Liebeserklärung an die Neue Frau: Zu Claire Waldoffs „O wie praktisch (ist die Berlinerin)“ (1926)
8. Mai 2023 1 Kommentar
Claire Waldoff (Text: Friedrich Hollaender) O wie praktisch (ist die Berlinerin) Es stöhnt das aufgeklärte Mädchen, Sie muss sich irgendwie betätgen. Sie hat so furchtbar viel Talente, Mit denen sie möchte, mit denen sie könnte. Sie macht aus Lampenschirmen Hüte, Badetrikots aus einer Tüte, Aus einer Hängematte, nein, wie gescheit, Schneidert sie sich ihr Abendkleid. O wie praktisch, o wie praktisch ist die Berlinerin! Heut ist schon jeder Backfisch eine Verdienerin. Ob sie kocht, ob sie küsst, ob sie Kinder wiegt; Ob sie tanzt, ob sie tippt, ob sie mensendiekt - O wie praktisch, o wie praktisch ist die Berlinerin! Willst du so eine Schlaue küssen, Muss sie erst deinen Namen wissen. 's ist nur von wegen Alimente, Was nützen in dem Fall Talente? Doch leugnest du den Kindersegen, Ist sie noch lange nicht verlegen, Denn sie hat oft, ganz ohne Spaß, Für den Fall in Reserve noch drei Papas. O wie praktisch […] Nimmst du sie schließlich gar zur Ehe, Gib acht, dass da kein Leid geschehe. Sei häuslich, wenn es dir auch schwerfällt, Damit die Verwandtschaft nicht über dich herfällt, Sonst kommst du eines Tags nach Hause Und siehst: Da sitzt zu deinem Grause Ein fremder junger Mann, Raucht deine Zigarren und hat deinen Schlafrock an. O wie praktisch […] [Claire Waldoff: Wie wohl ist mir am Wochenend / O wie praktisch. Elektrola 1926.]
Entstanden in der Blütezeit der Weimarer Republik, erscheint Claire Waldoffs Chanson O wie praktisch wie eine Liebeserklärung an die Neue Frau. Der Begriff der Neuen Frau wird zumeist synonym für das Frauenbild der 1920er Jahre gebraucht. Aufgenommen in Berlin im November 1926, lautete der ursprüngliche Titel des Liedes Die praktische Berlinerin – und sie ist es auch, die hier im Mittelpunkt steht.
Und diese Frau kann fast alles: „Ob sie kocht, ob sie küsst, ob sie Kinder wiegt / Ob sie tanzt, ob sie tippt, ob sie mensendiekt“, heißt es über die Berlinerin mit den zahlreichen Talenten und Betätigungsfeldern. Sie ist Hausfrau und Mutter, berufstätig, sportlich, attraktiv und im Nachtleben aktiv. Das Lied sei eine „Hommage an die Berlinerin“ heißt es in Robert Nippoldts und Boris Pofallas Buch über das Berlin der wilden Zwanziger (2017: 215). Die Berlinerin könne „in puncto Eleganz zwar nicht mit der Pariserin mithalten“, doch was praktische Fertigkeiten anbetrifft, sei sie dieser überlegen (ebd.).
Sichtbarer Code für emanzipierte Frauen
Denn diese Berlinerin ist äußerst patent und zupackend: Aus Lampenschirmen stellt sie Hüte her, aus einer Tüte Badetrikots und aus einer Hängematte ihr Meisterstück, ein Abendkleid, heißt es ironisch. Nicht nur agiert sie aus der Not heraus pragmatisch, trotz knapper Kasse möchte sie sich elegant und zeitgemäß kleiden. Für ihre Freizeitvergnügungen braucht es entsprechende Garderobe: In den 1920er Jahren wird Schwimmen populär, nackte Arme und Beine dürfen nunmehr gezeigt werden. Vornehme Blässe verschwindet als Ideal, nachdem sich aktive Frauen immer mehr im Freien aufhalten und sich dort auch gerne präsentieren. Und für das Badevergnügen am Wannsee braucht frau schließlich ein Badetrikot. Für das Flanieren auf dem Kurfürstendamm bedarf es eines modischen Glockenhutes und für die zahlreichen Vergnügungsmöglichkeiten am Abend natürlich eines eleganten Kleides. In den Zwanzigerjahren blüht Berlins Nachtleben. Um die vierzig Theater und 170 Varietés beherbergt die junge Metropole.
