„Daß ich die Hoffnung nie mehr verlier“ – Friedensvorstellung eines Mädchens in Nicoles „Ein bißchen Frieden“ (Text: Bernd Meinunger)

Nicole (Text: Bernd Meinunger)

Ein bißchen Frieden

Wie eine Blume am Winterbeginn
Und so wie ein Feuer im eisigen Wind
Wie eine Puppe, die keiner mehr mag
Fühl ich mich an manchem Tag

Dann seh ich die Wolken, die über uns sind
Und höre die Schreie der Vögel im Wind
Ich singe aus Angst vor dem Dunkeln mein Lied
Und hoffe, dass nichts geschieht

Ein bißchen Frieden, ein bißchen Sonne
Für diese Erde, auf der wir wohnen
Ein bißchen Frieden, ein bißchen Freude
Ein bißchen Wärme, das wünsch ich mir
Ein bißchen Frieden, ein bißchen Träumen
Und daß die Menschen nicht so oft weinen
Ein bißchen Frieden, ein bißchen Liebe
Daß ich die Hoffnung nie mehr verlier

Ich weiß, meine Lieder, die ändern nicht viel
Ich bin nur ein Mädchen, das sagt, was es fühlt
Allein bin ich hilflos, ein Vogel im Wind
Der spürt, dass der Sturm beginnt

Ein bißchen Frieden, ein bißchen Sonne [...]

Sing mit mir ein kleines Lied
(Backing: Ein bißchen Frieden, ein bißchen Sonne
Für diese Erde, auf der wir wohnen)
Daß die Welt in Frieden lebt
(Backing: Ein bißchen Frieden, ein bißchen Freude
Ein bißchen Wärme, das wünsch ich mir)

Singt mit mir ein kleines Lied
(Backing: Ein bißchen Frieden, ein bißchen Träumen
Und daß die Menschen nicht so oft weinen)
Daß die Welt in Frieden lebt
(Backing: Ein bißchen Frieden, ein bißchen Liebe
Daß ich die Hoffnung nie mehr verlier)

     [Nicole: Ein bißchen Frieden. Jupiter 1982.]

Ein bißchen Frieden ist die dritte Single der Sängerin Nicole, mit der sie 1982 den Grand Prix Eurovision de la Chanson in Harrogate gewann und somit den ersten Sieg nach Deutschland brachte. Nicole erreichte mit dem Lied zum ersten und letzten Mal den 1. Platz der Charts in Deutschland und in weiteren europäischen Ländern, sowohl mit der deutschsprachigen als auch mit übersetzten Versionen des Liedes.

Entstehungsgeschichte und Weg zum Erfolg

Ein bißchen Frieden entstand aus einer Meinungsverschiedenheit zwischen Komponist Ralph Siegel und Texter Bernd Meinunger. Siegel hatte schon sechs Lieder komponiert, die die Finalrunde des Grand Prix erreichten, aber noch nie gewonnen. Seit 1979 arbeitete er zusammen mit Meinunger. 1982 wollte er für Deutschland ein Friedenslied komponieren, was aber Meinunger nicht wollte, später aber dazu sagte: „Höchstens ein bißchen Frieden“. So wurde der Titel gefunden. Nicole Hohloch war schon seit 1981 bei Jupiter Records mit Robert Jung und Ralph Siegel unter Vertrag und war 1981 beim deutschen Vorentscheid mit dem Lied Flieg’ nicht so hoch, mein kleiner Freund ausgeschieden. Das Lied wurde aber ein kommerzieller Erfolg (Platz 2 der deutschen Charts). Ein Jahr später verfehlte sie beinahe auch den Einzug ins Finale des deutschen Vorentscheids, Ein bißchen Frieden erreichte nur den 24. und somit letzten Platz des radiophonischen Halbfinales. Nicole gewann dann aber die Vorentscheidung am 20. März 1982 in München und durfte Deutschland am 24. April 1982 in Harrogate vertreten.

