Plädoyer für den Frieden. Zu Tocotronics „Nie wieder Krieg“ (2022)

Tocotronic

Nie wieder Krieg

Nie wieder Krieg, nie wieder Krieg, nie wieder Krieg
Keine Verletzung mehr
Nie wieder Krieg, nie wieder Krieg, nie wieder Krieg
Das ist doch nicht so schwer

Er sieht an sich herab
Wirkt ziemlich abgeschabt
Ein Coupon von Sanifair
Gleitet in die Hand, als er
Durch das Drehkreuz geht
Sich gegenüber steht
Und in den Spiegel schreit:

Nie wieder Krieg, nie wieder Krieg, nie wieder Krieg [...]

Sie sieht vom Balkon herab
An diesem Neujahrstag
An dem das Alte stirbt
Noch nichts geboren wird
Gebete zynisch bleiben
Zieht es durch Kitt und Scheiben
Auf die sie haucht und schreibt:

Nie wieder Krieg, nie wieder Krieg, nie wieder Krieg [...]

Dann hat ein Feuerwerk
Sich in die Luft verirrt
Das in den Himmel schreibt
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Der Mond sieht auf dich herab
Du liest im Horoskop
Sie können erleichtert sein
Man wird ihnen bald verzeih'n
Als ein kleines Kind
Über die Hecke springt
Und an die Wände schreibt:

Nie wieder Krieg, nie wieder Krieg, nie wieder Krieg [...]

Nie wieder Krieg, nie wieder Krieg, nie wieder Krieg
Keine Verhetzung mehr
Nie wieder Krieg, nie wieder Krieg, nie wieder Krieg
Nie wieder Krieg in dir, in uns, in mir

     [Tocotronic: Nie wieder Krieg. Vertigo 2022.]

Vor kurzem hat sich der Beginn des russischen Angriffskriegs auf die Ukraine zum ersten Mal gejährt. Am 24. Februar 2022 griffen Putins Truppen das Nachbarland an. Wie viele Soldaten auf beiden Seiten jeweils gestorben sind, darüber gehen die Angaben weit auseinander und hängen vom jeweiligen Standpunkt ab: Die ukrainische Seite nennt mehr als 135.000 tote russische Soldaten (bis

Anfang Februar 2023), die russische Seite hingegen knapp 6.000 (bis September 2022). Nach russischen Angaben sind etwa 61.000 ukrainische Soldaten gestorben, nach ukrainischen Angaben 13.000 (bis Dezember 2022). Die Zahlen lassen sich aufgrund der aktuellen Situation von unabhängiger Stelle derzeit nicht überprüften, doch wird eines ganz klar: Der Krieg fordert auf beiden Seiten unzählige Opfer und kennt keine Gewinner.

Prophetische Warnung

Tocotronics 13. Studioalbum Nie wieder Krieg, auf dem sich das gleichnamige Lied befindet, wurde nur einen knappen Monat vor Beginn des russischen Überfalls auf die Ukraine Ende Januar 2022 veröffentlicht und wirkt vor diesem Hintergrund wie eine prophetische Warnung. Doch geht es der Band weniger um die großen, weltpolitischen Auseinandersetzungen, sondern vielmehr um die Konflikte, die jeder Mensch mit sich auszustehen hat. „Es ist das persönlichste Album, das wir gemacht haben“, so Dirk von Lowtzow. Er habe sich gefragt, „Was will ich eigentlich mitteilen? Was sind das für Stimmungen, Heimsuchung und Dämonen, denen man ausgesetzt ist“?

Nie wieder Krieg scheint somit an die autobiographische Thematik des Vorgängeralbums Die Unendlichkeit anzudocken (vgl. die Besprechung von Electric Guitar auf diesem Blog). Nie wieder Krieg beinhalte „Lieder über allgemeine Verwundbarkeit, seelische Zerrissenheit und existenzielles Ausgeliefertsein“, so die Band in einem Statement zum Album.

