Als man in der Schule noch was fürs Leben lernen konnte. „En d’r Kayjass Nummer Null“ von den Drei Laachduve (1938), den Vier Botze (1945) und anderen

Drei Laachduve

En d`r Kayjass Nr. 0

En d'r Kayjass Nummer Null 
steiht en steinahl Schull
un do hammer dren studeet.
Unser Lehrer, dä hieß Welsch, 
sproch en unverfälschtes Kölsch
un do hammer bei jelihrt.
Un da hammer hin un her üvverlaat
un han für dä Lehrer jesaht:

Nä, nä dat wesse mer nit mih, 
janz bestemp nit mih
un dat hammer nit studeet.
Denn mer wore beim Lehrer Welsch en d'r Klass
un do hammer sujet nit jelihrt.
Ävver, ävver, ävver dreimol Null es Null, es Null,
denn mer woren en d'r Kayjass en d'r Schull;
dreimol Null es Null, es Null,
denn mer woren en d'r Kayjass en d'r Schull. 

Es en Schiev kapott, es ene Müllemmer fott,
hät d'r Hungk am Stätz en Dos':
Kütt dä Schutzmann anjerannt,
hät uns Pänz dann usjeschannt, -
saht: Wat maat ihr zwei dann blos!
Un da hammer hin un her üvverlaat
un han för dä Schutzmann jesaht:
 
Nä, nä dat wesse mer nit mih...
Ävver, ävver, ävver dreimol Null es Null, es Null [...]

Neulich krät uns en d'r Jass 
die Frau Käzmann beim Fraaß, -
saht: Wo wollt ihr zwei dann hin?
Uns Marieche sitz zo Hus, 
weiss nit en un weiss nit us:
Einer muss d'r Vatter sin!
Un da hammer hin un her üvverlaat
un han för die Käzmanns jesaht:

Nä, nä dat wesse mer nit mih [...]
Ävver, ävver, ävver dreimol Null es Null, es Null [...]

     [Quelle: www.griechenmarkt.de [1]; im obigen Video singt und agiert der Kinderchor der Hasenschule; vgl. www.hasenschule.de.]

Viele ältere Kölner Karnevalslieder leben davon, dass sie opulente, gerne nostalgisch verklärte Genreszenen aus dem prallen Volksleben guter alter Zeiten darstellen oder im unerschöpflichen Schatz lokaler Anekdötchen,  Skandälchen und sonstiger Begebenheiten graben, um das kollektive Gedächtnis der Domstädter auf eine ganz ureigene Weise zu bereichern. Manchmal entwickeln solche Lieder eine besondere Brisanz, wenn sie vom Jeckenvolk mit speziellen Kontexten in Verbindung gebracht werden. All das trifft auf das Vorkriegslied von der ,steinahl Schull en d’r Kayjass‘ mit ihrem Lehrer Welsch zu, weshalb es auch immer wieder gecovert worden und über Generationen hinweg lebendig geblieben ist.

Worum geht’s?

Die Sprecherinstanz bilden zwei (in anderen Textversionen sechs) männliche Absolventen einer (nicht zuletzt wegen dieses Liedes) berühmten Kölschen Lehr- und Erziehungsanstalt, an der ein Lehrer namens Welsch tätig gewesen sein soll. Dass der Liedtext hier die historische Realität ein wenig verbiegt, ist allgemein bekannt und wird später noch genauer erklärt. Unsere ,Kadetten‘ geben einige Episoden aus ihrer Biographie zum Besten, wobei der große Bogen ihrer Erzählung darin besteht, dass sie sich in der Schule habituell daran gewöhnt haben, sich generell dumm zu stellen, was ihnen dann im ,richtigen Leben‘ immer wieder zugutekommt. Dieses Prinzip funktioniert schon bei den Kindern („Pänz“) gegenüber dem „Schutzmann“, der ihren Lausbubenstreichen[2] auf die Schliche zu kommen versucht, und bewährt sich auch später in einer wesentlich heikleren Angelegenheit, als es um die Frage geht, wer Käzmanns Mariechen geschwängert haben könnte.

Jedes Mal zelebrieren die Schlitzohren ihr vorgebliches Nichtwissen nach einem gleichen Ritual: Demonstrativ langsam überlegen sie zunächst einmal „hin un[d] her“. Man sieht förmlich, wie ihnen von der Anstrengung des Nachdenkens die Schweißtropfen auf die Stirn treten, und ist von ihrem guten Willen, bei der Wahrheitsfindung mitzuhelfen, überzeugt. Niemand würde ihnen mangelnde Kooperationsbereitschaft unterstellen, bis schließlich das Geständnis des Nichtwissens befreiend aus ihnen hervorbricht: „Nä, nä dat wesse mer nit …“. Hier verändert sich der ganze Gestus des Gesangs und die Begründung für das fehlende Wissen erfolgt schon fast triumphierend: Man sei schließlich in der Kaygasse zur Schule gegangen und habe beim Lehrer Welsch studiert. Damit sei doch alles klar!

Der vordergründige Hintergrund

Ein Teil des ,Witzes‘ dieses Schlagers, der übrigens im Dezember 1938 von den Drei Laachduve[3] aufgenommen worden und 1945 durch die Coverversion der Vier Botze[4] zu breiter Popularität gelangt ist, erklärt sich nur Kölnern bzw. Kennern der lokalgeschichtlichen Bezüge. An der Ecke Kaygasse/Großer Griechenmarkt gab es zwischen 1891 und 1939 eine Sonderschule. Wenn deren Ehemalige ihre Unwissenheit, in welcher Sache auch immer, verkündet hätten, dürfte das den Vorurteilen ihrer Mitbürger einigermaßen entsprochen haben. Zusätzlich berufen sich die Schlitzohren unseres Liedes auf einen Lehrer Welsch, dem ebenfalls eine historische Figur zugrunde liegt. Heinrich Welsch (geb. 1848 in Arzdorf, Landkreis Bonn, gest. 1935 in Köln) war ein ausgesprochen verdienstvoller Pädagoge, der seine lokale Berühmtheit mitnichten einem besonders schlechten Unterricht zu verdanken hat, sondern seinem durchaus erfolgreichen Engagement für benachteiligte Arbeiterkinder und sog. ,gefallene Mädchen‘. 1905 gründete Welsch im rechtsrheinischen Industrievorort Kalk eine Hilfsschule, der er bis zu seinem Ausscheiden aus dem Schuldienst noch vor dem Ende des Ersten Weltkriegs als Rektor vorstand. Mit der Sonderschule in der Kaygasse[5] hatte Welsch zwar nie zu tun, aber vom Milieu her, in dem sich sein Wirken abspielte, spricht nichts gegen seine fiktionale Versetzung ins zentrumsnähere Griechenmarktviertel.

An der Stelle der im 2. Weltkrieg zerstörten Sonderschule hängt heute eine Gedenktafel für die „steinahl Schull“ des Karnevalsliedes und ihren mathematischen Kernsatz. Der großartige Lehrer Welsch hat sein Ehrengrab hingegen, dem realweltlichen Sachverhalt entsprechend, auf dem Kalker Friedhof gefunden – der gewissermaßen schon in Sibirien liegt, zumindest wenn wir den topographischen Vorstellungen des alten Römers Konrad Adenauer folgen wollen, was im Karneval schon einmal erlaubt sein sollte.[6]

Eine vordergründige Irritation, die sich aber vor dem hintergründigen Hintergrund auflösen lässt

Bei meiner ersten Begegnung mit diesem Lied habe ich mich – selber jahrzehntelang beruflich der Paukerei verbunden – zunächst darüber gefreut, dass man hier einem verdienten Lehrkörper ein karnevalistisches Denkmal gesetzt hat. Beim genaueren Studium des Textes beschlich mich dann aber schnell das ungute Gefühl, dass der Lehrer Welsch über dieses Monument seines Wirkens nicht besonders glücklich gewesen wäre, bescheinigt es doch der Welt, dass aus seiner Lehranstalt rechte Taugenichtse hervorgegangen seien, humane Nullen sozusagen, die nichts anderes im Sinn gehabt hätten, als ihre Mitmenschen zu plagen, Tiere zu quälen und die Zahl ,gefallener Mädchen‘ zu vergrößern, deren Rehabilitation sich ihr philanthropischer Lehrer doch gerade auf sein Banner geschrieben hatte.