Analyse

Am Anfang des Liedes erwähnt das Sprecher-Ich seine  Zerbrechlichkeit, ja seinen Schmerz in einer kriegerischen Welt. Es präsentiert sich als das kleine unschuldige Mädchen, das Angst („Ich singe aus Angst“) und gleichzeitig Hoffnung darauf hat, dass die Welt besser wird. In der ersten Strophe vergleicht sie sich jeweils mit einer Blume, dem Feuer und einer Puppe, die alle drei in ihrer Existenz gefährdet sind. Die Blume blüht „am Winterbeginn“, wird also nicht überleben können; das Feuer knistert „im eisigen Wind“, kann also nicht wärmen; die Puppe hat keiner mehr lieb, sie ist also nutzlos. In der 3. Strophe verwendet es ein mit den „Vögel[n] im Wind“ ambivalentes Bild, das Freiheit und Hilflosigkeit gleichermaßen symbolisiert. Das Sprecher-Ich erscheint bis hierher immer erst zum Ende der Strophen bzw. des Refrains (1. Strophe: „Fühl ich mich“; 2. Strophe: „Und hoffe“; Refrain: „das wünsch ich mir“; Refrain: „Daß ich die Hoffnung nie mehr verlier“). Nach dem Refrain ändert sich dies: Das „Ich“ eröffnet und dominiert die 3. Strophe : „Ich weiß, meine Lieder, die ändern nicht viel / Ich bin nur ein Mädchen, das sagt, was es fühlt / Allein bin ich hilflos“. Der Hinweis des Ich auf seine eigene Einsamkeit wird aber dadurch konterkarriert, dass es drei Mal die Pronomina „wir“ und „uns“ gebraucht, zweimal spricht das Ich von den „Menschen“, die genauso hilflos und traurig wie es selbst sind. Am Ende fordert es gar das Publikum auf, mitzusingen (die letzten 45 Sekunden, d.h. immerhin ein ganzes Viertel des Liedes lang, das drei Minuten dauert). Diese Aufforderung wird sogar gesteigert, es heißt nämlich zuerst „Sing mit mir“, schließlich „Singt mit mir“. In dieser Aufforderung kommt erneut das Wort „Frieden“ vor, es geht aber nicht mehr nur um „ein bißchen Frieden“, sondern darum, „daß die Welt in Frieden lebt“. Der Frieden wird im ganzen Lied metonymisch durch „Sonne“, „Freude“, „Wärme“, „Träume“, und schließlich, „Liebe“ ausgedrückt und dadurch mit positiven, erfreulichen Gefühlen assoziiert. Dagegen wird das Wort „Krieg“ nicht erwähnt, doch können die Wörter „Wolken“ und „Dunkel[]“ in der 2. Strophe als metonymischer Ersatz für den bedrohlichen Krieg verstanden werden, der sowohl „Angst“ als auch die Tränen der Menschen verursacht.

Musikalisch ergibt sich der Erfolg des Liedes aus einer sehr einfachen, an Volkslieder erinnernden Melodie. Raffinierterweise ist im Hintergrund bei den beiden ersten Strophen und dem Refrain von Anfang an die Melodie des auffordernden Schlusses zu hören; „Singt mit mir ein kleines Lied […]“: Sie wird von den Instrumenten als Begleitung gespielt. Umgekehrt hört man während des Schlussteils die Melodie der Strophen. Damit wird erreicht, dass der Hörer von Beginn an beide Melodien im Ohr hat. Das wiederum trägt zum Ohrwurmcharakter des Liedes bei, und wenn es dann heißt „Singt mit mir […]“, ist das Mitsingen (erstaunlicherweise) kein Problem. Der Chor nimmt die Aufforderung an und singt gleichzeitig den Refrain. Im 2. Refrain nach der 3. Strophe gibt es außerdem eine Rückung, d.h. einen plötzlichen Tonwechsel: Die Melodie wird nun einen Ton höher gesungen und begleitet, was eine klimaktische Wirkung hat. Das Lied wird zu einem herzigen Bittgesang in strahlendem Dur.

Erfolg und Rezeption

Interpretin und Text bilden in Harrogate eine idealtypische Einheit: Hier singt ein kleines naives Mädchen, das immer wieder die Welt nicht mehr versteht, mit der erstaunlichen Konklusion, dass sie ja nur „ein bißchen Frieden“ haben will. Das Bühnenbild ist perfekt: Die Farbe weiß dominiert (Farbe der Unschuld und des Friedens), Nicole sitzt auf einem Hocker, hat eine große weiße Gitarre in den Händen, bewegt nur Kopf und Hand – ein sehr einfaches Bühnenbild, das zum Lied passt.

Mit dem Thema „Frieden“ setzen Siegel und Meinunger erfolgreich auf die Friedenssehnsucht einer Gesellschaft, die den Zweiten Weltkrieg miterlebt hat und sich nun vor einem Dritten Weltkrieg fürchtet – es ist bemerkenswert, dass das Thema „Frieden“ beim ESC 2015 immer noch funktioniert: Drei Lieder im Finale in Wien behandeln es, der russische Beitrag gelangt damit sogar auf Platz 2.

1982 befindet sich Europa im Kalten Krieg, Deutschland stellt die Grenze zwischen West- und Ostblock dar und befindet sich damit in einer besonders bedrohten Lage. Darüber hinaus erlebt man Friedensbewegungen, etwa gegen den NATO-Doppelbeschluss. Auch Großbritannien, der Gastgeber des Grand Prix, ist im April 1982 in einem Krieg verwickelt. Am Tag nach der Austragung des Wettbewerbs soll der erste britische Flottenverband im Südatlantik eintreffen, um die Falklandinseln zurückzuerobern, die kurz zuvor von Argentinien besetzt worden waren. Das Lied wird im Nachhinein auch ein kommerzieller Erfolg in Großbritannien.

Nicole gewann den Grand Prix mit 161 Punkten und 61 Punkten Abstand zum Zweiplatzierten aus Israel, ihr Lied wird zu einem kommerziellen Erfolg in ganz Europa: In Originalsprache oder übersetzt erreicht es den ersten Platz der Charts in Deutschland, Österreich, der Schweiz, Großbritannien, Norwegen, Schweden, den Niederlanden und Belgien. Nicole selbst singt das Lied auch auf Englisch, Französisch, Spanisch, Italienisch, Niederländisch, Dänisch und Russisch. Außerdem gibt es Übersetzungen ins Finnische, Schwedische, Serbokroatische, Tschechische sowie in die Sprache Afrikaans und Coverversionen auf Polnisch und Esperanto.