Krieg im Inneren

Der Krieg im Inneren kann sich sowohl auf schlechte Angewohnheiten beziehen – Dirk von Lowtzow bezeichnete sich als „sehr alkoholgefährdet“ in der Vergangenheit –, das eigene Älterwerden – als „juvenile Band“ werden Tocotonic mitunter bezeichnet, oft versehen mit dem Hinweis, die ehemaligen Studenten hätten mittlerweile graue Haare (welch eine Erkenntnis!) – unbedarfte Kindheitsträume, die im Kontrast zur Realität der Erwachsenen-Welt stehen oder die Unzulänglichkeit der eigenen Existenz. Auch ein Bezug zur Bedrohung durch die Pandemie drängt sich auf, allerdings wurden die meisten Lieder des Albums Nie wieder Krieg bereits vor dem Jahr 2020 geschrieben. Auf Einsamkeit, die nicht nur, aber auch durch die Lockdowns während der Pandemie bedingt wurde, lässt sich das Lied Hoffnung, ebenfalls veröffentlicht auf dem Album Nie wieder Krieg, beziehen (vgl. die Interpretation auf diesem Blog).

Eine weitere Deutungsmöglichkeit – nicht jedoch autobiographisch auf Tocotronic zu beziehen – bietet sich, betrachtet man das Geschlecht der im Liedtext besungenen Person/en. Zunächst ist von einer männlichen Person die Rede („er“), später von einer weiblichen („sie“). Es erscheint plausibel, dass damit zwei verschiedene Personen gemeint sind. Denkbar ist jedoch auch, dass damit eine einzige nicht-binäre Person beschrieben wird, d.h. ein Mensch, dessen Geschlechtsidentität weder immer weiblich noch ganz männlich ist. Dagegen spricht, dass nicht-binäre Menschen es häufig vorziehen, ohne ein Pronomen angesprochen zu werden (und man davon ausgehen kann, dass Tocotronic dies berücksichtigt hätten). Allerdings existiert im Deutschen (noch) kein etabliertes Pronomen der dritten Person für Menschen, die sich weder dem einen noch dem anderen Geschlecht eindeutig und immer zugehörig fühlen (vgl. für eine Übersicht bspw. die Webseite nonbinary.ch). Die Interpretation, wonach hier eine einzige, nicht-binäre Person gemeint sein könnte, unterstreicht wiederum das Video. Zu sehen ist eine durch die Nacht wandelnde Person (oder sind es zwei?), deren Äußeres den Schluss nahelegt, sie könne eine genderqueere Identität haben. Hat diese mit einem Krieg in ihrem Inneren zu kämpfen? Ist sie auf der Suche nach sich selbst? Die Person „sieht an sich herab“ und steht sich schließlich „gegenüber“, während sie „in den Spiegel schreit: Nie wieder Krieg. […] Keine Verletzung mehr“. Möchte sie mit ihrem Empfinden ins Reine kommen, sich selbst akzeptieren?

Ein Album wie ein Roman

Tocotronic selbst sind der Auffassung, dass ihr neues Album Nie wieder Krieg auch als Roman oder als Film verstanden werden könne. Dies verwundert nicht, werden die Lieder der Band doch seit Jahren gerne im Rahmen des geisteswissenschaftlichen Diskurses besprochen. Das Album ließe sich als „Desillusionsroman“ verstehen, so Dirk von Lowtzow im Interview. „Weil alle Protagonist*innen auf dem Album mit ihrem eigenen Leben nicht so richtig fertig werden und vielleicht in existenziellen Notlagen oder mindestens einer existenziellen Verwundbarkeit stecken. Viele der Protagonist*innen in den Songs haben Träume gehabt, und diese Träume sind nach und nach zerronnen.“ Nie wieder Krieg sei daher weniger zu verstehen als „pazifistische Botschaft [denn] als eine Art Mantra, mit dem die Protagonistinnen und Protagonisten um Barmherzigkeit flehen“, so von Lowtzow im Gespräch. Nicht umsonst heißt es am Liedende: „Nie wieder Krieg in dir, in uns, in mir“.

Die geplatzten Träume und die Verwundbarkeit werden im Lied deutlich anhand von Gebeten, die nicht etwa Erlösung versprechen, sondern„zynisch bleiben“. Und auch der Ort, an dem sie gesprochen werden, bietet keine Geborgenheit, stattdessen „zieht es durch Kitt und Scheiben“. Überhaupt wohnt den im Lied erwähnten Orten und Zeiten ein Moment des Übergangs inne, der keinen Halt gewährt: Die besungene Person schreitet „durch das Drehkreuz“. Es ist „Neujahrstag“, an dem zwar „das Alte stirbt“, gleichzeitig aber „noch nichts geboren wird“, das Hoffnung und eine Perspektive spenden könnte. Ein Feuerwerk, sonst Symbol freudigen Neubeginns, wird nicht etwa bewusst abgeschossen, sondern hat „sich in die Luft verirrt“.

