Friedrich Fischer-Friesenhausen
Wo die Nordseewellen
Wo de Nordseewellen trecken an den Strand,
Wor de geelen Blomen blöhn in‘t gröne Land,
Wor de Möwen schriegen gell in‘t Stormgebruus,
Dor is mine Heimat, dor bün ick to Huus.
Well'n un Wogenruschen weern min Weegenleed,
Un de hohen Dieken seh‘n min Kinnerleed,
Markten ook min Sehnsucht a sick wussen weer,
Dör de Welt to fleegen, öwer Land un Meer.
Wohl hett mi dat Lewen all min Lengen stillt,
Hett mi allens geben, wat min Hart nu füllt;
Allens is verswunnen, wat mi quäl‘ un dreev,
Heff dat Glück woll funnen, doch dat Sehnsucht bleev.
Sehnsucht na min leewet, gröne Marschenland,
Wor de Nordseewellen trecken an de Strand,
Wor de Möwen schriegen gell in‘t Stormgebruus,
Dor is mine Heimat, dor bün ick to Huus.
Martha Müller-Grählert
Wo die Ostseewellen
Wo de Ostseewellen trecken an den Strand,
wo de gäle Ginster bleught in’ Dünensand,
wo de Möwen schriegen grell in’t Stormgebrus,
dor is mine Heimat, dor bün ick tau Hus.
Well- un Wogenruschen wiern min Weigenlied,
un de hogen Dünen seg’n min Kinnertied,
seg'n uck mine Sähnsucht un min heit Begehr,
in de Welt tau fleigen öwer Land un Meer.
Woll hett mi dat Läwen dit Verlangen stillt,
hett mi allens gäwen, wat min Hart erfüllt,
allens is verschwunden, wat mi quält un drew,
häw nu Fräden funden, doch de Sähnsucht blew.
Sähnsucht nah dat lütte, stille Inselland,
wo de Wellen trecken an den witten Strand
wo de Möwen schriegen gell in’t Stormgebrus;
denn dor is min Heimat, dor bün ickt tau Hus!
Herkunft, Vorgeschichte
Mit der Anfangszeile Wo die Ostseewellen trecken an den Strand schrieb 1907 die in Zingst aufgewachsene Heimatdichterin Martha Müller-Grählert ein Gedicht, das später zur Grundlage des Friesenliedes wurde. Zum ersten Mal veröffentlicht wurde das Gedicht 1908 unter dem Titel Mine Heimat in der Zeitschrift Meggendorfer Blätter.
Eine besondere Geschichte hat die Melodie: Ein Glasergeselle aus Flensburg brachte während seiner Wanderjahre den Ostseetext nach Zürich. Dort trat er dem Arbeitermännergesangverein bei und motivierte dessen Chorleiter, den Text zu vertonen. Der aus Thüringen stammende Simon Krannig, der sich nach Jahren der Wanderschaft als Schreinergeselle in Zürich niedergelassen hatte, komponierte als gelernter Orgelspieler 1910 nach einem Bericht seines Sohnes die Melodie in weniger als einer Stunde. Die Uraufführung des Liedes fand am Grab des inzwischen gestorbenen Glasergesellen statt.
Leicht geändert wurde das Ostseewellenlied von dem Lyriker und Verleger Friedrich Fischer-Friesenhausen zu dem Friesenlied mit der bekannten Titelzeile Wo die Nordseewellen.
Fischer-Friesenhausen ließ das Nordseewellenlied auf Postkarten drucken und sorgte auf diese Weise für dessen weite Verbreitung, so dass es bald „wie eine norddeutsche Nationalhymne“ (Theo Mang, Der LiederQuell, 2015, S. 450) empfunden wurde.
Liedbetrachtung
Wie der ursprüngliche Gedichttext Mine Heimat der Dichterin, die es in jungen Jahren aus beruflichen Gründen nach Berlin verschlagen hatte, ihre Sehnsucht nach der Ostsee beschreibt, so ist auch Wo die Nordseewellen ein Heimatlied. Der 1886 in Detmold geborene Friedrich Fischer-Friesenhaus hat das Ostseewellenlied nach seinem Wanderleben in England, Skandinavien, Holland, Belgien, Frankreich, Spanien und Amerika (s. www.lexikon-westfaelischer-autorinnen-und-autoren.de) mit 29 Jahren so wenig abgeändert, dass man durchaus von einem Plagiat sprechen könnte (vgl. Textversionen).
Es lässt sich gut nachvollziehen, wie die (blauen) Wellen mit den gelben Blumen (in manchen Versionen: der gelbe Ginster) und dem grünen Marschland einen Kontrast bilden, ebenso wie die Wellenbewegung zum ruhenden Festland. Und wenn man dann noch die Möwen schreien hört, können sich an der Waterkant Geborene wie zu Hause fühlen. Das lyrische Ich erinnert sich an seine Kindheit und meint, das Rauschen der Wellen sei wie ein Kinderlied gewesen, das die Deiche ebenso gekannt haben wie den Wunsch, durch die Welt über Land und Meer zu fliegen.
Wie stark die Sehnsucht ist, wird in der dritten Strophe ausgedrückt. Obwohl das Leben alles Verlangen erfüllt hat, alles gegeben hat, was das Herz erfüllt und zudem alles verschwunden ist, was das lyrische Ich gequält und umhergetrieben hat und es schließlich das Glück gefunden hat, bleibt die Sehnsucht nach dem Marschenland, den Nordseewellen und den schreienden Möwen. In Anlehnung an die Gedichtzeilen heißt es auf dem Grabstein der 1939 in Franzburg (Landkreis Vorpommern-Rügen) gestorbenen Dichterin Martha Müller-Grählert: „Hier ist meine Heimat, hier bün ick to Hus“ versehen.