Exkurs: Eurovision Song Contest und Politik

In seiner Publikation ‚Kampf der Kulturen‘, Der Eurovision Song Contest als Mittel national-kultureller Repräsentation unterscheidet Irving Wolther  sieben Bedeutungsdimensionen des ESC, darunter die politische Dimension. Wolther sieht den ESC als „Instrument […], um bestimmte politische Inhalte zu vermitteln“ und unterscheidet „zwischen einer externen und einer internen politischen Dimension“. Die externe politische Dimension betrifft die Eigenschaft, am ESC teilzunehmen, um die politische Sicht eines Landes nach außen zu transportieren. Von einer internen politischen Dimension ist die Rede, wenn der ESC die politische Agenda eines Landes beeinflusst, wenn zum Beispiel ein Staatsoberhaupt ein Grußwort an den Vertreter des Landes schickt oder wenn ein Politiker persönlich beim ESC vor die Kamera tritt. Nicoles Auftritt kann als extern politisch betrachtet werden, denn er stellt sich der Politik des Kalten Kriegs in Europa entgegen und wird in Friedensbewegungen der damaligen Zeit genutzt.

Maxime Bleuzé, Düsseldorf

Literatur:

Anonym: Ein bisschen Frieden. In: Wikipedia [Stand: 04.06.2015].

Gassert, Philipp: Die Vermarktung des Zeitgeists. Nicoles „Ein bißchen Frieden“ (1982) als akustisches und visuelles Dokument, in: Zeithistorische Forschungen/Studies in Contemporary History, Online-Ausgabe 9 (2012), Heft 1.

Niggemeier, Stefan: Interview mit Bernd Meinunger, in: Frankfurter Allgemeine Zeitung, 24.5.2002, S. 50.

Wolther, Irving: ›Kampf der Kulturen‹, Der Eurovision Song Contest als Mittel national-kultureller Repräsentation. Würzburg 2006. Vgl. S.121-126.

Ohne Auto kommt das Glück erst recht von ganz allein. Zu Roberto Blancos „Am Tag, als es kein Benzin mehr gab“ (1979, Text: Bernd Meinunger)

Video hier.

Roberto Blanco (Text: Bernd Meinunger)

Am Tag, als es kein Benzin mehr gab

Autoschlangen vor den Säulen 
und dem Tankwart ist zum Heulen,
denn er zapft und zapft 
und nichts kommt aus dem Schlauch.
Überall sieht man sie schieben,
der Verkehr ist stehn geblieben,
und der Fahrschullehrer wird nicht mehr gebraucht.
Alle sehn und sind erschüttert,
denn ein Rocker schmeißt verbittert
seinen heißen Ofen weinend auf den Müll.
Manche reiten hoch zu Pferde,
andre bleiben auf der Erde,
und die Straßenbahn ist restlos überfüllt.

Am Tag, als es kein Benzin mehr gab,
kamen sie von weit und nah,
doch es war halt nichts mehr da, haha.
Am Tag, als es kein Benzin mehr gab,
sagte jeder: Wenn ich muß,
dann geh ich halt zu Fuß.
Am Tag, als es kein Benzin mehr gab,
kam die große Schieberei,
und dann waren die Strassen frei, frei, frei.
Am Tag, als es kein Benzin mehr gab,
hat erst jeder sehr gestöhnt,
und dann fand er's plötzlich schön.

Und sie rollen von den Hügeln,
bauen Autos mit zwei Flügeln
und probieren's mit der Sonnenenergie,
füllen Whisky in den Wagen,
doch das schlägt ihm auf dem Magen,
und sie merken bald: So fährt ihr Auto nie.
Einer baut sogar Pedalen
und ein Schwungrad in den Wagen,
die Familie muß dann treten, er gibt Gas.
Doch die meisten von den andern,
kriegen plötzlich Lust zum Wandern
und genießen wieder Sonne, Luft und Gras.

Am Tag, als es kein Benzin mehr gab, [...]

Nur ein Schutzmann, ohne Gnade,
schreibt schon wieder Strafmandate,
für zu schnelles Gehen auf dem Bürgersteig.
Und ein Rentner wurde gestern
von zwei frommen Klosterschwestern
wegen falschen Überlaufens angezeigt.
Einen alten Sechszylinder
schieben lachend dreißig Kinder
und der Lehrer sitzt am Steuerrad ganz groß.
Und der Tankwart sagt: "Von mir aus,
statt Benzin schenk ich halt Bier aus,
dann wird keiner seinen Führerschein mehr los."

Am Tag, als es kein Benzin mehr gab, [...]

     [Roberto Blanco: Am Tag, als es kein Benzin mehr gab. Jupiter 1979.]