Gleichzeitig kommt die Ironie nicht zu kurz: Die besungene Person erhält Gesellschaft nur durch den „Mond“, während Erleichterung und Verzeihung lediglich das „Horoskop“ verspricht. Sie hat einen Coupon von Sanifair in der Hand, der Firma, die man von den Toilettenanlagen deutscher Autobahnraststätten kennt. Autobahnraststätten – sie stellen ebenfalls einen Ort des Übergangs und der Reise dar.

Zurück zum Parolen-Pop?

In den 1990er Jahren waren Tocotronic bekannt dafür, mit den Titeln ihrer Lieder gleichsam Parolen oder Slogans zu liefern, die sich auch als T-Shirt-Aufdruck gut machten (vgl. die Besprechung von Über Sex kann man nur auf Englisch singen oder Ich möchte Teil einer Jugendbewegung sein auf diesem Blog). Hieran scheint Nie wieder Krieg anzuknüpfen. Auf dem Album finden sich noch weitere politisch-klare Ansagen, die in den Namen von Liedern wie Jugend ohne Gott gegen Faschismus oder Komm mit in meine freie Welt zum Ausdruck kommen.

Forderung aus dem Jahr 1924

Nie wieder Krieg – diese Forderung prangte bereits auf einem Plakat aus dem Jahr 1924, das Käthe Kollwitz (1867-1945) entworfen hat. Die sozial und politisch engagierte Künstlerin hatte das Plakat für den Mitteldeutschen Jugendtag der Sozialistischen Arbeiterbewegung angefertigt. Hintergrund war das Gedenken an den 10. Jahrestag des Beginns des Ersten Weltkriegs, zu dem 1924 überall in Deutschland Massendemonstrationen stattfanden. Als historisches Vorbild mag der berühmte Plakataufdruck Tocotronic kaum gedient haben – schließlich ist von Seiten der Band, wie bereits erläutert, der Krieg im Inneren gemeint –, dennoch erweist sich ein Vergleich der historischen Situationen als interessant:

In der Weimarer Republik war die pazifistische Forderung Nie wieder Krieg keine Mehrheitsmeinung. Nur eine Minderheit der Deutschen engagierte sich aktiv dafür, auch die wenigsten ehemaligen Frontsoldaten. Vielmehr verzeichneten kriegsverherrlichende, paramilitärische Wehrverbände wie der „Stahlhelm: Bund der Frontsoldaten“ oder der „Deutsche Reichskriegerbund Kyffhäuser“ regen Zulauf. Dies ist heute nicht mehr der Fall, die Gesamtsituation auch kaum auf die deutsche Gegenwart übertragbar; schließlich leidet man nicht an der Schmach eines verlorenen Krieges, sondern überlegt, wie man einen Staat, der völkerrechtswidrig überfallen wurde, unterstützen kann. Es gibt somit ausreichend gute Gründe für Waffenlieferungen an die Ukraine – zu konstatieren ist, dass eine Mehrheit der Deutschen diese Unterstützung für angemessen oder sogar für noch nicht ausreichend hält. Dies belegen aktuelle Umfragen.

1924 Plakat vs. 2022 Musikvideo

Auch ein Vergleich des Plakates von 1924 und des Musikvideos von 2022 erscheint reizvoll:

Auf Käthe Kollwitz’ Plakat ist Dynamik erkennbar: Zu sehen ist eine Person (welchen Geschlechts sie ist, bleibt übrigens unklar), die entschlossen den Arm empor streckt. Die Finger sind zum Schwur geformt, die andere Hand liegt auf dem Herz, die Haare wehen nach hinten, der Gesichtsausdruck ist angespannt, der Mund geöffnet zum Eid: Nie wieder Krieg. Entschlossenheit und Leidenschaft werden deutlich.

Im Video zu Tocotronics Lied Nie wieder Krieg hingegen sieht man die oben bereits erwähnte Person scheinbar verloren durch die verschiedene Transiträume einer nächtlichen Großstadt irren. Sowohl die U-Bahn-Station als auch die mehrspurigen Straßen wirken ausgestorben, was die Einsamkeit der/des nächtlich Wandelnden unterstreicht. Diese/r knackt Nüsse mit der bloßen Hand, verletzt sich selbst, Blut fließt. Im Liedtext heißt es über die besungene Figur, sie „wirkt ziemlich abgeschabt“. Die Ästhetik des Videos unterstreicht den durch den Liedtext gewonnenen Eindruck, hier sei ein Mensch gänzlich unbehaust. Von der Entschiedenheit und Dynamik der Figur auf Käthe Kollwitz’ Plakat ist in Tocotronics Video wenig zu spüren. Schließlich ist der Gegner kein Fremder, sondern wohnt im eigenen Inneren.