Dass solch eine Geschichte in karnevalistischen Kontexten ,funktionieren‘ konnte, war mir leicht vorstellbar, verbinden doch viele Zeitgenossen ihre Erinnerungen an schulische Verhörsituationen mit unguten Gefühlen[7] und könnten es demzufolge durchaus genießen, im Kollektiv ihr pauschales Nichtwissen triumphal in die Welt hinauszuposaunen. Und selbst gute Schüler ohne einschlägige Posttraumata könnten bei närrischen Gelegenheiten und unter zusätzlichem Einfluss einiger Kölsch dazu gebracht werden, vorübergehend in die Identität eines Lümmels der letzten Bank zu schlüpfen und fröhlich zu behaupten, dass sie nichts anderes in ihrem Kopf hätten als die mathematische Weisheit, dass dreimal Null nie mehr als Null ergibt, so oft man auch nachrechnet. Soweit reichte also meine Phantasie. Aber dass ein heiteres Karnevalslied Sympathie für Schlitzohren bekunden sollte, die sich vor der Verantwortung für eine Vaterschaft drücken und ein armes Mädchen mehr oder minder hämisch sitzen lassen, und dass besagtes Lied dann noch über Jahrzehnte hinweg von den ,Großen‘ der Kölner Musikszene gecovert und populär bleiben konnte, das irritierte mich schon!

Ich denke, dass diese Irritation sich auflösen lässt, wenn man die zeitlichen Kontexte der frühen Veröffentlichungen – 1938 und 1945 – mitbedenkt und dann den Text des Liedes um Botschaften erweitert, die für ein wachsames Publikum  ,zwischen den Zeilen‘ zu erahnen sind.  Dass karnevalistische Verlautbarungen – sei es in der Form von Büttenreden, Kostümierungen, Dekorationen oder auch Liedern – in der Vor- und Nachkriegszeit auf Zuschauer und Zuhörer gestoßen sind, die es gewohnt waren, Zwischentöne, Andeutungen und Sinnbrüche zu erkennen und entsprechend zu deuten, darf m.E. vorausgesetzt werden.

Dass sich die Schlitzohren von der Kayjass-Schull 1938 jeglicher Befragung durch Autoritäten entziehen, indem sie sich habituell und pauschal hinter einem vorgeblichen Nichtwissen verschanzen, kann (muss?) in der Vorkriegszeit als grundsätzliche System-Verweigerung, als passiver Widerstand verstanden werden. In diesem Kontext rückt auch die anscheinend schäbige Verleugnung der eigenen Vaterschaft in ein anderes Licht und erscheint als Absage an die nationalsozialistische Familienideologie. Das (proletarische) Sprecherkollektiv, das sich den ,Anmutungen‘ der damaligen Gesellschaft verweigert, liefert so ein Gegenbild zum staatskonformen Verhalten der Organisatoren und Aktivisten des Kölner Karnevals, die sich 1938 – jedenfalls mit übergroßer Mehrheit – den Forderungen des staatlichen Propagandaapparats unterworfen hatten.[8]

1945 stellte sich der gesellschaftspolitische Kontext plötzlich ganz anders da. Wer jetzt behauptet hätte, von nichts nix zu wissen, hatte vermutlich einiges zu verbergen, was unter den neuen Machtverhältnissen gar nicht gut angekommen wäre. Damit haben sich, ohne dass dafür auch nur ein Buchstabe im Text des Liedes verändert werden musste, die Kayjass-Absolventen – 1938 noch Widerständler und Systemverweigerer – im Laufe kürzester Zeit in ehemalige Mitläufer der Naziherrschaft verwandelt, die im Lied der Vier Botze satirisch bloßgestellt werden. Inwieweit spätere Coverversionen, zum Beispiel von den Bläck Fööss (1973) oder den Höhnern (1979), ebenfalls auf spezielle zeitgenössische Konstellationen angespielt haben könnten, entzieht sich meiner Kenntnis.

Nachklapp a: Der Lehrer-Welsch Sprachpreis

Unser Karnevalslied preist den Lehrer Welsch ausdrücklich dafür, dass er ein „unverfälschtes Kölsch“ gesprochen habe. Daran anknüpfend verleiht seit 2004 die Kölner Sektion des ,Vereins Deutsche Sprache‘ einen ihm gewidmeten Preis. Erster Preisträger war Alexander von Chiari, der seinerzeitige Leiter des Rosenmontagszuges, der damals das englische Wort „Kids“ im Motto des Zuges durch die niederrheinische, aber auch im Hunsrück und Ruhrpott gebräuchliche  Entsprechung „Pänz“ (von lat. „pantex“, = Wanst, dicker Bauch; ursprünglich mit negativem Beiklang für gierige, unleidliche Kinder) ersetzt hatte.

Nachklapp b: Die KHS Großer Griechenmarkt

Wie oben schon beiläufig erwähnt pflegt die heutige Katholische Hauptschule am Großen Griechenmarkt in Köln liebevoll das Andenken an Heinrich Welsch und ,sein‘ Lied. Ich kenne weder die Schule noch ihre Lehrkräfte und auch niemanden von der Schülerschaft. Aber auf ihrer Homepage habe ich mir ihr Schullied angesehen, das als Gemeinschaftsprodukt von Dietmar Kolvenbach, eines Musiklehrers, der Bläck Fööss und von Hans Knipp[9] entstanden ist. Darin wird freimütig eingeräumt, dass der Alltag einer Hauptschule nicht immer einfach ist, aber dass die Menschen, die sich dort Tag für Tag einfinden, froh und stolz darauf sind, einen Ort zu haben, wo sie ein Stück weit zu Hause sind. Das klingt doch nach dem echten Lehrer Welsch und imponiert mir sehr!

Nachklapp c: Albträume

Seit ich am Beitrag zu diesem Karnevalslied arbeite, sucht mich jede Nacht der gleiche Albtraum heim: Ich verfolge am Fernseher eine Bundestagssitzung. Zuerst fokussiert die Kamera einen Mann am Rednerpult, der dies & das sagt, woran ich mich nicht erinnern kann. Aber dann fragt er mit viel Pathos: „Meine Damen und Herren, bitte sagen Sie mir doch endlich einmal klipp und klar, ob die Maskenpflicht der Volksgesundheit langfristig nutzt oder schadet!“ In diesem Moment schwenkt die Kamera auf die Regierungsbank, wo Kanzler und Kabinettsmitglieder mit ernster Miene ihre Häupter wiegen. Ein neuerlicher Kameraschwenk rückt die voll besetzten Ränge der Abgeordneten ins Bild, die wie auf Kommando zu schunkeln beginnen und fröhlich singen:

Nä, nä dat wesse mer nit mih,
janz bestemp nit mih
un dat hammer nit studeet.
Denn mer wore beim Lehrer Welsch en d’r Klass
un do hammer sujet nit jelihrt.
Ävver, ävver, ävver dreimol Null es Null, es Null,
denn mer woren en d’r Kayjass en d’r Schull;
dreimol Null es Null, es Null,
denn mer woren en d’r Kayjass en d’r Schull.

 Hans-Peter Ecker, Bamberg

Literatur:

Viele einschlägige Wikipedia-Artikel und sonstige Internetseiten zum Lied, den darin erwähnten Lokalitäten, Institutionen und historischen Sachverhalten sowie seinen diversen Interpreten.


[1] Wer eine Übersetzung braucht, findet sie unter lyricstranslate.com. Das Lied ist im Laufe der Zeit von vielen Musikgruppen gecovert worden, insofern existiert eine beachtliche Menge dialektaler Varianten. Ich habe mich weitgehend dem Wortlaut bzw. den Schreibweisen angeschlossen, die auf der homepage der KHS Großer Griechenmarkt abgedruckt sind, wobei ich mir dachte, dass die Leute dort an diesem Lied einfach ,am dichtesten dran‘ sind – sowohl räumlich als auch lebensweltlich.

