Liebeserklärung an die Neue Frau: Zu Claire Waldoffs „O wie praktisch (ist die Berlinerin)“ (1926)

Claire Waldoff (Text: Friedrich Hollaender)

O wie praktisch (ist die Berlinerin)  

Es stöhnt das aufgeklärte Mädchen,
Sie muss sich irgendwie betätgen.
Sie hat so furchtbar viel Talente,
Mit denen sie möchte, mit denen sie könnte.
Sie macht aus Lampenschirmen Hüte,
Badetrikots aus einer Tüte,
Aus einer Hängematte, nein, wie gescheit,
Schneidert sie sich ihr Abendkleid.
 
O wie praktisch, o wie praktisch ist die Berlinerin!
Heut ist schon jeder Backfisch eine Verdienerin.
Ob sie kocht, ob sie küsst, ob sie Kinder wiegt;
Ob sie tanzt, ob sie tippt, ob sie mensendiekt -
O wie praktisch, o wie praktisch ist die Berlinerin!
 
Willst du so eine Schlaue küssen,
Muss sie erst deinen Namen wissen.
's ist nur von wegen Alimente,
Was nützen in dem Fall Talente?
Doch leugnest du den Kindersegen,
Ist sie noch lange nicht verlegen,
Denn sie hat oft, ganz ohne Spaß,
Für den Fall in Reserve noch drei Papas.
 
O wie praktisch […]

Nimmst du sie schließlich gar zur Ehe,
Gib acht, dass da kein Leid geschehe.
Sei häuslich, wenn es dir auch schwerfällt,
Damit die Verwandtschaft nicht über dich herfällt,
Sonst kommst du eines Tags nach Hause
Und siehst: Da sitzt zu deinem Grause
Ein fremder junger Mann,
Raucht deine Zigarren und hat deinen Schlafrock an.
 
O wie praktisch […]

     [Claire Waldoff: Wie wohl ist mir am Wochenend / O wie praktisch. Elektrola 1926.]

Entstanden in der Blütezeit der Weimarer Republik, erscheint Claire Waldoffs Chanson O wie praktisch wie eine Liebeserklärung an die Neue Frau. Der Begriff der Neuen Frau wird zumeist synonym für das Frauenbild der 1920er Jahre gebraucht. Aufgenommen in Berlin im November 1926, lautete der ursprüngliche Titel des Liedes Die praktische Berlinerin – und sie ist es auch, die hier im Mittelpunkt steht.

Und diese Frau kann fast alles: „Ob sie kocht, ob sie küsst, ob sie Kinder wiegt / Ob sie tanzt, ob sie tippt, ob sie mensendiekt“, heißt es über die Berlinerin mit den zahlreichen Talenten und Betätigungsfeldern. Sie ist Hausfrau und Mutter, berufstätig, sportlich, attraktiv und im Nachtleben aktiv. Das Lied sei eine „Hommage an die Berlinerin“ heißt es in Robert Nippoldts und Boris Pofallas Buch über das Berlin der wilden Zwanziger (2017: 215). Die Berlinerin könne „in puncto Eleganz zwar nicht mit der Pariserin mithalten“, doch was praktische Fertigkeiten anbetrifft, sei sie dieser überlegen (ebd.).

Sichtbarer Code für emanzipierte Frauen

Denn diese Berlinerin ist äußerst patent und zupackend: Aus Lampenschirmen stellt sie Hüte her, aus einer Tüte Badetrikots und aus einer Hängematte ihr Meisterstück, ein Abendkleid, heißt es ironisch. Nicht nur agiert sie aus der Not heraus pragmatisch, trotz knapper Kasse möchte sie sich elegant und zeitgemäß kleiden. Für ihre Freizeitvergnügungen braucht es entsprechende Garderobe: In den 1920er Jahren wird Schwimmen populär, nackte Arme und Beine dürfen nunmehr gezeigt werden. Vornehme Blässe verschwindet als Ideal, nachdem sich aktive Frauen immer mehr im Freien aufhalten und sich dort auch gerne präsentieren. Und für das Badevergnügen am Wannsee braucht frau schließlich ein Badetrikot. Für das Flanieren auf dem Kurfürstendamm bedarf es eines modischen Glockenhutes und für die zahlreichen Vergnügungsmöglichkeiten am Abend natürlich eines eleganten Kleides. In den Zwanzigerjahren blüht Berlins Nachtleben. Um die vierzig Theater und 170 Varietés beherbergt die junge Metropole.

Aufschwung der Angestellten

Um sich diese Vergnügungen leisten zu können, muss die Neue Frau selbst erwerbstätig werden. „Heut ist schon jeder Backfisch eine Verdienerin“, heißt es entsprechend in Waldoffs Lied. Die besungene Berlinerin „tippt“ – sie ist eine der vielen weiblichen Angestellten, die als Stenotypistin oder Sekretärin tätig sind. Tatsächlich steigt die Zahl der weiblichen Angestellten Mitte der 1920er Jahre auf etwa 1,5 Millionen, womit dreimal mehr Frauen angestellt erwerbstätig sind als 1907. Doch mehr als ab und an ein Besuch im Kino dürfte für die meisten angestellten Frauen dennoch nicht möglich sein: 1929 werden die monatlichen Lebenshaltungskosten einer alleinstehenden Angestellten mit 175 Mark berechnet. Das durchschnittliche Bruttoeinkommen liegt bei 146 Mark und ein gutes Viertel der weiblichen Angestelltenlöhne beläuft sich auf unter 100 Mark. Männer verdienen 10 bis 15 Prozent mehr. Damals wie heute eine Ungerechtigkeit.

Dennoch prägt der Aufschwung der Angestellten, die die Großstadt bevölkern und die nach außen hin die Selbstständigkeit der Neuen Frau propagieren – wie eben in Waldoffs Lied – das Bild der Weimarer Republik. Dass 1925 94% der angestellten Frauen ledig sind, dürfte kein Zufall sein, ist doch auch zu dieser Zeit noch das Denken vorherrschend, wonach eine berufliche Tätigkeit für eine Frau nur eine Übergangsstation zur Ehe sein soll. Bis 1928 kann eine im Staatsdienst beschäftigte Frau sofort entlassen werden, wenn sie heiratet.

Drei Papas in Reserve

Die besungene Berlinerin in Waldoffs Chanson ist noch nicht verheiratet. Dies belegt die letzte Strophe, in der eine Warnung an einen potentiellen Ehemann ausgesprochen wird, dieses „aufgeklärte Mädchen“ zu ehelichen. Der künftige Gatte solle aufpassen, dass ihm „kein Leid geschehe“. Er erhält den Rat, „häuslich“ zu sein, womit vermutlich gemeint ist, nicht fremdzugehen. Denn in ihrer Traurigkeit über den Betrug werde die praktische Berlinerin nicht versinken, sondern sich stattdessen ebenfalls neu orientieren und sich einen anderen Mann suchen. Schließlich gilt auch die sexuelle Selbstbestimmung als ein wesentliches Merkmal der Neuen Frau.

In der zweiten Strophe des Chansons (in der obigen Aufnahme nicht mitgesungen) wird dieses Thema weiter ausgeführt: Stellt sich ein „Kindersegen“ ein, den der Vater leugnet, ist die Berlinerin „noch lange nicht verlegen. Denn sie hat oft, ganz ohne Spaß, für den Fall in Reserve noch drei Papas“. Was hier so leicht und heiter herüberkommt, hat für viele Frauen in der Weimarer Republik, die ungewollt schwanger werden, schwerwiegende Konsequenzen. Erstens werden sie, wie oben bereits erläutert, oft unzureichend für ihre Arbeit bezahlt, so dass ihnen alleinstehend mit einem Kind die Armut droht und sie auf die „Alimente“ dringend angewiesen sind. Versuchen sie, das Kind erst gar nicht auf die Welt zu bringen, droht ihnen eine Gefängnisstrafe oder noch Schlimmeres. Seit 1871 herrscht im Deutschen Reich ein Abtreibungsverbot, das auch nach 1918 nicht aufgehoben worden ist. Die rigide Durchsetzung des Verbots in der Weimarer Republik führt zu vielen Todesfällen. Vor diesem Hintergrund lässt sich Waldoffs Lied durchaus sozial- und gesellschaftskritisch verstehen.

