Mehr Oberindianer war nie – Udo Lindenbergs „Sonderzug nach Pankow“ (1983)

Udo Lindenberg

Sonderzug nach Pankow

Entschuldigen Sie, ist das der Sonderzug nach Pankow?
Ich muß mal eben dahin, mal eben nach Ost-Berlin.
Ich muß da was klären, mit eurem Oberindianer,
Ich bin ein Jodeltalent, und ich will da spielen mit 'ner Band.
Ich hab'n Fläschchen Cognac mit und das schmeckt sehr lecker,
Das schlürf' ich dann ganz locker mit dem Erich Honecker
Und ich sag: Ey, Honey, ich sing' für wenig Money
Im Republik-Palast, wenn ihr mich lasst …

All die ganzen Schlageraffen dürfen da singen,
Dürfen ihren ganzen Schrott zum Vortrage bringen,
Nur der kleine Udo, nur der kleine Udo,
Der darf das nicht - und das versteh'n wir nicht.

Ich weiß genau, ich habe furchtbar viele Freunde
In der DDR und stündlich werden es mehr.
Och, Erich ey, bist du denn wirklich so ein sturer Schrat,
Warum lässt du mich nicht singen im Arbeiter- und Bauernstaat?

Ist das der Sonderzug nach Pankow?

Ich hab'n Fläschchen Cognac mit […]

Honey, ich glaub', du bist doch eigentlich auch ganz locker,
Ich weiß, tief in dir drin, bist du eigentlich auch'n Rocker.
Du ziehst dir doch heimlich auch gerne mal die Lederjacke an
Und schließt dich ein auf'm Klo und hörst West-Radio.

Hallo Erich, kannst' mich hören?
Hallolöchen – Hallo!
Hallo Honey, kannst' mich hören?
Hallo Halli, Halli Hallo,
Joddelido …

     [Udo Lindenberg: Sonderzug nach Pankow. Polydor 1983.]

Ein Bekannter beendet fast alle seiner schriftlichen Äußerungen mit dem Rat, die Dinge, die man tun will, am besten gleich zu erledigen – schon morgen könnten sie verboten sein oder besteuert werden. Da mir diese Mahnung absolut einleuchtet, werde ich noch heute Udo Lindenbergs Sonderzug nach Pankow besprechen, weil da gleich in der vierten Verszeile ein gefährliches Wort vorkommt, durch den Vorsatz „Ober-“ sogar noch gesteigert! Da wir uns im Vorfeld einer neuen Regierungsbildung bewegen, ist die Einschätzung der Zukunft noch unsicherer als zu normalen Zeiten und das Risiko nicht zu vernachlässigen, schon zu St. Martin nicht mehr „Indianer“ sagen zu dürfen.

Theoretisch hätte ich mir natürlich auch einen anderen Lindenberg-Song mit geringerem Fettnäpfchen-Potential aussuchen können, beispielsweise den Rudi Ratlos oder die Andrea Doria, welche mir sogar immer noch einen Tick besser gefallen haben als der Sonderzug; aber erstens habe ich nicht überprüft, welche Risiken in jenen Texten auf arglose Interpreten lauern, und zweitens halte ich hier ausgewählten Titel für den zeitgeschichtlich bedeutenderen und rhetorisch raffinierteren.

Unser Song steht in einem komplexen historischen Kontext. Man kann auch ohne Kenntnisse dieses Hintergrunds seinen Spaß daran haben, aber ich denke, dass der Gewinn größer ist, wenn man die Vorgänge der Vor- und Nachgeschichte in den Grundzügen kennt, wobei hier mindestens drei Ebenen zu unterscheiden sind, nämlich zum Ersten die Ebene des speziellen Konflikts zwischen Udo Lindenberg, den DDR-Kulturbehörden und Erich Honecker, sodann zweitens die Ebene des innenpolitischen Konflikts der DDR-Führung mit erheblichen Teilen der eigenen Jugend und letztlich drittens auch noch die Ebene der politischen Großwetterlage zwischen BRD, DDR und der Sowjetunion. Die ganze Sache wird noch einmal komplizierter, wenn man sich klarmacht, dass sich die Machtverhältnisse und Interessen auf den genannten Ebenen seinerzeit relativ dynamisch entwickelt haben und die beteiligten Akteure zu bestimmten Zeitpunkten nur vage Vermutungen haben konnten, wohin die Reise gehen würde …

Was Udo Lindenbergs künstlerische und geschäftliche Interessen angeht, ist bekannt, dass er schon seit Beginn der 1970er Jahre wiederholt den Wunsch geäußert hatte, ein Konzert in Ost-Berlin zu geben, lieber noch eine Tournee durch die DDR. Er war schon in den 1970er Jahren in der DDR-Jugendszene ausgesprochen beliebt, nahezu verehrt, und jene über Songs (vgl. „Rock’n’Roll-Arena in Jena“, 1976) und Interviews bekundete Absicht war seiner dortigen Popularität noch einmal zuträglich. Für ihn bedauerlicher, ja geradezu ärgerlicher Weise stieß sein Anliegen bei der DDR-Führung, insbesondere deren Kulturchef Paul Hager, auf entschiedene Ablehnung, was im Rückblick natürlich nicht überrascht. 1974 hatte die Volkskammer ein ,Jugendgesetz‘ beschlossen, dessen Leitidee die Erziehung des eigenen Nachwuchses zur ,wehrhaften, fleißigen, staatstreuen und körperlich ertüchtigten sozialistischen Persönlichkeit‘ war. Da konnte man seine naiven Welpen nicht einfach der Beschallung durch einen Menschen aussetzen, der laut Stasi-Geheimberichten ,durch und durch gleichgültig, pessimistisch und dekadent‘ daherkam (vgl. Grabowsky/ Lücke, 2008, S. 63), zumal man sich der Anfälligkeit des eigenen Nachwuchses für Jeans, Beatrhythmen, lange Haare, Pazifismus und noch Unanständigeres durchaus bewusst war.

Die Sache mit dem geplanten Auftritt in Ostberlin zog sich also in die Länge, bis Lindenberg 1983 mit seinem „Sonderzug-Song“ Bewegung in die Sache brachte. In Westdeutschland avancierte das Lied schnell zum Hit, im Osten wurde es offiziell, zumal vom Oberindianer höchstselbst, als Majestätsbeleidigung aufgefasst und dem entsprechend verboten bzw. boykottiert. Dass es den dortigen Lindenberg-Fans gleichwohl nicht unbekannt blieb, versteht sich. Nun ist es durchaus bemerkenswert, dass die Kontrahenten – Lindenberg und sein Management einerseits, Honecker und seine kulturpolitischen Berater andererseits – zwischenzeitlich klüger geworden waren und ihren ,clash of cultures‘ mit diplomatischen Äußerungen und Gesten abfederten. 

So sandte der Rockstar dem (dabei auch mit dem geziemenden Titel angeredeten) Staatsratsvorsitzenden einen kleinen Beschwichtigungsbrief, im Gegenzug erhielt er von Egon Krenz, dem Ersten Sekretär des Zentralrats der FDJ, der 1983 übrigens der Aufsteiger in der politischen Führungsriege der DDR war, eine Einladung zum ,FDJ-Friedenskonzert‘ im Palast der Republik. Lindenberg nahm an und kam den Programm-Wünschen der Gastgeber die Titelauswahl betreffend weitgehend entgegen, so dass das Konzert (ohnehin vor ausgewählten politischen Kadern, nicht vor seinen Fans) mehr oder minder problemlos über die Bühne ging, selbstverständlich ohne den Oberindianer-Song. Zu einer landesweiten Tournee des Panikorchesters, wie für 1984 angedacht, sollte es erst nach der Wende kommen.

Bei der behutsamen Annäherung zwischen Lindenberg und Honecker in den 1980er Jahren, die nach dem Friedenskonzert noch mit lustigen wechselseitigen Geschenken fortgesetzt wurde, dürfte der Wandel der politischen Großwetterlage eine erhebliche Rolle gespielt haben, der ich hier aber nicht konkreter nachgehen will. Besonders schwierig zu beurteilen scheint mir die Frage, inwieweit für Personen der DDR-Führungsriege (z.B. Krenz) schon spürbar gewesen ist, dass sich in der Sowjetunion größere Veränderungen zusammenbrauten. Eigentlich sollten die großen Reformprogramme zur Modernisierung des Systems – Glasnost (Offenheit) und Perestroika (Umgestaltung) – erst 1987 durch Michail Gorbatschow (der selber erst 1985 zum mächtigsten Mann im Staat aufgestiegen war) öffentlich verkündet werden, doch dürften besagte Programme intern schon einige Jahre früher angedacht und in Pilotversuchen getestet worden sein. Ebenso schwer zu beurteilen sind für mich die politischen Ausstrahlungen der polnischen Streiks (Solidarność-Bewegung seit ca. 1980) auf die DDR. Zu solchen politischen Geschehnissen im Hintergrund, die das kulturpolitische Klima veränderten, dürften vermutlich auch die verschärften ökonomischen Schwierigkeiten der DDR beigetragen haben, die den Einfluss der ,Falken‘ im System schwächten und gleichzeitig die Vertreter ,reformerischen Gruppen‘ auch und gerade der jüngeren Generationen stärkten.

