iangdwea“ agiert jedenfalls in erhabener Höhe, „gaunz gaunz weid om aum juchee“. Nun bezeichnet der Begriff ,Juchee‘ im östlichen Österreich einen ,Berggipfel‘, referiert aber zugleich auch auf die höchste Galerie im Theater. Beide Bezüge ergeben für unser Lied Sinn und ich denke, dass es Molden nur recht ist, wenn sich beim Zuhörer die Bildvorstellungen von Natur- und Kunstkulisse überlagern. Letztere Vorstellung würde unaufdringlich an die barocke, in den Künsten der Donaumetropole lange lebendig erhaltene Idee eines ,Welttheaters‘ anschließen und dabei selbstreflexiv (und insofern auch selbstironisch) die poetisch-artifizielle Inszenierung des Schnee-Erlebnisses hervorheben.

Mit Vers 7 richtet die Sprecherinstanz weniger ihren Blick als ihre Gedanken auf die ,Leidtragenden‘ des sie selbst zu romantischen Bekenntnissen beflügelnden Witterungsgeschehens, auf die arbeitende Klasse der Wiener Hausmeister, die sich vorgeblich willig in ihr Schicksal fügen. Wir wissen nicht, woher der Sänger das so genau wissen will. Selber ist er gewiss kein professioneller Schneeräumer und von seinem Standpunkt in der Prater-Hauptallee aus kann er wohl kaum sehen, was die Hausmeister in den Hauptstadtstraßen und -gassen treiben, und noch weniger hören, ob sie dem heftigen Wintereinbruch tatsächlich ihr ,o.k.‘ gegeben haben. Nein, hier beweist sich keineswegs die ,prästabilierte Harmonie‘ einer vom großen Uhrmacher wunderbar eingerichteten Schöpfung im Sinne des Leibnizschen Vorschlags zur Lösung des philosophischen Leib-Seele-Problems (vgl. Gottfried Wilhelm Leibniz: Monadologie, 1714), sondern da erlaubt sich Ernst Molden mit seinen zwischenzeitlich (vielleicht?) romantisch und/oder metaphysisch ergriffenen Zuhörern einen ordentlichen Schabernack.

Macht man sich die Fallhöhe zwischen dem großen Unbekannten „gaunz weid om aum juchee“ und den Wiener Haumeistern bei ihrer Schaufel-Arbeit klar, kann an einer sehr wohl intendierten Komik dieser Kontrastierung kein Zweifel bestehen. Und falls jetzt doch noch jemand einwenden wollte, dass der Dichter mit dem Blick auf die Hausmeister vielleicht sein soziales Gewissen für die unteren Klassen entdeckt haben könnte, verweise ich auf die letzten Worte dieser Passage: „daun ee“. Das „ee“ ist bekanntlich ein Lieblingswort des Wiener Dialekts. Es besitzt mindestens 1001 Bedeutungsnuancen und mit den meisten davon verbindet sich eine gehörige Portion Schlitzohrigkeit. Unsere Sprecherinstanz bringt damit zum Ausdruck, dass sie aus langjähriger Erfahrung weiß, dass am Ende des Winterzaubers ,selbstverständlich‘ die Hausmeister zur Schaufel greifen müssen, um die normalen Verkehrsverhältnisse wieder herzustellen, ohne die eine große Stadt nun einmal nicht funktionieren kann. So war es schon immer und so wird es auch dieses Mal sein. Man weiß das, aber das Wörtchen „ee“ macht darüber hinaus deutlich, dass es im Grunde keinen interessiert. Schmäh in Reinkultur!

Nachdem die Refrain-Strophe das ,große Ganze‘ des Witterungsereignisses betrachtet und den Weg der weißen Pracht von ihrem himmlischen Ursprung bis zu ihrer unspektakulären Beseitigung verfolgt hat, geht es in den nächsten vier Versen wieder um das Private. Da der dichte Schneefall um das Paar herum den Horizont verengt, kommt es dem Sänger so vor, als sei die Welt hier an ihr Ende gekommen. In der Naheinstellung des Blicks verschwinden die eigenen Beine („fiass“) im Tiefschnee, wodurch sich das gute Gefühl von Bodenhaftung (,Erdung‘) und damit verbundener Sicherheit auflöst. Das Versinken im Schnee erinnert an die Situation des Ertrinkens im Wasser,* Gedanken an das Ende der eigenen Existenz drängen sich auf. Allerdings bleiben der Sprecherinstanz als letzte Rettungsanker noch die Hände der geliebten Bezugsperson, die sie festhält und von denen sie sich durch alle Gefahren leiten lässt. Der zweite Teil von Vers 13 gibt dem Interpreten allerdings noch einmal eine ordentliche Nuss zu knacken …

Eigentlich würde man angesichts des gewaltigen Schneefalls erwarten, dass sich das Ich von der Kälte, die allen Personen auf der Hauptallee ins Gebein kriecht (vgl. Vers 4), bedroht fühlen und sich an die wärmenden Hände der Geliebten halten würde, um diese Gefahr zu bannen. Diese Erwartung wird von Molden aber sofort gnadenlos abgeschmettert. Eine Gedankenführung nach diesem Schema wäre poetisch einfach zu konventionell. Kitschalarm! Stattdessen geleiten im vorliegenden Liedtext die schützenden Hände des Partners das Ich durch eine ,hausgemachte‘ Flammenhölle: „duach oes wos en mein feia vabrennd“. Die äußere Bedrohung durch Kälte und Schnee weicht überraschend einer neuen, nun aber inneren, seelischen Bedrohung. Für diese ist keine höhere Instanz im Wolken- oder Theaterhimmel verantwortlich zu machen, sondern sie entspringt einzig und allein der Sprecherinstanz, die ihr ,Feuer‘ nicht beherrschen, ihr hitziges Temperament, ihre Triebe etc. nicht zügeln kann, dadurch im Laufe ihres Lebens so manches verbockt hat und nun mit dieser Schuld zurecht kommen muss. (Zum Glück nicht allein!)

Welcher Art aber könnte dieses Flammeninferno, das von keinem Schneegestöber zu ersticken ist, sein? Und was könnte darin verheert worden sein?

Schwer zu sagen, das Lied gibt dazu – soweit ich sehe – keine hilfreichen Hinweise. Also reicht der Dichter/Sänger das Problem höchstwahrscheinlich an seine Zuhörer weiter: Mögen die sich doch selber erforschen, ob sie dergleichen destruktive Mächte – schlechte Gefühle, Wut, Hass, Neid, Eifersucht – in sich verspüren. Ob Ihnen bei der Selbsterkundung womöglich ,Dinge‘ (Chancen, Beziehungen, Freundschaften…) einfallen, die sie im Laufe ihres Lebens ,verbrannt‘, d.h. ruiniert haben und deren kokelnde Überreste ihnen noch immer gewaltig an die Nieren gehen.

Hans-Peter Ecker, Bamberg

* Viele Lieder auf dem Album Ho rugg, haben in dieser oder jener Form mit dem feuchten Element zu tun, wobei dieses Blog allerdings nicht das geeignete Format bietet, solche einzeltextübergreifenden Zusammenhänge näher zu verfolgen.

Literatur:

Schmäh als ästhetische Strategie der Wiener Avantgarden. Hrsg. von Irene Suchy. Vorwort von Hubert Christian Ehalt. Weitra: Bibliothek der Provinz, 2015.

Michael Schophaus: Schnee: Eine Liebeserklärung an den Winter. Aarau und München: AT Verlag, 2019.     

Wieder nichts los heute. Gedanken zu „Was so alles geschieht in der Carnaby Street“ (1969) von Peggy March (Komponist: Henry Mayer, Texter: Hans Bradtke)

Peggy March 

Was so alles geschieht in der Carnaby Street (Text: Hans Bradtke)

Was so alles geschieht in der Carnaby Street
Und ein Carnaby Boy spielt auf seiner Guitar
Für die Leute ein Lied in der Carnaby Street
Was so alles geschieht, ja die Girls und die Boys
Kommen raus aus dem Haus
Denn sie hören den Beat in der Carnaby Street

Allen geht der Beat in die Beine
Und die Melodie geht ins Ohr
Ja und alle denken das eine
Das gibt es nur in der Carnaby Street
Was so alles geschieht in der Carnaby Street
Ja die Girls und die Boys
Alle pfeifen das Lied in der Carnaby Street
Was so alles geschieht in der Carnaby Street
Unser Carnaby Boy spielt mit seiner Guitar
Nun auf Platten die Hits aus der Carnaby Street

Was so alles geschieht
Ja die Girls und die Boys zahlen gerne den Preis
Und sie kaufen den Hit aus der Carnaby Street

Allen geht der Beat in die Beine
Und die Melodie geht ins Ohr
Ja und alle denken das eine
Das gibt es nur in der Carnaby Street
Was so alles geschieht in der Carnaby Street
Ja bei Tag und bei Nacht
Pfeiffen alle den Hit auf der Carnaby Street

     [Peggy March: Happy End Im Hofbräuhaus / In Der Carnaby Street. Decca 1969.]