Neue Mode für eine neue Zeit

Sowohl die sexuelle Selbstbestimmung als auch die durch Erwerbsarbeit geschaffene finanzielle Unabhängigkeit werden somit als ein Wunschbild und nicht als erlebte Realität für die meisten Frauen der 1920er Jahre entlarvt. Darauf lassen sich auch die folgenden Zeilen in Waldoffs Chanson beziehen, in denen es über die Berlinerin heißt, „Sie hat so furchtbar viel Talente / Mit denen sie möchte, mit denen sie könnte“. Nicht umsonst bleibt es hier beim Konjunktiv; die Möglichkeit, ihre Talente zu zeigen und dafür honoriert zu werden, sind begrenzt. Wie gut, dass sich zumindest die Kleidung selbst herstellen lässt. Tatsächlich erlauben es vereinfachte Schnittmuster in den 1920er Jahren zunehmend, Mode zu Hause nachzunähen. Hat frau etwas mehr Geld, kann sie sich in den neu entstandenen Kaufhäusern – wie dem 1897 eingeweihten Kaufhaus Wertheim, dem 1907 eröffneten KaDeWe oder dem 1929 eingeweihten Karstadt am Hermannplatz – selbst mit Konfektionsmode versorgen, die der technische Fortschritt in der Textilindustrie erstmals möglich macht. War Mode bis dahin nur für die Oberschicht erschwinglich, wird diese nun zur Massenmode. Wenn sich auch im Alltag das Versprechen der Emanzipation nur für die wenigsten Frauen der 1920er Jahre eingelöst findet, so ist dieses in Fragen der Frauenkleidung sehr viel weitgehender umgesetzt.

Die Mode hat praktisch zu sein und die Neue Frau bei ihrer aktiven Lebensgestaltung zu unterstützen. Berufstätige Frauen benötigen zweckmäßige Kleidung. Das einengende Korsett wird abgelegt, Hosen sowie Zweiteiler und Kostüme, orientiert am Vorbild des Männeranzugs, werden immer beliebter. Sportliche Frauen brauchen bequeme Kleidung – zum Beispiel zum „mensendieken“. Dieser uns heute unbekannte Begriff geht zurück auf Bess Mensendieck, eine niederländisch-amerikanische Ärztin, deren Gymnastikpädagogik seit der Wende zum 20. Jahrhundert sehr populär wird. Schließlich hat die Neue Frau sportlich und schlank zu sein.

Visuell geframtes Phänomen

Abschließend lässt sich festhalten, dass Lieder wie O wie praktisch von Claire Waldoff nicht nur das Bild der Neuen Frau spiegelten, sondern dieses vor allem selbst prägten. Die Neue Frau sei „nur in Teilen das Ergebnis tatsächlicher gesellschaftlicher Entwicklungen“, schreibt der Erfurter Kommunikationswissenschaftler Patrick Rössler (2016: 236). Stattdessen sei der Typus der Neuen Frau „wesentlich aber auch von der damaligen Medienberichterstattung konstruiert“ worden, womit Rössler sowohl auf den Aufschwung illustrierter Magazine nach dem Ersten Weltkrieg als auch auf den Siegeszug des Kinos verweist (ebd.).

Die Chansonnette selbst trug mit ihrer eigenen Erscheinung ebenfalls zum Bild der modernen, emanzipierten Frau dar (vgl. auch die Besprechung von Wegen Emil seine unanständ’ge Lust auf diesem Blog). In den Kabaretts und Varietés der Hauptstadt wurde Claire Waldoff zum Star, hier stand sie mit krausen roten Haaren, burschikos in Hose, Bluse, Sakko und Schlips gekleidet, patent und schlagfertig auf der Bühne. Dass sie in einer lesbischen Partnerschaft lebte, war kein Geheimnis. Waldoffs Lieder wie Hermann heest er oder Raus mit’n Männern aus’m Reichstag wurden zu Gassenhauern – das bezeugt auch eine Szene aus der Serie Babylon Berlin, in der die Protagonistin Charlotte und ihre kleine Schwester zu dem weiblichen Ermächtigungslied tanzen (vgl. auch die Besprechung von Zu Asche, zu Staub auf diesem Blog). Nachdem die Chansonnette so ziemlich das Gegenteil des nationalsozialistischen Frauenbildes verkörperte, erstaunt es nicht, dass die neuen, rechten Machthaber ihre Auftrittsmöglichkeiten einschränkten. Doch zuvor nutzte Claire Waldoff die kurze Zeit der Liberalität, um Lieder zu schaffen, die bis heute aufgrund ihrer emanzipatorischen Aussagekraft modern erscheinen.

Isabel Stanoschek, Bamberg

Literatur

Evelyn Fast (2015): Das Frauenbild in der Literatur der 1920er Jahre: Die „Neue Frau“ bei Irmgard Keun, Marieluise Fleisser und Mela Hartwig. Hamburg: Diplomica Verlag.

Karoline Hille (2017): „Der Paragraf 218 und die Sache der Frauen: Anmerkungen zu einem immer noch aktuellen Thema“, in: Ingrid Pfeiffer [Hrsg.] (2017): Glanz und Elend in der Weimarer Republik. München: Hirmer Verlag, S. 182-195.

Annelie Lütgens (2017): „Deren Sorgen und Rothschilds Geld: Künstlerinnen und ihre Arbeit für Zeitschriften in der Weimarer Republik“, in: Ingrid Pfeiffer [Hrsg.] (2017): Glanz und Elend in der Weimarer Republik. München: Hirmer Verlag, S. 232-251.

Robert Nippoldt und Boris Pofalla (2017): Es wird Nacht im Berlin der Wilden Zwanziger. Köln: Taschen-Verlag.

Patrick Rössler (2016): „Stars und Sternchen: Magazine und die neue Frau im Film“, in: Katja Leiskau, ders., Susann Trabert [Hrsg.] (2016): Deutsche illustrierte Presse: Journalismus und visuelle Kultur in der Weimarer Republik. Baden-Baden: Nomos Verlagsgesellschaft, S. 233-254.

Plädoyer für den Frieden. Zu Tocotronics „Nie wieder Krieg“ (2022)

Tocotronic

Nie wieder Krieg

Nie wieder Krieg, nie wieder Krieg, nie wieder Krieg
Keine Verletzung mehr
Nie wieder Krieg, nie wieder Krieg, nie wieder Krieg
Das ist doch nicht so schwer

Er sieht an sich herab
Wirkt ziemlich abgeschabt
Ein Coupon von Sanifair
Gleitet in die Hand, als er
Durch das Drehkreuz geht
Sich gegenüber steht
Und in den Spiegel schreit:

Nie wieder Krieg, nie wieder Krieg, nie wieder Krieg [...]

Sie sieht vom Balkon herab
An diesem Neujahrstag
An dem das Alte stirbt
Noch nichts geboren wird
Gebete zynisch bleiben
Zieht es durch Kitt und Scheiben
Auf die sie haucht und schreibt:

Nie wieder Krieg, nie wieder Krieg, nie wieder Krieg [...]

Dann hat ein Feuerwerk
Sich in die Luft verirrt
Das in den Himmel schreibt
You might also like

Der Mond sieht auf dich herab
Du liest im Horoskop
Sie können erleichtert sein
Man wird ihnen bald verzeih'n
Als ein kleines Kind
Über die Hecke springt
Und an die Wände schreibt:

Nie wieder Krieg, nie wieder Krieg, nie wieder Krieg [...]

Nie wieder Krieg, nie wieder Krieg, nie wieder Krieg
Keine Verhetzung mehr
Nie wieder Krieg, nie wieder Krieg, nie wieder Krieg
Nie wieder Krieg in dir, in uns, in mir

     [Tocotronic: Nie wieder Krieg. Vertigo 2022.]

Vor kurzem hat sich der Beginn des russischen Angriffskriegs auf die Ukraine zum ersten Mal gejährt. Am 24. Februar 2022 griffen Putins Truppen das Nachbarland an. Wie viele Soldaten auf beiden Seiten jeweils gestorben sind, darüber gehen die Angaben weit auseinander und hängen vom jeweiligen Standpunkt ab: Die ukrainische Seite nennt mehr als 135.000 tote russische Soldaten (bis

Anfang Februar 2023), die russische Seite hingegen knapp 6.000 (bis September 2022). Nach russischen Angaben sind etwa 61.000 ukrainische Soldaten gestorben, nach ukrainischen Angaben 13.000 (bis Dezember 2022). Die Zahlen lassen sich aufgrund der aktuellen Situation von unabhängiger Stelle derzeit nicht überprüften, doch wird eines ganz klar: Der Krieg fordert auf beiden Seiten unzählige Opfer und kennt keine Gewinner.