Noch ein kurzes Wort zu den oben erwähnten ,lustigen Geschenken‘. 1987 beglückte Lindenberg Honecker unter Bezug auf seinen Sonderzug-Song mit einer Lederjacke, worauf dieser mit einem einfallsreichen Schreiben (in dem er die Vereinbarkeit von Rockmusik und Sozialismus vom Grundsatz her großzügig bejahte) und einem interessanten Gegengeschenk reagierte. Bei besagter Gegengabe handelte es sich um ein Musikinstrument, allerdings eines, das nicht gerade zur Standardausstattung einer Rockband gehört, obwohl ihm durchaus laute Töne entlockt werden können. Dafür konnte Erich Honecker darauf verweisen, dass ein solches Gerät einstmals von ihm selber gespielt worden war; die Rede ist von einer Schalmei. Dieses Klangwerkzeug, dem der einschlägige Wikipedia-Artikel einen „durchdringenden Klang“ bescheinigt, sollte man jetzt nicht mit den gleichnamigen historischen ,lieblichen‘ Holzblasinstrument (vgl. „Es tönen die Lieder, der Frühling kommt wieder; es flötet der Hirte auf seiner Schalmei …“) in Verbindung bringen. Bei der Honeckerschen Schalmei bestehen verwandtschaftliche Beziehungen eher zu den sog. Rufhörnern (gemeinsprachlich: ,Hupen‘) vorsintflutlicher Automobile. Besonders beliebt waren derartige Schalmeien Anfang des 20. Jahrhunderts speziell bei den Spielmannszügen des Roten Frontkämpferbundes (vgl. in diesem Zusammenhang das Repertoire des Schalmeien-Orchesters Fritz Weineck, mit einschlägigen Hörproben), in denen der seinerzeit noch junge Indianerkrieger nachweislich mitgewirkt hatte.

Dieses Geschenk nutzte wiederum der nette Udo als Steilvorlage für eine weitere Gegengabe: Anlässlich eines Besuchs Honeckers im Westen revanchierte er sich prompt noch im gleichen Jahr vermittels einer E-Gitarre mit der Aufschrift „Gitarren statt Knarren“. Dieser ebenso humorvoll wie anspielungsreich inszenierte Austausch symbolträchtiger Geschenke belegt einerseits den diplomatischen Lernprozess, den beide Seiten im Laufe der Jahre offensichtlich erfolgreich absolvierten, andererseits aber auch ihre Fixierung auf indianische kulturelle Praktiken, was mir für meinen Essay sehr zupass kommt, da ich – wie sich gleich noch genauer zeigen wird – nun einmal den Begriff „Oberindianer“ zum Leit- und Zentralgestirn meiner Interpretation erkoren habe. Klären wir zuvor aber noch kurz, welche kulturellen Praktiken der indigenen amerikanischen Bevölkerung ich wohl im Sinn gehabt haben konnte, als ich Lindenberg und Honecker eine einschlägige Fixierung unterstellte.

Kenner der ethnologischen Materie wissen um die – speziell von Stämmen der nordamerikanischen Pazifikküste praktizierte – Methode rituellen Schenkens, für die sich die Bezeichnung ,Potlatch‘ eingebürgert hat. Hier ist natürlich nicht der richtige Ort, das Phänomen gebührend darzustellen und zu würdigen. Er mag also genügen darauf hinzuweisen, dass bei diesem Ritual durch Art und Wert der ausgewählten Geschenke Ehre erlangt werden kann und nebenbei noch soziale Hierarchien konstituiert werden. Im Prinzip ist es ja auch eine feine Sache, Streitigkeiten per Geschenkorgien auszufechten und nicht mit Hilfe von Knüppeln.

Andererseits hat dieser schöne Brauch aber auch einen Haken, weshalb er zeitweise von der kanadischen Staatsregierung verboten worden war: Indianerhäuptlinge ruinierten im Bestreben, den Gegenpart durch immer wertvollere Geschenke auszustechen, nicht selten sich selbst und ihren ganzen Stamm. Auch in diesem Sinne muss man für die politische Wende von 1989 dankbar sein, die der Schenkerei zwischen Lindenberg und Honecker ein ebenso unspektakuläres wie rasches Ende gesetzt hat! Der Rocker durfte dann auch, ohne weitere Unkosten auf sich nehmen zu müssen, schon im Januar 1990 mitsamt Panikorchester die lang ersehnte DDR-Tour antreten …

Nun aber von den Hinter- zu den Vordergründen! Wie allseits bekannt, dichtete Udo seinen Text auf die Melodie des klassischen Swing-Titels Chattanooga Choo Choo des in den 1930er bis 50er Jahren äußerst erfolgreichen italoamerikanischen Komponisten und Songwriters Harry Warren. Chattanooga war und ist ein wichtiger Knotenpunkt im US-Eisenbahnnetz, war im 19. Jahrhundert Schauplatz blutiger Schlachten des Bürgerkriegs und in den ersten Jahrzehnten nach seiner Gründung (damals noch unter dem Namen Ross’s Landing) mit dem Schicksal der Cherokee-Indianer verbunden. Der Chattanooga Choo Choo-Song (1941) war zunächst für eine verwickelte amerikanischen Filmkomödie (Sun Valley Serenade, dt.: Adoptiertes Glück) geschrieben worden, die von der Produktionsfirma als Mix aus Musikfilm und Eisrevue angelegt worden war, um die vielfache norwegische Eiskunstlauf-Olympiasiegerin und -Weltmeisterin Sonja Henie in einer Hauptrolle glänzen zu lassen.

Im Songtext von Mack Gordon geht es um eine Dampflokfahrt, deren Anfangszeile von Udo Lindenberg im Gestus für seinen Sonderzug nach Pankow übernommen wird. Bei Mack Gordon fragt die Sprecherinstanz „Pardon me boy, is that the Chattanooga Choo Choo?“ – Lindenberg setzt ein mit „Entschuldigen Sie, ist das der Sonderzug nach Pankow?“ Danach streben allerdings die Wege, pardon!, Geleise auseinander …

Erwähnen sollte ich an dieser Stelle vielleicht noch eine frühere deutsche Cover-Version des Chattanooga Choo Choo-Songs von Peter Rebhuhn und Bully Buhlan. Deren Kötschenbroda-Express nahm 1947 satirisch das desolate deutsche Bahnwesen der Nachkriegszeit aufs Korn:

„Verzeih‘n Sie, mein Herr, fährt dieser Zug nach Kötschenbroda?“
„Ja, ja, Herrschaft, vielleicht, wenn‘s mit der Kohle noch reicht.“
„Ist hier noch Platz in diesem Zug nach Kötschenbroda?“
„Oh, das ist nicht schwer, wer nicht mehr steh‘n kann, liegt quer.“

Am Ende lässt die Sprecherinstanz den Freund alleine nach Kötschenbroda fahren und bleibt selber lieber zu Hause.

Indem Udo Lindenberg die erste Zeile des Chattanooga Choo Choo-Songs mehr oder minder übernimmt, erweist er dem Vorbild seine Reverenz, knüpft aber zugleich an eine etablierte Tradition von Wortspielen mit einschlägigem Bezug an. Er richtet seine Frage an einen DDR-Bürger, von dem er erwartet, dass der sich auf dem Bahnhof auskennt, vermutlich einen Bahnbeamten. Zunächst erklärt er diesem sein Gesprächsanliegen (Klärungsbedarf mit dem ,Oberindianer‘) und stellt sich selbstironisch als ,Jodeltalent‘ vor, was die einigermaßen despektierliche Bezeichnung für den Staatsratsvorsitzenden ein bisschen ausbalanciert. Im weiteren Verlauf des Songs verschiebt sich die Rede-Konstellation quasi unter der Hand so, dass die Sprecherinstanz sich nun direkt an Erich Honecker wendet. Halbwegs erklären könnte man diese neue Sprechsituation so, dass sie – der Realität vorausgreifend – vom ,Jodeltalent‘ imaginiert und dem Bahnbeamten vorgespielt wird. Die Schlussverse – „Hallo Erich,“ usw. – wenden sich allerdings dann ganz eindeutig direkt an Honecker, was im gegebenen Kontext nur Sinn macht, wenn die Sprecherinstanz unterstellt, dass dieser über Lausch-Apparaturen mithört, was am Gleis gesprochen wird …

Besonders bemerkenswert an Lindenbergs Songtext sind für mich die Flapsigkeiten, die sich der Sänger gegenüber Erich Honecker herausnimmt, beginnend mit dem Ausdruck „Oberindianer“, weitergeführt über die Vorstellung, mit dem Spitzenpolitiker gemütlich ein eingeschmuggeltes Fläschchen Cognac zu verputzen, die Mahnung, doch nicht den „sture[n] Schrat“ zu geben, bis hin zur Unterstellung, dass der Staatsratsvorsitzende sich heimlich auf dem Klo Rocker-Phantasien hingeben könne. Lindenbergs lyrische Sprache ist generell, d.h. weit über den Sonderzug-Song hinaus, von solchen flapsigen Ausdrücken und ungewöhnlichen Bildern geprägt, die hier nur deshalb so überdeutlich auffallen und seinerzeit den entsprechenden Anstoß erregt haben, weil sie in die verkrustete offizielle Formelsprache des real existierenden Sozialismus eingeschlagen sind.