 

In einem Interview erzählte Element of Crime-Frontmann Sven Regener den Redakteuren von 11Freunde einmal, wie wurscht ihm der WM-Erfolg der deutschen Nationalmannschaft beim Turnier im eigenen Land 1974 gewesen sei: „Das Finale […] war mir so egal, dass ich viel lieber der Frage nachgegangen bin, ob wohl irgendjemand während des Endspiels auf der Autobahn unterwegs sein würde. Ich bin also in Bremen-Ost mit dem Fahrrad auf die Autobahn gefahren, und nach zehn Minuten kam tatsächlich ein Auto vorbei – mit drei so alten Ommas drin.“ (Interview: „Bremen ist Fun-Punk“)

Man darf aus dieser Anekdote des „Grandseigneurs“ der deutschsprachigen Pop-Poesie wohl eine bewusste Abgrenzung von allzu direkter Deutschtümelei ableiten. Man könnte Regener hier aber auch eine offensichtlich bereits in jungen Jahren ausgeprägte Freude am nostalgischen Erinnern (vgl. etwa die Lehmann-Trilogie, zahlreiche Element of Crime-Texte oder das Cover-Album Fremde Federn, vor allem mit der Gottfried & Lonzo-Nummer Hamburg ’75) attestieren. Leere Autobahnen, auf denen man kaum Autos, dafür aber einige Fahrräder sehen konnte, kannte der radellustige Teenager schon aus dem letzten Kalenderjahr. Am 25. November sowie am 2., 9. und 16. Dezember 1973 erlebte die Bundesrepublik vier autofreie Sonntage. Ursache war damals jedoch nicht der Fußball, sondern die sogenannte erste Ölkrise.

Im Zusammenhang mit dem Jom-Kippur-Krieg drosselte die OPEC im Oktober 1973 die Fördermengen. Öl und Benzin wurden in den westlichen Ländern wesentlich knapper und deutlich teurer. Historiker sprechen diesbezüglich vom in Deutschland einschneidensten Ölpreisschock, der der Bevölkerung die „Grenzen des Wachstums“ (Meadows / Meadows / Randers / Behrens 1972) vor Augen führte. Dass das Ganze tatsächlich nicht wenig auf das Bewusstsein der Leute wirkte, kann man u.a. daraus folgern, dass heute noch viele von den – je nach Sichtweise einfach unheimlichen oder auch unheimlich schönen – mehrspurigen Massenspaziergängen oder einer auf Jahre hin gestiegenen Bedeutung einer strategisch klugen Verteilung gerader und ungerader Autokennzeichen-Nummern berichten. Man könnte es aber auch daran ablesen, dass diese Chose auch in der Schlagerwelt ihren Niederschlag fand. Ein Beispiele für musikalische Auseinandersetzungen mit diesem Thema ist neben Kraftwerks Autobahn (1974) z.B. der Titel Haben Sie noch Öl? (1973) des eigentlich nur für sinnfreie Stimmungshits bekannten Duos Fred & Alex.

Bezogen auf die sogenannte zweite Ölkrise 1979/80 kann etwa auf Georg Danzers Kein Benzin (1979) oder eben auch auf Am Tag, als es kein Benzin mehr gab von Roberto Blanco hingewiesen werden. In den Strophen des Liedes von Blanco wird das Szenario durch eine Aneinanderreihung vielfältiger Erscheinungen beschrieben. Die Leitfrage lautet schlicht: Was passiert denn so alles, wenn der Tankwart „zapft und zapft und nichts kommt aus dem Schlauch“? Doch Roberto Blanco wäre nicht Roberto Blanco, wenn er uns hier eine graue Distopie präsentieren würde. Die volkswirtschaftlichen Probleme und der damit verbundene Anstieg der Arbeitslosigkeit – von 1973 auf 1974 kam es schließlich zu einer knappen Verdopplung (vgl. hierzu als Dokument aus der Hochzeit der ersten Ölkrise eine Ausgabe des Spiegels aus dem Dezember 1973) – werden hier nur durch zwei persönliche Einzelschicksale thematisiert: Es trifft eben den Tankwart und den dummerweise gleichfalls dem Auto etwas zu direkt verbundenen Fahrschullehrer. Frustration zeigt sich darüber hinaus nur noch bei einem „Rocker“, der „seinen heißen Ofen weinend auf den Müll“ schmeißt – und vielleicht auch noch bei den Passagieren der „restlos überfüllt[en]“ Straßenbahn. Ansonsten wird uns ein durchaus heiter umsteigendes Deutschland präsentiert.

So vermitteln „Autos mit zwei Flügeln“, das Experimentieren mit alternativen Kraftstoffen wie „Whisky“ und Konstruktionen mit „Pedalen und ein[em] Schwungrad“ den Eindruck einer fröhlichen Pionierzeit technischer Entwicklungen. Wäre es nur ein bißchen so weitergegangen wie hier beschrieben, würden wohl längst die unterschiedlichsten Elektroautos unsere Straßen dominieren. Entsprechend wird auch auf die Chancen der „Sonnenenergie“ – und nicht auf die ja im Zuge der Ölkrise ebenso im Aufwind begriffene, aber natürgemäß wesentlich unpopulärere Kernenergie – verwiesen. Zudem regt sich bei einer gewissen Mehrheit wieder eine erhöhte „Lust zum Wandern“. Die ihrem vermeintlich liebsten Kind entwöhnten Deutschen befassen sich wieder mit ihrem anderen Liebling, dem Wald, und „genießen wieder Sonne, Luft und Gras“. Man kann hier den medialen Höhenflug der Ökologiebewegung der 1980er Jahre in seinen Startlöchern stehen sehen.