[2] Wer hat die Fensterscheibe einschlagen? Wer hat die Mülltonne versteckt? Wer hat dem Hund die Dose an den Schwanz gebunden?

[3] ,Die drei Lachtauben‘. Diese Straßensängertruppe bestand aus dem Texter unseres Songs, Will Herkenrath, Hermann Kläser (Komposition) und Heinz Jung.

[4] ,Die vier Hosen‘ (Auftritte zwischen 1933 und 1961), Gründungsmitglieder: Hans Süper senior, Hans Philipp „Fibbes“ Herrig, Gerhard „Grätes“ Böckem und Ferdinand „Fänand“ Vossenberg. Nach dem Krieg machte Süper die Formation mit Richard Engel, Jakob Ernst und Hans Philipp Herrig richtig erfolgreich.

[5] Zu deren Adresse(n) übrigens – an einem Seiteneingang – die Hausnummer „Kaygasse 1“ gehörte und nicht die „Null“, die sich aber eindeutig besser auf „Schull“ reimt und außerdem zur vorgeblich dort gelehrten und verinnerlichten Lebensweisheit passt:  „dreimol Null es Null, es Null“ …

[6] Vgl. Konrad Beikircher: Das Kabarett in NRW. In: Musenblätter (Abruf am 1.2.2022).

[7] Vgl. zu diesem Thema auch Fredl Fesls Lied Schulmeisterei.

[8] Die sog. ,Kölner Narrenrevolte‘ von 1935 gegen die Gleichschaltung, in ihrer politischen Zielsetzung ohnehin ein sehr bescheidenes Unterfangen, war 1938 schon sprichwörtlich Schnee von gestern.

[9] Berühmter Kölner Komponist und Mundartdichter, vgl. z.B. hier im Blog von ihm das Lied Mer losse d’r Dom en Kölle.

Von den Freuden urbanen Lebens – ein musikalisches Genrebild aus Zeiten vor dem Lockdown: „Op dem Maat“ von De Räuber (1993)

De Räuber

Op dem Maat

Op dem Maat, op dem Maat
Stonn die Buure:
Decke Eier, fuhle Prumme,
Lange Muhre.
Un die Lück, un die Lück
Sin am luure:
Op die Eier, op die Prumme,
Op die Muhre.

Et Samsdaachs jeht die Mamma
Immer janz fröh op dr Maat,
Denn do jitt et fresche Eier,
Kappes un Salat.
En Maatfrau schreit
Aus voller Brust:
„Dr Koppschlot Dreimarkvier!
Met Lüs un Schnecke inclusiv,
Dat es doch nit ze düür!“

Op dem Maat, op dem Maat
[…]

En Colonia, en Colonia

Un nevvenahn
Do steht ene Kääl
Met Kappes un Schavou:
„Dä Kappes es met Mess jedünk
Un Ferkesjauche pur!“
Doch eines hätt hä nit bedaach,
Dat es doch sunneklor:
Dat och dr Mess hück nit mie es,
Wat hä ens fröher wor.

Op dem Maat, op dem Maat
[…]

En Colonia, en Colonia

En Currywoosch
Für zweschedurch
Schmeckt he noch Jung un Alt,
Denn dofür sorch dr Curry-Jupp
Vum schöne Westerwald.
Un för die Woosch em Plastikdarm,
Jewürz met vill Phosphat,
Do stonn sujar de Jröne
An dr Frittebud parat.

Op dem Maat, op dem Maat
[…]

En Colonia, en Colonia

Op dem Maat, op dem Maat […]

     [De Räuber: Wenn et Trömmelche jeit. Pavement Records 1993.]

In ihrem schon lange zum ,Klassiker‘ avancierten Karnevalshit „Op dem Maat“ von 1993 entwerfen ,De Räuber‘ mit musikalischen und literarischen Mitteln das Genrebild eines städtischen Marktes. Genrebilder zeigen, wie die Kunstgeschichte lehrt, bekanntlich Alltagsszenen aus dem Leben der Menschen, indem sie deren Handlungen in typischer Umgebung einfangen. Sie garnieren das Ganze zumeist mit kleinen Geschichten, versteckten Anspielungen auf andere Sinnzusammenhänge und verteilen auch gerne satirische Seitenhiebe. Manchmal verfolgen Genrebilder erzieherische Absichten und formulieren moralische Appelle. Vor allem aber tragen sie mit den Mitteln der Kunst dazu bei, regionale, soziale, religiöse oder ethnische Identitäten zu befestigen, hin und wieder sogar auch erst zu konstituieren.

Für unser Karnevalslied lassen sich, wie gleich zu zeigen sein wird, die meisten der genannten Aspekte reklamieren. Quasi nebenbei wollen wir für Menschen, die der Kölschen Sprache merkwürdigerweise nicht mächtig sind, sicherheitshalber ein paar Vokabeln ins Hochdeutsche übertragen. So ist der besungene „Maat“ natürlich ein typischer Markt mit Präsenzhandel, bei dem die beteiligten Geschäftspartner persönlich anwesend sind, einander ins Gesicht (und gegebenenfalls auch anderswohin) schauen, Worte wechseln und bei Vollzug des Handels Waren gegen Geld austauschen – in physischer und direkter Form, ohne weitere Fisematenten, wie Passwörter abzufragen oder den Kunden ,Erfüllungsrisiken‘ (ärgerliches Phänomen beim Versandhandel) aufzubürden. Vor ein paar Jahren wären diese Bemerkungen trivial gewesen, heute aber – da wir unser Einkaufsverhalten zu erheblichen Teilen maskiert oder über Onlineversandhändler abwickeln müssen – scheinen sie mir als Voraussetzungen für spätere Ausführungen durchaus notwendig.   

Auf besagtem Markt stehen also dem Räuberlied zufolge die „Buure“, die Bauern. Wir wollen es den Sängern durchgehen lassen, dass sie uns die Marktkaufleute als Erzeuger ihrer Produkte darstellen, weil wir verstehen, dass ,Bauern‘ als Akteure irgendwie ,griffiger‘, ,lebenspraller‘ rüberkommen als Zwischenhändler; zudem ist uns die besondere Rolle des Landmanns im närrischen Dreigestirn des Kölschen Karnevals bekannt. Der ,Buur‘, standesgemäß als ,Seine Deftigkeit‘ anzureden, verweist dort auf die rustikalen Ursprünge der Stadt, symbolisiert ihre Wehrhaftigkeit und vieles andere mehr, worüber kluge Historiker längst berichtet haben, weshalb diese Dinge hier nicht wiederholt werden müssen. Die Bauern im Lied der Räuber kommen zwar weniger herrschaftlich als das streitbare Drittel des Trifoliums daher, ja, sie stammen nicht einmal alle direkt aus Köln, aber sie stehen dem Stadtschlüssel- und Dreschflegelträger auf dem Prunkwagen der Jungfrau im ,Zoch‘ an Deftigkeit bestimmt nicht nach, was sich an ihren Waren und Sprüchen gleichermaßen zeigen lässt.

Stellvertretend für die Angebote dieser Bauern stehen dicke Eier, faule Pflaumen und lange Möhren. Hühnerprodukte, Obst wie Gemüse stoßen bei der städtischen Kundschaft auf reges Interesse, ja sie ziehen die Blicke der Leute („Lück“) fast magisch auf sich („luure“ – „gucken, schauen“). Nicht von ungefähr berichtet der oft wiederholte Refrain von diesem Vorgang, so dass der geneigte Zuhörer bzw. Mitsänger Zeit genug hat, seine Phantasie ein wenig arbeiten, sprich: ins Anzügliche abgleiten zu lassen. Im Resultat reichen jedenfalls das exemplarisch beschriebene  Angebot der Marktbeschicker und die korrespondierende Aufmerksamkeit der Marktbesucher im Verbund mit einer Ohrwurm-Melodie plus einer hinreichend regen Phantasie des Publikums hin, um einen zündenden karnevalistischen Refrain zu kreieren, der von aufgekratzten Jecken unendlich oft und mit wachsender Begeisterung gesungen werden kann. Dass der geliebte Dialekt sein Teil zum Erfolg beisteuert, versteht sich von selbst.