Nie wieder Krieg – in seiner Klarheit und Kürze hat der Slogan an Aktualität nicht verloren und könnte auch heute noch, knapp hundert Jahre nach der Entstehung von Käthe Kollwitz’ Plakat, auf Transparenten bei Antikriegsdemonstrationen stehen. Auch wenn sich Tocotronics Nie wieder Krieg nicht auf den Krieg in der Ukraine bezieht, das Lied hören und von Frieden in Europa träumen, darf man freilich allemal.

Isabel Stanoschek, Bamberg

Der Proletarier fliehe das Strumpfband! Bertolt Brechts „Ballade vom Förster und der Gräfin“ (1949)

Bertolt Brecht

Ballade vom Förster und der Gräfin 

Es lebt eine Gräfin in schwedischem Land
Die war ja so schön und so bleich.
„Herr Förster, Herr Förster, mein Strumpfband ist los
Es ist los, es ist los.
Förster, knie nieder und bind es mir gleich!“
 
„Frau Gräfin, Frau Gräfin, seht so mich nicht an
Ich diene Euch ja für mein Brot.
Eure Brüste sind weiß, doch das Handbeil ist kalt
Es ist kalt, es ist kalt.
Süß ist die Liebe, doch bitter der Tod.“
 
Der Förster, er floh in der selbigen Nacht.
Er ritt bis hinab zu der See.
Herr Schiffer, Herr Schiffer, nimm mich auf in dein Boot
In dein Boot, in dein Boot
Schiffer, ich muß bis ans Ende der See.
 
Es war eine Lieb zwischen Füchsin und Hahn
„Oh, Goldener, liebst du mich auch?“
Und fein war der Abend, doch dann kam die Früh
Kam die Früh, kam die Früh:
All seine Federn, sie hängen im Strauch.

     [Bertolt Brecht: Große kommentierte Berliner und Frankfurter Ausgabe. Gedichte 5: Frankfurt a. M.: Suhrkamp, 1993, S. 209.]

Brechts Ballade vom Förster und der Gräfin hatte ihren ursprünglichen Platz in einem Theaterstück, nämlich in dem oft aufgeführten und beim Publikum wegen seiner deftigen Hauptfigur ausgesprochen beliebten Exildrama  Herr Puntila und sein Knecht Matti (1940, UA am Schauspielhaus Zürich 1948). Dieses Schauspiel, das auf humoristischen finnischen Vorlagen von Hella Wuolijoki fußt, hat eine komplizierte Entstehungsgeschichte, über die Jan Knopfs Brecht Handbuch (Band 1, Stücke, 2001, S. 440 ff.) detailliert Auskunft gibt. So erarbeitete Brecht im Laufe eines Jahrzehnts von 1940 bis 1950 für diverse Anlässe vier mehr oder weniger unterschiedliche Theater- bzw. Druckfassungen. Unser Lied entstand im Zuge dieser Entwicklung 1949 für die Ostberliner Premiere des Stücks am Berliner Ensemble und ersetzte von da an die Vorgängervariante, das Lied vom Wolf und vom Huhn.

Die Försterballade artikuliert am Schluss der opulenten 9. Szene des Stücks (scheiternde Verlobungsfeier mit sog. ,Ehe-Examen‘) ein kapitalismuskritisches Fazit, das Brecht dem Kommunisten Surkkala in den Mund legt: Arm und Reich, Herr und Knecht passen nicht zusammen. Selbst wenn es zwischen einzelnen Angehörigen der antagonistischen Sozialschichten im Ausnahmefall ein wenig ,menscheln‘ sollte, z.B. unter erhöhtem Alkohol- oder Hormoneinfluss, sei keine dauerhafte Versöhnung der Klassen denkbar.

Das Lied ist in der großen Berliner und Frankfurter Ausgabe der Brechtschen Werke zweimal abgedruckt – einmal im Rahmen des Puntila-Dramas, dann aber auch als Einzeltext im Bande der Gedichte und Gedichtfragmente 1940-1956, der hier zitiert wird. Paul Dessau hatte die Melodie des Lieds ursprünglich in enger Anlehnung an eine schottische Seeräuberballade (Henry Martin) für eine männliche Stimme komponiert. Inzwischen hat es sich freilich auch längst als Chanson verselbständigt und gehört zum Repertoire berühmter Brecht-Interpretinnen wie Meret Becker und Nina Hagen, deren großartige Performance in dem hier ausgewählten Video zu bewundern ist.