Rezeption
Zur Verbreitung trug neben den erwähnten Postkarten bei, dass das Friesenlied ab 1922 als Partitur verlegt und publiziert wurde. Nachdem das Lied von den Nordseewellen im norddeutschen Radio häufig gespielt wurde und es auf den Fähren zu den ostfriesischen Inseln für Einheimische und Touristen zu hören war, stieg die Popularität weiter an. Auch der Deutschlandsender spielte es landesweit es gern und oft; 1934 war es im Film „Heimat im Meer“ in den Kinos zu hören.
Eines der ersten mir bekannten Liederbücher mit dem Friesenlied ist das Liederbuch Nordmarklager der Hitlerjugend, 1936. Weitere Nazi-Liederbücher folgten. Ohne nazistischen Bezug konnte 1939 der Knurrhahn – Seemannslieder und Shanties, Band 1 erscheinen.
Nach dem Zweiten Weltkrieg gehörte das Lied zu den Evergreens, es wurde von Freddy Quinn, Lale Andersen, Lolita, Heidi Kabel, Hein Timm, Heino und vielen anderen Sänger*innen interpretiert. Bald gehörten die Nordseewellen zum Standardrepertoire jedes Shanty-Chors und vieler Männerchöre.
Von den ab 1948 bis 2015 erschienenen mir bekannten 32 Liederbüchern mit dem Friesenlied sollen hier der hohen Auflagen wegen zunächst die Taschenbücher des Heyne Verlags Der deutsche Liederschatz (1975) und Die schönsten Volkslieder (1977) und des Moewig Verlags Die schönsten Seemannslieder und Die schönsten Heimatlieder (beide 1992) erwähnt werden. Auch der Deutsche Liederschatz (Weltbild Verlag, 1985) und vor allem die Liederwolke (1986 kunterbundedition) weisen für Liederbücher zeichnen sich durch relativ hohe Auflagen aus.
Für mich erstaunlich ist, dass weder der Volksliedforscher Ernst Klusen das Lied in seine zweibändige Liedersammlung Deutsche Lieder (2. Auflage 1981, 51. bis 100. Tsd.) noch der Volkskundler und Liedersammler Heinz Rölleke in Das große Buch der Volkslieder (1993) aufgenommen haben. Dagegen ist es in Der LiederQuell (Neuauflage 2015) des Volkliedforschers Theo Mang vertreten.
Der Katalog des Deutschen Musikarchivs, Leipzig, weist 31 Tonträger aus, darunter 22 Schellackplatten, 8 LPs und eine 2008 erschienene CD mit dem über Hamburg hinaus bekannten „Lautensänger“ Richard Germer.
Noch heute kann man Wo die Nordseewellen nicht nur in Norddeutschland, sondern in ganz Deutschland hören. Besonders beliebt ist das Lied in „fröhlicher Weinrunde am Rhein, an der Mosel oder am Neckar, …wo das Anstimmen durch einen Norddeutschen ausreicht, um den ‘Wellengesang‘ im Dreivierteltakt zum stimmungsvollen Schunkeln aufzugreifen“ (Mang, S. 450).
Über Deutschland hinaus ist es in Dänemark bekannt unter Der, hvor nordsøbølger ruller ind mod land; in Frankreich wirdLes Flots du Nordangestimmt und in Südtirol heißt die Übersetzung aus dem Ladinischen Wo die Wiesen sind mit Blumen übersät.
Münker/Böhmer/Scharthauer
O, du schöner Westerwald
I.
Heute wollen wir marschier'n
einen neuen Marsch probier'n
In den schönen Westerwald,
ja da pfeift der Wind so kalt.
In den schönen Westerwald,
ja da pfeift der Wind so kalt.
O du schöner Westerwald,
über deine Höhen pfeift der Wind so kalt,
jedoch der kleinste Sonnenschein
dringt tief in's Herz hinein.
II.
Und die Gretel und der Hans
geh'n des Sonntags gern zum Tanz,
weil das Tanzen Freude macht
und das Herz im Leibe lacht
weil das Tanzen Freude macht
und das Herz im Leibe lacht.
O du schöner Westerwald [...]
III.
Ist das Tanzen dann vorbei,
gibt es meist Keilerei
und dem Bursch', den das nicht freut,
sagt man nach, der hat kein Schneid.
Und dem Bursch', den das nicht freut,
sagt man nach, der hat kein Schneid.
O du schöner Westerwald [...]
Wer kennt es nicht, das Westerwaldlied? Radio Luxemburg ließ sogar verlauten, dass es das „drittbekannteste Lied der Welt“ sei (zitiert nach Der Spiegel). Denn das Lied bereitet beim Singen große Freude, der Text prägt sich leicht ein und im Laufe der Zeit wurden beim Singen Pfiffe und/oder verballhornende Zwischenrufe eingefügt, die zur Beliebtheit des Liedes beitrugen. Darüber eignet sich der Marschcharakter der Melodie hervorragend, Schritte einer Gruppe beim Wandern oder Marschieren zu koordinieren. Wer aber kennt die vierte Strophe, die zwar auf einigen „Lyrics“-Websites zu finden ist, aber in kein Liederbuch aufgenommen wurde und über deren Herkunft nichts bekannt ist?
O du schöner Westerwald
Bist ja weit und breit bekannt
Echte Menschen der Natur
Von Falschheit keine Spur.