Die literarisch-ästhetische Geschichte der Moderne im 20. Jahrhundert hat viel mit Illusion und Desillusion zu tun, mit Posern und Sich-Entlarvt-Fühlenden. In seiner radikalsten Form sieht man das wohl heute auf den diversen sozialen Medien-Plattformen. Da gibt es Bilder, in denen eine braungebrannte Person vor einer in Schnee erstrahlenden Berglandschaft steht, oder eine andere Person mit Hund im wundervoll-blauen Meer herumhüpft. Das alles sieht dann perfekt aus, irgendwie bunt und irgendwie so cool, dass man das dann auch gerne möchte (vielleicht). Und dann fährt man zur glitzernden Eislandschaft, und findet dort Tauwetter (das seit ungefähr zehn Jahren herrscht, die Schneekanonen waren natürlich nicht im Bild, fein säuberlich rausediert). Oder man fährt ans Meer (ohne Hund) und findet dort, links und rechts des Bildrands, Kräne vor in der Ferne und wolkenverhangene Klimaextreme.

Das Ganze ist freilich keine neue Einsicht, dass die abgebildete Realität hinter der Abbildung oft wenig mit dem zu tun hat, was man sehen gemacht wird, ja zumeist in dieser Form gar nicht existiert. Der französische Philosoph Jean Baudrillard hat die radikalste Form dieser künstlich erzeugten Kopien ohne real vorhanden Ursprung Simulacrum genannt. In der amerikanischen Literatur ist die große Entzauberung abseits der sozialen Bühne Thema vieler Romane, Filme und Theaterstücke. Fitzgeralds Gatsby mag deswegen so eine große Renaissance erfahren, weil er die existenzielle Crux personifiziert, dass, selbst wenn das perfekte Bild mit viel persönlichem und finanziellem Aufwand dann erzeugt ist, man auch nicht wirklich aller Probleme des Lebens ledig ist.

Style over stubstance, also hippes Aussehen über das Tiefgründige zu stellen, ist – vor allem in Jugendkulturen – ein wichtiges Identitätsmerkmal, oder Teil von deren Performanz. Das ‚Posen‘ (also das sich Darstellen) hat hier vielleicht seine unterschwellige Kritik in jüngerer Zeit verloren. Als ich noch zur Schule ging, war ein Poser jemand, der vielleicht zu sehr darum bemüht war, nach Außen einen überkandidelten Eindruck zu machen. Heute sind wir wohl alle auf die eine oder andere Weise Posende, und keine findet es mehr ungewöhnlich, sich nach links zu drehen (das Profil ist dann schöner) oder nach rechts (heute seh ich da einfach besser aus) oder leicht von oben fotografiert zu werden (mit Schnute – was auch immer das zu bedeuten hat). Da unsere Kulturen inzwischen auch oft Erwachsene wie Kinder behandeln, und Erwachsene sich wie Kinder behandeln lassen, scheint die Jugendkultur nun altersfrei und grassierend.

Nun, Poser in diesem Sinne gab es in den verschiedensten Epochen (man denke nur an die Dandys), nur vielleicht nicht so viele. Im postmodernen Kontext kann der Hang zum coolen Aussehen spielerisch eingesetzt werden, und die Identitätsfassade zum Puzzlespiel werden, aus dem hervor geht, dass hinter dem Schein kein Sein ist und folglich Freiheit. Ich möchte im modernen Sinne aber argumentieren, dass das Posen (im exzessiven Maße) oft vor allem eine anderweitige Leere maskiert. Posen ist eine performative Antwort auf einen modernen Ennui, in dem man zu viel Zeit hat und folglich, das eigentlich Langweilige zur Substanz erhebt.

In diesem Zusammenhang möchte ich ein Lied von der Schnittstelle der modernen Poser-Kultur hin zur postmodernen beleuchten. In Peggy Marchs Was so alles geschieht in der Carnaby Street, veröffentlicht 1969, wird von Textdichter Hans Bradkte (übrigens neben seinem Beruf als Textdichter und Komponist auch als sozial-satirischer Karikaturist in der Nachkriegszeit tätig) die Ironie auf den Punkt gebracht: Auf der telling-Ebene versichert der Panorama-Sprecher unzählige Male, dass in der Carnaby Street so einiges geschieht (mehr als ein Fünftel des Lieds setzt sich aus der Titelzeile zusammen.) Qualitativ ausgewertet, und auf der showing-Ebene, allerdings, passiert recht wenig abseits der Ästhetik, oder es geschieht genau Folgendes: Ein Straßenmusiker zupft auf seiner Gitarre. Jemand kommt aus einem Haus, pfeift und tanzt ein bisschen, und irgendwie geben Leute gerne Geld aus, um cool dazuzugehören. Also im Grunde passiert dort nichts, was heute nicht auch an jedem anderen Tag in jeder x-beliebigen Straße, vor jedem x-beliebigen Haus passieren könnte. Im Gegenteil: In der Straße eines Mannheimer Polizeipräsidiums passiert gerade in diesem Moment vermutlich mehr, obwohl es die Carnaby Street auch heute noch als Shoppingmeile, Fußgängerzone und Touristenmagnet gibt. Der Unterschied ist der sozial-historisch Kontext und die brand association: Da es in der Carnaby Street geschieht, ist es was besonders. Um diese soziokulturelle Verortung auch nie aus den Augen zu verlieren, wird, dem modernen product placement entsprechend, das Wort Carnaby ganze 14 Mal in einem Liedtext von 28 Zeilen platziert. Werbetechnisch könnte man von Sättigung sprechen. Selbst nach dem ersten Hören, kann wohl jeder sagen, wo die Handlung spielt.

Kulturelle Gesten wie gesprochene Worte, das wissen wir aus der Sprachphilosophie, erhalten ihre Bedeutung und ihren Sinn im Widerspiel mit anderen Zeichen. Natürlich, werden viele jetzt sagen, muss man die Carnaby Street und was dort geschieht, nicht von heute aus betrachten, sondern im späten 1960er-Jahre-Kontext sehen. Da gab es die Beats und die Mods (im Grunde wie die Beats nur öfter im Anzug, Rod Stewart soll mal einer gewesen sein), die Rock‘ n‘ Roll und anti-establishment culture in das Zentrum eines Swinging Londons trugen. So gesehen, war damals auf der Straße Tanzen und Pfeifen vielleicht doch so rebellisch wie wenn Lady Gaga heute zu einer Preisverleihung ein Kleid aus rohem Fleisch aufträgt (obwohl das nun auch schon wieder Schnee von gestern ist). Und ja, das Lebensgefühl eines Swinging Londons wird im Lied sicherlich heraufbeschworen. Die Anglizismen Carnaby Boy and Girl scheinen hier eine klare Kategorisierung vorzunehmen, die diese besonderen Jugendlichen von den provinziellen Mannheimer Jungs und Mädels sicherlich unterscheiden möchte. Auch Peggy Marchs angelsächsische Vokalität (sie war eigentlich Amerikanerin nicht Britin) und das anglisierende Clipping „Guitar‘“ tragen dazu bei. Auch heute noch klingt Englisch cool in der Werbe-, Mode-, und Popmusik-Sprache.

Ungeachtet dessen geht es vor allem um den Style in der Carnaby Street: Die Boys und Girls möchten gesehen werden, sie kommen aus dem Haus. Sie wollen cool wirken und dazugehören. Da liegt der Ursprung der FOMO – der fear of missing out oder Angst des Verpassens, denn „alle denken nur das eine“ und dieses eine ist nicht konkret ausgeformt oder substantiell, es ist konzeptionell, „was so alles geschieht“, und damit vage. Man weiß nie genau, was man jetzt eigentlich abseits vom wortreichen Poser-Getöse verpasst hat. Und damit bleibt es interessant. Zu viel Bewegung gibt es auch nicht im liedtextlichen Milieubild, Jugendlich-kulturelles Understatement kommuniziert ein Cool Britannia: Der Beat (ein weitere Anglizismus mit direkter Referenz auf die Beatles) geht in die Beine, aber reißt wohl nicht den ganzen Körper mit (auch wenn das vermutlich durch Konzert-Ausschnitte der Beatlemania damals schon assoziiert werden konnte). Heute wird dieses jugendliche Understatement auf sonore Weise weiterperformt, wenn YouTuber zum Beispiel einen gelangweilten Stimmton anschlagen, den sogenannten vocal fry, um so unterinteressiert-relaxt wie möglich zu wirken, gerade so, als könne ihnen das Leben auf Kim Kardashians linker Po-Hälfte heruntertuschen. Die hat das, zu Deutsch, Stimmbrutzeln übrigens vor einigen Dekaden populär gemacht. (Also nicht die Po-Backe, natürlich, aber Sie wissen schon.)