Die Melodie für ihren Karnevalsschlager fanden die Räuber (nomen est omen!) in der Cajun-Musik (vgl. dazu den ausführlichen Artikel bei Wikipedia). Als Cajuns bezeichnet man die frankophonen Nachkommen von französischen Siedlern in Kanada, die nach dem verloren britisch-französischen Konflikt um Akadien 1755 in andere, südlicher gelegene Kolonien deportiert wurden und die heute vorwiegend im Bundesstaat Lousiana leben (Zentrum: Lafayette). Die Kultur der Cajuns, speziell auch ihre Küche, wurde 1952 durch den Country Sänger Hiram „Hank“ King Williams Sr. (1923-1953) und seinen – später vielfach gecoverten – Welthit Jambalaya (On the Bayou) popularisiert, der seinerseits wieder auf einem älteren französischsprachigen Cajun-Song basiert. Ob die kölschen Räuber nun bei Hank Williams selbst fündig geworden sind oder bei einer Coverband – z.B. den Carpenters oder Creedence Clearwater Revival – entzieht sich meiner Kenntnis. Instrumentenbesetzung und Arrangement wurden jedenfalls auf den Sound einer Karnevalsband zugeschnitten. Außerdem erhielt der Song natürlich auch einen neuen Text, der zu Jambalaya keine relevanten Bezüge aufweist.

Der Refrain auf die altbewährte Cajun-Melodie ist sicherlich der mit Abstand wichtigste Bestandteil des Räuber-Hits, was bei einem Karnevalslied auch nicht weiter überrascht. Die nachfolgenden Liedstrophen expandieren das skizzierte Genrebild eines städtischen Marktes dann nur noch durch mehr oder minder lustige, satirische Episoden und haben die Hauptfunktion, zur nächsten Refrain-Wiederholung hinzuleiten. Nebenbei finden sich Gelegenheiten, noch ein paar schöne herkömmliche Dialektausdrücke einzuflechten, die in der aktuellen Alltagssprache schon stark auf dem Rückzug sind: Kappes (Weißkohl, auch Sauerkraut), Koppschlot (Kopfsalat), Schavou (Wirsing) … Sollten weitere Übersetzungshilfen erwünscht sein, verweise ich vertrauensvoll auf das Online-Wörterbuch der ,Akademie för uns Kölsche Sproch‘.

In der ersten Liedstrophe trifft die fleißige Versorgerin einer Kölner Familie, die sich schon früh auf den Markt begibt, um die besten Produkte zu ergattern, auf eine gewitzte Bauersfrau, die ihren unverschämt überteuerten Salatpreis damit rechtfertigt, dass darin Läuse und Schnecken inbegriffen seien. Ob sich die Marktschreierin dergestalt selbst ein Bein stellt oder ihre Frechheit am Ende siegen wird, lässt das Lied offen. Hier muss ich hinzufügen, dass der im Internet zu findende Rohtext ohne jegliche Interpunktion offen lässt, ob die Rechtfertigung des Preises noch zur Rede der Verkäuferin gehört oder als nachgeschobener sarkastischer Kommentar der Erzählinstanz betrachtet werden sollte. Beide Varianten machen Sinn. Ich fand es subjektiv lustiger, die Rechtfertigung noch der dreisten Marktfrau zuzurechnen.

Es folgt die erste Wiederholung des Refrains, erweitert durch ein zweimal zelebriertes „En Colonia“. Dieser Zusatz zum Refrain bringt die Harmonie zwischen Band und Publikum in der allen gemeinsamen karnevalistischen Feierlaune zum Ausdruck; wem der achtzeilige Refrain vielleicht noch zu kompliziert ist (z.B. weil er als auswärtiger Tourist den Kölner Karneval miterleben will), kann bestimmt „En Colonia“  mitsingen und sich auf diese Weise demonstrativ in die Gemeinschaft der Jecken integrieren. Diese Colonia-Passage finde ich – wirkungsästhetisch-pragmatisch betrachtet – wichtig, clever und sinnvoll; andererseits erscheint sie, von den künstlerischen Konstruktionsprinzipien eines klassischen Genrebildes her gedacht, als direkte Explikation kölscher Identität, die das gesamte Lied ohnehin überall und ständig behauptet, schwer redundant.

Auch die zweite Liedstrophe beleuchtet wieder eine kleine Detailszene auf dem Markt, die strukturell der zuvor geschilderten sehr nahe kommt. Jetzt lobt ein anderer Marktbeschicker sein Gemüse über den grünen Klee: es sei mit Mist und reiner Ferkeljauche gedüngt. Vermutlich kalkuliert er dabei bauernschlau ein, dass bei den bescheuerten Städtern alles gut ankommt, was massiv nach ,Natur‘ duftet. Die mit- und weiterdenkende Sprecherinstanz zeigt sich entgegen dieser Erwartung allerdings nur mäßig beeindruckt. Sie nörgelt, nostalgisch gestimmt, vor sich hin, dass heutzutage auch der Mist nicht mehr das wäre, was er früher einmal war. Wieder ist das Publikum eingeladen, sich das Stichwort ,Mist‘ auch metaphorisch zu verstehen und sich dazu seine eigenen Gedanken zu machen. Und wieder ist es Zeit für den Refrain, selbstverständlich abermals mit zwiefacher ,En Colonia‘ –Zulage!

Die dritte Liedstrophe wartet, wir sind jetzt nicht überrascht, mit einer weiteren Detailszene auf:  An der Currywurstbude drängen sich die Leute und reißen sich um die zweifelhaften Produkte des anscheinend stadtbekannten „Jupp“ aus dem Westerwald. Geographen freuen sich an dieser Stelle gleich doppelt: zum einen verbürgt der Jupp intakte Beziehungen zwischen Zentrum und Peripherie, wozu auch die Kölner ihren Beitrag leisten, indem sie sich augenscheinlich mit Freude und robustem Appetit regional ernähren. Selbst  eingefleischte (der Ausdruck mag im karnevalistischen Kontext dieser Besprechung durchgehen!) Grüne – man kennt und erkennt sich hier – schrecken vor den Phosphatbomben im Plastikdarm nicht zurück und werden von der Erzählinstanz bei einem kleinen Widerspruch zwischen politischem Bewusstsein und kulinarischem Sein erwischt, was aber durchaus als lässliche Sünde einzuordnen ist, gerade tauglich für einen kleinen Karnevalsscherz, der niemanden beschädigt.

Von nun an darf ohne weitere Unterbrechungen dem Refrain gefrönt werden. Kollektiv, laut, ausgelassen. Und wenn sie nicht gestorben sind, dann singen und schunkeln sie noch heute!

So hätte dieser Beitrag in heiterer Stimmung enden dürfen und sollen. Ich wäre später noch selber auf den Markt gegangen, hätte mit Bekannten das eine oder andere Schwätzchen gehalten, mich von den Sprüchen der Marktleute unterhalten lassen, eine Currywurst verdrückt, knackigen Kappes eingekauft und vielleicht sogar geguckt, an welchem Stand es die dicksten Eier gibt. – Leider sind die Zeiten im Winter 2021 andere: kein Schwätzchen, weit und breit keine menschlichen Gesichter und keine Lust für irgendwas jenseits des Allernötigsten. Die Zeiten sind wie sie sind, weil es da diese Pandemie gibt und Politiker, die die Krise managen, wie sie sie gerade managen. Der Kölner Rosenmontagszug ist für dieses Jahr abgesagt. Ob ich Lust haben werde, mir das Räuberlied ersatzweise am Computer runterzuladen, kann ich heute noch nicht sagen. Aber ich werde wissen, was mir fehlt.

Hans-Peter Ecker, Bamberg

Kölsche Elegie: „Verdamp lang her“ von BAP (1981)

BAP

Verdamp lang her

1)
Verdamp lang her, dat ich fast alles ähnz nohm.
Verdamp lang her, dat ich ahn jet jejläuv,
un dann dä Schock, wie et anders op mich zokohm,
merkwürdich, wo su manche Haas langläuf.
Nit resigniert, nur reichlich desillusioniert.
E bessje jet hann ich kapiert.