Entstehung
„Der RAD (Reichsarbeitsdienst) hat dem Westerwald zwei Volkslieder geschenkt“, so betitelte der Heimatforscher und Liedersammler Otto Runkel (1873 bis 1946), der Hauptlehrer und „Volksliedwart“ in Dierdorf (Vorderer Westerwald) war, einen Beitrag im Nassauischen Heimatkalender 1941 und meinte das Westerwaldlied und Ich bin der Bub vom Westerwald*. Volksliedforscher bzw. Musikethnologen und Heimatforscher sind sich einig, dass der Text in einem Lager des Freiwilligen Arbeitsdienstes (FAD) entstanden ist, der bei Emmerzhausen (Hoher Westerwald, Kreis Altenkirchen) auf dem Stegskopfgelände Meliorations- und Drainagearbeiten durchführte. Der FAD – zur Erinnerung an den Schulunterricht – war aufgrund einer Notverordnung von Juni 1931 ein Dienst für arbeitslose Jugendliche und Erwachsene, der ausschließlich für gemeinnützige Arbeiten eingesetzt wurde – nach der Machtergreifung der Nationalsozialisten überwiegend für militärisch nutzbare Bauarbeiten. Er war der Vorläufer des 1935 gegründeten Reichsarbeitsdienstes (RAD), mit dem eine sechsmonatige Dienstpflicht für junge Männer eingeführt wurde (vgl. Wikipedia).
Über die Entstehung des Westerwaldliedes sollen Aufzeichnungen des damaligen Gemeindebaumeisters (und späteren Bauamtsleiters) Willi Münker (1896 bis 1961) aus Daaden (Landkreis Altenkirchen) vorliegen, der im Lager des Arbeitsdienstes die Bauaufsicht hatte. Das Original oder ein Faksimile befinden sich jedoch derzeit weder im Landeshauptarchiv Rheinland-Pfalz noch im Heimatmuseum Daaden; angeblich befindet es sich in Privathand. Artikeln zweier Heimatforscher ist zu entnehmen, dass sich Willi Münker, der Lagerleiter Böhmer und der Sportlehrer Scharthauer im November 1932 in einer Holzbaracke des Freiwilligen Arbeitsdienstes (FAD) auf dem Stegskopfgelände (bei Daaden) vor Feierabend zusammen gefunden hatten, weil ein Unwetter das Weiterarbeiten unmöglich machte. Und weil sie gerade nichts Besseres zu tun hatten (nach anderen Versionen „spontan“ oder „aus Langeweile“), dichteten sie auf die Melodie eines altes Westerwaldliedes die drei Verse und den Refrain, wobei jeder seinen Teil zum Text beitrug.**
Wahrscheinlich haben die drei genannten Verfasser die Verszeilen aus Bruchstücken älterer Lieder zusammengesetzt, z. B. aus dem alten Kinderlied Heute wollen wir marschieren und im Gehen uns probieren aus der Mitte des 19. Jahrhundert, das sie in der Schule aus einem der von 1904 bis 1929 zahlreich erschienenen Schul- oder Liederbüchern gelernt hatten. Oder sie kannten das alte Lied Westerwald, meine goldne Heimat, in dem in der ersten Strophe die Zeilen vorkommen „Dunkle Tannen ragen zum Himmel, / auf den Höhen weht pfeifender Wind“ und „Meine Heimat ist schön und mir teuer, / ist auch grausig herb und kalt.“
Die Melodie ist gemäß dem Germanisten und Volksliedfachmann Heinz Rölleke „im 19. Jahrhundert entstanden“.*** Auch der Volkskundler und Liedforscher Otto Holzapfel weist daraufhin, dass in den Gebrauchsliederbüchern „für die Melodie zumeist Volksweise angegeben wird“. Dagegen nennt die Mehrheit der im Hubertus Schendel Archiv vorhandenen Liederbücher – sofern eine Angabe vorhanden ist – Josef Neuhäuser als Komponisten, und auch das Deutsche Musikarchiv, Leipzig, weist auf seinen Tonträgern ihn als Komponisten aus. Josef Neuhäuser (1890 bis 1949), zu der Zeit in Limburg wohnend, war Komponist von Blas- und Marschmusiken. „1934 fragte ein Limburger Musikhaus bei ihm an“, so nachzulesen in der Veröffentlichung des Archivkreises Brechen****, „ob er ein altes im Westerwald viel gesungenes Lied in einen Marsch umsetzen könne und schickte ihm, nachdem er zugesagt hatte, eine junge Westerwälderin, die ihm das Lied vorsang, das zuvor noch nie aufgezeichnet war“. Diese Version wird von seinem Sohn, Walter Neuhäuser (geb. 1926), als Ohrenzeuge des Vorsingens, bestätigt.
1935 komponierte Josef Neuhäuser den später weltbekannt gewordenen Westerwaldmarsch, in dem er im Trio das im FAD entstandene Westerwaldlied verarbeitete. Nachdem Neuhäuser den Marsch zunächst im Selbstverlag herausbrachte, bot er ihn dem renommierten Musikverlag B. Schott’s Söhne, Mainz, an. Der Schott-Verlag kaufte ihm den Marsch für 165 Reichsmark ab und erhielt 1937 von der STAGMA, der Staatlich genehmigten Gesellschaft für musikalische Aufführungsrechte (Vorläuferin der GEMA), das Copyright.