Man würde Lindenbergs sprachliche Kreativität und lyrische Potenz arg verkennen, wenn man seine Formulierungen leichthin als Schnoddrigkeiten oder schlichte Frechheiten abtun würde. Nein, seine Wortwahl ist wohlüberlegt und funktioniert auf mehreren Ebenen, wie sich am Begriff des ,Oberindianers‘ (Wortbildung analog zu ,Oberwachtmeister‘, ,Oberlehrer‘ oder ,Oberfeldwebel‘ usw.) bestens zeigen lässt. Dieser Ausdruck ist natürlich despektierlich, aber er passt dennoch ziemlich perfekt: U.a. entspricht er der politischen Farbenlehre, derzufolge in Ostberlin ,die Roten‘ regieren. Sodann verweigert er Honecker die wesentlich ehrenvollere Bezeichnung ,Häuptling‘, weil bei „Oberindianer“ vermutlich mitgedacht ist, dass der wahre Häuptling der Roten seinen Wigwam in Moskau aufgeschlagen hat. Weiterhin kann man sich als Rezipient des Songs zumindest vorstellen, dass Lindenberg mit seiner Indianer-Terminologie auch kritisch auf die damalige politische Situation (Kalter Krieg mit Nachrüstungs-Entscheidung im Bundestag, ersten Raketenstationierungen, Friedensdemos und geplatzten Abrüstungsverhandlungen) Bezug nimmt, indem er sie als Cowboy und Indianer-Spiel ,framt‘.

Nicht von ungefähr ist Udo Lindenberg im Laufe seiner Karriere mehrfach für seine Verdienste um die deutsche Sprache ausgezeichnet worden – zunächst für die Tatsache, dass er das Deutsche für Rockmusik hoffähig gemacht hat, in späterer Zeit aber auch für seine Leistungen um dessen Pflege und Weiterentwicklung: Er habe die deutsche Sprache lockerer gemacht, wurde ihm z.B. bei der Verleihung des Jacob-Grimm-Preises (2010) vom Laudator bescheinigt. ,Locker‘ ist nicht mit ,schnoddrig‘ oder ,sorglos‘ zu verwechseln, sondern als ,entspannt‘ und ,entkrampfend‘ zu verstehen. Dass die Konfrontation mit einer solchen Ausdrucksweise für die DDR-Bosse zunächst schockierend gewesen sein muss, ist gut nachvollziehbar, hatte der östliche Teil Deutschlands die große gesellschaftliche ,Lockerung‘, die Westdeutschland in den 1960er Jahren erlebt hatte, doch weitgehend unterdrückt. Umso bemerkenswerter scheint mir in diesem Zusammenhang das Tempo, wie schnell sich die DDR-Führung in den Folgejahren auf Lindenberg und seinen Stil einstellen konnte (vgl. die oben behandelte Verständigungs-Diplomatie).

Zu den weiteren kreativen ,Unverschämtheiten‘ in Lindenbergs Song wären noch manche Anekdoten und ästhetische Würdigungen (etwa zu dem wunderbaren Reim ,Schrat – Arbeiter- und Bauernstaat‘) nachzutragen, doch irgendwann muss jeder Beitrag einmal sein Ende ansteuern. Somit schließe ich mit einem kleinen Nachtrag zu den „Schlageraffen“, die zu Lindenbergs offensichtlichem Missvergnügen alle schon in der DDR singen durften. Bei meinen Recherchen konnte ich nicht ermitteln, ob er sich hier auf bestimmte Personalien bezieht oder nur allgemein auf den Umstand abhebt, dass das Schlager-Genre in der DDR als politisch harmlos gesehen wurde, so dass erfolgreichen Sängerinnen und Sängern aus dem westlichen Ausland häufig Auftritte im Palast der Republik und sogar beste Sendezeiten im Ost-Fernsehen eingeräumt worden sind. Auf alle Fälle lässt die Begriffswahl des Jodeltalents für seine Schlager-Konkurrenz vermuten, dass hier eine gewisse Energie im Spiel war …

Hans-Peter Ecker, Bamberg

Literatur:

Jacob-Grimm Preis an Udo Lindenberg. In: Zeit-Online vom 23. Oktober 2010.

Udo Lindenberg mit Thomas Hüetlin: Udo Lindenberg. Köln: Kiepenheuer & Witsch, 2018.

Zahlreiche einschlägige Wikipedia-Artikel, u.a. zum Chattanooga Choo Choo-Song und seinen vielfältigen Bezügen.

Ich brauch’ nur mich? Überlegungen zu Autonomie und Isolation in „Meine Sache“ von den Broilers und Udo Lindenbergs „Mein Ding“

Broilers

Meine Sache 

Ich mache einen Ritt
Denn ich weiß das Land ist weiter
Ich lass’ sie hinter mir
Deine Welt und meine Geister
Wo bleibt die Erlösung
Kalte Nächte, endloses Warten
Was ist mit Absolution,
Wenn es Nacht wird im Volksgarten
 
Ich mache einen Ritt […] 
 
Meine Sache, mein Problem
Ich wird’ nicht untergehen
Statt der weißen Fahne werdet ihr
Meinen Mittelfinger sehen!

Meine Sache, mein Problem […]
 
Was ich mit mir trage
Kann ich mit niemandem teilen
Nicht mit dir, mit meiner Liebe
Und nicht in diesen Zeilen
Ich sehe die Versuchung
Hier und überall, wo ich gehe
Ich muss stark sein
Gib mir die Kraft zum Widerstehen
 
Meine Sache, mein Problem […]

Meine Sache, mein Problem […]
 
Ich brauche niemanden
In solchen Zeiten liebt man nicht
Hab meine Freunde verlassen
Oder verließen die mich?
Ich sollte ehrlich bleiben
Wenn nur noch eines zählt
Auf der Suche zu sein
Besser als jeder Ort auf dieser Welt
 
Meine Sache, mein Problem […]

Meine Sache, mein Problem […]

     [Broilers: Vanitas Recordings. Prison 2007.]

 

Udo Lindenberg

Mein Ding

Als ich noch ein junger Mann war
saß ich locker irgendwann da
auf der Wiese vor’m Hotel Kempinski
Trommelstöcke in der Tasche
in der Hand ’ne Cognacflasche
und ’n Autogramm von Klaus Kinski
 
Ich guckte hoch aufs weiße Schloss
oder malochen bei Blohm & Voss
Nee, irgendwie, das war doch klar
irgendwann da wohn ich da
in der Präsidentensuite
wo’s nicht reinregnet und nicht zieht
und was bestell’ ich dann?
Dosenbier und Kaviar
 
Und ich mach mein Ding
egal, was die anderen sagen
Ich geh meinen Weg
ob gerade ob schräg, das ist egal
Ich mach mein Ding
egal, was die anderen labern
Was die Schwachmaten einem so raten
das ist egal
Ich mach mein Ding
 
Und jetzt kommst du aus der Provinz
und wenn auch jeder sagt, du spinnst
du wirst es genauso bringen
machst auf die charmante Art
mal elastisch, manchmal hart
manchmal musst du das Glück auch zwingen
Später spricht dann Wilhelm Wieben
er ist sich immer treu geblieben
die Mode kam, die Mode ging
man war immer noch der King.
 
Ja, du machst dein Ding
Egal was die ander’n sagen
Du gehst deinen Weg
Ob gerade ob schräg
Das is doch egal
Du machst dein Ding
Egal was die ander’n labern
Was die Schwachmaten einem so raten
das ist egal
 
Und dann bist du dir immer treu geblieben
Und Roomservice wird mit U und H geschrieben
 
Und ich mach mein Ding
egal, was die ander’n labern
Was die Schwachmaten einem so raten
das ist egal
Ja, ich mach mein Ding
egal, was die ander’n labern
Was die Schwachmaten einem so raten
das ist egal
Ich mach mein Ding!