Gesittetere Elternhäuser der 1960er sehen in diesem Carnaby Beat, der die boys und girls auf die Straße lockt, vielleicht eine Art Rattenfänger von Hameln-Situation. Im Text geht es vor allem um die verführerisch neue Musik einer jungen Popkultur. Musik-Wörter sind die einzigen von praktischer Substanz im Text (hören, Gitarre spielen, Hit, Melodie, Platten). In der Tat ist das die Essenz der 1960er Beat-Kultur: Man trifft sich (als junge Leute) und hört Musik zusammen, die amerikanisch angehaucht und oft unerhört psychedelisch-aufreizend ist. Als ich vor einigen Monaten in Liverpool bei einer Galerie nahe des Beatles-Museums mit einer Dame sprach, die das Geschäft seit vielen Jahren betreibt, wurde mir das revolutionäre Potenzial dieses inzwischen alltäglich wirkenden ästhetischen Zusammenseins klar. Sie erzählte mir, wie sie als junges Mädchen von 15 Jahren im Cavern Club, also dem damaligen Ort für neue Popmusik in Liverpool, die Beatles und andere Musiker sah. Sie traf sich dort oft, sagte sie, nicht zu Alkohol und Drogen-Partys, sondern zum Kaffee, am Nachmittag, nach der Schule. Da der Club nach unten ging und selten gut belüftet war, waren die Wände pelzig und nass.

Das Wort ‚unschuldig‘ kommt einem hier in den Sinn. Ja, Mode und Musik wurden wichtige Faktoren in der kulturellen Revolution (und Kommunikation) der Jugend, die Mitte des letzten Jahrhunderts an Fahrt aufnahm. Als soziokultureller Schauplatz steht die Carnaby Street auch dafür. Aber es ging auch darum gesehen zu werden, als Gemeinschaft, in der jemand einen roten Pelz und eine gelbe Boa trug, und bewundert werden wollte und es vermutlich auch wurde, bevor man dann zusammen etwas unternahm. Heute, kann man vielleicht sagen, geht es nicht mehr so sehr um die Gemeinschaft, sondern um das Gesehen-Werden allein und die Dokumentation des Dabeiseins (ein Selfie, wie ich diesen Artikel schreibe, können Sie gerne bei mir direkt anfordern).

Vielen tragen inzwischen rote Kunst-Pelze oder ein Äquivalent und realisieren damit, womöglich unbewusst, was Monty Python schon im Life of Brain aufs Korn genommen haben. „Ihr seid doch alle Individuen!“, ruft die Titelfigur da. Und eine treue Meute antwortet mit dem Kopf nickend: „Ja, wir sind alle Individuen.“ Was also unschuldig begann, hat sich hin zu einer merkwürdigen Massentendenz zur Vereinzelung stilisiert. Gesehen werden, reicht nicht immer. Vielleicht schaut man heute zusammen, wie jemand ein Computerspiel spielt, allerdings trifft man sich dazu vermutlich nicht mehr in einem pelzigen Club zum Kaffee. Wenn Bradtke in seinem Text die Kosten eines jugendkulturellen Geschehens beiläufig erwähnt („Ja die Girls und die Boys zahlen gerne den Preis“), dann möchte man von einer kulturkritischen Position fast 50 Jahre später einmal fragen, was so alles geschehen ist seitdem, und welchen (mentalen) Preis des Dabeiseins beispielsweise die Boys und Girls auf Instagram heute zahlen.

Auch dort ist eigentlich nicht wirklich viel Bewegendes los. Aber alle wollen ständig hin.

Florian J Seubert, London

Rummelplatz mit Herz. „Rudschduam“ – Wiener Big City Blues von Ernst Molden, Willi Resetarits, Walther Soyka und Hannes Wirth (2013)

[Video: Es ist bereits dunkel, drei Jungs checken ihre Barschaft: drei Euro-Münzen. Leuchtschriften über Prater-Schaustellerbetrieb, Schaustellerin am Kassenhäuschen lehnend: „Calypso“, „Spaß für Alle“. Schaustellerin, gesprochen: „Na, meine Herrn!“Sie lächelt die Jungs an, Einsetzen der Musik. Sie weist auf ein Schild „Heute gratis!“ Sie lässt die Jungs eintreten und dreht hinter ihnen das Schild um, dessen Rückseite den unterstrichenen Schriftzug „geschlossen“ aufweist.]

Ernst Molden, Willi Resetarits, Walther Soyka und Hannes Wirth

Rudschduam

aum rudschduam sogd de mama					1
aum rudschduam gesd ma ned
wäu do mittn en da kuavm a muadsdrumm schiefa ausseschded
und dea  foad da duach dei hosn
und dea foad da duach dei lem					5
s muass en proda jo doch wiagglech aa no aundare sochn gem

mia foan ned med da hochschaubaun
de hochschaubaun is hi
mia schiassn med de luftdruggwea
bis s weg is de marie						10
jo da proda jo da proda
dea red mea oes wos a kaun
owa drodsdem owa drodsdem 
oaw drodsdem schau dan aun

mia fliagn ned med da prodafee					15
de prodafee is fuat
und um de zeid sogn da easchde
naa des is kaa guada uat
und da proda jo da proda
dea schreid vua lauta schmeaz 					20
des beweisd uns des beweisd uns
ea hod a heaz

nua da rudschduam hod heid offn
oes wiara leichduam en da nochd
schdeig ma auffe rudsch ma owe					25
wäu da mama ollas glaum
hods ee ned brochd

schdeig ma auffe rudsch ma owe					
wäu da mama ollas glaum
hods ee ned brochd						30

schdeig ma auffe rudsch ma owe					
wäu da mama ollas glaum
hods ee ned brochd

     [Molden, Resetarits, Soyka, Wirth: Ho Rugg. Monkey 2013. Text zitiert nach dem Booklet der CD.]

Für Menschen, die sich mit dem Wienerischen schwer tun, nachfolgend ein Übersetzungsversuch von mir:

Auf den Rutschturm, sagt die Mama, / auf den Rutschturm gehst du mir nicht! / Weil dort mitten in der Kurve ein Riesenspreißel herausragt. / Und der fährt dir durch die Hose / Und der fährt dir durch dein Leben. / Es muss im Prater doch wirklich noch andere [interessante] Sachen geben.

Wir fahren nicht mit der Achterbahn, / die Achterbahn ist kaputt. / Wir schießen mit dem Luftgewehr, / bis das ganze Geld weg ist. / Ja der Prater, ja der Prater, / der verspricht mehr als er hält. / Aber trotzdem, aber trotzdem / aber trotzdem solltest du ihn dir ansehen.

Wir fliegen nicht mit der Praterfee, / die Praterfee ist fort. / Und um die Zeit sagt der Erste: / „Nein, das ist kein guter Ort!“ / Und der Prater, ja der Prater, / der schreit vor lauter Schmerz. / Das beweist uns, das beweist uns: / Er besitzt ein Herz.

Nur der Rutschturm hat heute offen / wie ein Leuchtturm in der Nacht – / Steigen wir hinauf, rutschen wir runter, / Weil der Mama alles glauben / hat es sowieso nicht gebracht.

Steigen wir hinauf, rutschen wir runter […]

Anfang dieses Jahres sind mir Ernst Molden und seine musikalischen Mitstreiter zum ersten Mal ,untergekommen‘ und haben mich spontan ganz außergewöhnlich beeindruckt. Meine Besprechung von Awarakadawera zeugt von dieser Begegnung, bei der es in den Folgewochen nicht geblieben ist. Ich habe mir die Alben besorgt und darauf viele Titel gefunden, die mir sowohl von den Texten als auch von den Kompositionen her so gut gefallen, dass ich darüber am liebsten eine ganze Reihe von Beiträgen für dieses Blog verfassen möchte. Fangen wir mit dem Rudschduam an, nicht zuletzt deshalb, weil es dazu ein kongeniales Video gibt…

Das Lied, eigentlich eine Ballade im literarischen Sinne, handelt vom Praterbesuch dreier Jungs (die Zahl ergibt sich lediglich aus dem Video), die dabei das mütterliche Verbot übertreten, den „Rudschduam“ zu betreten. Meine nachfolgende Interpretation wird erklären, warum die Mutter ausgerechnet über diese Lokalität des Vergnügungsparks ein Tabu verhängt, wie es zum Ungehorsam der Jungs kommt und welche Konsequenzen sich daraus ergeben. Am Ende gehe ich der Frage nach, welcher Sinn dieser merkwürdigen Geschichte innewohnen könnte.  