Prophetische Warnung

Tocotronics 13. Studioalbum Nie wieder Krieg, auf dem sich das gleichnamige Lied befindet, wurde nur einen knappen Monat vor Beginn des russischen Überfalls auf die Ukraine Ende Januar 2022 veröffentlicht und wirkt vor diesem Hintergrund wie eine prophetische Warnung. Doch geht es der Band weniger um die großen, weltpolitischen Auseinandersetzungen, sondern vielmehr um die Konflikte, die jeder Mensch mit sich auszustehen hat. „Es ist das persönlichste Album, das wir gemacht haben“, so Dirk von Lowtzow. Er habe sich gefragt, „Was will ich eigentlich mitteilen? Was sind das für Stimmungen, Heimsuchung und Dämonen, denen man ausgesetzt ist“?

Nie wieder Krieg scheint somit an die autobiographische Thematik des Vorgängeralbums Die Unendlichkeit anzudocken (vgl. die Besprechung von Electric Guitar auf diesem Blog). Nie wieder Krieg beinhalte „Lieder über allgemeine Verwundbarkeit, seelische Zerrissenheit und existenzielles Ausgeliefertsein“, so die Band in einem Statement zum Album.

Krieg im Inneren

Der Krieg im Inneren kann sich sowohl auf schlechte Angewohnheiten beziehen – Dirk von Lowtzow bezeichnete sich als „sehr alkoholgefährdet“ in der Vergangenheit –, das eigene Älterwerden – als „juvenile Band“ werden Tocotonic mitunter bezeichnet, oft versehen mit dem Hinweis, die ehemaligen Studenten hätten mittlerweile graue Haare (welch eine Erkenntnis!) – unbedarfte Kindheitsträume, die im Kontrast zur Realität der Erwachsenen-Welt stehen oder die Unzulänglichkeit der eigenen Existenz. Auch ein Bezug zur Bedrohung durch die Pandemie drängt sich auf, allerdings wurden die meisten Lieder des Albums Nie wieder Krieg bereits vor dem Jahr 2020 geschrieben. Auf Einsamkeit, die nicht nur, aber auch durch die Lockdowns während der Pandemie bedingt wurde, lässt sich das Lied Hoffnung, ebenfalls veröffentlicht auf dem Album Nie wieder Krieg, beziehen (vgl. die Interpretation auf diesem Blog).

Eine weitere Deutungsmöglichkeit – nicht jedoch autobiographisch auf Tocotronic zu beziehen – bietet sich, betrachtet man das Geschlecht der im Liedtext besungenen Person/en. Zunächst ist von einer männlichen Person die Rede („er“), später von einer weiblichen („sie“). Es erscheint plausibel, dass damit zwei verschiedene Personen gemeint sind. Denkbar ist jedoch auch, dass damit eine einzige nicht-binäre Person beschrieben wird, d.h. ein Mensch, dessen Geschlechtsidentität weder immer weiblich noch ganz männlich ist. Dagegen spricht, dass nicht-binäre Menschen es häufig vorziehen, ohne ein Pronomen angesprochen zu werden (und man davon ausgehen kann, dass Tocotronic dies berücksichtigt hätten). Allerdings existiert im Deutschen (noch) kein etabliertes Pronomen der dritten Person für Menschen, die sich weder dem einen noch dem anderen Geschlecht eindeutig und immer zugehörig fühlen (vgl. für eine Übersicht bspw. die Webseite nonbinary.ch). Die Interpretation, wonach hier eine einzige, nicht-binäre Person gemeint sein könnte, unterstreicht wiederum das Video. Zu sehen ist eine durch die Nacht wandelnde Person (oder sind es zwei?), deren Äußeres den Schluss nahelegt, sie könne eine genderqueere Identität haben. Hat diese mit einem Krieg in ihrem Inneren zu kämpfen? Ist sie auf der Suche nach sich selbst? Die Person „sieht an sich herab“ und steht sich schließlich „gegenüber“, während sie „in den Spiegel schreit: Nie wieder Krieg. […] Keine Verletzung mehr“. Möchte sie mit ihrem Empfinden ins Reine kommen, sich selbst akzeptieren?

Ein Album wie ein Roman

Tocotronic selbst sind der Auffassung, dass ihr neues Album Nie wieder Krieg auch als Roman oder als Film verstanden werden könne. Dies verwundert nicht, werden die Lieder der Band doch seit Jahren gerne im Rahmen des geisteswissenschaftlichen Diskurses besprochen. Das Album ließe sich als „Desillusionsroman“ verstehen, so Dirk von Lowtzow im Interview. „Weil alle Protagonist*innen auf dem Album mit ihrem eigenen Leben nicht so richtig fertig werden und vielleicht in existenziellen Notlagen oder mindestens einer existenziellen Verwundbarkeit stecken. Viele der Protagonist*innen in den Songs haben Träume gehabt, und diese Träume sind nach und nach zerronnen.“ Nie wieder Krieg sei daher weniger zu verstehen als „pazifistische Botschaft [denn] als eine Art Mantra, mit dem die Protagonistinnen und Protagonisten um Barmherzigkeit flehen“, so von Lowtzow im Gespräch. Nicht umsonst heißt es am Liedende: „Nie wieder Krieg in dir, in uns, in mir“.

Die geplatzten Träume und die Verwundbarkeit werden im Lied deutlich anhand von Gebeten, die nicht etwa Erlösung versprechen, sondern„zynisch bleiben“. Und auch der Ort, an dem sie gesprochen werden, bietet keine Geborgenheit, stattdessen „zieht es durch Kitt und Scheiben“. Überhaupt wohnt den im Lied erwähnten Orten und Zeiten ein Moment des Übergangs inne, der keinen Halt gewährt: Die besungene Person schreitet „durch das Drehkreuz“. Es ist „Neujahrstag“, an dem zwar „das Alte stirbt“, gleichzeitig aber „noch nichts geboren wird“, das Hoffnung und eine Perspektive spenden könnte. Ein Feuerwerk, sonst Symbol freudigen Neubeginns, wird nicht etwa bewusst abgeschossen, sondern hat „sich in die Luft verirrt“.

Gleichzeitig kommt die Ironie nicht zu kurz: Die besungene Person erhält Gesellschaft nur durch den „Mond“, während Erleichterung und Verzeihung lediglich das „Horoskop“ verspricht. Sie hat einen Coupon von Sanifair in der Hand, der Firma, die man von den Toilettenanlagen deutscher Autobahnraststätten kennt. Autobahnraststätten – sie stellen ebenfalls einen Ort des Übergangs und der Reise dar.

Zurück zum Parolen-Pop?

In den 1990er Jahren waren Tocotronic bekannt dafür, mit den Titeln ihrer Lieder gleichsam Parolen oder Slogans zu liefern, die sich auch als T-Shirt-Aufdruck gut machten (vgl. die Besprechung von Über Sex kann man nur auf Englisch singen oder Ich möchte Teil einer Jugendbewegung sein auf diesem Blog). Hieran scheint Nie wieder Krieg anzuknüpfen. Auf dem Album finden sich noch weitere politisch-klare Ansagen, die in den Namen von Liedern wie Jugend ohne Gott gegen Faschismus oder Komm mit in meine freie Welt zum Ausdruck kommen.

Forderung aus dem Jahr 1924

Nie wieder Krieg – diese Forderung prangte bereits auf einem Plakat aus dem Jahr 1924, das Käthe Kollwitz (1867-1945) entworfen hat. Die sozial und politisch engagierte Künstlerin hatte das Plakat für den Mitteldeutschen Jugendtag der Sozialistischen Arbeiterbewegung angefertigt. Hintergrund war das Gedenken an den 10. Jahrestag des Beginns des Ersten Weltkriegs, zu dem 1924 überall in Deutschland Massendemonstrationen stattfanden. Als historisches Vorbild mag der berühmte Plakataufdruck Tocotronic kaum gedient haben – schließlich ist von Seiten der Band, wie bereits erläutert, der Krieg im Inneren gemeint –, dennoch erweist sich ein Vergleich der historischen Situationen als interessant:

In der Weimarer Republik war die pazifistische Forderung Nie wieder Krieg keine Mehrheitsmeinung. Nur eine Minderheit der Deutschen engagierte sich aktiv dafür, auch die wenigsten ehemaligen Frontsoldaten. Vielmehr verzeichneten kriegsverherrlichende, paramilitärische Wehrverbände wie der „Stahlhelm: Bund der Frontsoldaten“ oder der „Deutsche Reichskriegerbund Kyffhäuser“ regen Zulauf. Dies ist heute nicht mehr der Fall, die Gesamtsituation auch kaum auf die deutsche Gegenwart übertragbar; schließlich leidet man nicht an der Schmach eines verlorenen Krieges, sondern überlegt, wie man einen Staat, der völkerrechtswidrig überfallen wurde, unterstützen kann. Es gibt somit ausreichend gute Gründe für Waffenlieferungen an die Ukraine – zu konstatieren ist, dass eine Mehrheit der Deutschen diese Unterstützung für angemessen oder sogar für noch nicht ausreichend hält. Dies belegen aktuelle Umfragen.