     [Udo Lindenberg: Stark wie zwei. Starwatch Music 2008.]

Individuelle Autonomie ist ein ständig wiederkehrender Topos bei vielen Liederschreiber_innen. Unabhängig von äußeren Einflüssen macht das Sprecher-Ich, so wird oft suggeriert, „sein Ding“, „geht seinen Weg“ oder „macht seine Sache“. Die Selbstbestimmtheit, das wird meistens zwischen den Zeilen vermittelt, macht eine Person besonders authentisch und, weil losgelöst von kontextuellen Einschränkungen, besonders innovativ. Auch wenn Künstler_innen ihre eigenen Biographien, in denen natürlich andere Menschen und größere Umstände eine wichtige Rolle spielten, oft in das Zentrum ihrer Texte rücken, findet doch eine explizite Abgrenzung gegenüber zeitlich gebundenen Trends, anderen Personen und einem imaginierten „Mainstream“ statt. Hier sollen zwei Texte vorgestellt werden, die als zentrales Thema eine derart aufgefasste Unabhängigkeit haben.

Die lyrics der Düsseldorfer Punkrockband Broilers betonen kontinuierlich die Autonomie des Sprecher-Ichs. Seine Unabhängigkeit wird dabei so sehr betont, dass es den Eindruck erweckt, dass es sich selber von seiner Unabhängigkeit überzeugen muss. Besonders deutlich wird dies in der Mantra-haften Wiederholung des Refrains („Meine Sache, mein Problem“), der jeweils zweimal nacheinander gesungen und komplett dreimal wiederholt wird. Auch wenn der Refrain natürlich per Definition wiederholt wird, ist diese Frequenz für ein relativ kurzes Lied dennoch recht hoch. Ähnlich verhält es sich mit der ersten Strophe, die auch gleich zweimal gesungen wird, als müsste sich das Sprecher-Ich selber Mut zusprechen.

Zu dieser Interpretation passen auch die weiteren Formulierungen, die verwirrt daherkommen. „Ich mache einen Ritt / denn das Land ist weit“ hat mittelalterlich-ritterliche Konnotationen, der pathetische Verweis auf „Erlösung“ und „Absolution“ religiös-christliche Anklänge und schließlich der Verweis auf den „Volksgarten“ wiederum konkret lokale Bezugspunkte zu Düsseldorf. Und warum in besagtem Volkspark nun auf Absolution gewartet wird, und was überhaupt mit der Erlösung gemeint ist erschließt sich – zumindest mir – beim Hören des Liedes nicht. Somit scheint die Sprechinstanz selber nicht so genau zu wissen, was Sache ist. Vielleicht kommt es gerade wegen dieser Unsicherheiten zum Verweis auf die eigene Unabhängigkeit.

In der zweiten Strophe wird dann das Lied selber dekonstruiert. („Was ich mit mir trage / Kann ich mit niemandem teilen / Nicht mit dir, mit meiner Liebe / Und nicht in diesen Zeilen“ [Hervorh. durch d. Verf.]). Die Unfähigkeit sich anderen, auch den Zuhörern, mitzuteilen dem Sprecher-Ich bewusst. Doch in den Versen schwingt Wehmut darüber mit, dass es sich niemandem offenbaren kann oder will. Diese Wehmut wird übrigens musikalisch überhaupt nicht aufgegriffen, weil das Lied sehr flott und (auch im Video) durchaus lebenbejahend interpretiert wird. Was genau nun nicht angesprochen wird, lässt sich nur raten, denn das Sprecher-Ich ‚widersteht der Versuchung‘ sich mitzuteilen erfolgreich. Die Tatsache, dass es dem Impuls widerstehen muss, das was es mit sich trägt, zu teilen, legt nahe, dass es das gerne täte, aber nicht kann. Das Sprecher-Ich braucht sogar „Kraft“, dies nicht zu tun. Diese Geheimnistuerei lässt einen schon fast an einen begangenen Mord oder Ähnliches denken. Statt so etwas aber anzusprechen, wird lieber auf aggressive Weise der Mittelfinger gezeigt. Hier wird die Unabhängigkeit durch aggressives Verhalten und ohne erkennbaren Grund verteidigt, doch das Sprecher-ich ist selber nicht zufrieden mit der Isolation, denn es würde ja gerne etwas sagen, sonst bräuchte es keine Kraft, dies nicht zu tun.

Wenig verwunderlich also, dass das Sprecher-Ich von seinen Freunden verlassen wurde (nachdem das Sprecher-Ich im Lied als ein verschlossen-aggressiver Mensch dargestellt wird, würde ich dafür plädieren, dass die Freunde es verlassen haben und nicht umgekehrt). Deswegen muss sich das Sprecher-Ich so sehr zureden, dass es unabhängig ist („Ich brauche niemanden“). Mit der wiederkehrenden Betonung der Unabhängigkeit haben diese Rufe etwas Trotziges. Das Sprecher-Ich will sich dabei nicht mitteilen, von seinen Freunden verlassen und ohne eine andere Wahl, ist es allein. Bei den Broilers ist das Sprecher-Ich somit nicht autonom, sondern isoliert.

Wenden wir uns nun Udo Lindenberg zu, dessen Text stärker autobiographisch geprägt ist. Auch wenn bei den Broilers die erste Person benutzt wird, finden sich außer dem Lokalbezug wenig konkrete Anhaltspunkte auf die Biographie des Autors. Lindenberg hingegen nutzt sein Lied, um seine eigene Lebensgeschichte (natürlich stark zusammengefasst) zu vertonen. Dabei finden sich zahlreiche Stationen von Lindenbergs Vita, die inzwischen schon zur Legendenbildung um den Künstler gehören, beispielsweise die Vorliebe für das Hotel Kempinski (siehe auch die Interpretation von Da war so viel los).

Auch wenn Lindenberg mit einem bekannten und viel rezipierten Topos im Stile von ‚vom Tellerwäscher zum Millionär‘ bzw. hier ‚von der Wiese in die Präsidentensuite‘ arbeitet, machen die autobiographische Herangehensweise und seine Wortwahl den Text dennoch charmant und hörens- bzw. auch lesenswert. Im Gegensatz zum Sprecher-Ich bei den Broilers geht das Sprecher-Ich in Lindenbergs Lied, statt lediglich abstrakt zu betonen, wie unabhängig er ist, ins Detail und illustriert „sein Ding“ mit konkreten Beispielen – Dosenbier und Kaviar beispielsweise. Wenn ‚Lindenberg‘ dann seine Unabhängigkeit betont, scheint dies wesentlich authentischer, weil es nicht im Abstrakten bleibt, wie bei den Broilers.

Im Vergleich zu den Broilers handelt es sich bei Lindenberg auch nicht um eine gezwungene Isolation, sondern eine bewusste Entscheidung zur Andersartigkeit. Die Zeilen sind mit Stolz gefüllt („Und ich mach mein Ding / egal was die anderen sagen / Ich geh meinen Weg / ob gerade ob schräg, das ist egal“). Für Lindenbergs alter ego ist Autonomie ein Zeichen der Stärke, wobei es auch um Authentizität geht („er ist sich immer treu geblieben“). Während das Sprecher-Ich bei den Broilers Stärke benötigt, sich nicht mitzuteilen, und sich fast schon verkrampft dazu zwingen muss, unabhängig zu bleiben, indem es nichts teilt, hat Lindenbergs damit kein Problem, es kann sich problemlos und ungezwungen mitteilen.

Schließlich durchbricht Lindenbergs alter ego auch das rein autobiographische Sprechen und spricht den Hörer direkt an („Du machst dein Ding“). Auch dieses Absehen von sich selbst steht im direkten Gegensatz zur Auslegung von Autonomie durch bei den Broilers, deren Sprecher-Ich eben betont, dass es sich in dem Lied nicht mitteilen kann. Bei Lindenberg ist die Anspreche der Hörer auch eine Aufforderung, ihren eigenen Weg zu finden und zu gehen. Im Gegensatz zu den Broilers, wo der eigene Weg als etwas Quälendes erscheint, zu dem man sich durchringen muss und wobei man seine Freunde verliert, offenbart Lindenbergs alter ego eine wesentlich positivere Einstellung zu individueller Unabhängigkeit. Dies wird auch im charmanten Video zu Lindenbergs Lied sichtbar, das eine sehr positive Grundstimmung hat.

