„Uns geht die Sonne nicht unter.“ Zu „Wilde Gesellen, vom Sturmwind durchweht“

Anonym

Wilde Gesellen, vom Sturmwind durchweht

1.
Wilde Gesellen vom Sturmwind durchweht,
Fürsten in Lumpen und Loden,
ziehn wir dahin bis das Herze uns steht,
ehrlos bis unter den Boden.
Fiedel, Gewand in farbiger Pracht
trefft keinen Zeisig ihr bunter,
ob uns auch Speier und Spötter verlacht,
Uns geht die Sonne nicht unter.

2.
Ziehn wir dahin durch Braus und durch Brand,
klopfen bei Veit und Velten.
Huldiges Herze und helfende Hand
sind ja so selten, so selten.
Weiter uns wirbelnd auf staubiger Straß’
immer nur hurtig und munter;
Ob uns der eigene Bruder vergaß,
uns geht die Sonne nicht unter.

3.
Aber da draußen am Wegesrand,
dort bei dem König der Dornen.
Klingen die Fiedeln ins weite Land,
klagen dem Herrn unser Carmen.
Und der Gekrönte sendet im Tau
tröstende Tränen herunter.
Fort geht die Fahrt durch den wilden Verhau,
Uns geht die Sonne nicht unter.

4.
Bleibt auch dereinst das Herz uns stehn
Niemand wird Tränen uns weinen.
Leis wird der Sturmwind sein Klagelied wehn
trüber die Sonne wird scheinen.
Aus ist ein Leben voll farbiger Pracht,
zügellos drüber und drunter.
Speier und Spötter, ihr habt uns verlacht,
Uns geht die Sonne nicht unter.

Wilde Gesellen, vom Sturmwind durchweht ist eines der bekanntesten deutschen Fahrten- und Wanderlieder. Nach den ersten Veröffentlichungen 1921 im Jung-Volker (Lieder neudeutscher Gruppen) und 1924 in Unser Lied (Hg. Fritz Sotke) verbreitete es sich in der Weimarer Zeit schnell in den verschiedenen Gruppierungen und Organisationen der Jugendbewegung. In der Zeit des NS-Regimes erschienen die Wilden Gesellen auch in Liederbüchern nazistischer Organisationen. Als Trutzlied und wohl auch wegen der hoffnungsvollen Zeile „Uns geht die Sonne nicht unter“ wurde es sogar in einigen Konzentrationslagern gesungen. Nach dem Zweiten Weltkrieg war die Beliebtheit des Liedes ungebrochen, überliefert in Verbänden, die sich an den Traditionen jugendbewegter Gruppen orientierten. Auch in konfessionellen, in parteinahen und darüber hinaus in anderen Jugendgruppen, z. B. der DFB-Fußballjugend, fanden die Wilden Gesellen ihr Echo, gefördert durch das Liederbuch Mundorgel, über das vom ersten Erscheinen 1953 am „Ende der 1970er-Jahre bereits 10 Millionen Jugendliche“ verfügten (Wikipedia). Weitere Popularität erlangte das Lied über Tonträger, z. B. durch mehrere Alben von Heino, über Sendungen im Radio und Fernsehen. Bis heute wurde das Lied in zahlreiche Liederbücher aufgenommen; so zuletzt Anfang 2013 in den Großband der Mundorgel, und es ist in mehreren Videos bei Youtube vertreten.

Der Text knüpft an die Vagantenlieder des Spätmittelalters an. Die Sänger fühlen sich wie die einstigen Scholaren, die unabhängig von jedem Wetter auf Wanderschaft sind und sich trotz ihrer armseligen Kleidung („Lumpen und Loden“) wie die freien und gut betuchten Herren („Fürsten“) fühlen. „Ehrlos bis unter den Boden“ bedeutet nach Wolfgang Lindner „verachtet, marginalisiert, verlacht […] bis ins Grab“ (Wolfgang Lindner, Jugendbewegung als Äußerung lebensideologischer Mentalität. Die mentalitätsgeschichtlichen Präferenzen der deutschen Jugendbewegung im Spiegel ihrer Liedertexte. Hamburg 2003 [= Schriften zur Kulturwissenschaft 48], S. 262). „Speier und Spötter“ dürfte eine Metapher für Gegner der Jugendbewegung sein. Wie früher den bunt gekleideten Spielleuten, die so manches Mal bespuckt und häufig ihr Leben lang verachtet wurden, ist es den Sängern gleichgültig, was andere über sie denken.