Die einleitende Videosequenz greift der im Liedtext erzählten Handlung vor, indem sie schon deren Ausgang vorwegnimmt: Die Jungs lassen sich verlocken, den von Muttern verbotenen Ort zu besuchen. Sie folgen mehr oder minder widerstandslos der Einladung der Schaustellerin, obwohl deren ganzer Habitus keinen besonders vertrauenserweckenden Eindruck macht. Ihre Anrede („Na, meine Herrn!“) klingt wie eine – natürlich ironisch grundierte – Anmache und ihr süffisantes Lächeln verstärkt das Zwielichtig-Schlüpfrige der Situation. Dass das Vergnügen (große Leuchtreklame: „Spaß für Alle“) auch noch gratis zu haben sein soll, bricht den letzten Widerstand der Jungs. Wie hypnotisiert durchschreiten sie die ihnen aufgehaltene Pforte und betreten das verbotene Terrain. Die Schaustellerin – Verführerin, gute Fee, Hexe? Man erinnere sich an die Leuchtschrift „Calypso“! – schließt hinter ihnen ihr Geschäft. Klappe zu, Affe tot…

Nun setzt die Sängerstimme ein. An den Anfang setzt sie das mütterliche Gebot, dem Rutschturm fernzubleiben. Sie redet ihren Sprößling im Singular an, also müssen wir uns die beiden anderen Jungs im Video als seine Kumpels denken. Der Anordnung folgt eine vordergründig vernünftig klingende Begründung: In der Kurve der Rutschbahn rage ein gewaltiger „Schiefer“ (Splitter, Spreißel) hervor, der dem Kind nicht nur durch die Hose, nein, durch sein ganzes Leben fahren werde. Diese Gefahr müsse unbedingt gemieden werden; schließlich sollten in einem solch großen Vergnügungspark wie dem Prater auch noch andere, weniger riskante Belustigungen zu finden sein. Der Fortgang des Liedes wird allerdings zeigen, dass dem nicht so ist. 

Aber so weit sind wir noch nicht, zur geschilderten Ausgangslage bleiben noch einige wichtige Aspekte anzumerken. Da ist zunächst die seltsame Begründung des mütterlichen Verbots. So plausibel sie sich vielleicht für den Knaben anhört, so unglaubwürdig klingt sie für den literaturgeschichtlich bewanderten Interpreten, dem sofort allerlei Assoziationen und Bedenken durch den Kopf schießen.  Falls es denn tatsächlich stimmen sollte, dass man sich auf der Praterrutsche – die sicherlich regelmäßig gewartet und vom TÜV kontrolliert wird – mächtige Spreißel einziehen kann, hört es sich doch reichlich übertrieben an, dass so ein Schiefer einem gleich ,durch das Leben‘ fahren sollte. Da trägt die Mutter doch ziemlich dick auf, oder? Oder versteht sie den Splitter womöglich nicht wörtlich, sondern nimmt ihn als Symbol für etwas anderes, ihrem Empfinden nach viel Schlimmeres?

Erst einmal auf dieser Spur, liegt es nahe, in Symbol-, Ikonographie- und Traumdeutungs-Lexika nachzuschauen, ob die nicht etwas zu Rutschbahnen, Rummelplätzen und Spreißeln zu sagen haben. Und in der Tat findet man in der einschlägigen Literatur Erklärungen, die auch recht naheliegen: Rutschen wie Rummelplätze sind hinsichtlich ihrer symbolischen bzw. psychologischen Nebenbedeutungen recht ambivalente Örtlichkeiten. Sie repräsentieren Kommunikation, Leichtigkeit und Lebensfreude, aber auch damit verbundene Risiken, wie den Halt verlieren, nicht ,die Kurve kriegen‘, auf die schiefe Bahn bzw. in schlechte Gesellschaft geraten, Enttäuschungen erleben und Verletzungen erleiden zu müssen. Die Mutter imaginiert den großen Schiefer in der Rutschbahn, analog zu funktional ähnlichen Traum-Objekten wie Dornen oder Nägeln. Im Volksaberglauben warnt man die Rutschenden speziell vor Neidern und Enttäuschungen in Liebesdingen. Während das Neid-Thema im Zusammenhang unseres Liedes – jedenfalls soweit ich sehe – keine Rolle spielt, passt der andere Aspekt durchaus zur unterschwelligen Sexualisierung der Einladung, die im Video als eine Art ,Verführung‘ inszeniert wird. Von der Mutter und ihrem Verbot her gedacht, darf man wohl unterstellen, dass sie ihrem Sohn gerne sein Kindheitsparadies möglichst lange bewahren möchte und ihn deshalb von einschlägigen Gefahrenzonen fernzuhalten trachtet.

Mich erinnert diese Konstellation massiv an zwei andere bekannte Narrative, in denen naiv-unschuldige Protagonisten von ihren Altvorderen mit strikten Verboten belegt werden, um sie vor Bösem zu bewahren – natürlich auch dort ohne Erfolg: Rotkäppchen fällt auf die List des Wolfes ebenso (bereitwillig) herein wie Stammmutter Eva auf die Schlange oder eben unser vorpubertärer Sohnemann auf das Gratisangebot der Schaustellerin. Am Ende zeigen alle drei Geschichten auf ihre je spezifische Art, dass Vorbote, so gut gemeint sie auch sein mögen, nicht verhindern können, dass Menschen ihre eigenen Wege gehen, weil sie irgendwann erwachsen werden müssen, dabei zwangsläufig der eigenen Sexualität begegnen, ihre Kindheits-Paradiese verlieren und als Konsequenz das Auf und Ab des Lebens aushalten und verantworten müssen: „Steign mer aufi, rudsch mer obi“ …

Die drei Jungs machen es sich (im Lied, nicht im Video, wo sich alles ,ratz-fatz‘ abspielt!) übrigens nicht so leicht wie Eva, Adam und Rotkäppchen, bemühen sie sich doch eine geraume Weile redlich, dem mütterlichen Gebot Folge zu leisten. Aber die Umstände sind gegen sie… Zunächst steuern sie die „Hochschau-Bahn“ an. Dabei handelt es sich um eine gemütliche Holzachterbahn mit relativ bescheidenen Gefäll-Passagen, die man durchaus als kindgerecht bezeichnen kann, wenngleich sie – wie ihre Geschichte ausweist – auch nicht völlig ungefährlich gewesen ist; denn die erste, 1909 eröffnete Ausgabe dieses Kirmesvergnügens brannte ein paar Jahrzehnte später aufgrund eines Kurzschlusses ab, wobei meines Wissens aber niemand zu Schaden gekommen ist, so dass unsere Mutter ihren Kleinen bei dieser Einrichtung gut aufgehoben gewusst hätte. Zumal das 1950 eröffnete Nachfolgermodell, dessen Strecke durch ein Alpenpanorama führt und mit Gartenzwergen dekoriert wurde, weshalb es sowohl als „Alpenbahn“ wie auch als „Zwergerlbahn“ bekannt geworden ist, durch einen stets mitfahrenden Bremser noch einen zusätzlichen Sicherheitsfaktor aufzuweisen hat. Pech für unsere Jungs, dass diese schöne Anlage gerade defekt (im Liedtext „hie“) war.

Vgl. zu diesem vielsagenden Dialektausdruck des Wienerischen und Oberbairischen das wohlklingende Stimmungslied der Münchner Dixieband Hot Dogs: „Schaug hi, da liegt a toter Fisch im Wasser, / den mach ma hi, den mach ma hi.“

Besagter Oktoberfesthit referiert musikalisch, darin berühmten Vorbildern von Richard Strauss bis Nicolai Rimski-Korsakow nacheifernd, auf eine populäre italienische technische Einrichtung mit (seinerzeit) beachtlicher Gefällstrecke, deren erste Version, fast drei Jahrzehnte vor der ersten Wiener Hochschaubahn unter großer Anteilnahme der Bevölkerung in Betrieb genommen, 1944, d.h. im selben Jahr, als die erste Praterbahn abbrannte, spektakulär durch elementares Wüten vulkanischer Natur zerstört und deren erneuerte Variante seit 1984 stillgelegt wurde  – so dass sie heute wohl ebenfalls als ,hi‘ bezeichnet werden kann. Dies aber nur am Rande…

Ihre weitere Praterrunde führt die Jungs zu einer Schießbude, wo sie ihre vermutlich karge Barschaft (im Lied „Marie“ tituliert – gleichbedeutend mit Flocken, Kröten, Penunzen, Knete, Schotter, Mäuse, Kohle, Moos, Pulver etc. etc.) loswerden. ,Verpulvern‘ kann ich hier schlecht sagen, weil ihre Schießprügel – ganz kindgerecht! – nur per Luftdruck arbeiten, sodass Muttern gegen dieses jungmännliche Vergnügen höchstwahrscheinlich keine ernsteren Einwände erhoben hätte. Als hellwache Beobachter des Vorgangs notieren wir an dieser Stelle, dass die jungen Praterbesucher jetzt ,blank‘ sind und schließen daraus messerscharf, dass sich ihre Anfälligkeit für Gratisangebote von nun an erheblich gesteigert haben dürfte.