[Verdammt lange her, daß ich fast alles ernst nahm.
Verdammt lange her, daß ich an etwas geglaubt.
Und dann der Schock, wie es anders auf mich zukam.
Merkwürdig, wo so mancher Hase langläuft.
Nicht resigniert, nur reichlich desillusioniert –
ein bißchen was habe ich kapiert.]

2)
Wer alles, wenn dir et klapp, hinger dir herrennt,
ding Schulder klopp, wer dich nit all hofiert,
sich ohne ruut ze weede dinge Fründ nennt
un dich daachs drop janz einfach ignoriert.
Et ess lang her, dat ich vüür sujet ratlos stund
un vüür Enttäuschung echt nit mieh kunnt.

[Wer alles, wenn es dir klappt (gelingt), hinter dir herrennt,
deine Schulter klopft, wer dich nicht alles hofiert,
sich, ohne rot zu werden, dein Freund nennt
und dich tags drauf ganz einfach ignoriert.
Es ist lange her, daß ich vor so etwas ratlos stand
und vor Enttäuschung echt nicht mehr konnte.]

3)
Ich weiß noch, wie ich nur dovun gedräump hann,
wovunn ich nit woss, wie ich et sööke sollt,
vüür lauter Söökerei et Finge jlatt versäump hann
un övverhaup, wat ich wo finge wollt.
Ne Kopp voll nix, nur die paar instinktive Tricks.
Et duhrt lang, besste dich durchblicks.

[Ich weiß noch, wie ich nur davon geträumt habe,
wovon ich nicht wußte, wie ich es suchen sollte.
Vor lauter Sucherei das Finden glatt versäumt habe
und überhaupt, was ich wo finden wollte.
Ein Kopf voll Nichts, nur die paar instinktiven Tricks –
es dauert lange, bis du dich durchblickst.]

4)
Dat woor die Zick, wo ich noch nit ens Pech hat.
Noch nit ens dat, ich hatt se nit ens satt.
He woor John Steinbeck, do stund Joseph Conrad,
dozwesche ich, nur relativ schachmatt.
Et ess paar Johr her, doch die Erinnerung fällt nit schwer.
Hück kütt mer vüür, als wenn et jestern wöör.

[Das war die Zeit, wo ich noch nicht einmal Pech hatte,
noch nicht einmal das, ich hatte sie nicht einmal satt.
Hier war John Steinbeck, da stand Joseph Conrad,
dazwischen ich – nur relativ schachmatt.
Es ist ein paar Jahre her, doch die Erinnerung fällt nicht schwer.
Heute kommt es mir vor, als wenn es gestern wäre.]

Verdamp lang her, verdamp lang. Verdamp lang her.
[Verdammt lange her, verdammt lange. Verdammt lange her.]

5)
Frööchs mich, wann ich zoletz e Bild jemohlt hann,
ob mir e Leed tatsächlich jetz jenüsch,
ob ich jetz do benn, wo ich hinjewollt hann,
ob mir ming Färv op die Tour nit verdrüsch.
Ich jläuv, ich weiß, ob du nu laut mohls oder leis,
et kütt drop ahn, dat du et deiß.

[Fragst mich, wann ich zuletzt ein Bild gemalt habe,
ob mir ein Lied tatsächlich jetzt genügt,
ob ich jetzt da bin, wo ich hingewollt habe,
ob mir meine Farbe auf dieser Tour nicht vertrocknet.
Ich glaube, ich weiß, ob du nun laut malst oder leise:
Es kommt nur drauf an, daß du es tust.]

Verdamp lang her, verdamp lang. Verdamp lang her.

6)
Verdamp lang her, dat ich bei dir ahm Jraav woor
Verdamp lang her, dat mir jesprochen hann,
un dat vum eine och jet beim andere ahnkohm,
su lang, dat ich mich kaum erinnre kann.
Häss fess jejläuv, dat wer em Himmel op dich waat,
"Ich jönn et dir", hann ich jesaat.

[Verdammt lange her, daß ich bei dir am Grab war.
Verdammt lange her, daß wir gesprochen haben
und daß vom einen auch etwas beim anderen ankam,
so lange, daß ich mich kaum erinnern kann.
Hast fest geglaubt, daß wer im Himmel auf dich wartet.
„Ich gönne es dir“, habe ich gesagt.]

     [BAP: Für Usszeschnigge! Musikant 1981. 
     Quelle für Text und Übersetzung: www.bap.de, kleinere Korrekturen von mir.]

Verdamp lang her ist ein Herzblut-Lied – der Kölschrock-Band BAP, ihres Frontmanns Wolfgang Niedecken im Speziellen und auch vieler Fans, die in Internetkommentaren davon sprechen, wie sie die emotionale Wucht dieses Songs erfahren haben und seitdem nie mehr vergessen konnten. Selbstverständlich ist das Lied kein typisches Karnevalslied, obwohl es zur Karnevalszeit – allerdings weitab von den närrischen Zentren in einem fränkischen Dorf – entstanden ist und man es im Karneval permanent hört. Wolfgang Niedecken hat sich zur Entstehungssituation des Liedes selbst geäußert. So weiß man, dass es für ihn ganz wesentlich ein innerer Dialog mit seinem ein paar Monate zuvor verstorbenen Vater war, eine Aufarbeitung nie wirklich ausdiskutierter Konflikte und Standpunkte, in zweiter Linie auch eine Selbstbesinnung hinsichtlich seiner sich gerade abzeichnenden Karriere als Pop-Star (vgl. Wolfgang Niedecken: Verdamp lang her. Die Stories hinter den BAP-Songs. Köln 1999, S. 44-49). In seinem Bericht äußert Niedecken die Vermutung, dass nur die wenigsten seiner Fans diese Bezüge realisieren und stattdessen ihre eigenen Lebensgeschichten auf den Refrain projizieren würden: „[J]eder hat etwas, was er erinnert, was er bereut. ,Verdamp lang her‘ ist total katholisch, komplett lila, ein Reue-Stück. ,Oh Gott, wir haben etwas falsch gemacht, und das bereuen wir jetzt.‘ Es gibt Stücke, die vermitteln sich, ohne sich zu definieren, ganz instiktiv.“ Damit ist der Song für mich ein prima Aschermittwochslied.

Ich denke, dass Niedecken im obigen Zitat den Erfolg dieses BAP-Titels im Großen und Ganzen richtig erfasst. Indem er den Fans beim Verstehen subjektive Freiheit zugesteht, akzeptiert er kluger Weise zugleich ein grundlegendes Prinzip von Literatur bzw. konservierter Zeichen überhaupt: Ist ein Text, Song, Film oder Gemälde erst einmal in der Welt, führt er/es fortan ein gewisses (aber nicht totales!) Eigenleben, das weder von der Intention des Urhebers noch von seiner eigenen sprachlichen, musikalischen, visuellen Gestalt streng determiniert wird. Bei jedem Rezeptionsakt spielen die sich permanent verändernden gesellschaftlichen, semiotischen und subjektiven Erfahrungen der Leser oder Hörer eine neue Rolle. Schon für Niedecken selbst wird sich der Sinn seines Liedes heute, im Jahr 2016, mit Sicherheit anders darstellen als 1981, als er es für das BAP-Album Für Usszeschnigge! mit seiner Band einspielte. Für literaturwissenschaftliche Kommentare bieten sich damit mehrere ,Felder‘ an, zu denen etwas gesagt werden kann: der Entstehungs- bzw. Produktionszusammenhang, der Text an sich mit seinen Bezügen zum allgemeinen ,kollektiven Wissen‘ einer bestimmten Zeit bzw. eines bestimmten Milieus sowie die Rezeptionsgeschichte.