1924 Plakat vs. 2022 Musikvideo

Auch ein Vergleich des Plakates von 1924 und des Musikvideos von 2022 erscheint reizvoll:

Auf Käthe Kollwitz’ Plakat ist Dynamik erkennbar: Zu sehen ist eine Person (welchen Geschlechts sie ist, bleibt übrigens unklar), die entschlossen den Arm empor streckt. Die Finger sind zum Schwur geformt, die andere Hand liegt auf dem Herz, die Haare wehen nach hinten, der Gesichtsausdruck ist angespannt, der Mund geöffnet zum Eid: Nie wieder Krieg. Entschlossenheit und Leidenschaft werden deutlich.

Im Video zu Tocotronics Lied Nie wieder Krieg hingegen sieht man die oben bereits erwähnte Person scheinbar verloren durch die verschiedene Transiträume einer nächtlichen Großstadt irren. Sowohl die U-Bahn-Station als auch die mehrspurigen Straßen wirken ausgestorben, was die Einsamkeit der/des nächtlich Wandelnden unterstreicht. Diese/r knackt Nüsse mit der bloßen Hand, verletzt sich selbst, Blut fließt. Im Liedtext heißt es über die besungene Figur, sie „wirkt ziemlich abgeschabt“. Die Ästhetik des Videos unterstreicht den durch den Liedtext gewonnenen Eindruck, hier sei ein Mensch gänzlich unbehaust. Von der Entschiedenheit und Dynamik der Figur auf Käthe Kollwitz’ Plakat ist in Tocotronics Video wenig zu spüren. Schließlich ist der Gegner kein Fremder, sondern wohnt im eigenen Inneren.

Nie wieder Krieg – in seiner Klarheit und Kürze hat der Slogan an Aktualität nicht verloren und könnte auch heute noch, knapp hundert Jahre nach der Entstehung von Käthe Kollwitz’ Plakat, auf Transparenten bei Antikriegsdemonstrationen stehen. Auch wenn sich Tocotronics Nie wieder Krieg nicht auf den Krieg in der Ukraine bezieht, das Lied hören und von Frieden in Europa träumen, darf man freilich allemal.

Isabel Stanoschek, Bamberg

Der Proletarier fliehe das Strumpfband! Bertolt Brechts „Ballade vom Förster und der Gräfin“ (1949)

Bertolt Brecht

Ballade vom Förster und der Gräfin 

Es lebt eine Gräfin in schwedischem Land
Die war ja so schön und so bleich.
„Herr Förster, Herr Förster, mein Strumpfband ist los
Es ist los, es ist los.
Förster, knie nieder und bind es mir gleich!“
 
„Frau Gräfin, Frau Gräfin, seht so mich nicht an
Ich diene Euch ja für mein Brot.
Eure Brüste sind weiß, doch das Handbeil ist kalt
Es ist kalt, es ist kalt.
Süß ist die Liebe, doch bitter der Tod.“
 
Der Förster, er floh in der selbigen Nacht.
Er ritt bis hinab zu der See.
Herr Schiffer, Herr Schiffer, nimm mich auf in dein Boot
In dein Boot, in dein Boot
Schiffer, ich muß bis ans Ende der See.
 
Es war eine Lieb zwischen Füchsin und Hahn
„Oh, Goldener, liebst du mich auch?“
Und fein war der Abend, doch dann kam die Früh
Kam die Früh, kam die Früh:
All seine Federn, sie hängen im Strauch.

     [Bertolt Brecht: Große kommentierte Berliner und Frankfurter Ausgabe. Gedichte 5: Frankfurt a. M.: Suhrkamp, 1993, S. 209.]

Brechts Ballade vom Förster und der Gräfin hatte ihren ursprünglichen Platz in einem Theaterstück, nämlich in dem oft aufgeführten und beim Publikum wegen seiner deftigen Hauptfigur ausgesprochen beliebten Exildrama  Herr Puntila und sein Knecht Matti (1940, UA am Schauspielhaus Zürich 1948). Dieses Schauspiel, das auf humoristischen finnischen Vorlagen von Hella Wuolijoki fußt, hat eine komplizierte Entstehungsgeschichte, über die Jan Knopfs Brecht Handbuch (Band 1, Stücke, 2001, S. 440 ff.) detailliert Auskunft gibt. So erarbeitete Brecht im Laufe eines Jahrzehnts von 1940 bis 1950 für diverse Anlässe vier mehr oder weniger unterschiedliche Theater- bzw. Druckfassungen. Unser Lied entstand im Zuge dieser Entwicklung 1949 für die Ostberliner Premiere des Stücks am Berliner Ensemble und ersetzte von da an die Vorgängervariante, das Lied vom Wolf und vom Huhn.

Die Försterballade artikuliert am Schluss der opulenten 9. Szene des Stücks (scheiternde Verlobungsfeier mit sog. ,Ehe-Examen‘) ein kapitalismuskritisches Fazit, das Brecht dem Kommunisten Surkkala in den Mund legt: Arm und Reich, Herr und Knecht passen nicht zusammen. Selbst wenn es zwischen einzelnen Angehörigen der antagonistischen Sozialschichten im Ausnahmefall ein wenig ,menscheln‘ sollte, z.B. unter erhöhtem Alkohol- oder Hormoneinfluss, sei keine dauerhafte Versöhnung der Klassen denkbar.

Das Lied ist in der großen Berliner und Frankfurter Ausgabe der Brechtschen Werke zweimal abgedruckt – einmal im Rahmen des Puntila-Dramas, dann aber auch als Einzeltext im Bande der Gedichte und Gedichtfragmente 1940-1956, der hier zitiert wird. Paul Dessau hatte die Melodie des Lieds ursprünglich in enger Anlehnung an eine schottische Seeräuberballade (Henry Martin) für eine männliche Stimme komponiert. Inzwischen hat es sich freilich auch längst als Chanson verselbständigt und gehört zum Repertoire berühmter Brecht-Interpretinnen wie Meret Becker und Nina Hagen, deren großartige Performance in dem hier ausgewählten Video zu bewundern ist.

Die Försterballade besteht  aus vier weitgehend gleichgebauten Strophen zu je fünf Versen. Formal fallen dabei besonders die Endreime der Verse 2 und 5 auf sowie die dreifach wiederholten Phrasen in den jeweils dritten und vierten Versen der einzelnen Strophen. Auf kleinere Parallelen bzw. Unterschiede im Satzbau gehe ich jetzt nicht ein. Inhaltlich bilden die ersten drei Strophen eine Einheit, indem sie ein dramatisches Geschehen – teils erzählend, teils in wörtlicher Rede – wiedergeben, bei dem es offensichtlich um eine Liebe auf Leben und Tod geht. Literaturtheoretisch-generisch präsentiert uns Brecht hier eine ,Kunstballade‘ im engeren literaturwissenschaftlichen Sinne, d.h. ein singbares Erzählgedicht, das eine Handlung zu Schlüsselszenen verdichtet präsentiert, auf eine Pointe zuläuft und eine implizierte Botschaft bzw. ,Lehre‘ transportiert, die vom verständigen Leser selbständig zu erschließen ist.1 Der Erzähler siedelt die Geschichte in „schwedischem Land“ an; ob in Schweden selbst oder einem von schwedischen Truppen in Besitz genommenen Landstrich entzieht sich meiner Kenntnis. Immerhin verleiht die geographische Lokalisierung der Begebenheit eine gewisse Glaubwürdigkeit.

In der ersten Strophe macht eine schöne und vornehme2 Gräfin einem Förster, der, wie sich bald herausstellen wird, für sie arbeitet, erotische Avancen. Mit der Aufforderung, ihr Strumpfband zu binden, lädt sie ihn zum Eintritt in ihre Intimdistanz ein, zu der im nord- bzw. mitteleuropäischen Kulturkreis aber nur engste Bezugspersonen zugelassen sind. Besonders kritisch stellt sich eine solche ,Verletzung‘ der körperlichen Schutzzone dar, wenn die Beteiligten unterschiedlichen sozialen Ständen und Geschlechtern angehören. Würde sich in unserem Fall der Förster auf das Angebot seiner Arbeitgeberin einlassen und fände die Szene einen Beobachter, könnte das Abenteuer leicht tödlich für ihn ausgehen, zumal es für sie relativ leicht wäre, den Skandal von sich abzuwenden, indem sie ihn der Übergriffigkeit beschuldigte.   