Analyse
Das Lied beginnt mit der Aufforderung „marschier‘n“ und „einen neuen Marsch [zu] probier’n“, wobei sich die drei Arbeitsmänner einbezogen haben: „wir wollen“. In einer Gruppe gesungen, stärkt das Wir sicherlich das Gemeinschaftsgefühl. Den ersten Zeilen ist zu entnehmen, dass bereits im freiwilligen Arbeitsdienst ganz im paramilitärischen Stil marschiert wurde. Später im Reichsarbeitsdienst gehörte Marschieren, den Spaten wie ein Gewehr geschultert, zum täglichen Dienstprogramm.
Im Refrain wird zunächst ein Lob ausgesprochen – „O, du schöner Westerwald“ -, dann aber bedauert, dass der „Wind so kalt“ pfeift, was nicht verwundert: es war ein Novembertag, als das Lied entstand. Immerhin wird diese Aussage relativiert, nicht im ganzen Westerwald, sondern (nur) „über deinen Höhen“ (schließlich entstand das Lied auf dem Stegskopfgelände, 654,4 m über N.N., im Hohen Westerwald). Das Ganze wird verbunden mit der Hoffnung auf ein bisschen Sonne: „jedoch der kleinste Sonnenschein / dringt tief ins Herz hinein“. Diese Zeilen muten angesichts der zackigen Einleitung geradezu romantisch an.
Und tatsächlich gibt es im 19. Jahrhundert eine große Anzahl von Gedichten, in denen die Topoi Sonnenschein und Herz verwandt werden, z. B. O Sonnenschein von Robert Reinicke (1805 bis 1852) mit den Anfangszeilen „O Sonnenschein, o Sonnenschein, / wie scheinst du in mein Herz hinein“ und Der goldene Sonnenschein von Ernst August Scherenberg (1839 bis 1905) mit den Zeilen „Es schleicht sich auch in’s ärmste Herz / ein Strahl des Lichts hinein / liegt leuchtend über aller Welt / der goldne Sonnenschein.“
In der Zweiten Strophe stehen „die Gretel und der Hans“ exemplarisch für ein Paar, das „des Sonntags gern zum Tanz“ geht, wie in einem alten Kirmeslied aus Hachenburg (Sitz des Landschaftsmuseums Westerwald), in dem es heißt:
Hat der Hans auch graue Haare,
und ist Gretel alt wie’er,
Kommt die Kirmes dann im Jahre,
Geben sie dem Tag die Ehr‘.
Einen Walzer voller Zier
Tanzt der Hans alsdann mit ihr,
Tra la lalala, Tra la lalala.
Die dritte Strophe bezieht sich darauf, dass auch die Arbeitsmänner gern zum Tanzen gingen, sei es auf der Kirmes oder beim Schützenfest. Geht man von den Aufzeichnungen Willi Münkers aus, dann haben die Arbeitsmänner auf einem Dorffest in der Nähe ihres Lagers mit einheimischen Mädchen und Frauen getanzt und die Erfahrung gemacht, dass die männlichen Dörfler eifersüchtig wurden. Nach einem Streit sei es dann zu einer Keilerei gekommen, der die FAD’ler nicht aus dem Wege gingen, da sie sonst als feige gegolten hätten („der hat keinen Schneid“).
Wettbewerb und andere Lieder
Mit aufkommendem Tourismus befürchteten viele Westerwälder Gemeinden, der Refrain des Westerwaldliedes könne potentielle Touristen abschrecken. Daher wurde von der Stadt Montabaur im Jahre 1975 ein Wettbewerb für ein neues Lied ausgeschrieben. Dieses Lied sollte ein Loblied auf die Landschaft sein. Da von 1.300 Einsendungen kein Lied den Anforderungen an Text und Melodie genügte, wurde das Preisgeld von 10.000 DM aufgeteilt. Erstaunlich, dass der Wettbewerb für nötig gehalten wurde – vielleicht geschah er auch aus Marketinggründen -, gibt es doch eine Anzahl Westerwaldlieder, die geradezu wie eine Liebeserklärung klingen. Hier eine Auswahl:
– „Heil dir, schöner Westerwald, / dich soll mein Land besingen, / dass weit und breit dein Lob erschallt, / dass Berg und Täler klingen“ (1870)
– „O Westerwald, o Heimatflur, wo unberührt noch die Natur“ (1925)
– „Mein Herz, das ist im Westerwald, / ich liebe seine dunklen Tannen.“ (1927)
– Laßt uns fröhlich wandern im schönen Westerwald“ (1969)
Andererseits gibt es aber auch ein Lied (vermutlich aus dem Jahre 1925), getextet von Georg Ortmüller (1896 bis 1946), der von 1920 bis 1946 Lehrer in Mudenbach (Oberwesterwaldkreis) war, das in der ersten Strophe das raue Wetter in höheren Lagen des Westerwaldes bestätigt, aber insgesamt die Liebe zum Westerwald deutlich werden lässt:
Dunkle Tannen ragen zum Himmel,
auf den Höhen ein pfeifender Wind.
Und ich ziehe durch lachende Fluren.
Ich bin ein Westerwälder Kind.
Meine Heimat ist schön mir schön und teuer,
ist auch grausig, herb und kalt,
doch im Herzen brennt heiliges Feuer
für die Heimat im Westerwald.
In dem vom Liedermacher und Komponisten Ulrik Remy (geb. 1949), der einige Jahre in Hachenburg (Westerwaldkreis) gelebt hat, verfassten Lied Ich bin aus‘m Westerwald wird das auf die Westerwälder angewandte Schimpfwort „Basaltköppe“ in der 7. Strophe widerlegt, und in der 8. Strophe werden die zeitweise rauen Wetterbedingungen akzeptiert:
Es gibt Leute, die behaupten, wir da hinter’m Wald,
wären ungehobelt und wir hätten Köpfe aus Basalt.