Ich überspringe die nächsten vier Liedzeilen (11-14), die nicht nur den Handlungsgang unterbrechen, sondern auch dem Verständnis einigen Widerstand entgegensetzen. Wir werden uns ihnen aber noch ausführlich widmen, dann auch gleich im Zusammenhang mit den ähnlich gebauten und kontextualisierten Zeilen 19-22.  Dazwischen berichtet der Liedtext von einem weiteren, zugleich letzten Versuch der Jungs, sich ein ,erlaubtes Vergnügen‘ zu gönnen, einen Besuch der „Praterfee“. Dabei handelt es sich um ein Traditionsrestaurant mit angeschlossenem ,Kinderparadies‘ aus Trampolinen, Luftburgen und einer Kinderautobahn. (Details und Vorgeschichte spare ich aus.) Laut einer Pressenotiz des Wiener Kuriers vom 15. März 2018 sperrte die Besitzerin ihre Anlage noch vor der Saison für den öffentlichen Betrieb und wollte sie nur noch für Privatpartys vermieten. Damit standen unsere Jungs auch bei dieser Bemühung um ein kindgerechtes Vergnügen vor verschlossenen Türen, wobei offenbleibt, wie sie sich ohne „Marie“ hätten Zugang verschaffen wollen. (Schon 8 Minuten Trampolinspringen, das preiswerteste Angebot der Praterfee, hätte sie pro ,Mann‘ € 3,- gekostet …)

In diesem Augenblick wird es dem ersten der Jungs (nun rechnet auch der Liedtext mit mehr als einem kindlichen Praterbesucher!) mulmig. Ihm drängt sich das Gefühl auf, dass hier einiges schief läuft und man sich an einem verhexten Ort befindet. Zu spät! Wie ein ,Leuchtturm in der Nacht‘ verkündet der Rutschturm, dass er offen ist, und er zieht die Knaben an wie das Licht die Motten … Was dann passiert, wissen wir aus der Eingangssequenz des Videos. Man steigt hinauf und rutscht hinab. Ob es wirklich Vergnügen macht, ist schwer zu sagen. Auf den Bildern des Videos schauen die Burschen eher neutral. Schiefer scheinen sich ihnen nicht in den Hintern zu bohren. Die Rutschfahrt führt am Ende des Videos ins Schwarze. Ich würde das so interpretieren, dass uns die weitere Zukunft der Jungs, die früher oder später erwachsen und das Auf und Ab des Lebens mehr oder minder gut bestehen bzw. ertragen werden, verborgen bleibt. Auch die Schweige-Geste der Schaustellerin, die zuvor mit einer Glaskugel hantiert hat und deshalb vielleicht etwas von der Zukunft weiß, deutet für mich in diese Richtung.

Mit einem schlechten Gewissen scheinen sich die Jungs nicht mehr groß herumzuplagen, sobald sie das mütterliche Gebot einmal verletzt haben. Ihre Haltung ist durch und durch pragmatisch. Eine neue Regel begründet die über Bord geworfene alte, an der man umständehalber nicht festhalten konnte oder wollte: „Weil der Mama alles glauben / Hats eh ned bracht.“ Ziemlich cool, will sagen abgebrüht… schon fast erwachsen.

So bleiben denn noch acht vertrackte Liedzeilen zu erklären, die in gewisser Weise außerhalb der ,normalen‘ Erzählung vom Praterbesuch der Jungs und ihrer Verführung zum Ungehorsam stehen. Wenn man sie nebeneinander stellt, erkennt man leicht, dass sie formal und inhaltlich parallel geführt sind. Beide personifizieren den Wiener Vergnügungspark und sprechen ihm menschlich-individuelle Eigenschaften zu.

jo da proda jo da proda                               und da proda jo da proda
dea red mea oes wos a kaun                    dea schreid vua lauta schmeaz 				
owa drodsdem owa drodsdem                 des beweisd uns des beweisd uns
drodsdem schau dan aun                          ea hod a heaz

Meine folgende Interpretation verstehe ich als Lektüre-Vorschlag, als Angebot; ich halte sie nicht für zwingend begründbar und schon gar nicht für den einzig denkbaren Weg zu einem befriedigenden Verständnis dieser Liedzeilen. Wenn man andere Vergleichstexte im Hinterkopf hat als ich oder eine andere Auffassung von Kunst, kommt man praktisch zwangsläufig auf andere Ideen.

Ich beginne mit dem Versuch, die Redesituation zu klären, was sich allerdings als gar nicht so einfaches Unterfangen erweist. Einigermaßen unstrittig dürfte sein, dass sich die Redesituation dieser acht Zeilen radikal von jener des übrigen Liedtextes unterscheidet. Dort haben wir einen Erzähler, der in personaler Perspektivierung das Prater-Abenteuer einiger Jungs zum Besten gibt. Zum Ablauf des Geschehens gibt es keine historische Distanz, sondern die Erzählinstanz stellt die Vorgänge wie bei einer Reportage synchron im Vollzug dar. Die oben zitierten acht Zeilen sprengen nun sowohl die Perspektive als auch den naiven Bewusstseinshorizont der jungen Protagonisten. Diese Verse werden von jemandem gedacht und ausgesprochen, der über eine intime Kenntnis des Wurstelpraters verfügt, mit dessen ,Innersten‘ vertraut ist. Wer könnte das sein?

Die Kostümierung und Gestik der Sänger im Video gibt dafür einen Hinweis. Die Kleedage der Musiker kommt tendenziell ,unbürgerlich‘, fast schon ,halbweltartig‘ daher, ist aber alles andere als schäbig oder abgerissen. So könnten vielleicht Besitzer von Rummelplatz-Etablissements, von Fahrgeschäften und Prater-Restaurants in ihrem Milieu auftreten. Die Zauberkunststückchen, mit denen Leadsänger Willi Resetarits in seiner Rolle als Praterexperte die Jungs fasziniert, würden dazu passen. Freilich kann man die Interpretation auch noch etwas kühner, nämlich traumartiger oder ,surrealer‘ konzipieren; dann könnte man sich vorstellen, dass die Sprecherinstanzen der hier diskutierten acht Verse Prater-Geister sind, Verkörperungen des ,Wesens‘ dieses kulturgeschichtlich bedeutsamen Rummelplatzes, der im Laufe seiner Geschichte die Glücksphantasien vieler Menschen bewegt und nicht selten bitter enttäuscht hat. Dabei denke ich jetzt eher an Charaktere aus fiktionalen Genres (Novellen, Theaterstücken, Filmen) als an reale Personen. (Eine Verbindung zu dem Spielfilm „Praterherzen“ von Paul Verhoeven, 1953, sehe ich übrigens nicht.) Würde man hier konkret werden wollen, käme ganz schnell ein Büchlein zusammen …

Für besagte ,Geister‘ könnte man konkrete Figuren andenken, wie den historischen Hanswurst Joseph Anton Stranitzky (1676-1726, Begründer des Alt-Wiener Volkstheaters), den legendären Schausteller, Gasthausbesitzer und Zauberkünstler (!) Basilio  Calafati (1800-1878), Arthur Schnitzler (Verfasser des „Lieutenant Gustl“) usw., wovon ich aber abrate, da das Lied dafür m.E. keine hinreichend konkreten Anhaltspunkte aufweist. Interessanter scheint es mir, in die umgekehrte Richtung zu gehen, d.h. zu abstrahieren statt zu konkretisieren. Auf diese Weise würde ich es für nicht unplausibel halten, den Prater – Vergnügungs-Ort und Wunschmaschine in einem – als Stellvertreter für alle Künste zu nehmen, die mit Fiktionen operieren, um Menschen zu faszinieren und in ,andere Welten‘ (als die des kruden Alltags) zu entführen. Selbstverständlich wird dabei meistens mehr versprochen als gehalten; aber dafür gibt es auch spezielle Gratifikationen (ästhetische Sensationen, große Gefühle – Stichwort „Herz“), die anderswo zu kurz kommen bzw. gar nicht zu haben sind.

Nach dieser Interpretation würden Ernst Molden und seine Kollegen in den besagten acht Versen aus ihrer Erzähler-Funktion heraustreten und sich dem Publikum als prototypische Künstler zu erkennen geben und fundamentale Statements zu ihrem Beruf abgeben.   

Jetzt ist das Musikalische völlig zu kurz gekommen, schade, schade! Aber die Fachleute dürfen sich aufgefordert fühlen, fleißigen Gebrauch von der Kommentierungsoption zu machen. Für das Genre würde ich als Eingangsthese meinerseits (durchaus in Anlehnung an Christian Seiler, der bei seinen einleitenden Worten zum booklet von ,Hauptstadtblues‘ spricht) den Begriff „Big City Blues“ in den Raum stellen…

Hans-Peter Ecker, Bamberg

Literatur: Wikipedia-Artikel zu den im Beitrag genannten (und vielen dort bewusst ausgesparten) Örtlich-, Persönlich-, Lustbar- und Peinlichkeiten.

Warum der Regenbogen ins Stadion gehört. Zu „Der Tag wird kommen“ von Marcus Wiebusch

Marcus Wiebusch

Der Tag wird kommen

Und der Tag wird kommen, an dem wir alle unsere Gläser heben
Durch die Decke schweben, mit 'nem Toast den hochleben lassen
Auf den ersten, der's packt, den Mutigsten von allen
Der erste, der's schafft
Es wird der Tag sein, an dem wir die Liebe, die Freiheit und das Leben feiern
Jeder liebt den, den er will, und der Rest bleibt still
Ein Tag, als hätte man gewonnen
Dieser Tag wird kommen

Dieser Tag wird kommen, jeder Fortschritt wurde immer erkämpft
Ganz egal, wie lang' es dauert, was der Bauer nicht kennt
nicht weiß, wird immer erstmal abgelehnt
Und auf den Barrikaden die Gedanken und Ideen,
dass das Nötige möglich ist, wie Freiheit und Gleichheit,
Dass nichts wirklich unmöglich und in Stein gemeißelt ist
Bis einer vortritt „Schluss jetzt mit Feigheit“
Geschichte ist Fortschritt im Bewusstsein der Freiheit
Wir den aufrechten Gang haben, nicht mehr in Höhlen wohnen
Nicht mehr die Keulen schwingen, Leute umbringen
Nicht umherstreifen in kleinen Herden
Weil Menschen nicht ewig homophobe Vollidioten bleiben werden

Und der Tag wird kommen, an dem wir alle unsere Gläser heben [...]