Strophe zwei macht klar, dass dem Förster die Risiken eines ständeübergreifenden Techtelmechtels nur allzu klar sind. Der Hinweis auf das „Handbeil“ ist eindeutig: Vielleicht nimmt er damit Bezug auf das bekannte tragische Schicksal des Aufklärers Johann Friedrich Struensee, dem sein Verhältnis zur dänischen Königin 1772 den Richtblock eingetragen hat.3 Umgehend ergreift der Förster die Flucht, wovon die nächste, die dritte Strophe berichtet. Vorsichtig, wie er ist, verdrückt er sich – offenbar den Zorn der verschmähten Gräfin fürchtend – nicht bloß in ein Nachbardorf, sondern legt so viel Wasser zwischen sich und das vermaledeite Strumpfband, wie es nur eben geht.  Diese Vorsicht scheint durchaus gerechtfertigt, sintemal der Trojanische Krieg – so berichtet es wenigstens Victor Hugo – wegen nichts anderem als Helenas Strumpfband, einer modischen Weiterentwicklung des Gürtels der Aphrodite (στρόφιον), entbrannt ist …

Damit wäre die Balladen-Erzählung komplett, die Flucht des Försters könnte als Pointe durchgewinkt werden und eine Lehre, wenn auch keine besonders überraschende, wäre aus ihr auch abzuleiten: dass es nämlich eher nicht ratsam ist, bei der Partnerwahl die Grenzen des eigenen Standes zu überschreiten. Im feudalistischen Kontext konnte eine Verletzung dieser Regel mitunter lebensgefährlich sein, aber der dramatische Kontext des Puntila suggeriert die Gültigkeit besagter Weisheit auch noch für den Kapitalismus. Bevor wir hierüber ins Grübeln kommen, uns womöglich an das große Versprechen des American Dream und Filme wie Pretty Woman oder Forrest Gump erinnern, schieben Brecht bzw. Surkkala noch schnell eine Liedstrophe nach, die nun keine Ballade mehr ist, sondern eine Fabel und ihre Moral demzufolge auch nicht verrätselt, sondern ziemlich platt expliziert: Die Füchsin umschmeichelt den arglosen Gockel, um ihn aufzufressen. Damit sind innerfiktional alle Unklarheiten beseitigt;  die ,Sägemehlprinzessin‘4 hat die von ihrem Vater gewünschte Verlobung mit Matti schon vorher abgesagt. Nach dem Lied verabschiedet sich auch Urviech Puntila von seiner fixen Idee einer klassenübergreifenden Verbindung und sein Chauffeur tanzt mit dem Stubenmädchen Fina aus dem Bild.

Unzufrieden bleiben allenfalls Zuschauer wie ich, denen es mit der kapitalismuskritischen Indoktrination einfach ein bisschen zu wild wird: Man hat ja kapiert und akzeptiert, dass das Stück eine kapitalismuskritische Aussage unters Volk bringen will. Es ist einfach genug gebaut und hinreichend klar strukturiert, damit ein Publikum bei leidlichem Verstand dieses Anliegen nachvollziehen kann. Mit dem guten Willen, den man als Theaterbesucher ja immer mitbringen muss, sieht man auch noch ein, dass Brecht für spezielle Teile des Publikums, die gerade ein Nickerchen gemacht haben, oder aber – ganz im Gegenteil – hellwach und argwöhnisch als Spitzel der Kulturbürokratie auf ideologische Missgriffe lauern, noch schnell eine Ballade einschiebt, um auf Nummer Sicher zu gehen. Aber – um Himmels willen! – warum lässt er’s damit nicht genug sein, sondern setzt noch mal eine Fabel mit derselben Botschaft obendrauf? Will er so demonstrieren, für wie begriffsstutzig oder literaturfremd er sein Publikum hält, speziell jenes, das sich 1949 zur Premierenfeier des Berliner Ensembles zusammenfinden würde?

Ich weiß es nicht. Und je länger ich über den Fall nachsinne, umso mehr Details stoßen mir auf, die unlogisch scheinen und sich mit der Ideologie des Stückes nicht so recht vertragen wollen: Warum, um nur ein Beispiel zu nennen, wird im sog. Eheexamen die Tochter des Gutsbesitzers daraufhin geprüft, ob sie eine ordentliche Proletariersgattin abgeben könnte, und nicht Matti, ob er sich gegebenenfalls in die Rolle eines reichen Mannes schicken könnte? Denn genau letzteres steht doch zur Debatte: Als Evas Mann würde er zum Großgrundbesitzer aufsteigen und seine Gattin bräuchte weder Socken zu stopfen noch sich den Kopf darüber zu zerbrechen, wie oft der Mensch hintereinander Hering verträgt. Beim umgekehrten und d.h. in diesem Fall angemessenen Eheexamen würde sich vermutlich schnell zeigen, dass Matti keine großen Schwierigkeiten damit hätte, den reichen Herrn zu geben, und auch seine vorgeblich ach so strenge Mutter würde, so jedenfalls meine Prognose, sich mit hoher Wahrscheinlichkeit fix ans Wohlleben gewöhnen, den einen oder anderen Gänsebraten nicht verschmähen und die Wäsche vom Personal besorgen lassen. Andererseits hätte der gelernte Chauffeur erst noch zu beweisen, ob er einen größeren Betrieb organisieren und beim Holzhandel ordentliche Preise herausschlagen könnte …

Verlassen wir aber diesen Gedankengang, der zum Verständnis unserer Försterballade nichts beiträgt, die im Kontext des Puntila vielleicht die eine oder andere Irritation auslöst, als Chanson aber unsere Bewunderung verdient!

Hans-Peter Ecker, Bamberg

Fußnoten:

1) Vgl. Hartmut Laufhütte, 1979.

2) Vgl. ihr ,adelige Blässe‘.

3) Brecht war Struensees Biographie höchstwahrscheinlich aus Theaterstücken und Filmen vertraut.

4) Titel eines Lustspiels von Hella Wuolijoki, das Brecht als Vorlage diente.

Literatur:

Brecht Handbuch in fünf Bänden. Hrsg. von Jan Knopf. Band 1, Stücke. Stuttgart und Weimar: Metzler, 2001.

Hans-Peter Ecker: Dreifaches Bekenntnis […]. In: „… vollens ganz zum Bolschewisten geworden …“? Die Räterepublik 1919 in der Wahrnehmung Bertolt Brechts. Ausstellungskatalog. Hrsg. von Jürgen Hillesheim und Karl-Georg Pfändtner. Augsburg: Wißner, 2019, S. 142 f.

Edward T. Hall: The Hidden Dimension. New York: Garden City, 1966.

Hartmut Laufhütte: Die deutsche Kunstballade. Grundlegung einer Gattungsgeschichte. Heidelberg: Winter, 1979.

Joachim Lucchesi und Ronald K. Shull: Musik bei Brecht: Frankfurt a. M.: Suhrkamp, 1988.

„Zogen einst fünf wilde Schwäne“ – ein frühes Antikriegslied

Anonym (Übersetzung: Karl Plenzat)

Zogen einst fünf wilde Schwäne

Zogen einst fünf wilde Schwäne,
Schwäne leuchtend weiß und schön.
Sing, sing, was geschah?
Keiner ward mehr gesehen. Ja!

Wuchsen einst fünf junge Birken
schön und schlank am Bachesrand.
Sing, sing, was geschah?
Keine in Blüten stand. Ja!

Zogen einst fünf junge Burschen
stolz und kühn zum Kampf hinaus.
Sing, sing, was geschah?
Keiner kehrt nach Haus. Ja!

Wuchsen einst fünf junge Mädchen
schön und schlank am Memelstrand.
Sing, sing, was geschah?
Keins den Brautkranz wand. Ja!