Während das Sprecher-Ich bei den Broilers allein ist, weil sie so versessen darauf ist, ein eigenes Ding zu machen, sieht sich Lindenbergs alter ego nicht von anderen isoliert und erwähnt Klaus Kinski und Wilhelm Wieben als Referenzpunkte. Es empfiehlt seinen Hörern sich selber treu zu bleiben, sogar wenn die „Schwachmachten“ etwas anderes sagen. Lindenbergs Sprecher-Ich bemitleidet dabei diese „Schwachmaten“ fast, weil für es klar ist, dass diese nicht ihr eigenes Ding machen. Das Sprecher-Ich bei den Broilers hingegen ist wesentlich aggressiver gegenüber denen, die sich ihm in den Weg stellen. Lindenbergs alter ego hingegen braucht keine Durchhalteparolen, weil es weiß, dass seine Autonomie ihm dazu verholfen hat, seine Träume zu erfüllen.

Somit sind die Gründe warum die beiden Sprechinstanzen unabhängig sind, diametral entgegengesetzt. Im Text der Düsseldorfer Punkrocker bleibt dem Sprecher-Ich gar nichts anderes übrig als unabhängig zu sein, weil es sich selber isoliert hat. Wirklich zufrieden erscheint es dabei nicht und muss sich ständig selber gut zureden, dass es doch am besten sei, alles ganz alleine zu machen. Bei Lindenbergs Text hingegen, geht das Sprecher-Ich, ein alter ego Lindenbergs, sehr entspannt, gelegentlich auch ironisch-augenzwinkernd mit dem Topos der Autonomie um. Es  fühlt sich sehr wohl dabei seinen eigenen Weg zu gehen und empfiehlt dies seinen Zuhörern auch. Eine Empfehlung der man sicher beipflichten kann.

Martin Christ, Oxford

Udo geht zum Klassentreffen. Zu Udo Lindenberg: „Da war so viel los“

Udo Lindenberg

Da war so viel los

Plötzlich bin ich wieder der kleine Junge 
ganz spitz auf Lakritz 
für den eine Expedition zum nächsten Block 
weit wie 'ne Reise nach China ist 
der kleine Robinson Crusoe 
auf Entdeckungstour 
meiner Mutter Hermine missfielen 
die Onkel-Doktor-Spiele 
und meine Schwäche für Whisky pur 
ich seh' July Müller, meine erste Liebe 
mein Herz knallte los 
wir wollten heiraten, doch dann kam Jan von nebenan 
und ich verliebte mich in Rennautos

Da war so viel los 
das Leben bestand ausschließlich aus Sensationen 
und jeder Tag 
brachte jede Menge phantastische Situationen 
Einmal sind wir losgezogen 
wir suchten das Ende vom Regenbogen 
da war schwer was los...

Und dann in der Schule hatte 
keiner Bock auf Mathe 
lieber ging man stolz mit 'ner Zigarette 
zum Schwindeligwerden auf die Toilette 
Gerne quälten wir auch manche Lehrer 
die wurden sowieso immer unfairer 
einen haben wir so fertiggemacht 
der hat sein ganzes Gehalt zum Psychiater gebracht

[Kinder:] 
Also ich werd' später Löwenbändiger 
Ach nee, das is' viel zu gefährlich 
da wird man ja gefressen 
ich werd' lieber Kaugummifabrikant 
Ich find' das besser: Taucher 
Ich werd' lieber Pop-Star 
Das find' ich alles ganz doof, ich mach 'nen Zirkus auf 
Ich werd' später Testpilot 
Und ich Filmstar in Hollywood

Letzte Woche war ein Klassentreffen 
da sah ich sie wieder 
die missglückten Helden, die jetzt Beamte sind 
die Bonnies und Clydes von früher 
jetzt als Herr und Frau Bieder 
die Power von damals ist leider hin 
und Fritz der Cowboy wurde nur 
Manager bei der Müllabfuhr...

     [Benjamin von Stuckrad-Barre u. Moritz von Uslar (Hg.): Am Trallafitti-Tresen. 
     Das Werk von Udo Lindenberg in seinen Texten. Herausgegeben und ausführlich 
     besprochen. Hamburg: Europäische Verlangsanstalt 2008, S. 19f. 
     Vgl. auch www.udo-lindenberg.de.]

 

Keine Panik, dies wird nicht die Besprechung eines der üblichen, bekannteren Songs von Udo Lindenberg: Rudi Ratlos, Andrea Doria, Alles im Lot auf dem Riverboat … oder von neueren: Hinter dem Horizont, oder aus seiner mittleren Phase: Sonderzug nach Pankow. Auch das „Emblemwort“ (Matthias Matussek in seiner Laudatio auf Lindenberg anlässlich der Verleihung des „Jacob Grimm Preises Deutsche Sprache“ am 23.10.2010, in: Helmut Glück et al. (Hg.): Kulturpreis Deutsche Sprache 2010, S. 35.) Panik soll hier nicht wieder vorkommen. Allzu leicht ließe sich eine Rezension aus Versatzstücken der Lindenbergschen Neologismen, Phrasen und Stereotypen zusammensetzen. Darum aber geht es nicht. Also: Alles easy.

Vielmehr wurde bewusst ein Song ausgewählt, der ebenso typisch für den Lindenberg der 1970er ist, wie er gleichwohl weitgehend unbekannt sein bescheidenes Dasein fristen dürfte. Das Lied steht im Schatten anderer und wurde an 4. Stelle auf der LP Votan Wahnwitz von 1975 veröffentlicht. Dies war die erste Platte von Udo Lindenberg, die ich mir gekauft habe. Sie fand sogleich bei Klassenkameraden großen Anklang. Und das lag nicht unbedingt an dem Frontcover, das einen gut gefönten, im Dirigentenfrack richtig „serriös“ daher kommenden, aber noch jung und unverbraucht aussehenden Udo zeigt. Es lag vielleicht an der Ironie, mit der dies (halbe) Konzeptalbum sich über „serriöse Lieder“ lustig machte und sie zugleich dem jugendlichen Publikum nahebrachte.

Konzeptalben waren damals en vogue. Genesis, Pink Floyd und Queen waren unter Gymnasiasten sehr angesagt. Lindenberg ermöglichte uns, ohne rot zu werden, deutsche Musik zu hören: Es mochte also auch an der Professionalität der Musik gelegen haben, die in „Super-Besetzung“ mit „Thomas Kretschmer und Helmut Franke (Gitarra forte), Gottfried Böttger (Piano forte), Steffi Stephan (Basso Fantastico), Keith Forsey, Dieter Arendt und Udo Lindenberg (Schlagzeugo Bombastico)“ und unterstützt von Inga Rumpf, Elly Pirelli, Peter Herbolzheimer mit seinem „Dixieland-Gebläse“ und weiteren dargebracht wurde.

Vor allem aber, so meine bald empirisch erhärtete These, lag es an der Cellistin mit den riesigen Brüsten, die nackt zwischen den befrackten Orchestermusikern einen geigte – d.h., eigentlich spielte sie kein Cello (letzteres hatte sie nämlich schon auf der Andrea Doria von 1973), sondern Bass-Geige. Und um die Verwirrung komplett zu machen, zitierte Udo L. sie im 1. Song der Platte als „Sopran-Vokalistin mit den riesigen Brüsten“. Der Meister selbst lag der Cellistin/Geigerin/Sopran-Vokalistin im Rocker-Outfit mit Lederjacke, Jeans, aber auch Lackschuhen und Gamaschen zu Füßen – so wie vermutlich alle meine Klassenkameraden. Das wiederum fanden unsere Eltern – ich lebte im katholischen, ursprünglich einmal kur-kölnischen Sauerland – nicht unbedingt erziehungsförderlich. Ein Kumpel, dem ich die Platte geliehen hatte, bekam sie von seinem Vater verbal – man war noch höflich genug, fremdes Eigentum nicht zu beschädigen – mit den Worten „Was ist denn das für eine Schweinkram-Platte“ um die Ohren gehauen. Ich traute mich danach für längere Zeit nicht mehr in das Haus seiner Eltern.

Und damit sind wir schon im Song, der den poetischen Lindenberg zeigt; einen Lindenberg, der genau beobachten konnte und seine textlich teils skurrilen, teils schönen Bilder musikalisch präzise und passend komponierte, instrumentierte und spielte; einen Lindenberg, der noch nicht zur Paraphrase seiner selbst geworden war. Das Lied schlug, ohne dass mir das damals schon im Detail bewusst war, die Brücke zwischen dem Gestern, dem Jetzt und dem Morgen. Es drückte Hoffnungen und deren Desillusionierung genauso aus wie Energie und Zweifel.