Die Försterballade besteht  aus vier weitgehend gleichgebauten Strophen zu je fünf Versen. Formal fallen dabei besonders die Endreime der Verse 2 und 5 auf sowie die dreifach wiederholten Phrasen in den jeweils dritten und vierten Versen der einzelnen Strophen. Auf kleinere Parallelen bzw. Unterschiede im Satzbau gehe ich jetzt nicht ein. Inhaltlich bilden die ersten drei Strophen eine Einheit, indem sie ein dramatisches Geschehen – teils erzählend, teils in wörtlicher Rede – wiedergeben, bei dem es offensichtlich um eine Liebe auf Leben und Tod geht. Literaturtheoretisch-generisch präsentiert uns Brecht hier eine ,Kunstballade‘ im engeren literaturwissenschaftlichen Sinne, d.h. ein singbares Erzählgedicht, das eine Handlung zu Schlüsselszenen verdichtet präsentiert, auf eine Pointe zuläuft und eine implizierte Botschaft bzw. ,Lehre‘ transportiert, die vom verständigen Leser selbständig zu erschließen ist.1 Der Erzähler siedelt die Geschichte in „schwedischem Land“ an; ob in Schweden selbst oder einem von schwedischen Truppen in Besitz genommenen Landstrich entzieht sich meiner Kenntnis. Immerhin verleiht die geographische Lokalisierung der Begebenheit eine gewisse Glaubwürdigkeit.

In der ersten Strophe macht eine schöne und vornehme2 Gräfin einem Förster, der, wie sich bald herausstellen wird, für sie arbeitet, erotische Avancen. Mit der Aufforderung, ihr Strumpfband zu binden, lädt sie ihn zum Eintritt in ihre Intimdistanz ein, zu der im nord- bzw. mitteleuropäischen Kulturkreis aber nur engste Bezugspersonen zugelassen sind. Besonders kritisch stellt sich eine solche ,Verletzung‘ der körperlichen Schutzzone dar, wenn die Beteiligten unterschiedlichen sozialen Ständen und Geschlechtern angehören. Würde sich in unserem Fall der Förster auf das Angebot seiner Arbeitgeberin einlassen und fände die Szene einen Beobachter, könnte das Abenteuer leicht tödlich für ihn ausgehen, zumal es für sie relativ leicht wäre, den Skandal von sich abzuwenden, indem sie ihn der Übergriffigkeit beschuldigte.   

Strophe zwei macht klar, dass dem Förster die Risiken eines ständeübergreifenden Techtelmechtels nur allzu klar sind. Der Hinweis auf das „Handbeil“ ist eindeutig: Vielleicht nimmt er damit Bezug auf das bekannte tragische Schicksal des Aufklärers Johann Friedrich Struensee, dem sein Verhältnis zur dänischen Königin 1772 den Richtblock eingetragen hat.3 Umgehend ergreift der Förster die Flucht, wovon die nächste, die dritte Strophe berichtet. Vorsichtig, wie er ist, verdrückt er sich – offenbar den Zorn der verschmähten Gräfin fürchtend – nicht bloß in ein Nachbardorf, sondern legt so viel Wasser zwischen sich und das vermaledeite Strumpfband, wie es nur eben geht.  Diese Vorsicht scheint durchaus gerechtfertigt, sintemal der Trojanische Krieg – so berichtet es wenigstens Victor Hugo – wegen nichts anderem als Helenas Strumpfband, einer modischen Weiterentwicklung des Gürtels der Aphrodite (στρόφιον), entbrannt ist …

Damit wäre die Balladen-Erzählung komplett, die Flucht des Försters könnte als Pointe durchgewinkt werden und eine Lehre, wenn auch keine besonders überraschende, wäre aus ihr auch abzuleiten: dass es nämlich eher nicht ratsam ist, bei der Partnerwahl die Grenzen des eigenen Standes zu überschreiten. Im feudalistischen Kontext konnte eine Verletzung dieser Regel mitunter lebensgefährlich sein, aber der dramatische Kontext des Puntila suggeriert die Gültigkeit besagter Weisheit auch noch für den Kapitalismus. Bevor wir hierüber ins Grübeln kommen, uns womöglich an das große Versprechen des American Dream und Filme wie Pretty Woman oder Forrest Gump erinnern, schieben Brecht bzw. Surkkala noch schnell eine Liedstrophe nach, die nun keine Ballade mehr ist, sondern eine Fabel und ihre Moral demzufolge auch nicht verrätselt, sondern ziemlich platt expliziert: Die Füchsin umschmeichelt den arglosen Gockel, um ihn aufzufressen. Damit sind innerfiktional alle Unklarheiten beseitigt;  die ,Sägemehlprinzessin‘4 hat die von ihrem Vater gewünschte Verlobung mit Matti schon vorher abgesagt. Nach dem Lied verabschiedet sich auch Urviech Puntila von seiner fixen Idee einer klassenübergreifenden Verbindung und sein Chauffeur tanzt mit dem Stubenmädchen Fina aus dem Bild.