Das ursprünglich litauische Lied, das ein unbekannter Verfasser um 1850 auf eine Volksweise dichtete, war auch im masurischen Ostpreußen bekannt. 1917 wurde Zogen einst fünf wilde Schwäne von dem Pädagogen Karl Plenzat und späteren Professor für Volkskunde an der Universität Königsberg übersetzt. Die Veröffentlichung in seiner Sammlung Der Liederschrein – 110 deutsche, litauische und masurische Lieder 1918 und die Aufnahme in zahlreiche Liederbücher der Jugendbewegung, darunter vor allem Fritz Sotkes Unsere Lieder (1922 bereits in der dritten Auflage) verbreitete das Lied in ganz Deutschland. Dazu mag nach dem verlorenen Ersten Weltkrieg die pazifistische Stimmung des Liedes und der Kriegsverdruss großer Teile der Bevölkerung beigetragen haben.

Hört man oberflächlich das Lied zum ersten Mal, könnte man nach den beiden ersten Zeilen meinen, es handele sich um eine spätromantische Naturbeschreibung. Da wird von dahinziehenden Schwänen berichtet, also von Zugvögeln, die im Herbst gen Süden ziehen und im Frühling zurückkehren. Aber und das ist entscheidend, die Schwäne ziehen nicht dahin, sie sind gezogen, und von einer Rückkehr ist nicht die Rede. Daher fragt die dritte Zeile nach: „Sing, sing, was geschah?“, worauf die vierte Zeile dann die traurige Antwort gibt: „Keiner ward mehr gesehen“.

Nun sind wir für die zweite Strophe vorgewarnt. Wir trauen der Idylle „Wuchsen einst fünf junge Birken schön und schlank am Bachesrand“ nicht und müssen dann auf die Frage nach dem, was geschehen ist, auch erfahren, dass keine der jungen Birken je „in Blüten stand“.

Auch ohne die endgültige Aufklärung in der dritten und vierten Strophe wissen wir, dass seit der griechischen Antike der Schwan auch ein Symboltier für einen jungen schmucken Mann ist (vgl. Leda und der Schwan). Auch „der berühmte ,Schwanengesang´ geht auf die schon bei Aischylos […] erwähnte prophetische Gabe des Apollo-Vogels zurück, der von seinem nahen Tod weiß und […] Klagelaute hören lässt“ (aus dem Skript des Probst-Effah-Seminars Deutsche Lieder des 20. Jahrhunderts, Wintersemester 2008/2009, Universität Köln).

Weiß („Schwäne leuchtend weiß und schön“) ist die Farbe der Unschuld, der Reinheit, rein und unschuldig im Sinne: frei von bösem Tun. Die Birken mit ihren hellgrünen Blättern und dem weißen Stamm symbolisieren Lebensfreude, den Frühling, die Jugend. Noch heute werden im Mai in einigen ländlichen Gegenden Deutschlands Birkenzweige als Zeichen der Zuneigung jungen Mädchen ans Fenster oder an die Türe gesteckt (vgl. „Ich geh, ein Mai zu hauen“, Zeile 1 der 2. Strophe aus Der Winter ist vergangen).

Erfahren wir in den beiden ersten Strophen zunächst nur die Folgen eines Ereignisses, geben erst die dritte und vierte Strophe Aufschluss darüber, was geschehen ist. Zugleich wird endgültig klar: bei den Schwänen und Birken handelt es sich um Metaphern für „junge Burschen“ und „junge Mädchen“. Kriegsbegeistert zogen die Burschen „stolz und kühn zum Kampf hinaus“ Sie waren zuversichtlich, dass sie bald nach Haus zurückkehren und dann ihre Liebste heiraten würden. Nun aber kehrt keiner von ihnen aus dem Krieg zurück. Und die jungen Mädchen, die einst „schlank und schön am Memelstrand“ (ein Hinweis auf die Entstehung im Litauischen) standen, müssen nun ihren Freunden oder Verlobten nachtrauern. Und keine von ihnen wird je den „Brautkranz“ winden.

Als Leser/Hörer des Liedes fragt man sich, wieso es sich um fünf Burschen handelt. Die 5 steht in der ersten und dritten Strophe stellvertretend für viele junge Männer, die in den Krieg zogen und wie es in späteren Mitteilungen an die Angehörigen heißt: „Gefallen für Volk und Vaterland“. Aber wieso 5? Als eine Erklärung könnte in Betracht kommen, dass, da das Lied in einer ländlichen Gegend entstand („am Memelstrand“), der Dichter fünf junge Burschen eines Dorfes meinte, die in ihrem Dorf oder einem anderen benachbarten Flecken ihre Liebste hatten. Die 5 könnte aber auch auf die fünf Sinne des Menschen deuten, die mit dem Tod der Burschen erloschen sind. Adäquat zu den fünf Schwänen bzw. Burschen steht die 5 in der zweiten und vierten Strophe für die fünf Birken bzw. Mädchen. Letztlich bleibt offen, aus welchem Grund der Dichter die Zahl 5 gewählt hat.

Dieses ‚Schwanenlied‘ ist bis heute beliebt geblieben. Bemerkenswert ist, dass es in den beiden ersten Jahren des Naziregimes Eingang in viele NS-Liederbücher fand, so z.B. in das auflagenstarke, vom Reichsjugendführer Baldur von Schirach herausgegebene, Hitlerjugend-Liederbuch Uns geht die Sonne nicht unter und in viele Schulbücher. Im Liederbuch des Bundes deutscher Mädel sind allerdings nur die beiden ersten Strophen zu finden, im Liederbuch der NS-Frauenschaft fehlte die vierte Strophe. Ab 1935 allerdings verbannten die Nationalsozialisten das Lied nahezu vollständig aus dem gedruckten Liedrepertoire.

Unabhängig davon war auch nach dem Zweiten Weltkrieg die Popularität des Liedes ungebrochen, vor allem in Vertriebenen- oder Flüchtlingskreisen, wo es bei Heimatreffen und vor allem bei Ostpreußenabenden gesungen wurde. Zur Erinnerungskultur gehören etliche Buchtitel mit dem Incipit Zogen einst fünf wilde Schwäne.  

Das Lied fand auch Aufnahme in zahlreiche Liederbücher der DDR, speziell der Freien Deutschen Jugend (FDJ) und in sogar in einige Liedersammlungen in Österreich.

Als Antikriegslied wurde es Ende der 1970er Jahre zur Zeit der Proteste gegen den „Atomtod“ und der Friedensbewegung gern gesungen und von den Alben des Folkduos Zupfgeigenhansel, von Hannes Wader und den Barden Hein und Oss Kröher gern gehört.

Geht man von der Anzahl der Partituren im Katalog des Deutschen Musikarchivs Leipzig aus, haben es viele deutsche Chöre in ihrem Repertoire, z.B. der Dresdner Kreuzchor, die Regensburger  Domspatzen und die Gotthilf-Fischer-Chöre, um nur die berühmtesten zu nennen. Verbreitet ist es in allen Bevölkerungskreisen, wie die Aufnahme in bemerkenswert viele Liederbücher nicht nur der

Nachfolgeorganisationen der Jugendbewegung, sondern auch konfessioneller und politischer, Wander- und Folklore-Kreise zeigt. Allein 1980 bis 1999 kamen über 50 Liederbücher mit Zogen einst fünf wilde Schwäne heraus. Die letzten mir bekannten Ausgaben waren 2013 das Wandervogel-Liederbuch und das Liederbuch des Freien Begegnungsschachts.* Unverständlich ist mir, dass in der über 750 Volkslieder umfassenden Sammlung von Thero und Sunhit Mang Der Liederquell (über 1.300 Seiten) Zogen einst fünf wilde Schwäne nicht enthalten ist.

Georg Nagel, Hamburg

*Der FBS ist ein Zusammenschluss von reisenden und einheimischen Handwerksgesellen mit abgeschlossener Gesellenausbildung in einem traditionellen Handwerksberuf.

Als man in der Schule noch was fürs Leben lernen konnte. „En d’r Kayjass Nummer Null“ von den Drei Laachduve (1938), den Vier Botze (1945) und anderen

Drei Laachduve

En d`r Kayjass Nr. 0

En d'r Kayjass Nummer Null 
steiht en steinahl Schull
un do hammer dren studeet.
Unser Lehrer, dä hieß Welsch, 
sproch en unverfälschtes Kölsch
un do hammer bei jelihrt.
Un da hammer hin un her üvverlaat
un han für dä Lehrer jesaht:

Nä, nä dat wesse mer nit mih, 
janz bestemp nit mih
un dat hammer nit studeet.
Denn mer wore beim Lehrer Welsch en d'r Klass
un do hammer sujet nit jelihrt.
Ävver, ävver, ävver dreimol Null es Null, es Null,
denn mer woren en d'r Kayjass en d'r Schull;
dreimol Null es Null, es Null,
denn mer woren en d'r Kayjass en d'r Schull. 