Die autofreie Welt erscheint gar nicht so schwer, selbst die deutsche Bürokratie zeigt sich ungemein anpassungsfähig: Bußgelder laut Straßenverkehrsordnung gibt es in einem Land ohne Autofahrer dann halt für „zu schnelles Gehen auf dem Bürgersteig“ und „wegen falschen Überlaufens“. Und auch der Tankwart scheint sich zum Ende des Liedes wieder gefangen und mit der neuen Situation arrangiert zu haben. Er heult nicht mehr, sondern sattelt um: Deutsches Bier läuft besser als arabisches Benzin – am besten dann, wenn eh keiner mehr fahren kann. So kommt der Begleitsong zur zweiten als eine heitere Erinnerung an die erste Ölkrise daher: „[E]rst [hat] jeder sehr gestöhnt / und dann fand er’s plötzlich schön“.

Martin Kraus, Bamberg

 

Ein Bild von einem Mann. Liederportrait I: Dschinghis Khans Dschinghis Khan als bewegtes Reiterstandbild in orientalistischem Schimmer

In der Serie „Liederportraits“ werden Martin Christ und Florian Seubert in loser Folge Liedtexte vorstellen, die eine (oft prominente) Person portraitieren.

Dschinghis Khan (Text: Bernd Meinunger)

Dschinghis Khan

Sie ritten um die Wette mit dem Steppenwind, tausend Mann (Haa, Huu, Haa) 
Und einer ritt voran, dem folgten alle blind, Dschinghis Khan (Haa, Huu, Haa) 
Die Hufe ihrer Pferde durchpeitschten den Sand 
Sie trugen Angst und Schrecken in jedes Land 
Und weder Blitz noch Donner hielt sie auf (Huu, Haa)

Dsching, Dsching, Dschinghis Khan 
He Reiter - Ho Reiter - He Reiter - Immer weiter! 
Dsching, Dsching, Dschinghis Khan 
Auf Brüder! - Sauft Brüder! - Rauft Brüder! - Immer wieder! 
Lasst noch Wodka holen (Ho, Ho, Ho, Ho, Ho) 
Denn wir sind Mongolen (Ha, Ha, Ha, Ha, Ha) 
Und der Teufel kriegt uns früh genug!

Dsching, Dsching, Dschinghis Khan 
He Reiter - Ho Reiter - He Reiter - Immer weiter! 
Dsching, Dsching, Dschinghis Khan 
He Männer - Ho Männer - Tanzt Männer - So wie immer! 
Und man hört ihn lachen (Ho, Ho, Ho, Ho, Ho) 
Immer lauter lachen (Ha, Ha, Ha, Ha, Ha) 
Und er leert den Krug in einem Zug (Haa, Huu, Ha, Hu, Huu, Haa, Hu, Ha, Hu, 
                                                        Huu, Haa, Hu, Ha, Hu)

Und jedes Weib, das ihm gefiel, das nahm er sich in sein Zelt (Haa, Huu, Haa) 
Es hieß, die Frau, die ihn nicht liebte, gab es nicht auf der Welt (Haa, Huu, Haa) 
Er zeugte sieben Kinder in einer Nacht 
Und über seine Feinde hat er nur gelacht 
Denn seiner Kraft konnt‘ keiner widerstehen (Huu, Haa)

Dsching, Dsching, Dschinghis Khan […]

Dsching, Dsching, Dschinghis Khan […]
     
     [Dschinghis Khan: Dschinghis Khan. Jupiter 1979.]

Einer der blutrünstigsten und brutalsten Feldherren der Geschichte, Dschinghis Khan, ist der Protagonist eines der bekanntesten Disco-Sauflieder Deutschlands. Unser erstes Liederportrait ist ein party-poppiges Reiterstandbild des heroischen Mongolen Dschinghis Khan. Dieser herrschte im 12. und 13. Jahrhundert über weite Teile Zentralasiens, Nord-West Chinas, den Kaukasus und den Ost-Iran. Er wird weithin als einer der erfolgreichsten, aber auch gewalttätigsten Heerführer der Geschichte wahrgenommen. Durch die Vereinigung der disparaten mongolischen Steppenstämme wird er, vor allem in der Mongolei, als Gründungsvater des Landes angesehen – in China und anderen Ländern hingegen wird er kritischer rezipiert. Kulturell war der Khan maßgeblich an der Verbreitung der Uigurischen Sprache beteiligt und galt als überraschend tolerant gegenüber religiösen Minderheiten.

In ihrem Grand Prix-Beitrag aus dem Jahre 1979 verherrlichen Bernd Meinunger und Ralph Siegel eine archaische Steppenwelt, in der eine mongolische Burschenschaft unter der Führung des legendären Dschinghis Khan kräftig auf den orientalistischen Putz haut. Die christlich-westlich eingefärbte Darstellung Zentralasiens und die Darstellung einer misogynen Reiterkohorte stechen bei der schlagertextlichen Aneignung der mongolischen Legende besonders heraus. Analysiert man den Liedtext, so fällt die verzerrte und inakkurate Beschreibung der Mongolei des 12. und 13. Jahrhunderts auf, welche durch die Projektion westlicher Werte und Vorstellungen auf eine unbekannte östliche Welt zu Stande kommt. Im letzten Vers des Refrains beispielsweise wir der abendländische Teufel als höllische Fratze heraufbeschworen. Die Steppenreiter allerdings nutzen ihn provokant-selbstbewusst, entgegen des christlichen Sündenverständnisses, als Maß ihres exzessiven Verhaltens und fürchten ihn nicht.