Doch wir haben warme Herzen, schicke Mode lässt uns kalt.
Wir sind aus’m Westerwald.
Und wir haben nichts dagegen, wenn der Wind mal weht
wenn er grade ist und sich nicht alle Augenblicke dreht.
Wer uns Westerwälder kennt, ich bin sicher, der versteht.
Ich bin aus’m Westerwald.
Rezeption bis 1945
Verbreitet durch die Arbeitsmänner des FAD/RAD wurde das Westerwaldlied bald in ganz Deutschland populär. Ein von Robert Zündorf (1896 bis 1943, Komponist, Lehrer und Schriftsteller aus Hagen) komponierter Marsch O, du schönes Sauerland, verarbeitet wie Neuhäuser ein Lied, dessen Melodie mit dem Westerwaldlied sehr große Ähnlichkeit aufweist. Zündorfs Sauerlandmarsch blieb allerdings trotz einiger Schellackplatten auf die besungene Region beschränkt.
Dagegen stieg die Popularität des von Josef Neuhäuser komponierten Westerwaldmarsches weiter an, besonders nachdem der Marsch häufig vom Großdeutschen Rundfunk ausgestrahlt wurde und mehr als 20 Schellackplatten mit dem Titel Westerwaldlied, Westerwald-Marsch oder O, du schöner Westerwald erschienen. Von Grammophon über Odeon und Polydor bis Telefunken u.v.a. – fast alle Schallplattenverlage wollten am finanziellen Erfolg des Liedes teilhaben.
Und sicherlich trugen auch die im Schott Verlag erschienenen Liederbücher und Partituren zur weiterhin wachsenden Beliebtheit bei, wie das Liederbuch der Wehrmacht (bereits 1939 in der 4. Auflage), Das neue Soldatenliederbuch, Heft 1 (1940) und die Notenausgaben für Klavier Unsere Soldatenlieder und für Akkordeon Alles in einem. Auch NS-Verlage verlegten weitere, hauptsächlich für Soldaten gedachte, Liederbücher mit dem Lied. Immerhin erschien das Lied 1941 auch in DasLiederbuch für den deutschen Wanderer und in Die Drehorgel – Liederbuch für fröhliche Kreise.
Eine Variante erschien als Lied der baltischen Freiheitskämpfer im Liederbuch des RADSingend wollenwir marschieren mit folgenden Zeilen:
Heute wollen wir marschier‘n
weit in Feindesland hinein
und die Fahne, die wir führen
soll uns unsre Heimat sein.
Rezeption ab 1945
Nach dem Zweiten Weltkrieg galten Westerwaldlied und -marsch als belastet durch das NS-Regime. Daher waren die westdeutschen Musikverlage (die ostdeutschen eh) etliche Jahre zurückhaltend mit dem Verlegen des Marsches. Doch es dauerte nur etwas mehr als ein Jahrzehnt, da griff die Bundeswehr nach ihrer Gründung 1955 das Trio des Westerwaldmarsches, bekannt unter der Bezeichnung „Westerwaldlied” auf, als wenn das Lied nicht durch die deutschen Soldaten im Zweiten Weltkrieg „verbrannt“ worden wäre, die mit dem Lied auf den Lippen im Mai 1940 in Holland, Belgien und Luxemburg einmarschiert waren.
Immerhin heißt es 1958 und auch noch in der zweiten Auflage von 1991 im Liederbuch der Bundeswehr Kameraden singt!: „Dieses Lied ist das wohl bekannteste Lied der ehemaligen deutschen Wehrmacht […] Es sollte daher immer besonders sorgsam abgewogen werden, ob und wo dieses Lied durch Angehörige der Bundeswehr gesungen wird“. Dagegen heißt es 1976 im Liederbuch der Bundeswehr Hell klingen unsere Lieder in abgemilderter Form: „Trotz seiner vorzüglichen Eignung für den Marschgesang der Truppe sollte es nur als wichtiges Lied in der Entwicklung des deutschen Soldatenlieds angesehen werden“.
Bald kamen LPs und CDs auf den Markt. Zu den ersten LPs mit dem Westerwaldlied gehörten 1962 und 1964 die Aufnahmen des Heeresmusikkorps der Bundeswehr, 1965 die Stimmungslieder mit dem Gesang von Willy Millowitsch und 1968 Heino mit seiner ersten LP Heino (bis 1984 sechs weitere LPs und 1985 bis 2013 acht CDs mit dem Lied). Und natürlich kamen weitere Aufnahmen von Bundeswehr-Musikgruppen heraus, von den Musikkorps der jeweiligen Teilstreitkräfte und diversen Soldatenchören. Vom Norden (Marinechor Blaue Jungs 1979) bis zum Süden (Tölzer Knabenchor, 1979), vom berühmten Montanara Chor bis hin zu regionalen Chören wie den Westerwälder Nachtigallen und sogar in Österreich (von den Kremser Buam) wurde der Westerwald besungen. Das Deutsche Musikarchiv weist in seinem Katalog insgesamt 75 Tonträger und 34 Notenausgaben aus.