Es en Schiev kapott, es ene Müllemmer fott,
hät d'r Hungk am Stätz en Dos':
Kütt dä Schutzmann anjerannt,
hät uns Pänz dann usjeschannt, -
saht: Wat maat ihr zwei dann blos!
Un da hammer hin un her üvverlaat
un han för dä Schutzmann jesaht:
 
Nä, nä dat wesse mer nit mih...
Ävver, ävver, ävver dreimol Null es Null, es Null [...]

Neulich krät uns en d'r Jass 
die Frau Käzmann beim Fraaß, -
saht: Wo wollt ihr zwei dann hin?
Uns Marieche sitz zo Hus, 
weiss nit en un weiss nit us:
Einer muss d'r Vatter sin!
Un da hammer hin un her üvverlaat
un han för die Käzmanns jesaht:

Nä, nä dat wesse mer nit mih [...]
Ävver, ävver, ävver dreimol Null es Null, es Null [...]

     [Quelle: www.griechenmarkt.de [1]; im obigen Video singt und agiert der Kinderchor der Hasenschule; vgl. www.hasenschule.de.]

Viele ältere Kölner Karnevalslieder leben davon, dass sie opulente, gerne nostalgisch verklärte Genreszenen aus dem prallen Volksleben guter alter Zeiten darstellen oder im unerschöpflichen Schatz lokaler Anekdötchen,  Skandälchen und sonstiger Begebenheiten graben, um das kollektive Gedächtnis der Domstädter auf eine ganz ureigene Weise zu bereichern. Manchmal entwickeln solche Lieder eine besondere Brisanz, wenn sie vom Jeckenvolk mit speziellen Kontexten in Verbindung gebracht werden. All das trifft auf das Vorkriegslied von der ,steinahl Schull en d’r Kayjass‘ mit ihrem Lehrer Welsch zu, weshalb es auch immer wieder gecovert worden und über Generationen hinweg lebendig geblieben ist.

Worum geht’s?

Die Sprecherinstanz bilden zwei (in anderen Textversionen sechs) männliche Absolventen einer (nicht zuletzt wegen dieses Liedes) berühmten Kölschen Lehr- und Erziehungsanstalt, an der ein Lehrer namens Welsch tätig gewesen sein soll. Dass der Liedtext hier die historische Realität ein wenig verbiegt, ist allgemein bekannt und wird später noch genauer erklärt. Unsere ,Kadetten‘ geben einige Episoden aus ihrer Biographie zum Besten, wobei der große Bogen ihrer Erzählung darin besteht, dass sie sich in der Schule habituell daran gewöhnt haben, sich generell dumm zu stellen, was ihnen dann im ,richtigen Leben‘ immer wieder zugutekommt. Dieses Prinzip funktioniert schon bei den Kindern („Pänz“) gegenüber dem „Schutzmann“, der ihren Lausbubenstreichen[2] auf die Schliche zu kommen versucht, und bewährt sich auch später in einer wesentlich heikleren Angelegenheit, als es um die Frage geht, wer Käzmanns Mariechen geschwängert haben könnte.

Jedes Mal zelebrieren die Schlitzohren ihr vorgebliches Nichtwissen nach einem gleichen Ritual: Demonstrativ langsam überlegen sie zunächst einmal „hin un[d] her“. Man sieht förmlich, wie ihnen von der Anstrengung des Nachdenkens die Schweißtropfen auf die Stirn treten, und ist von ihrem guten Willen, bei der Wahrheitsfindung mitzuhelfen, überzeugt. Niemand würde ihnen mangelnde Kooperationsbereitschaft unterstellen, bis schließlich das Geständnis des Nichtwissens befreiend aus ihnen hervorbricht: „Nä, nä dat wesse mer nit …“. Hier verändert sich der ganze Gestus des Gesangs und die Begründung für das fehlende Wissen erfolgt schon fast triumphierend: Man sei schließlich in der Kaygasse zur Schule gegangen und habe beim Lehrer Welsch studiert. Damit sei doch alles klar!

Der vordergründige Hintergrund

Ein Teil des ,Witzes‘ dieses Schlagers, der übrigens im Dezember 1938 von den Drei Laachduve[3] aufgenommen worden und 1945 durch die Coverversion der Vier Botze[4] zu breiter Popularität gelangt ist, erklärt sich nur Kölnern bzw. Kennern der lokalgeschichtlichen Bezüge. An der Ecke Kaygasse/Großer Griechenmarkt gab es zwischen 1891 und 1939 eine Sonderschule. Wenn deren Ehemalige ihre Unwissenheit, in welcher Sache auch immer, verkündet hätten, dürfte das den Vorurteilen ihrer Mitbürger einigermaßen entsprochen haben. Zusätzlich berufen sich die Schlitzohren unseres Liedes auf einen Lehrer Welsch, dem ebenfalls eine historische Figur zugrunde liegt. Heinrich Welsch (geb. 1848 in Arzdorf, Landkreis Bonn, gest. 1935 in Köln) war ein ausgesprochen verdienstvoller Pädagoge, der seine lokale Berühmtheit mitnichten einem besonders schlechten Unterricht zu verdanken hat, sondern seinem durchaus erfolgreichen Engagement für benachteiligte Arbeiterkinder und sog. ,gefallene Mädchen‘. 1905 gründete Welsch im rechtsrheinischen Industrievorort Kalk eine Hilfsschule, der er bis zu seinem Ausscheiden aus dem Schuldienst noch vor dem Ende des Ersten Weltkriegs als Rektor vorstand. Mit der Sonderschule in der Kaygasse[5] hatte Welsch zwar nie zu tun, aber vom Milieu her, in dem sich sein Wirken abspielte, spricht nichts gegen seine fiktionale Versetzung ins zentrumsnähere Griechenmarktviertel.

An der Stelle der im 2. Weltkrieg zerstörten Sonderschule hängt heute eine Gedenktafel für die „steinahl Schull“ des Karnevalsliedes und ihren mathematischen Kernsatz. Der großartige Lehrer Welsch hat sein Ehrengrab hingegen, dem realweltlichen Sachverhalt entsprechend, auf dem Kalker Friedhof gefunden – der gewissermaßen schon in Sibirien liegt, zumindest wenn wir den topographischen Vorstellungen des alten Römers Konrad Adenauer folgen wollen, was im Karneval schon einmal erlaubt sein sollte.[6]

Eine vordergründige Irritation, die sich aber vor dem hintergründigen Hintergrund auflösen lässt

Bei meiner ersten Begegnung mit diesem Lied habe ich mich – selber jahrzehntelang beruflich der Paukerei verbunden – zunächst darüber gefreut, dass man hier einem verdienten Lehrkörper ein karnevalistisches Denkmal gesetzt hat. Beim genaueren Studium des Textes beschlich mich dann aber schnell das ungute Gefühl, dass der Lehrer Welsch über dieses Monument seines Wirkens nicht besonders glücklich gewesen wäre, bescheinigt es doch der Welt, dass aus seiner Lehranstalt rechte Taugenichtse hervorgegangen seien, humane Nullen sozusagen, die nichts anderes im Sinn gehabt hätten, als ihre Mitmenschen zu plagen, Tiere zu quälen und die Zahl ,gefallener Mädchen‘ zu vergrößern, deren Rehabilitation sich ihr philanthropischer Lehrer doch gerade auf sein Banner geschrieben hatte.

Dass solch eine Geschichte in karnevalistischen Kontexten ,funktionieren‘ konnte, war mir leicht vorstellbar, verbinden doch viele Zeitgenossen ihre Erinnerungen an schulische Verhörsituationen mit unguten Gefühlen[7] und könnten es demzufolge durchaus genießen, im Kollektiv ihr pauschales Nichtwissen triumphal in die Welt hinauszuposaunen. Und selbst gute Schüler ohne einschlägige Posttraumata könnten bei närrischen Gelegenheiten und unter zusätzlichem Einfluss einiger Kölsch dazu gebracht werden, vorübergehend in die Identität eines Lümmels der letzten Bank zu schlüpfen und fröhlich zu behaupten, dass sie nichts anderes in ihrem Kopf hätten als die mathematische Weisheit, dass dreimal Null nie mehr als Null ergibt, so oft man auch nachrechnet. Soweit reichte also meine Phantasie. Aber dass ein heiteres Karnevalslied Sympathie für Schlitzohren bekunden sollte, die sich vor der Verantwortung für eine Vaterschaft drücken und ein armes Mädchen mehr oder minder hämisch sitzen lassen, und dass besagtes Lied dann noch über Jahrzehnte hinweg von den ,Großen‘ der Kölner Musikszene gecovert und populär bleiben konnte, das irritierte mich schon!