Zur Rahmenhandlung: Udo L. kommt gerade mit Daniel Düsentrieb aus der Zukunft. Genauer, er kommt aus dem „Automaten-Bordell“. Was ihn zu dem verzweifelten Ausbruch veranlasst hatte: „Oh Daniel, oh Daniel, lass uns abhau’n – und zwar schnell!“ Auch so ein Spruch, den wir Pennäler sofort übernahmen. Daniel Düsentrieb – jedem Jugendlichen der damaligen Zeit bekannt, denn er war der sprichwörtlich gewordene Erfinder aus Entenhausen – hatte eine Zeitmaschine erfunden: Daniel’s Zeitmaschine. Ob er auf diese ein Patent hält, ließ sich auch in seiner Erfinder-Werkstatt nicht überprüfen. Die Werkstatt steht im Erika Fuchs Haus – Museum für Comic und Sprachkunst in Schwarzenbach an der Saale, das ich zu Recherchezwecken unlängst besucht habe. (1. Nebenbemerkung: Es ist ein Skandal, dass Daniel Düsentrieb kein Patent für seine Schwarzlichtlampe zugesprochen bekam, mit der man durch Knopfdruck hell erleuchtete Räume verdunkeln kann. 2. Nebenbemerkung: Der Song „Daniel’s Zeitmaschine“, der dem hier zu besprechenden voransteht, weist schon den sächsischen Genitiv auf, der unter heutigen jungen Menschen sich so großer Beliebtheit erfreut, dass er überall Verwendung findet; insbesondere dort, wo er nicht hingehört.)

Daniel’s Zeitmaschine war in Pink Floyd-Manier mit Maschinengeräuschen und Elektro-Rhythmen unterlegt. Ohne Pause setzt das nächste Lied ein: „Plötzlich bin ich wieder der kleine Junge“, man hört zunächst nur eine harmonisch gespielte Akustik-Gitarre mit dem zurückhaltenden Beat eines dezenten Schlagzeugs: Die Zeitmaschine ist in der Vergangenheit, in Udos, aber auch in meiner eigenen, angekommen. „[G]anz spitz auf Lakritz“ – das ist so eine typische Lindenbergsche Reimfigur. Schnell wurde sie sprichwörtlich. Sie enthielt eine doppelte Botschaft: Einerseits und offensichtlich wurde die Neigung von Kindern zu Süßigkeiten angesprochen. Andererseits und versteckt, enthielt das Wort „spitz“ schon eine Anzüglichkeit, die erst in den übernächsten Zeilen verständlicher wird: „Spitz“ war damals eine Vokabel, die dem heutigen „geil“ entsprach. Zunächst in des Wortes engerer Bedeutung als Anspielung auf Sexuelles, darüber hinaus aber auch als Vokabel der Bewunderung, des Superlativs. Immerhin waren die 1970er auch die Zeit Hans „Hänschen“ Rosenthals, der in Dalli, Dalli – was noch ironiefrei und voller Bewunderung geschaut werden durfte – sich selbst zum Narren machte, wenn er in die Luft sprang, mit einem Höhepunkt damaliger Fernsehtechnik für einen Moment eingefroren wurde und dabei ausrief: „Das war … Spitze!“

Mit „ für den eine Expedition zum nächsten Block / weit wie ’ne Reise nach China ist / der kleine Robinson Crusoe / auf Entdeckungstour“ beginnt die Welteroberung, auf die jeder junge Mensch – wortwörtlich und im übertragenen Sinn – aus ist. Der beschriebene Junge ist offensichtlich noch recht klein, vielleicht sechs oder sieben Jahre alt. Alles ist aufregend, die Welt einerseits überschaubar, andererseits fallen ihm schon Grenzen auf, die es nur, weil sie existieren, zu erkunden gilt. Die Maßstäbe sind noch nicht die der Erwachsenen. In den nächsten Zeilen entwickelt sich das Lied zu einer eigenen Zeitreise: „[M]einer Mutter Hermine missfielen / die Onkel-Doktor-Spiele“, da mag Udos jüngeres Ich vielleicht noch im gleichen Alter wie soeben sein. Nicht überliefert ist, was sein Vater Gustav dazu sagte, der immerhin die nächste Vorliebe geteilt haben soll: „und meine Schwäche für Whisky pur“.

Die vorherigen Zeilen lassen sich auch auf erste sexuelle Erfahrungen umdeuten, die dann wohl den älteren, pubertierenden Jugendlichen andeuten. Klarer wird das mit „ich seh‘ July Müller, meine erste Liebe / mein Herz knallte los / wir wollten heiraten“. Das passt nicht mehr zu dem kleinen Kind, aber schon gut zu einem Jungen in der Pubertät. Aber die Regression in kindliche Verhaltensmuster ist noch immer und jederzeit möglich: „doch dann kam Jan von nebenan / und ich verliebte mich in Rennautos.“ Die Zeilen über July Müller sind mit etwas Hall unterlegt, der Bass wird vernehmlicher. Lindenberg verdeutlicht die Schwärmerei seiner Erinnerungen auch musikalisch. Das unterstreicht der Wechsel der Tonlage – immer in Moll – ebenfalls. (Ich danke Michael Wild für seine Hinweise zu Tonart und -lage.)

Etwas rockiger und wieder in der ersten Tonlage geht es weiter: „Da war so viel los / das Leben bestand ausschließlich aus Sensationen / und jeder Tag / brachte jede Menge phantastische Situationen / Einmal sind wir losgezogen / wir suchten das Ende vom Regenbogen / da war schwer was los … (dadadada die dada …).“ Die Welteroberung wird energischer, zugleich ist der Junge immer noch romantisch; Illusionen, die einem Kind noch nicht als solche erkennbar sind, werden wörtlich genommen. Dass der Regenbogen kein Fundament hat, lässt sich vom kindlichen Standpunkt aus noch nicht erkennen. Die gesummten Silben am – dem Regenbogen ähnlichen – auslaufenden Ende werden nicht mehr von einer E-Gitarre, sondern wieder von einer ruhigen Akustik-Gitarre begleitet und leiten zur nächsten Szene über.

Musikalisch kehrt der Song zu seinem Auftakt zurück. Zwei typisch scheppernde Lindenberg-Reime verdeutlichen die allgemeine Erfahrung schulischer Unlust: „Und dann in der Schule hatte / keiner Bock auf Mathe / lieber ging man stolz mit ’ner Zigarette / zum Schwindeligwerden auf die Toilette“. Der leichte Hall unterstreicht die Ferne der Erinnerungen an Zeiten, in denen man sich auch über üble Streiche selber finden musste: „Gerne quälten wir auch manche Lehrer / die wurden sowieso immer unfairer / einen haben wir so fertiggemacht / der hat sein ganzes Gehalt zum Psychiater gebracht.“ Wie in Comics wird hier die Grausamkeit, zu der Jugendliche fähig sind, übertrieben und zugespitzt. Stanley Kubrick hatte sie annähernd zeitgleich in Clockwork Orange wesentlich drastischer inszeniert.

Dann folgt ein Zwischenspiel auf dem Schulhof mit im Wechsel gesprochenen Texten. 1. Junge: „Also ich werd‘ später Löwenbändiger“; 2. Junge: „Ach nee, das is‘ viel zu gefährlich / da wird man ja gefressen / ich werd‘ lieber Kaugummifabrikant“: 3. Junge: „Ich find‘ das besser: Taucher“; 4. Junge: „Ich werd‘ lieber Pop-Star“; 5. Junge: „Das find‘ ich alles ganz doof, ich mach ’nen Zirkus auf“; 6. Junge: „Ich werd‘ später Testpilot“. Nach dem Wechselsprechen der Jungen, singt ein Mädchen, sich mit Kopfstimme in die Höhe schraubend: „Und ich Filmstar in Hollywood“.

Die Dialoge sind mit Schulhofgeräuschen und dezenter musikalischer Begleitung unterlegt. Sieben Kinder träumen ihre Zukunft: Die Sprecher tönen abwechselnd aus dem rechten und dem linken Kanal. Die Kanalwechsel betonen das Dialogische der Szene. Die Zukunftserwartungen der Schüler sind teils noch sehr kindlich (Löwenbändiger, Zirkus, Kaugummifabrikant), teils pubertierend (Popstar), teils abenteuerlustig (Taucher und Testpilot).

Der „Pop-Star“ adressiert wohl eher die Jugendlichen der 1970er Jahre, als dass sich Lindenberg damit an die eigene Jugend erinnert hätte. Damals, in den 1950er Jahren, hätte er wohl eher davon geträumt, „Rock’n’Roll-Star“ zu werden. Jedoch ist der Sänger von 1975 „ein Pop-Star“. Im vorherigen Lied Daniel’s Zeitmaschine gefällt ihm das nicht. Denn in der „Gegenwart war ich gerade ein Popstar und der Job ist mir zu hart“. Darum flieht er mit Daniel in die Vergangenheit. So kontrastiert Lindenberg hier wohl jugendliche Träumereien mit der harten Wirklichkeit.