Im Hinblick auf den Produktionszusammenhang habe ich schon auf das wichtige Vater-Thema, die Selbstreflexion und die Haltung der ,Reue‘ hingewiesen; im oben zitierten Bericht geht Niedecken auch auf musikalische Inspirationen („Karikatur eines Police-Gitarrenlicks in Moll“, S. 48) und die frühe Rezeption des Songs im WDR ein, die aus „Verdamp lang her“ schnell einen Super-Hit machte. Ich muss diese Dinge hier nicht wiederholen. Stattdessen gehe ich nachfolgend ein wenig genauer auf die einzelnen Strophen ein. Am Anfang meiner Beschäftigung mit diesem Song stand ein kleines Grinsen darüber, dass ein Mensch, der noch keine 30 Jahre alt ist, sich überhaupt traut, „Verdamp lang her“ zu sagen. Beim zweiten Nachdenken nahm ich diese Reaktion zurück; denn ich – schon deutlich über 60 – würde beim Rückblick auf meine jungen Jahre nicht „Verdamp lang her“ sagen, sondern „Grad wie gestern“; womöglich gehört es typischer Weise zum Lebensgefühl junger Menschen, Brüche, Entwicklungsschübe der eigenen Identität so intensiv zu empfinden, dass man Vergangenes, Verlorenes, Überwundenes als zeitlich weit entrückt empfindet? Dann hatte ich noch einen dritten Einfall: Geht es in dem Lied nicht (auch) um die subjektive und damit höchst relative Empfindung von Zeit, die mit Erfahrungen und Erlebnissen korreliert?

Man weiß aus Interviews, dass Niedecken mit dem in der letzten Strophe genannten „Grab“ auf seinen verstorbenen Vater Bezug nimmt, mit den folgenden Versen auf die – zumindest teilweise – missglückte bzw. offene Enden hinterlassen habende Kommunikation zwischen Sohn und Vater, die jenem Schuldgefühle bereitet. Im Song stellt sich der Sohn diesen Emotionen und zeigt sich am Ende ,erwachsen‘, gereift:

Häss fess jejläuv, dat wer em Himmel op dich waat,
„Ich jönn et dir“, hann ich jesaat.

[Hast fest geglaubt, daß wer im Himmel auf dich wartet.
„Ich gönne es dir“, habe ich gesagt.]

Diese Schlussverse explizieren ihren Sinn nicht, sondern deuten ihn nur an; dessen ungeachtet sind sie entscheidend für das Verständnis des gesamten Songs. Ich lese sie, auch mit Hilfe von Paratexten über die Entstehung des Liedes, so, dass sie als Teil eines ,stillen Dialogs‘ aufzufassen sind, die der Sohn am Grab seines Vaters (oder in der Imagination einer solchen Situation, was für die Deutung keinen Unterschied macht) mit diesem und gewissermaßen auch sich selber führt. Der Vater war offenbar ein religiöser Mensch, dem sein Glaube den nahen Tod leichter gemacht hat. Dem Sohn scheint dieser Glaube fern gelegen zu haben und auch immer noch zu liegen, aber er respektiert und toleriert ihn jetzt – am Grabe – als zwischenzeitlich im tieferen Sinne erwachsen gewordener, gereifter Mensch und nach all den Veränderungen, wovon der Song handelt. Er ,gönnt‘ seinem Vater die mit dem Glauben verbundene Erleichterung seines Schicksals, obwohl er selber eine andere Weltanschauung hat. Das ist eine humane Haltung, die er als Jugendlicher bzw. jüngerer Mann, der gegen seinen Vater revoltierte, nicht hatte aufbringen können.

Schon die erste Strophe berichtet von den bestürzenden Erfahrungen, die aus der Sprecherinstanz einen, dem eigenen Empfinden nach, anderen Menschen gemacht haben. Das Abstraktum ,Desillusionierung‘ fasst diesen Entwicklungsschub, der der Sache nach recht gut mit der Schillerschen Formel vom ,naiven‘ und ,sentimentalischen‘ Künstler erfasst wird, zusammen. Der alte, ,naive‘ – und als solcher glücklich-heile – Zustand erscheint dem seine Situation reflektierenden Ich als ,verdammt‘ weit zurückliegend, womit aber wenig über den realen zeitlichen Abstand ausgesagt wird, umso mehr über den ,gefühlten‘. Die Situation des Sprechers ist damit, noch einmal mit Schiller, aber auch zeitgenössischen Gattungstheoretikern gedacht, als „elegisch“ zu klassifizieren.

Die zweite Strophe thematisiert das Phänomen falscher Freunde, das zwei Jahre später von den Höhnern mit ihrem Hit Echte Fründe noch einmal ausführlich aufgegriffen werden sollte. Hier geht es um menschliche Enttäuschungen, die junge Popstars, deren Karrieren auf und ab gehen, anscheinend häufiger machen müssen als normale Sterbliche. Die nächste Strophe handelt von der Suche junger Leute nach Sinn und sich selbst und der dabei nicht seltenen Verfehlung des Wesentlichen. Der letzte Vers dieser Strophe deutet die Zuversicht des Ich an, sich inzwischen endlich gefunden, d.h. verstanden zu haben. Strophe vier ist die für mich kryptischste im gesamten Song. Dass es darin um eine Phase der künstlerischen (zwischen „John Steinbeck“ und „Joseph Conrad“) Stagnation bzw. Blockade geht („relativ schachmatt“) scheint mir klar, aber wie dieser Zustand des ,zwischen-den-Stühlen-Sitzens‘ zu konkretisieren wäre, sehe ich momentan nicht. Die literarischen Erfolgswerke dieser Autoren erscheinen mir zu unterschiedlich, als dass ich sie mit gutem Gewissen auf Formeln bringen könnte, zwischen denen man die Sprecherinstanz platzieren könnte. Hier fehlt mir Spezialwissen: Welche Texte von Steinbeck und Conrad hatte Niedecken beispielsweise vor Augen, als er diese Zeilen schrieb? Welche künstlerischen Pole verkörperten für ihn diese, für mich in ihren gesellschaftskritischen Bestrebungen gar nicht so unterschiedlichen Autoren? Weshalb fühlte er sich – als Musiker – ausgerechnet durch Schriftsteller blockiert usw.?

Niedecken hatte Malerei studiert und arbeitete seitdem auch als bildender Künstler. Der Eingangsvers zur fünften Strophe „Fröchs mich …“ lässt offen, ob das Du auf den – damals noch lebenden – Vater referiert oder ob die Sprecherinstanz eine solche Frage nachträglich imaginiert und an sich selbst richtet. Im ersten Fall würde die Erinnerung zu Tage bringen, dass sich der Vater auch zu Zeiten scheinbarer Funkstille immer noch für seinen Sohn interessiert hat; im anderen Fall würde sich der Sprecher eigene Gedanken zum Umgang mit seinen verschiedenen Talenten machen und schließlich zu der Antwort kommen, dass es letztlich nur auf eine produktive Existenz ankomme, nicht aber auf das spezielle Ausdrucksmedium.

Das Du in den zwei letzten Versen dieser Strophe changiert zwischen einer Anrede an sich selbst und einer Anrede an die Hörer des Songs, die sich womöglich noch im ,naiven, unaufgeklärten‘ Lebensmodus bewegen und hier Tipps zur Lebensbewältigung bekommen sollen. Der gesamte Song besitzt einen didaktischen Zug, der mir nicht wirklich richtig schmecken will. Am Beispiel der geschilderten Entwicklung des Sprechers wird den Hörern/Lesern/Fans ein Rollenvorbild angeboten, das ihnen das Erwachsen- bzw. Reifwerden erleichtern soll: nicht alles ernst nehmen (1. Strophe), falschen Freunden nicht auf den Leim gehen (2.), sich selber erkennen (3.), sich nicht von übermächtigen Vorbildern blockieren lassen (4.), einfach sein Ding machen (5.), Vater und Mutter ehren und tolerieren (6.).