Die Sänger erfahren, sicherlich wie einst die Vaganten, dass die Hilfsbereitschaft unterwegs selten ist (Veit und Velten, im ausgehenden Mittelalter häufige Nachnamen, stehen hier für die vielen Häuser,  bei denen die Sänger vergeblich um Hilfe baten). Sogar bei der eigenen Familie  („der eigene Bruder vergaß“) erhielten sie keine Unterstützung. Aber sie ziehen weiter, sie lassen sich nicht unterkriegen, denn ihnen „geht die Sonne nicht unter“.

Auf ihren Wegen lassen sie die Fiedel über die Felder („Gebreit“) erklingen und am Wegesrand sehen sie den gekreuzigten Jesus, den „König der Dornen“ – wahrscheinlich in einem Marterl –, dem sie ihr „Carmen“ klagen. (Lateinisch carmen = Lied, Gesang, Gedicht. Eine hier eher zutreffende Erklärung: Carmen „is a kind of burden on a life or on a soul, possibly brought about by the person him(her)self, but accepted as something due to us. “ „The word Carmen was quite common the 1920’s“, musicanet.org nach Hans Dolezalek). Und sie erleben im morgendlichen Tau, der ihnen wie Tränen des Himmels erscheint, Anteilnahme und Trost, so dass sie unbeirrt weiterziehen trotz aller Widrigkeiten („Verhau“ = Hindernis, ursprünglich Wegsperre durch niedergehauene Bäume, Etymologisches Wörterbuch [nach Pfeifer]).

In der letzten Strophe denken sie an ihren Tod („Bleibt auch dereinst das Herze uns stehn“). Sie haben ihr Leben, mit Höhen und Tiefen („drunter und rüber“) gelebt, unbeeindruckt von Anfeindungen aller Art. Und wenn schon nicht Menschen um sie trauern werden, so stellen sie sich vor, wie der Sturmwind leiser weht und die Sonne (hier steht die Sonne für die erloschene einstige Lebenskraft) nicht mehr so hell scheint wie einst, als sie noch unterwegs waren. Und sie sind gewiss: „Uns geht die Sonne nicht unter“.

Wie viele populäre Lieder mit einer eingängigen Melodie sind die Wilden Gesellen mit einem neuen Text versehen worden. Im Spanischen Bürgerkrieg hat Ernst Busch 1937 das Lied umgedichtet, das durch die Interpretation von Franz Josef Degenhardt einen gewissen Bekanntheitsgrad erreicht hat. Die letzte Strophe lautet:

Verfolgt und verraten, vom Kerker bedroht:
Freiwild für die Gestapo-Schergen.
Zerfetzt und zerschossen, die Fahne blutrot,
Sie ging mit durch Tod und Verderben.
Wir war ’n Verräter an Hitlers Staat.
Und wir sind stolz auf unser Verbrechen.
Wir war ’n die Jugend des Hochverrats:
Uns konnt’  kein Gegner zerbrechen.

Eine andere Umdichtung von der im „Dritten Reich“ im Rheinland widerständigen jugendlichen Gruppe Edelweißpiraten beginnt mit den Zeilen: „Wilde Gesellen am Wupperstrand, / verfolgt von Schirachs Banditen…“

Und aufgrund der großen Popularität der Wilden Gesellen verfasste ein unbekannter Häftlings des Konzentrationslagers Börgermoor (Gemeinde Surwold im Emsland) eine eigene Version, die von den Häftlingen auf dem Marsch zur und von der Arbeit gesungen wurde. Die erste Strophe lautet:

Graue Kolonnen ziehen ins Moor,
Arbeiterreihen ohne Ende.
Posten zur Seite, Posten davor,
Posten am Zugesende.

Geht auch der Tod uns dauernd zur Seit‘,
Geht es auch drüber und drunter,
Braust auch der Wind durch finstere Heid‘,
Uns geht die Sonne nicht unter.

 Georg Nagel, Hamburg

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9 Responses to „Uns geht die Sonne nicht unter.“ Zu „Wilde Gesellen, vom Sturmwind durchweht“

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  7. Eckard Niemann says:

    Was soll der Ausdruck „Fiedel, Gewand …“ bedeuten? Muss Es nicht sinnvoll heissen „fiedelgewand“?

  8. georg nagel says:

    In Liederbüchern und im Internet habe ich „Fidel Gewand“ als häufigste Schreibweise gefunden.
    Da Fritz Sotke, der „Wilde Gesellen 1923 entdeckt und gesammelt hat, in „Unser Lied“ 1924 „Fidel gewandt“ schreibt, nehme ich an, dass es „froh gewandet“ bedeutet, zumal es fortgesetzt wird „in farbiger Pracht“ . Ich hätte also nicht „Fiedel Gewand“ aus der „Mundorgel“ übernehmen sollen.
    Was sollte „fiedelgewand“ bedeuten?
    Gruß
    Georg Nagel
    Kennt jemand eine andere Deutung?

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