Der Testpilot und die angehende Filmdiva streben nach Höherem: Er wortwörtlich, sie im übertragenen Sinne. Lindenbergs Arrangement unterstreicht das doppelte Streben auch musikalisch. Mit der sphärisch anhebenden Gitarre mochte man einen abhebenden Jet assoziieren. Die große Zeit der Mondlandungen war schon passee, Testpiloten umgab aber immer noch die Aura der realen Superhelden.

Schritt die bisherige Zeitreise eher gemächlich dahin, und vielleicht auch immer wieder einen Schritt vorwärts und einen zurück, landet die Düsentriebsche Maschine mit Lindenberg an Bord wieder in der Gegenwart: „Letzte Woche war ein Klassentreffen / da sah ich sie wieder“. Eine verzerrte E-Gitarre unterlegt die zerbrochenen Träume der Jugend: „die missglückten Helden, die jetzt Beamte sind“. Statt Romantik und Abenteuer hat die Realität einer bürgerlichen Existenz mit stinknormalen Jobs die Kinder und Jugendlichen von ehedem eingeholt: „die Bonnies und Clydes von früher / jetzt als Herr und Frau Bieder“. Faye Dunaway und Warren Beatty hatten unverschämt gut aussehend dem Verbrecherpaar der Prohibitionszeit romantisches Flair, Sexappeal und Eleganz verliehen. Doch leider: Der Zahn der Zeit nagt, so könnte man kalauern, auch am steilsten Zahn: „[D]ie Power von damals ist leider hin“. Die letzte Zeile vermag den Kontrast zwischen hoffnungsvoller Erwartung und Enttäuschungen nicht mehr zu steigern: „und Fritz der Cowboy wurde nur / Manager bei der Müllabfuhr …“.

Die Tristesse der Klassentreffen kann nur noch beklagt werden. Mit einer elegischen E-Gitarre, David Gilmour-ähnlich gespielt, klingt das Lied aus. Hier zitiert Lindenberg sich selbst. Das traurige Lied vom Seemann, den nichts umhaut – auf Andrea Doria – endet ähnlich klagend.

Der Song ist Lindenberg-typisch. Zum einen haben nicht wenige seiner Lieder autobiografische Züge. Zum anderen ist Eskapismus der basso ostinato etlicher Texte. Manche Songs thematisieren die Fluchten eher indirekt: mittels Drogen und Alkohol; andere sehr direkt, sei es durch den jugendlichen Ausreißer (Er wollte nach London) oder den Malocher aus dem Ruhrgebiet, der „tat nun etwas, was sonst eher selten geschieht“. Die Zeitreisemaschine ermöglicht Fluchten in eine andere Dimension.

Wie jede gute Poesie enthält der Text neben Passagen, die nur (oder zumindest besser) aus der Entstehungszeit heraus verstanden werden können, auch solche von überzeitlicher Gültigkeit. Exakt beobachtend hat Lindenberg Erfahrungen skizziert, die beinahe jeder Erwachsene hat machen müssen. Aber schon einem Schüler, wie mir damals, mochte der Ausblick auf die damals noch ferne Zukunft der Klassentreffen plausibel erscheinen. Immerhin war man ja alt genug, um die Welt der Erwachsenen als Ausblick auf die eigene Zukunft zu begreifen. Das Lied erzählte die ganze bisherige Lebensgeschichte eines typischen jungen Erwachsenen jener Jahre. Es mangelte uns Jugendlichen noch an den Erfahrungen, die einen realistische von eher unrealistischen Erwartungen unterscheiden ließen. Zugleich war es diese mangelnde Erfahrung, die den Aufbruchwillen stets antrieb. Das kleidete Lindenberg in teils poetische, teils etwas scheppernde Formulierungen.

Seine Musik unterlegte den Text mit Ideen, die schon damals für mindestens fünf schlichtere Songs gereicht hätten. Lindenbergs deutsche Rockmusik besaß Niveau war international durchaus anschlussfähig. Sicherlich besitzt das Lied nicht die Wucht der Mini-Oper von Queen’s Bohemian Rhapsody aus dem gleichen Jahr 1975; aber der Song ist immer noch deutlich mehr als nur ein musikalisches Stillleben.

Rudolf Stöber, Bamberg

Kitsch für einen guten Zweck. Zur deutschen Version des Band Aid-Projektes „Do They Know It’s christmas?“ (2014)

Band Aid Thirty (Text: Campino, Marteria, Thees Uhlmann, Sebastian Wehlings)

Do They Know It’s Christmas? (Deutsche Version)

Endlich wieder Weihnachtszeit (Campino [Die Toten Hosen])
Die Nerven liegen so schön blank (Philipp Poisel)
Egal ob’s regnet oder schneit (Clueso)
Wir treffen uns am Glühweinstand (Seeed)
Wir vergessen unsere Nächsten nicht (Andreas Bourani) 
Kaufen all die Läden leer (Ina Müller) 
Die ganze Stadt versinkt heut‘ Nacht im Lichtermeer (Jan Delay) 
Und du fliegst nur 6 Stunden weiter: Ärzte, Schmerzen ohne Grenzen (Marteria)
Kleine Jungs im Barcelona-Shirt malen ihre Träume an die Wände (Marteria und Max Herre)
Es gibt so viel Zukunft, so viel Vielfalt (Max Herre) 
In all den 54 Ländern (Cro)
Doch immer nur dieselben Bilder (Cro und Michi Beck) 
Gelbe Schutzanzüge auf all den Sendern (Michi Beck)
Du gehst durch den Dezember (Peter [Sportfreunde Stiller])
Mit einem Lied im Ohr (Steffi [Silbermond])

Do they know it’s Christmas Time at all? (Clemens [Milky Chance])

Wir feiern unsere Feste (Max Raabe)
Doch wir sehen nicht wie sie fallen (Wolfgang Niedecken)
Der Tod kennt keine Feiertage (Udo Lindenberg) 
Und schon ein Kuss kann tödlich sein (Sammy Amara [Broilers] und Anna Loos)
Kein Abschied und keine Umarmung (Peter Maffay)
Jeder stirbt für sich allein (Thees Uhlmann & Joy Denalane)

Do they know it’s Christmas Time at all? (Gentleman)
Do they know it's Christmas Time at all? (Patrice)
Do they know it's Christmas Time (Chor)

Und auf all den Feiern (Clemens [Milky Chance])
Von hier bis nach Monrovia (Jan-Josef Liefers)
Denken wir daran in dieser stillen Nacht (Adel Tawil)

Do they know it's Christmas Time at all? (Campino)
Do they know it's Christmas Time at all? (Inga Humpe [2Raumwohnung])
Do they know it's Christmas Time (Chor)
Heal the world (Chor) 
Heal the world (Donots)
Heal the world (Chor)
Let them know it’s Christmas Time. Heal the world (Gentleman und Patrice)
Let them know it’s Christmas Time (Jennifer Rostock)
Heal The World.

Do we know it's Christmas Time at all.

Heal The World.

Let them know it's Christmas Time again (Chor)

     [Band Aid 30: Do They Know It’s Christmas? (2014). Polydor 2014.]

 