Aus diesen ,Lehren‘, die der Sprecher „Schock“-artig (vgl. Strophe 1) anerkennen musste, sind deutlich die kaum modifizierten Ratschläge des verstorbenen Vaters herauszuhören, die das jüngere Ich vor ,verdamp‘ langen Zeiten offenbar nicht zu schätzen wusste, deren Evidenz dem gereiften Sprecher dafür umso mehr einleuchtet. Die Kommunikationssituation des Songs drängt seine Hörer in die Rolle eines noch ziemlich unerfahrenen, naiven Bewusstseinsträgers, vermutlich in der guten Absicht, diesem bei der Bewältigung des Lebens und der Absolvierung seines Reifungsprozesses beizustehen. Das erinnert mich sehr an Hermann Hesse, von dem ich in der zehnten oder elften Klasse auch einmal mächtig beeindruckt war. Das ist nun aber wirklich schon verdammt lange her.

Hans-Peter Ecker, Bamberg

Der Deutschen liebste Hymne im Glück: „So ein Tag, so wunderschön wie heute“ der Mainzer Hofsänger (Text: Walter Rothenburg; 1951)

Die Mainzer Hofsänger (Text: Walter Rothenburg)

So ein Tag, so wunderschön wie heute

Der Tag mit euch war wunderschön,
Wir sagen gern auf Wiedersehn
Und hoffen, dass auch euch gefiel,
Was wir gebracht in unserm Spiel.

Schau die bunten Sterne
Am Firmament hier stehn, [Variante: Am Narrenhimmel stehn,]
Ach, ich blieb' so gerne,
Doch leider muß ich gehn.

So ein Tag, so wunderschön wie heute,
So ein Tag, der dürfte nie vergehn.
So ein Tag, auf den man sich so freute,
Und wer weiß, wann wir uns wiedersehn.

Ach wie bald entschwinden frohe Stunden, [Ach wie bald ist wieder Aschermittwoch,]
Und die Tage im Wind verwehn.
So ein Tag, auf den man sich so freute,
Und wer weiß, wann wir uns wiedersehn.

Ach wie bald entschwinden frohe Stunden
Und die Tage im Wind verwehn.
So ein Tag, so wunderschön wie heute,
So ein Tag, der dürfte nie vergehn.

Fürwahr kein Lied für Goethes komischen Zausel, der bei seiner berühmten Wette mit dem Teufel (Studierzimmerszene) folgende Bedingung für die Niederlage formulierte:

Werd‘ ich zum Augenblicke sagen:
Verweile doch! du bist so schön!
Dann magst du mich in Fesseln schlagen,
Dann will ich gern zugrunde gehn!

Faust gibt sich in diesen Versen als der Gierschlund zu erkennen, der er ist: ein Action-Junkie, der seinen Hals nie voll bekommt. Kaum ist das eine Begehren gestillt, geht es weiter. Als Konsument ein Superheld des Turbo-Kapitalismus, im Grunde aber doch nur ein unglücklicher Tropf! Wer So ein Tag, so wunderschön wie heute anstimmt oder mitsingt, ist dagegen in aller Regel höchst zufrieden mit sich und der Welt, nein, mehr als zufrieden – der ist glücklich (oder tut wenigstens so)! Er ist nicht nur einfach glücklich, sondern er weiß das auch und er weiß diesen Zustand zu schätzen. Er freut sich über sein momentanes Glückserlebnis nicht zuletzt deshalb, weil er dessen Fragilität nur zu genau kennt; mehr noch: Im Bewusstsein der Singenden mindert die Vergänglichkeit des schönen Augenblicks dessen Wert nicht, sondern steigert sie noch.

Unser Loblied auf den ,wunderschönen Tag‘ singt man nicht für sich allein, normaler Weise auch nicht zu zweit, ja nicht einmal zu dritt oder viert: Es braucht schon ein ansehnliches ,Kollektiv‘ – eine größere Geburtstagsrunde, einen Festsaal oder womöglich ein volles Fußballstadion –, das gemeinsam das Glück des Moments empfindet und diesem Gefühl auch gemeinsam Ausdruck geben will, um sich des gemeinsamen Glücks-Bewusstseins zu versichern, den schönen Augenblick im Gesang noch ein wenig länger festzuhalten und vielleicht auch für die Erinnerung zu speichern.

Die Mitglieder solcher Kollektive können miteinander bekannt, ja sogar befreundet sein, doch ist das keine zwingende Voraussetzung, wie das Beispiel der Fußball-Fans zeigt. Wichtiger als eine vorgängige Verbindung ist die spontan einsetzende ,Verschwisterung‘ (ich schreibe bewusst nicht ,Verbrüderung‘), die während des Singens dieser Glücks-Hymne zwischen den Mitsingenden erfolgt. Zur Abrundung des perfekten Tages fehlt nun nur noch der Topos, dass sich ,wildfremde Leute in die Armen fallen‘. Wir haben im deutschen Sprachraum eine Reihe ähnlicher Lieder, die ebenfalls positive Befindlichkeiten von Kollektiven artikulieren und Prozesse spontaner Vergemeinschaftung unterstützen: Ich erinnere nur an Schillers/Beethovens Ode An die Freude, das Weihnachtslied O du fröhliche, Julis Perfekte Welle oder, ganz eng bei unserem Lied, Tage wie diese von den Toten Hosen. Es bräuchte einen eigenen ethnologischen Essay, die – manchmal nur recht feinen – pragmatischen Differenzen all dieser Lieder zu klären. Sehr grob kann man vielleicht sagen, dass So ein Tag, so wunderschön wie heute ohne Symphonieorchester und das staatstragende Pathos von Schillers Ode, ohne einschränkende Bezüge auf eine religiöse Botschaft bzw. ein spezielles jugendliches Milieu und mit deutlich weniger Alkohol als das Glückslied der Hosen auskommt. Wenn es anlässlich großer Siege in Fußballstadien zelebriert wird, fehlt ihm der Gestus des Triumphs (wie bei We are the Champions von Queen), im karnevalistischen Kontext evoziert es eher Tränen der Rührung als solche des Lachens. Auf alle Fälle ist es das mit Abstand beliebteste ,Stimmungslied‘ der Deutschen.

Auch deshalb gehört es zu karnevalistischen Festen und wegen seiner Wehmut angesichts der Vergänglichkeit aller schönen Dinge von der Dramaturgie her natürlich an deren Ende. Die Veranstalter närrischer Großveranstaltungen wussten und beherzigten dies schon seit den frühen 1950er Jahren, indem sie die großen Finale ihrer Bühnenshows bevorzugt mit diesem Lied einleiteten, das von Lotar Olias 1951 für den Auftritt der Mainzer Hofsänger für die kommende Saison komponiert worden ist (vgl. Walter Moßmann und Peter Schleunig: Alte und neue politische Lieder. Reinbek bei Hamburg 1978, S. 269). Es markiert im zeitlichen Kontinuum eines Festes jene Phase, in der die Hochstimmung ihren Gipfelpunkt erreicht und überschreitet. Die Teilnehmer denken bereits an Aufbruch, Abschied, Trennung, an ihre Rückkehr in den mehr oder minder grauen Alltag. Aus dieser Situation einer gewissen Distanz zum – bereits gehabten, aber immer noch emotional wärmenden, ja erregenden – Glücks-Erlebnis entsteht seine Reflexion. Diese Reflexion der abflutenden Freude führt zum Wunsch nach ewigwährender Verlängerung des glücklichen Moments bei gleichzeitigem Bewusstsein der Nicht-Realisierbarkeit dieses Begehrens.

Zur oben angesprochenen Verschwisterungs-Leistung dieses Liedes trägt sein Perspektivenwechsel bei. Die Sprecherinstanz wechselt zwischen einem (eher) kollektiven „wir“ (Refrain, 4. Zeile), einem individuellen „ich“ (2. Strophe) und einem unscharfen „man“ (Refrain, 3. Zeile), was aber insofern vernachlässigt werden kann, als Individuum und Kollektiv ersichtlich im Gleichtakt ,ticken‘. Der mehrfache Wechsel von kollektiver Stimme und individuellen Sprechern fügt sich bestens zum Vortrag des Liedes durch einen Chor mit Solisten, wie es die ,Mainzer Hofsänger‘ jahrzehntelang ihrem Publikum vorgemacht haben. Mitglieder des Mainzer Konservatoriums hatten sich 1926 zu einem karnevalistischen Spaßchor zusammengefunden, der die Prunksitzungen lokaler Fassenachts-Vereine mit seinen Beiträgen bereicherte. Von 1952 an hatten die Hofsänger So ein Tag, so wunderschön wie heute in ihrem Programm, das ab 1955, mit Beginn der Fernsehübertragungen der großen Mainzer Prunksitzung Mainz wie es singt und lacht (ab 1973 unter dem Titel „Mainz bleibt Mainz, wie es singt und lacht“), dann auch deutschlandweit ausgestrahlt wurde.