Aufschwung der Angestellten
Um sich diese Vergnügungen leisten zu können, muss die Neue Frau selbst erwerbstätig werden. „Heut ist schon jeder Backfisch eine Verdienerin“, heißt es entsprechend in Waldoffs Lied. Die besungene Berlinerin „tippt“ – sie ist eine der vielen weiblichen Angestellten, die als Stenotypistin oder Sekretärin tätig sind. Tatsächlich steigt die Zahl der weiblichen Angestellten Mitte der 1920er Jahre auf etwa 1,5 Millionen, womit dreimal mehr Frauen angestellt erwerbstätig sind als 1907. Doch mehr als ab und an ein Besuch im Kino dürfte für die meisten angestellten Frauen dennoch nicht möglich sein: 1929 werden die monatlichen Lebenshaltungskosten einer alleinstehenden Angestellten mit 175 Mark berechnet. Das durchschnittliche Bruttoeinkommen liegt bei 146 Mark und ein gutes Viertel der weiblichen Angestelltenlöhne beläuft sich auf unter 100 Mark. Männer verdienen 10 bis 15 Prozent mehr. Damals wie heute eine Ungerechtigkeit.
Dennoch prägt der Aufschwung der Angestellten, die die Großstadt bevölkern und die nach außen hin die Selbstständigkeit der Neuen Frau propagieren – wie eben in Waldoffs Lied – das Bild der Weimarer Republik. Dass 1925 94% der angestellten Frauen ledig sind, dürfte kein Zufall sein, ist doch auch zu dieser Zeit noch das Denken vorherrschend, wonach eine berufliche Tätigkeit für eine Frau nur eine Übergangsstation zur Ehe sein soll. Bis 1928 kann eine im Staatsdienst beschäftigte Frau sofort entlassen werden, wenn sie heiratet.
Drei Papas in Reserve
Die besungene Berlinerin in Waldoffs Chanson ist noch nicht verheiratet. Dies belegt die letzte Strophe, in der eine Warnung an einen potentiellen Ehemann ausgesprochen wird, dieses „aufgeklärte Mädchen“ zu ehelichen. Der künftige Gatte solle aufpassen, dass ihm „kein Leid geschehe“. Er erhält den Rat, „häuslich“ zu sein, womit vermutlich gemeint ist, nicht fremdzugehen. Denn in ihrer Traurigkeit über den Betrug werde die praktische Berlinerin nicht versinken, sondern sich stattdessen ebenfalls neu orientieren und sich einen anderen Mann suchen. Schließlich gilt auch die sexuelle Selbstbestimmung als ein wesentliches Merkmal der Neuen Frau.
In der zweiten Strophe des Chansons (in der obigen Aufnahme nicht mitgesungen) wird dieses Thema weiter ausgeführt: Stellt sich ein „Kindersegen“ ein, den der Vater leugnet, ist die Berlinerin „noch lange nicht verlegen. Denn sie hat oft, ganz ohne Spaß, für den Fall in Reserve noch drei Papas“. Was hier so leicht und heiter herüberkommt, hat für viele Frauen in der Weimarer Republik, die ungewollt schwanger werden, schwerwiegende Konsequenzen. Erstens werden sie, wie oben bereits erläutert, oft unzureichend für ihre Arbeit bezahlt, so dass ihnen alleinstehend mit einem Kind die Armut droht und sie auf die „Alimente“ dringend angewiesen sind. Versuchen sie, das Kind erst gar nicht auf die Welt zu bringen, droht ihnen eine Gefängnisstrafe oder noch Schlimmeres. Seit 1871 herrscht im Deutschen Reich ein Abtreibungsverbot, das auch nach 1918 nicht aufgehoben worden ist. Die rigide Durchsetzung des Verbots in der Weimarer Republik führt zu vielen Todesfällen. Vor diesem Hintergrund lässt sich Waldoffs Lied durchaus sozial- und gesellschaftskritisch verstehen.
Neue Mode für eine neue Zeit
Sowohl die sexuelle Selbstbestimmung als auch die durch Erwerbsarbeit geschaffene finanzielle Unabhängigkeit werden somit als ein Wunschbild und nicht als erlebte Realität für die meisten Frauen der 1920er Jahre entlarvt. Darauf lassen sich auch die folgenden Zeilen in Waldoffs Chanson beziehen, in denen es über die Berlinerin heißt, „Sie hat so furchtbar viel Talente / Mit denen sie möchte, mit denen sie könnte“. Nicht umsonst bleibt es hier beim Konjunktiv; die Möglichkeit, ihre Talente zu zeigen und dafür honoriert zu werden, sind begrenzt. Wie gut, dass sich zumindest die Kleidung selbst herstellen lässt. Tatsächlich erlauben es vereinfachte Schnittmuster in den 1920er Jahren zunehmend, Mode zu Hause nachzunähen. Hat frau etwas mehr Geld, kann sie sich in den neu entstandenen Kaufhäusern – wie dem 1897 eingeweihten Kaufhaus Wertheim, dem 1907 eröffneten KaDeWe oder dem 1929 eingeweihten Karstadt am Hermannplatz – selbst mit Konfektionsmode versorgen, die der technische Fortschritt in der Textilindustrie erstmals möglich macht. War Mode bis dahin nur für die Oberschicht erschwinglich, wird diese nun zur Massenmode. Wenn sich auch im Alltag das Versprechen der Emanzipation nur für die wenigsten Frauen der 1920er Jahre eingelöst findet, so ist dieses in Fragen der Frauenkleidung sehr viel weitgehender umgesetzt.