Und nachdem auch die westdeutschen Rundfunkanstalten ihren Teil dazu beigetragen hatten, das Lied wieder „salonfähig“ zu machen, nahmen wieder große Verlage es ebenfalls in ihre Liederbücher auf, so z. B. Heyne mit dem Taschenbuch Die schönsten deutschen Volkslieder (1977), der Weltbild Verlag mit Deutsche Heimatlieder (1985), Deutscher Liederschatz (Band 1, 1988) und Das Volksliederbuch (1995), Kiepenheuer & Witsch mit Das große Buch der Volkslieder (1993, das später von der Bertelsmann Buchgemeinschaft übernommen wurde) und Das Beste in Kooperation mit dem ADAC mit Die schönsten deutschen Volkslieder (2004), um nur die umsatzstärksten Liedersammlungen zu nennen. Hingegen wurde es in die vom CVJM (Christlicher Verein junger Menschen) herausgegebene Mundorgel (mit der höchsten deutschen Auflage für ein Textliederbuch von 10 Millionen, und 4 Millionen Notenausgabe) bewusst nicht aufgenommen.
Das Westerwaldlied wurde auch gesungen in publikumsträchtigen Filmen wie 08/15 (1954/55; hier wurde die Pause nach „pfeift der Wind so kalt“ gefüllt mit dem Ruf „Eukalyptusbonbon“), Steiner – Das Eiserne Kreuz (1977, hier „Prima Damenschlüpfer“) und Das Boot (1981, nur Refrain, mit oder ohne Ruf?).
Wie populär das Lied und der Marsch heute noch sind, vor allem bei Veteranen und Soldaten der Bundeswehr und – betrachtet man die Titelbilder – bei jungen und alten Ewiggestrigen im In- und Ausland, zeigen mehrere tausend Videos bei Youtube (darunter allerdings viele mehrfach hochgeladene). Eine antimilitaristische Parodie boten 1988 die Dresdner Rapper Three M-Men.
Georg Nagel, Hamburg
* Auf den Spuren der musikalischen Volkskultur im Westerwald, bearbeitet von Dr. Manfrid Ehrenwerth u.a., München 2008, S. 412
Anonym
Hohe Tannen weisen die Sterne
1. Hohe Tannen weisen die Sterne
An der Iser in schäumender Flut.
Liegt die Heimat auch in weiter Ferne,
Doch du, Rübezahl, hütest sie gut.
2. Hast dich uns auch zu eigen gegeben,
Der die Sagen und Märchen erspinnt,
Und im tiefsten Waldesfrieden,
Die Gestalt eines Riesen annimmt.
3. Komm zu uns an das lodernde Feuer,
An die Berge bei stürmischer Nacht.
Schütz die Zelte, die Heimat, die teure,
Komm und halte bei uns treu die Wacht.
4. Höre, Rübezahl, lass dir sagen:
Volk und Heimat sind nimmermehr frei.
Schwing die Keule wie in alten Tagen,
Schlage Hader und Zwietracht entzwei.
5. Weiße Blume im Lichte da droben
Träume weiter vom wilden Streit
Denn Dir Blume ist im Ring da droben
Unser Waffengang des Lebens geweiht.
[Originalverse aus der Zeitschrift Jugendland, Jungenblätter des Bundes deutscher
Ringpfadfinder, Heft 9/10, S. 95 f., Jahrgang 1923 (Dank an das Archiv der
deutschen Jugendbewegung, Burg Ludwigstein für den Scan).
Schon einige Jahre nach der Veröffentlichung im Jahr 1923 erschien den Ringpfadfindern die letzte Zeile des 5. Verses wohl zu martialisch. Die Strophe wurde umgeändert in:
Weiße Blume im Ringe dort droben
träume weiter vom wilden Streit,
denn dir Lilie im Ringe da droben sei der Gang unseres Lebens geweiht.
[Diese Strophe aus dem handgeschriebenen Liederheft Freundeskreis Lilienwald des damaligen Schriftleiters der Zeitschrift Jugendland 1931 verdanke ich Klaus Meier vom VDC.]
Während die meisten nach dem Zweiten Weltkrieg erschienenen Liederbücher die Original- Strophen 1 bis 4 ausweisen, so z.B. Die Mundorgel, enthalten die Liedersammlungen der Bündischen, speziell der Pfadfinder, auch die 5. Originalstrophe, ist doch die Lilie das Symbol aller Pfadfinderbünde wie sie es im damaligen Ring der Ringpfadfinder war.
Die größeren Online-Lieder-Archive von Michael Zachcial (Gruppe Die Grenzgänger) (volksliederarchiv.de) und von (ingeb.org) weisen – ohne die Herkunft zu benennen – noch weitere Strophen aus:
a) Viele Jahre sind schon vergangen
Und ich sehn’ mich nach Hause zurück
Wo die frohen Lieder oft erklangen
Da erlebt’ ich der Jugendzeit Glück.
b) Wo die Tannen steh’n auf den Bergen
Wild vom Sturmwind umbraust in der Nacht
Hält der Rübezahl mit seinen Zwergen
Alle Zeiten für uns treue Wacht.
c) Drum erhebet die Gläser und trinket
Auf das Wohl dieser Riesengestalt,
Daß sie bald ihre Keule wieder schwinge
Und das Volk und die Heimat befreit.
d) Odalrune auf blutrotem Tuche,
Weh voran uns zum härtesten Streit.
Odalrune dir Zeichen aller Freien
Sei der Kampf unseres Lebens geweiht.