Der gesamte Refrain stellt eine Rollenstrophe dar, in der die Reiter als Männerchor ihre Saufgelage vertonen. Ähnlich wie der Teufel keine eindeutig mongolische Figur ist, fällt auch die Nennung des Wodkas, der kausal mit der Mongolei verknüpft wird („Lasst uns Wodka holen / Denn wir sind Mongolen“), im kulturellen Eklektizismus des Lieds als schiefe Referenz auf, wird der hochprozentige Klare doch primär mit Russland und Polen in Verbindung gebracht. Diese westliche Appropriation eines Nahen, Mittleren und Fernen Ostens fügt sich in den popkulturellen Entstehungszeitraum des Lieds und ähnlicher Artefakte wie Moskau (1979), ebenfalls von Dschinghis Khan, Rasputin (1978) von Bonny M. (und wohl Vorbild des Siegel‘schen Schlager-Khans) und Nikita von Elton John (besonders auch das Video, 1985). Die genannten Beispiele thematisieren den Osten als (unerreichbares) Faszinosum und/oder vergangene Welt. Folglich kann dieser Osten im Schlagergenre als exotistische Phantasie fungieren. Im historischen Kontext lässt sich diese Faszination des Ostens auch mit der sowjetischen Invasion Afghanistans, dem kommunistischen Regime Vietnams und einer Erweiterung des sowjetischen Einflussbereiches in den späten 1970er Jahren in Verbindung bringen, was zu einem Erstarken der UdSSR führte. Diese Ereignisse, von denen man auch in Westdeutschland wusste, blieben auf Grund des Eisernen Vorhangs dennoch fern. Die Welt hinter dem Vorhang war somit faszinierend fremd, durch die politische Situation ein Zugang zu ihr verwehrt.

Fremdländisch-Faszinierendes fällt nicht nur mit Bildern einer unerreichbaren Welt ein, sondern auf lautlicher Ebene auch mit dem Hufklang des mongolischen Reiterheers. Das laute Lachen der östlichen Alkoholiker schallt in vokalischen Hos und Has durch das Lied. Die Binnenreime in Refrain und Strophe erzeugen einen  galoppierenden Rhythmus: „Sie ritten um die Wette mit dem Steppenwind.“ Die unreine innere Reimstruktur in Kombination mit gedoppelten Plosivlauten erzeugt eine brutal gehämmerte, erdige Lautspur. Die imperativischen Schlagreime im Refrain simulieren die  aufgeheizte Stimmung  einer exzessiv-virilen mongolischen Rauferei in alkoholisiertem Zustand: „Auf Brüder! – Sauft Brüder! – Rauft Brüder! – Immer wieder!“.

Die extrem ausgestellte Männlichkeit der trinkenden Mongolen nimmt in der zweiten Strophe den Ton frauenfeindlich-chauvinistischen Missbrauchs an:

Und jedes Weib, das ihm gefiel, das nahm er sich in sein Zelt (Haa, Huu, Haa)
Es hieß, die Frau, die ihn nicht liebte, gab es nicht auf der Welt (Haa, Huu, Haa)
Er zeugte sieben Kinder in einer Nacht
Und über seine Feinde hat er nur gelacht
Denn seiner Kraft konnt keiner widerstehen (Huu, Haa)

Hatte das Wort Weib im Mittelalter noch die neutrale Bedeutung von ‘Frau‘, wandelte sich seine Bedeutung im Neuhochdeutschen zum Pejorativen hin. Im anderweitig neuzeitlichen Sprachgebrauch des Lieds wirkt die archaische Verwendung des Wortes Weib deshalb frauenfeindlich. In dieses misogyne Verständnis reiht sich auch die promiskuitive Potenz des Mongolen ein, dem alle Frauen bedingungslos hörig zu sein scheinen. So kann er jede Frau in sein Zelt nehmen und wohl auch jede Frau in seinem Zelt nehmen. In einem familiengerechten Schlager ist damit die Obergrenze sexueller Offenheit erreicht. Khans erotische Abenteuer bleiben nicht ohne Folgen. In seinem schier endlosen Fortpflanzungswüten gelingt es Dschinghis Khan die Frucht seiner Lenden gleich sieben Mal zu pflanzen: „Er zeugte sieben Kinder in einer Nacht.“ Durch die Kombination der mythologisch aufgeladenen Zahl sieben mit dem unerwartet korrekt-verklemmt klingenden Verb zeugen erhält die Zeile biblischen Glanz.