Die Mode hat praktisch zu sein und die Neue Frau bei ihrer aktiven Lebensgestaltung zu unterstützen. Berufstätige Frauen benötigen zweckmäßige Kleidung. Das einengende Korsett wird abgelegt, Hosen sowie Zweiteiler und Kostüme, orientiert am Vorbild des Männeranzugs, werden immer beliebter. Sportliche Frauen brauchen bequeme Kleidung – zum Beispiel zum „mensendieken“. Dieser uns heute unbekannte Begriff geht zurück auf Bess Mensendieck, eine niederländisch-amerikanische Ärztin, deren Gymnastikpädagogik seit der Wende zum 20. Jahrhundert sehr populär wird. Schließlich hat die Neue Frau sportlich und schlank zu sein.
Visuell geframtes Phänomen
Abschließend lässt sich festhalten, dass Lieder wie O wie praktisch von Claire Waldoff nicht nur das Bild der Neuen Frau spiegelten, sondern dieses vor allem selbst prägten. Die Neue Frau sei „nur in Teilen das Ergebnis tatsächlicher gesellschaftlicher Entwicklungen“, schreibt der Erfurter Kommunikationswissenschaftler Patrick Rössler (2016: 236). Stattdessen sei der Typus der Neuen Frau „wesentlich aber auch von der damaligen Medienberichterstattung konstruiert“ worden, womit Rössler sowohl auf den Aufschwung illustrierter Magazine nach dem Ersten Weltkrieg als auch auf den Siegeszug des Kinos verweist (ebd.).
Die Chansonnette selbst trug mit ihrer eigenen Erscheinung ebenfalls zum Bild der modernen, emanzipierten Frau dar (vgl. auch die Besprechung von Wegen Emil seine unanständ’ge Lust auf diesem Blog). In den Kabaretts und Varietés der Hauptstadt wurde Claire Waldoff zum Star, hier stand sie mit krausen roten Haaren, burschikos in Hose, Bluse, Sakko und Schlips gekleidet, patent und schlagfertig auf der Bühne. Dass sie in einer lesbischen Partnerschaft lebte, war kein Geheimnis. Waldoffs Lieder wie Hermann heest er oder Raus mit’n Männern aus’m Reichstag wurden zu Gassenhauern – das bezeugt auch eine Szene aus der Serie Babylon Berlin, in der die Protagonistin Charlotte und ihre kleine Schwester zu dem weiblichen Ermächtigungslied tanzen (vgl. auch die Besprechung von Zu Asche, zu Staub auf diesem Blog). Nachdem die Chansonnette so ziemlich das Gegenteil des nationalsozialistischen Frauenbildes verkörperte, erstaunt es nicht, dass die neuen, rechten Machthaber ihre Auftrittsmöglichkeiten einschränkten. Doch zuvor nutzte Claire Waldoff die kurze Zeit der Liberalität, um Lieder zu schaffen, die bis heute aufgrund ihrer emanzipatorischen Aussagekraft modern erscheinen.
Isabel Stanoschek, Bamberg
Literatur
Evelyn Fast (2015): Das Frauenbild in der Literatur der 1920er Jahre: Die „Neue Frau“ bei Irmgard Keun, Marieluise Fleisser und Mela Hartwig. Hamburg: Diplomica Verlag.
Karoline Hille (2017): „Der Paragraf 218 und die Sache der Frauen: Anmerkungen zu einem immer noch aktuellen Thema“, in: Ingrid Pfeiffer [Hrsg.] (2017): Glanz und Elend in der Weimarer Republik. München: Hirmer Verlag, S. 182-195.
Annelie Lütgens (2017): „Deren Sorgen und Rothschilds Geld: Künstlerinnen und ihre Arbeit für Zeitschriften in der Weimarer Republik“, in: Ingrid Pfeiffer [Hrsg.] (2017): Glanz und Elend in der Weimarer Republik. München: Hirmer Verlag, S. 232-251.
Robert Nippoldt und Boris Pofalla (2017): Es wird Nacht im Berlin der Wilden Zwanziger. Köln: Taschen-Verlag.
Patrick Rössler (2016): „Stars und Sternchen: Magazine und die neue Frau im Film“, in: Katja Leiskau, ders., Susann Trabert [Hrsg.] (2016): Deutsche illustrierte Presse: Journalismus und visuelle Kultur in der Weimarer Republik. Baden-Baden: Nomos Verlagsgesellschaft, S. 233-254.