In den schlesischen Liederbüchern Gerhard Pankalla/Gotthard Speer, (Hg.): Der schlesische Wanderer – Ein Liederbuch, Köln 1959 und Franz Hoffbauer (Hg.): Schlesischer Singvogel, o.J. sowie Hermann Janosch/Rudolf Woide (Hg.): Wie’s daheim war – Liederbuch der Oberschlesier, Bonn 1953 ist es laut Forschungsstelle der Gesellschaft Der Klingenden Brücke e.V., Bonn (Lieder der Völker Europas, Nord- und Südamerikas in Originalsprachen – www.klingende-bruecke.de) ist Hohe Tannen überhaupt nicht enthalten. Auch das Institut für Volkskunde der Deutschen im östlichen Europa ist weder in seinen Liederbüchern noch in seinem Tonträger-Archiv auf das Rübezahllied gestoßen. So bleibt die Vermutung, dass die Strophen a) bis c) nach dem Zweiten Weltkrieg zu den Zeiten der Hochkonjunktur der Vertriebenenverbände entstanden sind, jedoch wegen der Zeilen „…dass sie bald ihre [die Riesengestalt Rübezahl] Keule wieder schwinge / und das Volk und die Heimat befreit“ keinen Eingang in die Liederbücher fanden und nur mündlich überliefert wurden.
Die Strophe d) mit der Odalrune als nazistischem Symbol für Blut und Boden, so könnte man meinen, stamme aus der Zeit des NS-Regimes. Sie ist jedoch in keinem der in Online-Archiven zugänglichen nazistischen Liederbücher vorhanden: Im Liederbuch für die Hitlerjugend Uns geht die Sonne nicht unter ist Hohe Tannen weisen die Sterne ohne die Odalrunen-Strophe vertreten.
Die Melodie geht zurück auf eine alte aus der Mitte des 18. Jahrhunderts stammende fränkische Volksweise: Treue Freundschaft darf nicht wanken. Sie wurde veröffentlicht in der Crailsheimer Liederhandschrift 1747/49. Später wurde der Liedtitel in Wahre Freundschaft soll nicht wanken umgewandelt und in dem 1842 von Heinrich Hoffmann von Fallersleben und Ernst Richter herausgegebenen Liederbuch Schlesische Volkslieder mit Melodien als „schlesische Weise“ bezeichnet.
Zur Melodik ist zu sagen: Der Tonumfang (Ambitus) des Liedes bewegt sich innerhalb einer Oktave. Das führt zu einer guten Singbarkeit auch von nichtausgebildeten Stimmen. Ebenso sind keine großen Intervallsprünge vorhanden; dadurch trägt die überwiegend in Terz- und Sekundschritten verfasste Melodie ebenfalls zur leichteren Singbarkeit bei. Das Lied ist vorwiegend in der Tonart C notiert; mit den vier Akkorden C, G, G7, F lässt sich die Melodie auf der Zupfgeige (Ausdruck der Jugendbewegung für Gitarre) leicht begleiten.
Der Text ist entstanden im Bund deutscher Ringpfadfinder (s.o. Erstveröffentlichung). Nach anderen Quellen stammt es als Rübezahl-Lied ursprünglich aus Böhmen. Dafür sprechen Anhaltspunkte, die das Lied bietet. Die Iser (1. Strophe) entspringt zwar im Isergebirge in Schlesien, mündet aber in Mittelböhmen bei Lazné Toušeň (25 km nordöstlich von Prag) in die Elbe. Das Isergebirge bildet die Verbindung zwischen Lausitzer Gebirge und Riesengebirge. Und von da ist es zur Sagengestalt Rübezahl nicht mehr weit.
1922 ist für die oberschlesischen Deutschen ein Teil ihrer Heimat verloren gegangen. Nach mehreren polnischen Aufständen (1919, 1920 und 1921) gab es eine Volksabstimmung, bei der mehr als 60 % für den Anschluss an Deutschland stimmten und knapp 40 % für Polen. Im Mai 1922 allerdings bestätigte eine Botschafterkonferenz (der Siegermächte des Ersten Weltkriegs) den Vorschlag des Völkerbunds zur Teilung Oberschlesiens. Dadurch kamen Kattowitz, Königshütte, Tarnowitz und andere industrieorientierte Städte und die damit verbundenen Regionen zu Polen.
In dem 1923 zum ersten Mal veröffentlichten Lied wird die Sehnsucht nach der alten Heimat besungen. „Liegt die Heimat auch in weiter Ferne“ meint nicht die geographische Entfernung, sondern drückt eher aus, wie weit man sich von zu Hause entfernt fühlt. Auch dass „viele Jahre […] schon vergangen“ sind, zeigt trotz der zeitlichen Nähe von Gebietsabtrennung 1922 und der Entstehung des Liedes 1923 das tiefe Gefühl des Verlustes der Heimat.
Ist in den drei ersten Strophen des Rübezahlliedes eine gewisse Resignation zu spüren, so gibt sich im Gegensatz dazu das bereits 1921 während der Zeit der Volksabstimmung entstandene Oberschlesienlied kämpferisch:
Oberschlesien ist mein liebes Heimatland,
wo vom Annaberg man schaut ins weite Land;
wo die Menschen bleiben treu in schwerster Zeit.
Für dies Land zu kämpfen, bin ich stets bereit.