Während die Wortwahl dieser Zeile eine heterokonservativ machohafte Lesart unterstützt, lässt die Wortwahl des letzten Verses eine dekonstruierende Lesart zu, die der kommunizierten Heterosexualität der vorangegangene Zeilen entgegensteht: „Denn seiner Kraft konnt keiner widerstehen.“ In einer anderen Strophe würde man diese Kraft eindeutig mit Kriegerkraft assoziieren, was die Feinde im vorangegangenen Vers zunächst vermuten lassen. Erneut ist die Verbwahl auffällig: Laut dem Digitalen Wörterbuch der Deutschen Sprache meint widerstehen in seiner Erstbedeutung nicht das kämpferische ‘Widerstand leisten‘, sondern zunächst ‘der Versuchung, die von jmdm., einer Sache ausgeübt wird, nicht erliegen, jmdm., einer Sache gegenüber standhaft bleiben‘. In dieser erotisch aufgeladenen Strophe wird diese Bedeutung noch unterstützt. Da besagte Manneskraft in der Zeile nicht genauer spezifiziert ist, lässt sie sich somit auch als Anziehungskraft eines überdurchschnittlich sexuell aktiven Reiters lesen. Geht man davon aus, dass in heroischen Szenarien Krieger männlich sind, dann sind dies auch die Opponenten von Khans Klan. Somit wird die heterosexuelle Zeugungsphantasie zum homoerotischen Lustabenteuer: „He Männer – Ho Männer – Tanzt Männer – So wie immer!“ Die Nähe zwischen Kriegerkultur und homoerotischen Tendenzen ist ein gängiges Motiv in einem militaristisch-kriegerischen Kontext. In diesem Sinne also ist Dschinges Khan nicht nur ein Bild von einem Mann, sondern auch ein Bild für einen Mann. Hei Ho!

Martin Christ und Florian Seubert, Oxford

Im Rausch. Gedanken zu „Theater“ von Katja Ebstein (Text: Bernd Meinunger)

Katja Ebstein (Text: Bern Meinunger)

Theater 

Sie setzen jeden Abend eine Maske auf
und sie spielen
wie die Rolle es verlangt.
An das Theater haben sie ihr Herz verkauft.
Sie stehn oben und die unten schauen sie an.

Sie sind König, Bettler,
Clown im Rampenlicht
doch wie's tief in ihnen aussieht
sieht man nicht:

Theater, Theater
der Vorhang geht auf,
dann wird die Bühne zur Welt.
Theater, Theater
das ist wie ein Rausch
und nur der Augenblick zählt.

Wie ein brennendes Fieber
wie ein Stück Glückseeligkeit,
ein längst vergessner Traum
erwacht zum Leben.

Theater, Theater
gehaßt und geliebt
Himmel und Hölle zugleich.

Und der Clown
der muß lachen
auch wenn ihm zum weinen ist
und das Publikum sieht nicht
daß eine Träne fließt.

Und der Held
der muß stark sein
und kämpfen für das Recht
doch oft ist ihm vor Lampenfieber schlecht.

Alles ist nur Theater
und ist doch auch Wirklichkeit
Theater - das Tor zur Phantasie.
Theater, Theater
nur der bleibt dir treu,
der dich vor Leidenschaft liebt.

Theater, Theater
ist lieben und freuen
am Anfang und Ende zugleich

Theater, Theater
Ihr schenkt und aus Applaus
wir geben alles für euch
und Lachen und weinen für euch.
Ja, wir geben alles für euch!

     [Katja Ebstein: Theater. Ariola 1980.]

Der griechische Gott Dionysos ist Gott des Rausches und Gott des Theaters. „Theater, Theater das ist wie ein Rausch“, singt Katja Ebstein 1980 im deutschen Grand-Prix-Beitrag Theater. Die Faszination am Rausch ist für Künstler aller Genres oft, dass der Rausch sowohl zu emotionalen Höhenflügen führen kann als auch zu brutalen Abstürzen. Euripides beispielsweise lässt in seinem Dionysos-Drama Die Bakchen fröhlichen Tanztaumel in blinde Raserei umschlagen, was schließlich sogar dazu führt, das eine Mutter ihr eigenes Kind tötet. Thomas Manns Künstlerfiguren kippen reihenweise aus den Latschen, sobald sie der kreative Rausch einmal gepackt hat.

Untersucht man den Beitrag der Grand-Prix-Veteranen Siegel/Meinunger auf diese Rauschambivalenz hin, stellt sich heraus, dass sich auch in diesem Text eine Entwicklung von einem harmlos-heiteren Stimmungshoch zu einer unkontrollierbaren Hochstimmung vollzieht. Die Welt wird auf den Kopf gestellt. Das Raum-Zeit-Kontinuum löst sich auf.

Auf zeitlicher Ebene „[zählt] nur der Augenblick“. Dies zeigt schon ein erstes Verbindungselement zwischen der präsentischen Kunst des Theaters, bei der nur die flüchtige Live-Performance zählt, und dem Rauschzustand. Denn im Rausch zählt ebenso nur das Jetzt. Zeitliche Parameter verschwimmen, eine Vergangenheit und Zukunft scheint es nicht mehr zu geben. Alles ist jetzt, „Anfang und Ende zugleich“.

Und auch das Raumkonzept wird amorph: „Himmel und Hölle zugleich“. Zwei absolute Oppositionen fließen durch die Gleichordnung ineinander. Ein Oben und Unten gibt es im Bühnenrausch nicht mehr. Durch „Hölle“ klingt außerdem deren Insasse, der Teufel, an. Der Teufel heißt auch Diabolus und Diabolus bedeutet ῾Durcheinanderwürfler’. Genau das geschieht im Rauschzustand: Alles wird durcheinandergewürfelt.