Der Titel wurde von Walter Rothenburg getextet, die Melodie hatte, wie oben schon erwähnt, Lotar Olias beigesteuert. Inwieweit sich Olias dafür von der Melodie der Internationale inspirieren ließ (so die These von Moßmann/Schleunig, s.o., S. 270), wage ich nicht zu beurteilen. Rotenburg (1889-1975) war eine mehr als schillernde Persönlichkeit im deutschen Unterhaltungsgeschäft: Der gebürtige Hamburger hatte seinen ersten Beruf bei der deutschen Kriegsmarine gefunden, in den zwanziger und dreißiger Jahren kannte man ihn als einen bedeutenden Boxpromoter, gleichzeitig betätigte er sich aber auch als freier Schriftsteller und Liedtexter. So stammt beispielsweise der Text von Freddys Junge, komm bald wieder ebenso aus seiner Feder wie der große Karnevalsschlager Oh, wie ist das schön.

Lotar Olias (1913-1990) war ebenfalls kein Unbekannter im Schlager- und Filmgeschäft der Nachkriegszeit; er textete und komponierte damals recht erfolgreich. Da sich Olias im Dritten Reich mächtig exponiert hatte, stand er nach dem Krieg zunächst im Abseits der Unterhaltungsbranche. Ab 1949 ging es für ihn dann aber wieder deutlich voran, bis in die mittleren 1960er Jahre komponierte er praktisch jedes Jahr gleich für mehrere Filme. So ein Tag, so wunderschön wie heute wurde 1954 in dem Unterhaltungsfilm Geld aus Luft (Regie: Géza von Cziffra, Sängerin: Lonny Kellner) eingebaut. Beim gebürtigen Königsberger und späteren Hamburger Olias gibt es, ähnlich wie bei Walter Rothenburg, eine auffällige Affinität zu Fernweh-Produktionen, bei denen Freddy Quinn als Schauspieler bzw. Sänger beteiligt war.

Hans-Peter Ecker, Bamberg

 

Frechheit siegt! „Ich hab drei Haare auf der Brust“ von Bernd Stelter (2001)

Bernd Stelter

Ich hab drei Haare auf der Brust

Ich kam zur Welt mit gut zwölf Pfund, die Mama hat geflucht.
Der Doktor schrieb erst mal'n Briefchen an das Guinnessbuch.
Den ganzen Kopf voll Glatze, wie's für's Baby sich geziert,
nur wo die Haare waren, hat die Mama irritiert:

Ich hab drei Haare auf der Brust, ich bin ein Bär.
Ich zähl sie jeden Tag, es werden halt nicht mehr
So ein Bär scheut in der Tierwelt überhaupt keinen Vergleich,
man kann mit Bären prima kuscheln, denn so'n Bär is herrlich weich.
Wer's einmal ausprobiert hat, will immer mehr – 
ich hab drei Haare auf der Brust, ich bin ein Bär!

[Zusatzstrophe]
Das erste schöne Mädchen hatte ich mit achtzehn Jahrn,
die Bude frei, weil meine Eltern grad beim Kegeln warn.
Keine vier Minuten und wir standen nackig da;
was hat sie sich erschrocken, als sie's Stummelschwänzchen sah:

Ich hab drei Haare auf der Brust, ich bin ein Bär [...] 

„Sie wolln die Hand von meiner Tochter?“, sprach ihr Vater „Komm‘ Se rein!“
Ich sagte „Nur die Hand? Da fällt mir noch was Lustigeres ein...“
„Sie ham‘ kein Haus, kein Boot, kein Auto, also Sie machen mir Spaß!
Sie ham‘ nich mal Kleingeld für die Parkuhr – ham‘ Sie irgendwas?“ 

Ich hab drei Haare auf der Brust, ich bin ein Bär [...] 

Der Vollmond schien, es war November, es war unsre Hochzeitsnacht.
„Na und, wann geht‘s denn weiter?“ hat sie hinterher gefragt.
Nu sei mal nich so ungeduldig, sei schön sittsam und schön brav,
denn so‘n richtig dicker Bär hält nach der Paarung Winterschlaf.

Ich hab drei Haare auf der Brust, ich bin ein Bär [...] 

    [Bernd Stelter: Ich hab drei Haare auf der Brust. Eastwest 2001.]

Bernd Stelter ist ein ebenso vielseitiger wie beliebter Entertainer. Obwohl aus Unna, einer westfälischen Stadt am östlichen Rande des Ruhrgebiet stammend, wo bekanntlich nur ab und an einmal mit der Luftschlange gearbeitet wird, fasste er schon 1988 im Kölschen Karneval Fuß und gilt dort seitdem als feste Größe. Sein Bärenlied war bzw. ist bis heute wahrscheinlich sein größter Erfolgs-Hit. Die Gründe liegen auf der Hand: Erstens ist die Logik des selbstbewusst vorgetragenen Schlusses von drei Brusthaaren auf Bären-Status frappierend komisch; zweitens verkörpert Bernd Stelter figürlich die Maskulinität des vollschlanken Kuschelbärs so sympathisch, dass ihn ein großer Teil des männlichen Publikums mit suboptimalem body shape unschwer zum Rollenvorbild erwählen kann und drittens gewinnt er auch die anwesenden Frauen durch Selbstironie, indem er den mit der Bären-Metaphorik indirekt erhobenen Potenzanspruch witzig mit einer überraschenden Begründung (ein Bär braucht seinen Winterschlaf) zurücknimmt.

Stelters Bärenlied ist – wie viele andere Karnevalslieder auch – ein ,Balzlied‘, das vor Frauen männliche Qualitäten ausstellt; allerdings findet der Sänger dabei einen originellen, durch Witz und Selbstironie bestimmten Weg ins weibliche ,Herz‘. Er parodiert das traditionelle Balzverhalten des Mannes, das Stärke, Macht und Potenz als Argumente auffährt, dabei im Subtext aber auch Dominanzansprüche artikuliert. Stelters Bären-Nummer schüchtert nicht ein, sie zwinkert der angebalzten Frauenschaft auf Augenhöhe zu. Intelligente Frauen, die ein wenig über die erste Nacht hinauszudenken pflegen, werden die partnerschaftlichen Qualitäten eines solchen Menschen wahrscheinlich erkennen und schätzen, selbst wenn der „kein Haus, kein Boot, kein Auto“ (vgl. die bekannte Sparkassen-Werbung) vorzuweisen hat. (Denk ich jedenfalls mal …)

Allerdings lässt sich unser Karnevalslied mit seinem einprägsamen Refrain nicht nur als originelles Balzlied verstehen, sondern auch als Satire auf einen Zeitgeist, dem der Sprecher Hochstapelei und dreistes Anspruchsdenken als Normalverhalten unterstellt. So wie unser Held mit seinen drei Brusthaaren von der Gesellschaft als ,Bär‘ akzeptiert wird, behauptet das Lied auf seiner satirischen Sinnebene, machen heutzutage auch Dumm- und Windbeutel ohne Sachkompetenz Karriere in Politik, Wirtschaft, Wissenschaft und Kultur, weil den Menschen die Maßstäbe fehlen, Schein und Sein zu unterscheiden.

Beide Aspekte gehören zusammen: augenzwinkernde Selbstironie als erotische Strategie und satirische Entlarvung einer dekadenten Gesellschaft, deren Spitzenränge von den dreistesten Eseln besetzt werden. Der Esel ist übriges das Symboltier von Unna (vgl. u.a. die dortige Tierparade von 2009), nicht der Bär.

Hans-Peter Ecker, Bamberg

Man vgl. zum Thema ,Winterschlaf‘ Ludwig Hirschs ebenso betitelten Sprechgesang.