A-Jugend Leistungsklasse Wilhelmsburg-Süd
Ein verschworener Haufen und einer machte den Unterschied
Mit so viel mehr Talent und mit mehr Willen als alle
"Oh, das wird mal ein Profi", stolz wussten wir das alle
U17, U19, Hamburger Auswahl
Bei fast jedem Heimspiel mehrere Scouts da
Nur 'ne Frage der Zeit, bis das Angebot kam
1. Liga, drei Jahre und ein Traum wurde wahr
Und am Abend des Deals, als wir es krachen lassen wollten
Er sich uns anvertraute und sich nichts ändern sollte
Denn die einen ahnten es, den anderen war es längst klar
Manche wussten es schon, es war uns allen egal
Es war uns vollkommen egal ob er straight oder schwul war
Wir spielten zusammen seit der F-Jugend Fußball
Eine Gang, ein Team, ein "You'll never walk alone"
So wurde es beigebracht, so wird es jetzt gemacht, mein Sohn
Dann besoffene Tränen und die große Erleichterung
Oh, dieser Tag kommt aus genau dem gleichen Grund
Weil wir Menschen nicht danach bewerten, wen sie lieben
Ihr Sex ihre Sache ist und sie es nicht verdienen
Von den Dümmsten der Dummen beurteilt zu werden
Von den Dümmsten der Dummen beurteilt zu werden
Um von ihnen dann verurteilt zu werden

Und er nahm seinen Traum, zog in die fremde Stadt
Und wir behielten sein Geheimnis, blieben zurück und in Kontakt

Und der Tag wird kommen, an dem wir alle unsere Gläser heben [...]

Nicht den Anschein erwecken in der großen Maskerade
Agenturen stellen die Freundin und besorgen die Fassade
Die gestellten Urlaubsfotos und den öffentlichen Auftritt
Warten, bis die ganze Scheiße auffliegt
Nicht den Anschein erwecken, auf dem Feld härter spielen
Zehn gelbe, zwei rote Karten und die auch verdienen

"Du kennst mich, ich war nie ein unfairer Spieler
Und jetzt gelt' ich als Treter der Liga
Du weißt nicht, wie das ist, wenn man immer eine Maske trägt
Immer aufpassen muss, wer man ist, wie man lebt
Permanent, eigentlich die ganze Zeit Angst
Und du spielst in dem Mist dann so gut wie du kannst
Und der sehnliche Wunsch und die Frage, wie es wäre
Hier ein anderer zu sein, jetzt mit dieser Karriere
Wenn ich es ändern könnte, dieses traurige Leben
Für mein Fühlen nie entschieden und so ist es eben“

"Wir waren zusammen in Stadien, vor ca. 20 Jahren
Als sie farbige Spieler mit Bananen beworfen haben
Dann die Affenlaute, bei jeder Ballberührung
Diese Zeiten vorbei und keine glückliche Fügung
Sondern Fortschritt, Veränderung, wir sind auf dem Weg
Außenminister, Popstars, Rugby-Spieler zeigen, dass es geht
Früher undenkbar, heute normal, ich wette 90% ist es egal
Und dann erinner' dich an die Erleichterung als es raus war
Wie dein Herz zersprang, als die Wörter rauskamen
Die finden das zwei Wochen spannend und der Spuk ist verschwunden
Und du hättest deinen Frieden gefunden"

„Kein Verein will den Rummel, kein Team den Alarm
Und der Vertrag, den ich hab', geht so schnell wie er kam
Dass kann keiner absehen, wenn der Sturm losbricht
Und der Sturm wird kommen, ob man will oder nicht
Du bist dann der Erste, der Homo, der Freak
Es gibt dann keinen, der in dir nur noch den Fußballer sieht
Aber ja, es wird besser und der Tag ist in Sicht
Einer wird es schaffen, aber ich bin es nicht"

„Es ist deine Entscheidung, ganz egal wer was sagt“
Beim Abschied geflüstert „With hope in your heart“
Noch Einigkeit erzielt, dass der Tag kommen wird
Und das nächste Heimspiel wohl gewonnen wird
Auf dem Nachhauseweg, dieser eine Gedanke
Und fasst schon ein Lächeln
All ihr homophoben Vollidioten, all ihr dummen Hater
All ihr Forums-Vollschreiber, all ihr Schreibtischtäter
All ihr miesen Kleingeister mit Wachstumsschmerzen
All ihr Bibel-Zitierer mit euer'm Hass im Herzen
All ihr Funktionäre mit dem gemeinsamen Nenner
All ihr harten Herdentiere, all ihr echten Männer
Kommt zusammen und bildet eine Front
Und dann seht zu was kommt

Und der Tag wird kommen an dem wir alle unsere Gläser heben [...]

Dieser Tag wird kommen
Dieser Tag wird kommen

     [Marcus Wiebusch: Konfetti. ‎Grand Hotel Van Cleef 2014.]

Für die Niederlage der deutschen Nationalmannschaft gegen die englische werden in den professionellen Kommentaren verschiedene Ursachen diskutiert: die zu lange Amtszeit des Trainers, eine zu defensive Taktik, zu späte Einwechslungen; in den Leserkommentaren darunter erfreute sich eine weitere Erklärung großer Beliebtheit: Es war die Regenbogenarmbinde Manuel Neuers! Diese These mutet nicht nur deshalb seltsam an, weil der englische Kapitän Harry Kane ebenfalls eine solche trug; sie impliziert außerdem, dass Fußballer sich nicht mit Unwichtigem (Menschenrechte) vom Wichtigen (Fußball) ablenken lassen sollten.

Doch dass diejenigen, die im Stadion Regenbogenfarben tragen, auf dem Platz oder auf den Rängen, die Politik in den Fußball brächten, ist falsch. Denn sie war schon vorher dort, getarnt als angeblich „normale“ Fankultur. Wenn in politischen Debatten von Normalität geredet wird, wird damit die eigene Position für sakrosankt erklärt und wird alles vom „gesunden Empfinden“ Abweichende als abnormal denunziert. Indem so politische Gegenpositionen zu sittlichen Defiziten erklärt werden, wird nicht nur der politische Gegner auch menschlich abgewertet, sondern zugleich auch die eigene Haltung aus dem Bereich des Politischen und damit Verhandelbaren herausgenommen. Zu beobachten ist dieses Muster etwa auch bei vielen „unpolitischen“ Skinhead-Bands, die darauf insistieren, dass etwa die Ablehnung von Migranten oder die ausgestellte Abscheu vor Homosexuellen unpolitisch seien, gleichsam ein natürlicher Reflex; politisch und damit die Szene spaltend seien hingegen diejenigen, die dies als Rassismus und Homophobie kritisierten.

Ganz ähnlich verläuft die Argumentation bei manchen Fußballfans. Nicht diejenigen, die dunkelhäutige Spieler mit Affenlauten beleidigen oder Spieler der gegnerischen Mannschaft, um sie herabzuwürdigen, als schwul bezeichnen, sind politisch, sondern diejenigen, die dagegen protestieren. Politik ist aber bereits mit jedem Affenlaut, jedem „XY ist homosexuell, homosexuell, homosexuell“-Sprechchor, mit jedem Absingen des U-Bahn-Lieds („Eine U-Bahn, eine U-Bahn, eine U-Bahn bauen wir, von [Heimatstadt der Gegenmannschaft] bis nach Auschwitz, eine U-Bahn bauen wir!“) im Stadion. Es geht denjenigen, die im Namen der Einheit der Fangemeinschaft gegen antirassistische und antihomophobe Faninitiativen angehen, keineswegs um den Erhalt eines politikfreien Raums, sondern um die Aufrechterhaltung ihrer eigenen politischen Lufthoheit.