In Hohe Tannen ruft man den Berggeist des Riesengebirges an; beschwörend wird die Heimat besungen: „Doch du, Rübezahl, hütest sie gut.“ Dabei appelliert man an den guten Geist, den gerechten und hilfsbereiten, der durstigen Wanderern eine Quelle zeigt oder arme Leute mit einem Goldstück beschenkt. Von der anderen Seite Rübezahls, die ihn in anderen Versionen als arglistig und schadenfroh darstellt, indem er als Mönch verkleidet, Wanderern den falschen Weg zeigt, ist hier nicht die Rede. Hier hofft man, dass Rübezahl alle Zeit treue Wacht hält. Treffend schreibt der Germanist und Erzählforscher Heinz Rölleke in seinem Liederbuch Das große Buch der Volkslieder – Über 300 Lieder, ihre Melodien und Geschichten: „Aus der Niederlage des Ersten Weltkriegs und deren Folgen erwächst die irrationale Sehnsucht nach einem Retter und gewalttätigen Befreier“ (S. 359). Soll Rübezahl zunächst nur „treu die Wacht“ halten (3. Strophe und b) jeweils letzte Zeile), so wird er in der 4. Strophe aufgefordert, „Hader und Zwietracht“ zu beseitigen, notfalls mit seiner Keule. Der Text der Strophe c) zeigt, worum es eigentlich geht: Es gilt, die verlorene Heimat wieder zu gewinnen, und zwar mit Gewalt. So hat sich aus der anfänglichen Resignation, der bloßen Sehnsucht nach der Heimat, ein sich dem Revanchismus nähernder Gedanke entwickelt. Neben dem Schlesierlied (Kehr ich einst zur Heimat wieder) und dem Oberschlesienlied (1. Strophe s.o.) wurde – und wird vermutlich noch – Hohe Tannenweisen die Sterne auf den jährlichen Treffen der Schlesier immer wieder gern gesungen.
Über die Pfadfindergruppen hinaus ist das Lied in der Jugendbewegung nur wenig bekannt geworden. Mit Ausnahme der oben genannten Zeitschrift Jugendland sind aus der Zeit der Weimarer Republik keine weiteren Druckveröffentlichungen des Liedes bekannt. Auch in umfangreichen Liederbuchsammlungen (wie z.B. deutscheslied.com) taucht Hohe Tannen in der Nazizeit nur im Deutschen Liederbuch für die Grundschule und im Liederbuch für die Hitlerjugend Uns geht die Sonne nicht unter (beide von 1934) auf; es wurde „aber schon ein Jahr später […] als unerwünschtes ‚bündisches Liedgut‘ aus der […] Neuauflage getilgt“ (museenkoeln.de).
Ob die Strophe d) in Kreisen der Hitlerjugend gesungen wurde, ist nicht belegt (Kann jemand Näheres sagen?). Die Odalrune (Zeichen für Erbe, Grundbesitz, Stammgut, Adel) galt bei den Nationalsozialisten als Symbol für Blut und Boden. Als nach dem Zweiten Weltkrieg sich viele Jugendgruppen, einige davon anknüpfend an die Jugendbewegung, neu organisierten, war es das Bestreben der Gruppierungen, sich in ihrem Äußeren und in ihren Liedern und Symbolen voneinander zu unterscheiden und abzugrenzen – so auch die bundesdeutschen Gruppen mit neonazistischer Ausrichtung wie die Wikingjugend. Die Wikingjugend und auch die später gegründete Heimattreue Deutsche Jugend benutzten bis zu ihrem Verbot 1994 bzw. 2009 die Odalrune als ihr Signet und sangen Hohe Tannen mit der Strophe „Odalrune in blutrotem Tuche“.
Bis etwa Mitte der 80er Jahre war das Rübezahllied nur in den Liedersammlungen Der Turm A, 2. Teil (1953) und in Unser Lied. Das deutsche Pfadfinderbuch (o.J.) vertreten. Später erschienen allmählich zahlreiche Liederbücher mit den ersten vier Strophen des Lieds, so die auflagenstarke Mundorgel (von 1953 bis 2013 über 10 Millionen) und das weit verbreitete Volksliederbuch – Über 300 deutsche Lieder, ihre Melodien und Geschichten. 1960 gab es einen überraschenden Erfolg des Hellberg Trios (8. Rang der Hitliste 1960). Im gleichen Jahr wurde ein österreichisch-deutscher Heimat- und Musikfilm mit dem Titel Hohe Tannen produziert, in dem das Volkslied vom Erich Storz-Trio gesungen wurde. Etliche Jahre danach begann die Vermarktung des Lieds in großem Umfang, und zwar mit den Interpreten Ray Coniff, Medium Terzett, René Kollo, Ivan Rebroff oder dem Opernsänger Hermann Prey und anderen weniger Prominenten.
Und 1968 zersang Heino (Heinz Georg Kramm) unter dem immerhin treffenden Albumtitel Und die Sehnsucht uns begleitet das Lied auf einer Langspielplatte. Dieser Platte folgten bis 2005 zehn weitere LPs und CDs, um 2006 mit der CD Deutschland, meine Heimat ihren (vorläufigen?) Abschluss zu finden. Laut dem Musiker, Komponisten und Produzenten Achim Reichel hat „das Lied seine Unschuld, aber nicht seine Schönheit verloren“.
Zusätzlich wurde und wird noch heute das Rübezahllied von Chören aller Art gesungen, worauf die zahlreichen vom Deutschen Musikarchiv, Leipzig, erfassten Partituren schließen lassen.
Dem Arbeiterlieder-Archiv (kampflieder.de) ist der Text einer anderen Version des Liedes von den „Edelweißpiraten“ zu entnehmen. Mitglieder dieser jugendlichen Widerstandsgruppe sangen es 1937 auf dem Georgsplatz in Köln und noch 1943 in der Jugendhaftanstalt Köln-Brauweiler:
Hohe Tannen weisen uns die Sterne
über der Isar springender Flut,
liegt ein Lager der Edelweisspiraten,
doch Du Eisbär schützt es gut.
Rübezahl, hör was wir dir sagen,
die bündische Jugend ist nicht mehr frei.
Schwingt den Spaten der Edelweißpiraten.
Schlagt die Hitler-Jugend entzwei.
[die letzten Zeilen auch:
Schlagt die Bündische Jugend wieder frei.]