Der Vorhang scheint in dem ganzen Durcheinander die einzig feste Raumkonstante zu sein, denn er teilt die theatrale Welt in ein Oben der Akteure und ein Unten der Zuschauer: „Sie stehn oben und die unten schauen sie an.“ Mit dem Lüften des Vorhanges wird die „Bühne zur Welt“. Das Konzept des barocken Welttheaters allerdings ist damit nur scheinbar bedient, denn wo in Ebsteins Lied die Bühne zur Welt wird, wird im barocken Sinne die Welt zur Bühne. Im ersten Teil bezeichnet dieser Chiasmus mit der Bühnenwelt ein exklusives Raumkonzept, mit der Weltbühne wird allerdings ein inklusives beschrieben.

Mag das Raumkonzept des Theaters auch exklusiv sein, ist man einmal in der Bühnenwelt angekommen, scheint deren Aura öffnend und entgrenzend zu wirken: „Alles ist nur Theater/ und ist doch auch Wirklichkeit/ Theater – das Tor zur Phantasie.“ Hat man im Rausch einmal die Grenzen der Wirklichkeit überwunden, wird die Wahrnehmung intensiver. Das Tor zur Phantasie öffnet sich und alles wird psychedelisch bunt. Aldous Huxley verwendet in seinem Essay The Doors of Perception eine ähnliche Türmetaphorik, um bewusstseinserweiternde Vorgänge zu beschreiben. Allerdings ist er dafür nicht ins Theater gegangen, sondern hatte das Halluzinogen Meskalin eingeworfen.

Mit den Schlagworten Entgrenzung und Phantasie landet man schnell bei den Romantikern und ihrer Sehnsucht nach Transzendenz. Und so ist es nur konsequent, dass Huxley seinen Essaytitel dem Werk The Marriage of Heaven and Hell (1790-93) des englischen Romantikers William Blake entnommen hat: „If the doors of perception were cleansed/everything would appear to man as it is, infinite“. Zeit löst sich in Unendlichkeit auf, „Anfang und Ende zugleich“. Die Vermengung von Raumkonstanten scheint in Form der Hochzeit zwischen Himmel und Hölle auf, „Himmel und Hölle zugleich.“

Doch lösen sich in der exklusiven Theater-/Rauschwelt nicht nur die Grenzen der Wahrnehmung sowie Raum und Zeit auf, auch die Identität der Akteure ist betroffen: Ein kollektives sie setzt „jeden Abend eine Maske“ auf. Liest man hier das griechische persona – ῾Maske’ – mit, könnte man in den ersten Zeilen des Lieds schon einen Hang zur multiplen Persönlichkeit erkennen.

Neben Raum und Zeit werden also auch feste Identitätskonzepte flüchtig. Das Asyndeton „König, Bettler,/Clown“ lässt zwischen den drei Berufungen kaum eine Trennlinie zu, lediglich ein Komma verhindert die endgültige Verschmelzung von so disparaten Identitäten wie König, Bettler und Clown. Der Zeilensprung mitten in der Aufzählung unterstreicht das Ineinanderfließen der Identitäten weiter.

Vom rauschhaften Durcheinanderwirbeln der Identitäten wird schließlich auch die Sprecher-Instanz erfasst: Am Anfang beschreibt diese die Obenstehenden noch nüchtern sich selbst ausschließend als „sie“. Im Verlauf hat sie dann einen guten Überblick über Akteure und Zuschauer gleichermaßen. Beispielsweise weiß sie, dass der Clown lachen muss, obwohl im innerlich zum Weinen ist, ebenso wie, dass die Untensitzenden dies nicht bemerken.

Nur eine merkwürdige Syntax mag bereits verraten, dass die Instanz hineingesogen wird in den Theaterrausch: „Und der Clown/der muß lachen“, „[u]nd der Held/der muß stark sein“. Das wiederholte Modalverb in Kombination mit einem infantil anmutenden Satzbau lässt darauf schließen, dass das „Tor zur Phantasie“ wohl bald endgültig durchschritten ist. Und so packt das dionysische Lampenfieber schließlich auch die Sprecherinstanz, die sich am Ende an ein Zuschauer-Ihr wendet. Darauf wird aus dem zuvor als „sie“ abgegliederten Schauspielerkollektiv in der letzten Zeile plötzlich ein Wir: „Ja, wir geben alles für euch!“

Einmal mehr zeigen sich in diesem Ausruf der euphorischen Begeisterung die zwei Seiten des Rauschs. Um noch einmal die Griechen zu bemühen: Euphorie wörtlich genommen trägt das „Gute“ schon in sich: eu- bedeutet ῾gut-/wohl-’ und -phorie geht auf das griechische Verb phérein ῾tragen’ zurück. Im Rausch lässt sich so manches also besonders genießen oder leicht(er) ertragen. Dauerhafter Rausch allerdings wäre kaum zu ertragen, denn er würde schließlich zum Kontrollverlust und endlich zur gänzlichen Aufzehrung des Berauschten führen. In der Tat: „Wir geben alles für euch!“ Applaus. Und aus?

Florian Seubert, Bamberg