Nun könnte man als Gegenstrategie dafür plädieren, entsprechendes Verhalten einfach zu ignorieren in der Hoffnung, die Provokationen würden damit ihren Reiz verlieren. Jedoch hat „Ignorier sie einfach“ schon auf dem Schulhof meistens nicht funktioniert. Und außerdem geht es denjenigen, die Rassismus und Homosexuellenfeindlichkeit als normale Teile einer rauen, „männlichen“ Fankultur begriffen wissen wollen, ja nicht primär um Provokation, sondern um die Etablierung bzw. demonstrative Aufrechterhaltung ihrer Auffassung von Normalität, weshalb der ausbleibende Widerspruch als stumme Zustimmung verstanden werden dürfte – auch z.B. von Jugendlichen, die in die Fanszenen hineinwachsen und sich an den Älteren orientieren. Doch auch über diesen immer noch recht überschaubaren Personenkreis hinaus hat die Frage, wie man mit zur Schau gestelltem Rassismus und Homosexuellenfeindlichkeit in Fußballstadien umgeht, Bedeutung, wird Fußball, zumal der von Nationalmannschaften, doch oft in Bezug zur Gesellschaft gesetzt: Man denke nur an die „deutschen Tugenden“ früher Nationalmannschaftsjahrgänge oder die Interpretation späterer, ethnisch vielfältiger Nationalmannschaften als Vorbilder gelungener Integration – worin vermutlich der Hauptgrund dafür zu sehen ist, dass gerade sich so bezeichnende „Patrioten“ in Kommentarspalten der deutschen Nationalmannschaft mit solchem Ingrimm begegnen.

Zu all diesen mittelbaren Folgen kommt hinzu, dass Homophobie in Fußballstadien ganz unmittelbar diejenigen trifft, wegen derer man in ein Fußballstadion geht: die Spieler, speziell wenn sie, was statistisch gesehen in jedem Spiel auf einen Spieler zutreffen müsste, nicht heterosexuell sind. Und davon handelt das Lied von Marcus Wiebusch, der sich schon mit …but alive, Rantanplan und Kettcar immer auch an politischen Debatten beteiligt hat.

Das Lied setzt ein mit dem Refrain, in dem antizipiert wird, dass es eines nicht mehr allzu fernen Tages Anlass zum Feiern geben wird – das erste Outing eines aktiven und erfolgreichen Profifußballers in der jüngeren Vergangenheit (Justin Fashanu unternahm diesen Schritt, nachdem seine Karriere de facto beendet und seine Homosexualität bereits gegen seinen Willen bekannt gemacht worden war). Dieses Ereignis wird vom Sprecher-Ich mit großer Bedeutung aufgeladen: „Es wird der Tag sein, an dem wir die Liebe, die Freiheit und das Leben feiern / Jeder liebt den, den er will, und der Rest bleibt still / Ein Tag, als hätte man gewonnen“ – es geht hier also um nicht weniger als um den Triumph liberaler humanistischer Werte. Das Wir, das diesen Moment zumindest kurz als Sieg empfindet – im Irrealis „als hätte man gewonnen“ klingt bereits die Skespis über dessen Dauerhaftigkeit an – kann als die Fußballclique, von der in den nachfolgenden Strophen die Rede ist, verstanden werden, aber auch als Gemeinschaft derjenigen, die diese Werte teilen – so können sich auch Rezipierende des Lieds mitgemeint fühlen bzw. laut oder leise mitsingend zum Teil dieses Wir werden.

Die folgende erste Strophe steht noch ganz in der Tradition des politischen Lieds, das mit Argumenten überzeugen und mit Pathos mitreißen will: Der Kampf um die Akzeptanz von Homosexualität (auch) im Fußball wird in die Reihe großer sozialer Bewegungen (im Video konkretisiert bezogen u.a. auf Sufragetten und die amerikanische Bürgerrechtsbewegung), ja sogar der Menschheitsentwicklung seit der Steinzeit, gestellt.

Die zweite Strophe wechselt ins Narrative: Erzählt wird die alte Geschichte von den elf Freunden – mit der neuen Wendung, dass das tradierte Ethos der verschworenen Gemeinschaft angewendet wird auf die Frage nach der sexuellen Präferenz („So wurde es beigebracht, so wird es jetzt gemacht, mein Sohn“): Das Outing des begabtesten Spielers, der eine Profikarriere vor sich hat, verläuft bestmöglich, nämlich unspektakulär: „Es war uns vollkommen egal ob er straight oder schwul war“. Er hat ein unterstützendes Umfeld – bessere Voraussetzungen also als viele.

Dennoch wagt er das öffentliche Outing als Profi nicht und beginnt ein professionell inszeniertes Scheinleben mit einer angeblichen Freundin; das Doppelleben hat nicht nur negative psychische Folgen für ihn, sondern wirkt sich auch auf sein Spiel aus, insofern er versucht, besonders mann-männlich aufzutreten und mehr foult, als er es bisher getan hat – was wiederum sein öffentliches Bild negativ beeinflusst.

Über diese Situation spricht er mit einem oder mehreren seiner alten Freunde. Sein Gegenüber versucht ihn unter Verweis auf die Erfolge im Kampf gegen offenen Rassismus in Fußballstadien sowie mit weiteren Argumenten zu ermuntern, sich zu outen. Damit steuert die Geschichte auf ihren Höhepunkt zu – man erwartet, dass der Protagonist der im Refrain besungene erste offen homosexuelle Fußballprofi wird, dass es eine „Gemeinsam sind wir stark“-Geschichte mit Happy End wird. Stattdessen bekräftigt er zwar, dass die allgemeine Situation bald das Outing eines Fußballprofis zulassen werde, konstatiert aber angesichts der immer noch erwartbaren Belastung durch die mediale Aufmerksamkeit, dass er selbst diesen Schritt nicht gehen wird. Sein zugleich hoffnungsvolles und resigniertes „Einer wird es schaffen, aber ich bin es nicht“, hervorgehoben durch das vorübergehende Aussetzen der instrumentellen Begleitung, bildet den emotionalen Höhepunkt des Lieds – aber noch nicht den Endpunkt der erzählten Geschichte.

Denn das Lied endet nicht mit dem Eingeständnis, dass die eigene Kraft nicht ausreicht, diesen Kampf für alle Nachfolgenden, die es ungleich leichter haben werden, zu führen, sondern mit der Reaktion des solidarischen Gegenübers: Dieses nimmt den homosexuellen Profi nicht in die Pflicht, sich für die gemeinsame politische Sache zu opfern, sondern praktiziert stattdessen die zutiefst humane Haltung, die überhaupt erst die Grundlage dafür ist, als Heterosexuelller für die Akzeptanz Homosexueller zu kämpfen: Er stellt das Individuum und dessen Recht auf persönliches Glück über die politische Agenda. Und wenn es seinem Freund zum Schluss mit „With hope in your heart“ einen Vers aus You’ll never walk alone zuflüstert, so nimmt das nicht nur das Pathos der verschworenen Gemeinschaft, in deren Kontext das Lied in der zweiten Strophe zitiert wurde, auf, evoziert nicht nur Szenen von singenden Fans in Anfield und anderswo, sondern ruft auch eine intertextuelle Folie auf: You’ll never walk alone, in der Coverversion von Gary & the Pacemakers zur Stadionhymne des FC Liverpool geworden, wurde für das 1945 uraufgeführte Musical Carousel (von Benjamin Glazer, Richard Rodgers und Oscar Hammerstein II nach einen Stück von Ferenc Molnár) geschrieben, worin es einer armen jungen schwangeren Frau, die ihren kriminellen Mann durch Suizid verloren hat, Mut machen soll. Zwar sind verschiedene Diskriminierungen nicht in eins zu setzen, aber die Situation einer alleinerziehenden Mutter mit dieser Vorgeschichte in den 1940er Jahren dürfte ebenfalls keine erfreuliche Perspektive gewesen sein. In der Parallelisierung dieses Schicksals mit dem des homosexuellen Profis wird zugleich die eingangs allgemein geschilderte mögliche progressive Entwicklung von gesellschaftlichen Verhältnissen aufgenommen: Wie heute der Status als Alleinerziehende gemeinhin nicht mehr als Makel angesehen wird, so steht zu hoffen, dass dies bald auch für Homosexuelle (im Fußball und anderswo) gelten wird. So werden die Themen Fußballfankultur und gesellschaftlicher Fortschritt mit diesem Liedzitat noch einmal zusammengeführt.

Nicht zuletzt kann der Bezug zu You’ll never walk alone auch autoreflexiv auf die mögliche Funktion von Liedern als Ermutigung gelesen werden, als Bestätigung nicht allein zu sein. Und genau darauf zielte ja auch die Regenbogenarmbinde. Und sollte Manuel Neuers und Harry Kanes Geste auch nur einem einzigen homosexuellen Jugendlichen, der die Übertragung des Spiels gesehen hat, dieses Gefühl gegeben haben und ihn dadurch möglicherweise vom Suizid (das Suizidrisiko für homosexuelle Jugendliche liegt ca. vier mal höher als für gleichaltrige Heterosexuelle) abgehalten haben, so wäre das allemal die Niederlage gegen England wert gewesen.