Es ist so weit, der Advent ist wieder da und mit ihm auch die kopfschmerzbereitende Geschenkefrage, die Plätzchenbäckerei und die in Endlosschleife gespielten Weihnachtslieder im Radio. Ja, wir hassen den Hype manchmal, der mittlerweile um die Weihnachtsfeiertage zelebriert wird, aber entziehen können wir uns ihm nicht. Und ganz ehrlich – am Ende lässt sich doch jeder von der hektischen, aber trotz allem besinnlichen Stimmung mitreißen. Denn der Grundgedanke dieses Festes berührt letztendlich jeden von uns. Das hat sich in diesem Jahr auch Bob Geldof zum Ziel gesetzt, den vor einigen Wochen die UNO darum gebeten hat, zum Jubiläum seines Klassikers Do they know it’s christmas? von 1984 eine Neuauflage zugunsten der Ebola-Opfer in Westafrika zu produzieren. Der Sänger ließ sich nicht lange bitten, sondern trommelte im Handumdrehen eine Gruppe stimmgewaltiger Briten (u.a. Ed Sheeran, Sinead O’Connor und Chris Martin) zusammen, die den Song in unveränderter Form neu aufnahmen. Da dieses Projekt, das Band Aid genannt wird, in dieser Art schon des Öfteren organisiert wurde, zuletzt 2004, als das Geld zur Bekämpfung einer Hungersnot im afrikanischen Sudan verwendet wurde, ist es nicht unbedingt eine Überraschung, wenn der Weihnachtshit auch dieses Jahr wieder im Radio rauf und runter gespielt wird. Neue Töne werden diesmal allerdings aus den deutschen Lautsprechern schallen. Zum ersten Mal nämlich gibt es auch eine deutsche Version des Band Aid-Projektes, das von Campino, dem Frontsänger der Punkrockband Die Toten Hosen, auf Anfrage/Bitte/Auftrag von Bob Geldof in die Wege geleitet wurde. Der Rocksänger wurde Anfang November von seinem alten Bekannten angerufen, der ihm, wie Campino im ZEIT-Interview gestand (vgl. „Do they know it’s christmas?“: Heilt die Welt!), keine andere Wahl ließ als zuzusagen, den deutschen Beitrag zu organisieren. Kurz darauf, am 13. November, war Campino in der Lage, sein All-Star-Team vorzustellen, für das er fast die gesamte deutsche Pop-Elite gewinnen konnte. Rund dreißig Musiker haben Do they know it’s christmas? nun neu aufgenommen und jeder von ihnen singt i.d.R. eine Textzeile der Übersetzung, die Campino zusammen mit Thees Uhlmann, Sebastian Wehlings (u.a. Texter von Adel Tawil) und Marteria in mühevoller Kleinarbeit erarbeitete. Das allein sei laut dem Punksänger schon ein „Himmelfahrtskommando“ gewesen, wie er im Morgenmagazin von ARD/ZDF berichtete (vgl. Sendung vom 21.11.2014). Die Musiker hätten sich bemüht, den deutschen Text des Klassikers von all den Flachheiten zu reinigen, die, wie Bob Geldof selbst zugab, im Original steckten. Campino wollte mit seinem Team einen Song schaffen, hinter dem die deutschen Musiker stehen könnten und der frei von den Klischees und Undifferenziertheiten ist, die in der Gegenwart sowieso schon überhandgenommen haben. Natürlich ist der Song immer noch Kitsch – aber dafür Kitsch auf hohem Niveau.

Als Beispiel für eine solche Flachheit des Originals kann die Textzeile „And there won’t be snow in Africa this Christmas Time“ dienen. So hat man sich schließlich für einen komplett neuen Text entschieden, der nicht wie die Originalversion auf Hungersnöte eingeht, sondern spezifisch auf die Ebola-Epidemie verweist: „Gelbe Schutzanzüge auf all den Sendern“. Daher haben Campino und Co. auch den Refrain-Zusatz „Feed the world“ in „Heal the world“ verwandelt (und dabei Michael Jacksons Metapher wörtlich genommen). Manchmal sind Neuerungen einfach unumgänglich. Der Text überzeugt zwar nicht von tiefsinnigen Betrachtungen über das Elend in Afrika und er stellt auch nicht mit erhobenem Zeigefinger Moralvorstellungen in den Mittelpunkt. „Natürlich ist es ein Kitschlied“, meinte selbst Campino dazu. Aber es ist schon eine Leistung, dass der Text nicht in den Ohren weh tut, sondern man sich trotzdem noch an ihm erfreuen kann.

Do they know it’s christmas? wird mit seinem Bezug zur deutschen Alltagssprache zu einer Weihnachtshymne, in der Campino und Co. unter anderem auch deutsche Sprichwörter miteinbezogen haben: „Wir feiern unsere Feste / doch wir sehen nicht wie sie fallen“. Diese Redewendung verwendete in jüngster Vergangenheit schon die Newcomerin Julia Engelmann, die Anfang des Jahres mit ihrem Beitrag One Day/Reckoning Text beim Bielefelder Campus TV Hörsaalslam, einem Poetry-Slam-Wettbewerb, für Furore sorgte: „Lasst uns Feste wie Konfetti schmeißen, sehen, wie sie zu Boden reißen und die gefallenen Feste feiern, bis die Wolken wieder lila sind“. Man sieht, die junge Slammerin und auch die deutsche Band Aid-Gruppe haben mit der Botschaft, die sie in ihren Werken vertreten, irgendwie den Nerv der Zeit getroffen: Müssen die Deutschen mittlerweile daran erinnert werden, die Feste dann zu feiern, wann sie sind, anstatt sie aufzuschieben, obwohl der übervolle Terminkalender sowieso keinen Platz für sie lässt? Der Text appelliert also nicht nur an unsere Hilfsbereitschaft, sondern auch an unser Unvermögen, unseren Wohlstand so zu genießen, wie es ihm gebührt. Eine recht philosophische Botschaft für solch eine leichte Lektüre, wenn man es sich recht überlegt.

In diesem Sinne ist es wohl auch ein großer Pluspunkt des Projektes, dass sich Musiker aus so vielen unterschiedlichen Genres an der Spendenaktion beteiligen, die dem Song alle individuelle Stimmungen und Schattierungen geben, kurz, die dem Text, so verschieden wie diese Sänger sind, ihren Stempel aufdrücken. Es finden sich hier etablierte Interpreten aus Pop und Rock, aber auch unbekanntere Musiker aus dem Soul wie Joy Denalane oder dem Reggae wie Patrice. Abwechslung bieten insbesondere die Textzeilen der Rapper Marteria und Max Herre, die genau wie Cro und Michi Beck (Fanta 4) die idyllische Stimmung gesanglich wie textlich wieder auf den Boden holen: „Und du fliegst nur sechs Stunden weiter: Ärzte, Schmerzen ohne Grenzen“. Natürlich könnte man sich nun fragen, weshalb Herbert Grönemeyer und Schlagerstars wie Helene Fischer oder Andrea Berg nicht bei dem Projekt mitgewirkt haben. Auch eine deutsche Diskursband wie Tocotronic hätte sich in der bunten Vielfalt an Musikercharakteren sicher gut gemacht. Letztendlich spielt es aber keine Rolle, wer dabei war und wer nicht. Und Campino stellte außerdem ganz schnell klar, dass er „über die reden möchte, die mitgemacht haben und nicht über die, die nicht mitgemacht haben.“ (vgl. „Do they know it’s christmas?“: Heilt die Welt!)

Der Kampf gegen Ebola hat also dazu geführt, dass Musiker wie sie unterschiedlicher nicht sein könnten (und von denen sich mit Sicherheit einige bei der ECHO-Verleihung lieber aus dem Weg gehen), ein Lied produziert haben, das wider aller Erwartungen sogar richtig gut geworden ist. Der Band Aid Trust entscheidet schließlich, wem die Einnahmen aus dem Verkauf der Singles und Downloads zugespielt werden. Die Entwicklung eines neuen Impfstoffes ist neben der Bekämpfung des akuten Ausbruchs der Krankheit das Hauptanliegen der Bemühungen. Aber trotz des guten Zwecks wurden schon vor Veröffentlichung des Videos des deutschen Band Aid-Beitrags am Freitag, dem 21.11.14, kurz vor den Tagesthemen um 20.00 Uhr, kritische Stimmen laut. „Schlimmer als Ebola“ sei diese Version, die nur eine „neue Eskalationsstufe von Scheiße“ erreichen würde, wertete das Vice-Magazin den Beitrag ab. Harte Worte in Anbetracht der noch härteren Lage in Afrika. Natürlich könnte man die Künstler, die sich daran beteiligten, bezichtigen, dies nur wegen des Imagegewinns zu tun und auch für die Plattenfirmen bietet sich hier ein kostenloses globales Marketingmittel. Der Appell¸ der mit dem Lied aus dem Radio in unsere Ohren transportiert wird, grenze an zwischenmenschlichen Druck, der auf uns aufgebaut werden würde, sodass man gar keine andere Möglichkeit habe, als die Single zu kaufen. Das könnten schon alles wahre Worte sein. Aber muss man bei einem einfachen Popsong, dessen Gewinne lediglich an eine Hilfsorganisation gehen, gleich von modernem Ablasshandel sprechen, der uns wie eine Drohung mit dem Fegefeuer einschüchtert? Nun, diese Ansicht ist mit Sicherheit leicht übertrieben. Campino hält das alles jedenfalls für „beispiellosen Zynismus“. Und wenn man folgende Zeilen auf dem Internetauftritt des Vice-Magazins liest, dann stimmt man ihm auch schon mal zu: „2014 hat soeben offiziell seine Bewerbung für das beschissenste Jahr der Weltgeschichte eingereicht, 1939 kriegt schon kalte Füße.“ (Nicht mal Ebola rechtfertigt die deutsche Version von „Do They Know It’s Christmas“, 18.11.14). Soll man da lachen oder weinen? Man weiß es einfach nicht.

Die Ambivalenz eines solchen Projekts zeigt sich darin, dass zwar ungewiss ist, in welchem Umfang der die Veröffentlichung dieses Songs den Ebola-Opfern hilft, dass er jedoch uns  in jedem Fall hilft, uns in Weihnachtsstimmung zu versetzen. Denn das ist heutzutage ja auch, um Campino zu zitieren, „ein Himmelfahrtskommando“.

 Marina Willinger, Bamberg