Ich denke, dass diese Irritation sich auflösen lässt, wenn man die zeitlichen Kontexte der frühen Veröffentlichungen – 1938 und 1945 – mitbedenkt und dann den Text des Liedes um Botschaften erweitert, die für ein wachsames Publikum  ,zwischen den Zeilen‘ zu erahnen sind.  Dass karnevalistische Verlautbarungen – sei es in der Form von Büttenreden, Kostümierungen, Dekorationen oder auch Liedern – in der Vor- und Nachkriegszeit auf Zuschauer und Zuhörer gestoßen sind, die es gewohnt waren, Zwischentöne, Andeutungen und Sinnbrüche zu erkennen und entsprechend zu deuten, darf m.E. vorausgesetzt werden.

Dass sich die Schlitzohren von der Kayjass-Schull 1938 jeglicher Befragung durch Autoritäten entziehen, indem sie sich habituell und pauschal hinter einem vorgeblichen Nichtwissen verschanzen, kann (muss?) in der Vorkriegszeit als grundsätzliche System-Verweigerung, als passiver Widerstand verstanden werden. In diesem Kontext rückt auch die anscheinend schäbige Verleugnung der eigenen Vaterschaft in ein anderes Licht und erscheint als Absage an die nationalsozialistische Familienideologie. Das (proletarische) Sprecherkollektiv, das sich den ,Anmutungen‘ der damaligen Gesellschaft verweigert, liefert so ein Gegenbild zum staatskonformen Verhalten der Organisatoren und Aktivisten des Kölner Karnevals, die sich 1938 – jedenfalls mit übergroßer Mehrheit – den Forderungen des staatlichen Propagandaapparats unterworfen hatten.[8]

1945 stellte sich der gesellschaftspolitische Kontext plötzlich ganz anders da. Wer jetzt behauptet hätte, von nichts nix zu wissen, hatte vermutlich einiges zu verbergen, was unter den neuen Machtverhältnissen gar nicht gut angekommen wäre. Damit haben sich, ohne dass dafür auch nur ein Buchstabe im Text des Liedes verändert werden musste, die Kayjass-Absolventen – 1938 noch Widerständler und Systemverweigerer – im Laufe kürzester Zeit in ehemalige Mitläufer der Naziherrschaft verwandelt, die im Lied der Vier Botze satirisch bloßgestellt werden. Inwieweit spätere Coverversionen, zum Beispiel von den Bläck Fööss (1973) oder den Höhnern (1979), ebenfalls auf spezielle zeitgenössische Konstellationen angespielt haben könnten, entzieht sich meiner Kenntnis.

Nachklapp a: Der Lehrer-Welsch Sprachpreis

Unser Karnevalslied preist den Lehrer Welsch ausdrücklich dafür, dass er ein „unverfälschtes Kölsch“ gesprochen habe. Daran anknüpfend verleiht seit 2004 die Kölner Sektion des ,Vereins Deutsche Sprache‘ einen ihm gewidmeten Preis. Erster Preisträger war Alexander von Chiari, der seinerzeitige Leiter des Rosenmontagszuges, der damals das englische Wort „Kids“ im Motto des Zuges durch die niederrheinische, aber auch im Hunsrück und Ruhrpott gebräuchliche  Entsprechung „Pänz“ (von lat. „pantex“, = Wanst, dicker Bauch; ursprünglich mit negativem Beiklang für gierige, unleidliche Kinder) ersetzt hatte.

Nachklapp b: Die KHS Großer Griechenmarkt

Wie oben schon beiläufig erwähnt pflegt die heutige Katholische Hauptschule am Großen Griechenmarkt in Köln liebevoll das Andenken an Heinrich Welsch und ,sein‘ Lied. Ich kenne weder die Schule noch ihre Lehrkräfte und auch niemanden von der Schülerschaft. Aber auf ihrer Homepage habe ich mir ihr Schullied angesehen, das als Gemeinschaftsprodukt von Dietmar Kolvenbach, eines Musiklehrers, der Bläck Fööss und von Hans Knipp[9] entstanden ist. Darin wird freimütig eingeräumt, dass der Alltag einer Hauptschule nicht immer einfach ist, aber dass die Menschen, die sich dort Tag für Tag einfinden, froh und stolz darauf sind, einen Ort zu haben, wo sie ein Stück weit zu Hause sind. Das klingt doch nach dem echten Lehrer Welsch und imponiert mir sehr!

Nachklapp c: Albträume

Seit ich am Beitrag zu diesem Karnevalslied arbeite, sucht mich jede Nacht der gleiche Albtraum heim: Ich verfolge am Fernseher eine Bundestagssitzung. Zuerst fokussiert die Kamera einen Mann am Rednerpult, der dies & das sagt, woran ich mich nicht erinnern kann. Aber dann fragt er mit viel Pathos: „Meine Damen und Herren, bitte sagen Sie mir doch endlich einmal klipp und klar, ob die Maskenpflicht der Volksgesundheit langfristig nutzt oder schadet!“ In diesem Moment schwenkt die Kamera auf die Regierungsbank, wo Kanzler und Kabinettsmitglieder mit ernster Miene ihre Häupter wiegen. Ein neuerlicher Kameraschwenk rückt die voll besetzten Ränge der Abgeordneten ins Bild, die wie auf Kommando zu schunkeln beginnen und fröhlich singen:

Nä, nä dat wesse mer nit mih,
janz bestemp nit mih
un dat hammer nit studeet.
Denn mer wore beim Lehrer Welsch en d’r Klass
un do hammer sujet nit jelihrt.
Ävver, ävver, ävver dreimol Null es Null, es Null,
denn mer woren en d’r Kayjass en d’r Schull;
dreimol Null es Null, es Null,
denn mer woren en d’r Kayjass en d’r Schull.

 Hans-Peter Ecker, Bamberg

Literatur:

Viele einschlägige Wikipedia-Artikel und sonstige Internetseiten zum Lied, den darin erwähnten Lokalitäten, Institutionen und historischen Sachverhalten sowie seinen diversen Interpreten.


[1] Wer eine Übersetzung braucht, findet sie unter lyricstranslate.com. Das Lied ist im Laufe der Zeit von vielen Musikgruppen gecovert worden, insofern existiert eine beachtliche Menge dialektaler Varianten. Ich habe mich weitgehend dem Wortlaut bzw. den Schreibweisen angeschlossen, die auf der homepage der KHS Großer Griechenmarkt abgedruckt sind, wobei ich mir dachte, dass die Leute dort an diesem Lied einfach ,am dichtesten dran‘ sind – sowohl räumlich als auch lebensweltlich.

[2] Wer hat die Fensterscheibe einschlagen? Wer hat die Mülltonne versteckt? Wer hat dem Hund die Dose an den Schwanz gebunden?

[3] ,Die drei Lachtauben‘. Diese Straßensängertruppe bestand aus dem Texter unseres Songs, Will Herkenrath, Hermann Kläser (Komposition) und Heinz Jung.

[4] ,Die vier Hosen‘ (Auftritte zwischen 1933 und 1961), Gründungsmitglieder: Hans Süper senior, Hans Philipp „Fibbes“ Herrig, Gerhard „Grätes“ Böckem und Ferdinand „Fänand“ Vossenberg. Nach dem Krieg machte Süper die Formation mit Richard Engel, Jakob Ernst und Hans Philipp Herrig richtig erfolgreich.

[5] Zu deren Adresse(n) übrigens – an einem Seiteneingang – die Hausnummer „Kaygasse 1“ gehörte und nicht die „Null“, die sich aber eindeutig besser auf „Schull“ reimt und außerdem zur vorgeblich dort gelehrten und verinnerlichten Lebensweisheit passt:  „dreimol Null es Null, es Null“ …

[6] Vgl. Konrad Beikircher: Das Kabarett in NRW. In: Musenblätter (Abruf am 1.2.2022).

[7] Vgl. zu diesem Thema auch Fredl Fesls Lied Schulmeisterei.

[8] Die sog. ,Kölner Narrenrevolte‘ von 1935 gegen die Gleichschaltung, in ihrer politischen Zielsetzung ohnehin ein sehr bescheidenes Unterfangen, war 1938 schon sprichwörtlich Schnee von gestern.

[9] Berühmter Kölner Komponist und Mundartdichter, vgl. z.B. hier im Blog von ihm das Lied Mer losse d’r Dom en Kölle.