Martin Rehfeldt, Bamberg

Vom König zum Kumpel. Zu „Fußball ist immer noch wichtig“ von Fettes Brot, Bela B., Marcus Wiebusch und Carsten Friedrichs

Fettes Brot, Bela B., Marcus Wiebusch und Carsten Friedrichs 

Fußball ist immer noch wichtig

Manchmal kommst du noch vorbei an diesem Klotz aus Beton
Dein Club hat wieder mal bloß an Erfahrung gewonnen
Kein Bock auf eine weitere verkorkste Saison
Und Fußball ist gar nicht so wichtig
Jetzt stehst du da allein vor′m Stadion,
Bist fest entschlossen, nicht mehr wieder zu kommen
Die zweite Halbzeit hat gerade begonnen,
Das Flutlicht geht an, nur für dich nicht

Ich hör sie alle schreien: "Macht es noch mal!
Für unseren Verein! Holt den Pokal!
Mensch mach das Ding jetzt rein, wie ist egal!"
Doch Fußball ist gar nicht so wichtig

Mittlerweile denkst du nicht mehr allzu häufig daran,
Weißt immer irgendwas mit deiner Zeit anzufangen
Dein Lieblingstrikot vergammelt hinten im Schrank
Und Fußball ist nicht mehr so wichtig

Jetzt standen da heut auf einmal deine Freunde vor der Tür - alle Mann
Erst wolltest du nicht so recht, dann bist du doch mitgegangen
Und nun stehst du in der Kurve, wo alles begann
Und weißt wieder, hier bist du richtig
Und Fußball ist immer noch wichtig

Ich hör sie alle schreien: "Macht es noch mal!
Für unseren Verein! Holt den Pokal!
Mensch mach das Ding jetzt rein, wie ist egal!"
Und Fußball ist immer noch wichtig

So soll's für immer sein, unser Schicksal,
Kann regnen oder schnei′n, König Fußball,
"Du gehst niemals allein" steht auf unserem Schal
Und Fußball ist immer noch wichtig

Fußball, mein alter Kumpel Fußball,
Ich glaube nicht an Zufall,
Ich glaube an dich, Fußball, Fußball

Dies ist nicht für RTL, ZDF und Premiere,
Ist nicht für die Sponsoren oder die Funktionäre,
Nicht für Medienmogule und Öl-Milliardäre,
Das hier ist für uns, für euch, für alle!

Für Fußball, du wunderschöner Fußball,
Wir glauben nicht an Zufall,
Wir glauben an dich Fußball, Fußball!

     [Fettes Brot, Bela B., Marcus Wiebusch und Carsten Friedrichs: Fußball ist immer noch wichtig. ‎ Fettes Brot Schallplatten 2006.]

Wenn es um die Wichtigkeit von Fußball geht, kommt man an zwei Namen nicht vorbei: Bill Shankley und Nick Hornby. Shankly, legendärer Trainer des FC Liverpool von 1959 bis 1974, wird mittlerweile auch auf Kleidungsstücken mit der Sentenz zitiert: „Some people believe football is a matter of life and death, I am very disappointed with that attitude. I can assure you it is much, much more important than that.“ Die überraschende Pointe entsteht dadurch, dass man natürlich nach dem ersten Satz erwartet, die Bedeutung des Fußballs werde à la Dragoslav Stepanović relativiert („Lebbe geht weider“). Indem Shankly stattdessen vorgibt, dass ihm die Auffassung von Fußball als Frage von Leben und Tod noch nicht weit genug gehe, erhält das Zitat über die Komik hinaus auch eine schwebene romantische Ironie, da es explizit die immense Bedeutung des Fußballs betont und sie gleichzeitig durch die Steigerung ins Absurde implizit relativiert. Direkter, aber nicht weniger komisch hat Nick Hornby in seiner autobiographischen Mutter aller Fußballromane, Fever Pitch, geschildert, wie das Fansein ein Leben prägen, ja beherrschen kann, aber auch, dass es schließlich gelingen kann, ihm seinen Platz in einem erfüllten bürgerlichen Leben mit Familie zuzuweisen.

Der Protagonist unseres Liedes ist zu dessen Beginn sogar noch einen Schritt weiter gegangen und hat den Fußball ganz aus seinem Leben verbannt. Der Prozess einer aus Frustration („Kein Bock auf eine weitere verkorkste Saison“) entstandenen Entfremdung scheint abgeschlossen, wenn das Heimstadion, früher jener Ort, an dem die Fans als ‚zwölfter Mann‘ mit ihrer Mannschaft zu einer Einheit verschmelzen, abwertend als „Klotz aus Beton“ bezeichnet wird. Als positiv wird hingegen der Zugewinn an frei verfügbarer Zeit erlebt – die Taktung des übrigen Lebens durch den Spielplan ist auch ein zentrales Motiv in Hornbys Roman. In die fußballfreie, aber auch etwas dröge wirkende häusliche Idylle platzt plötzlich die alte Fan-Clique hinein, um den Protagonisten, keinen Widerspruch duldend, ins Stadion mitzunehmen. Dort erkennt er, dass ihm Fußball, insbesondere das gemeinsame Erlebnis im Stadiom, nach wie vor viel bedeutet – statt allein vor dem Stadion steht er nun mit seinen Freunden als Teil der noch größeren Gruppe der Fans darin.

Soweit die recht einfache Geschichte, die bis hierhin erzählt wird – eine Geschichte, in der sich sicherlich viele leidgeprüfte Fußballfans wiederfinden, wobei die in Liedtexten eher seltene Verwendung der Du-Form die Identifikation noch unterstützt.

Komplexer wird es allerdings, wenn man die noch folgenden Verse betrachtet. Dabei stechen besonders zwei Formulierungen hervor: „Fußball, mein alter Kumpel Fußball“ erhält seine Bedeutung vor der intertextuellen Folie des frühen Fußballhits Fußball ist unser Leben (Interpretation hier), gesungen von der Deutschen Nationalmannschaft zur WM 1974. In dessen Refrain heißt es „Fußball ist unser Leben, / denn König Fußball regiert die Welt“. Vor diesem Hintergrund stellt die Bezeichnung des Fußballs als „Kumpel“ eine Degradierung dar, die zeigt, dass der Fußball zwar wieder einen Platz im Leben des Protagonisten hat, allerdings keinen so zentralen mehr, wie mutmaßlich zuvor. Denn während ein König traditionell uneingeschränkt herrscht, so ist ein Kumpel jemand, mit dem man zwar hin und wieder gerne Zeit verbringt, der aber für das eigene Leben nicht unverzichtbar ist. So erzählt dieses Lied nicht nur vom Wiedereinzuig des Fußballs ins Leben des Protagonisten, sondern auch – wiederum wie Hornbys Roman – davon, erwachsen zu werden, in ein Leben hineinzuwachsen, in dem Fußball eben nicht mehr alles beherrschend im Zentrum steht.

Die zweite auffallende Formulierung lautet „Ich glaube nicht an Zufall, / Ich glaube an dich, Fußball“. Zunächst könnte man im Glauben an den Fußball einen Widerspruch zu dessen eben angesprochener Relativierung sehen: Fasst man ‚glauben‘ religiös auf, so begegnete der Fußball hier als Gottheit (mit dieser Form quasi-religiösen Fantums spielt etwa der Titel des Fanzines Schalke Unser). Doch scheint in unserem Text, bei genauerer Betrachtung, etwas anderes gemeint zu sein: Der Glauben an Fußball wird nämlich als Gegenentwurf zur Vorstellung der bloßen Zufälligkeit von Ereignissen – im Kontext: Spiel- und Saisonverläufen – präsentiert. Diese Vorstellung der Folgerichtigkeit ist bis in Floskeln hinein („Die Tore, die man vorne nicht macht, bekommt man hinten rein.“ – rein logisch besteht hier kein Zusammenhang) in der Fußballfankultur verankert. Und sie macht wohl einen erheblichen Teil der Faszination dieses Sports aus – es gibt zwar schnellere, akrobatischere, härtete und ästhetischere Sportarten als Fußball – jedoch erreicht kaum eine sein narratives Potential, wozu u.a. die potentiell spielentscheidende Bedeutung eines einzelnen Tores beiträgt.

Aktuell hat die dänische Nationalmannschaft mit ihrem 4:1-Sieg gegen die russische eine weitere schlüssige Erzählung hervorgebracht: Wie ihr Kapitän Christian Eriksen nach seinem Herzstillstand im ersten Spiel buchstäblich vom Tod ins Leben zurückgekehrt ist, so ist seine Mannschaft nach zwei Niederlagen doch noch im Turnier weitergekommen. Diese Geschichte ist wesentlich faszinierender als die konkurrierende, den Faktor Zufall betonende Betrachtung, derzufolge die russische Mannschaft durchaus auch hätte in Führung gehen können und auf der anderen Seite das zweite Tor der Dänen aus einem aberwitzigen Fehlpass resultierte und das dritte ein klassischer Sonntagsschuss war. Hier bedarf es des Glaubens an den Fußball und seine innere Sinnhaftigkeit, also der Einnahme einer spezifischen Rezeptionshaltung ähnlich der des „willing suspension of disbelief“ (Samuel Taylor Coleridge) bei der Lektüre literarischer Texte. Die Europameisterschaft zeigt wieder einmal, dass es sich – trotz allen Ärgers über Fernsehvermarktung, Sponsoren und alle weiteren Aspekte, die unter dem Schlagwort „Kommerzialisierung“ verhandelt werden – lohnt, an den Fußball als große Geschichtenmaschine zu glauben.

Martin Rehfeldt, Bamberg