Unzufrieden bleiben allenfalls Zuschauer wie ich, denen es mit der kapitalismuskritischen Indoktrination einfach ein bisschen zu wild wird: Man hat ja kapiert und akzeptiert, dass das Stück eine kapitalismuskritische Aussage unters Volk bringen will. Es ist einfach genug gebaut und hinreichend klar strukturiert, damit ein Publikum bei leidlichem Verstand dieses Anliegen nachvollziehen kann. Mit dem guten Willen, den man als Theaterbesucher ja immer mitbringen muss, sieht man auch noch ein, dass Brecht für spezielle Teile des Publikums, die gerade ein Nickerchen gemacht haben, oder aber – ganz im Gegenteil – hellwach und argwöhnisch als Spitzel der Kulturbürokratie auf ideologische Missgriffe lauern, noch schnell eine Ballade einschiebt, um auf Nummer Sicher zu gehen. Aber – um Himmels willen! – warum lässt er’s damit nicht genug sein, sondern setzt noch mal eine Fabel mit derselben Botschaft obendrauf? Will er so demonstrieren, für wie begriffsstutzig oder literaturfremd er sein Publikum hält, speziell jenes, das sich 1949 zur Premierenfeier des Berliner Ensembles zusammenfinden würde?

Ich weiß es nicht. Und je länger ich über den Fall nachsinne, umso mehr Details stoßen mir auf, die unlogisch scheinen und sich mit der Ideologie des Stückes nicht so recht vertragen wollen: Warum, um nur ein Beispiel zu nennen, wird im sog. Eheexamen die Tochter des Gutsbesitzers daraufhin geprüft, ob sie eine ordentliche Proletariersgattin abgeben könnte, und nicht Matti, ob er sich gegebenenfalls in die Rolle eines reichen Mannes schicken könnte? Denn genau letzteres steht doch zur Debatte: Als Evas Mann würde er zum Großgrundbesitzer aufsteigen und seine Gattin bräuchte weder Socken zu stopfen noch sich den Kopf darüber zu zerbrechen, wie oft der Mensch hintereinander Hering verträgt. Beim umgekehrten und d.h. in diesem Fall angemessenen Eheexamen würde sich vermutlich schnell zeigen, dass Matti keine großen Schwierigkeiten damit hätte, den reichen Herrn zu geben, und auch seine vorgeblich ach so strenge Mutter würde, so jedenfalls meine Prognose, sich mit hoher Wahrscheinlichkeit fix ans Wohlleben gewöhnen, den einen oder anderen Gänsebraten nicht verschmähen und die Wäsche vom Personal besorgen lassen. Andererseits hätte der gelernte Chauffeur erst noch zu beweisen, ob er einen größeren Betrieb organisieren und beim Holzhandel ordentliche Preise herausschlagen könnte …

Verlassen wir aber diesen Gedankengang, der zum Verständnis unserer Försterballade nichts beiträgt, die im Kontext des Puntila vielleicht die eine oder andere Irritation auslöst, als Chanson aber unsere Bewunderung verdient!

Hans-Peter Ecker, Bamberg

Fußnoten:

1) Vgl. Hartmut Laufhütte, 1979.

2) Vgl. ihr ,adelige Blässe‘.

3) Brecht war Struensees Biographie höchstwahrscheinlich aus Theaterstücken und Filmen vertraut.

4) Titel eines Lustspiels von Hella Wuolijoki, das Brecht als Vorlage diente.

Literatur:

Brecht Handbuch in fünf Bänden. Hrsg. von Jan Knopf. Band 1, Stücke. Stuttgart und Weimar: Metzler, 2001.

Hans-Peter Ecker: Dreifaches Bekenntnis […]. In: „… vollens ganz zum Bolschewisten geworden …“? Die Räterepublik 1919 in der Wahrnehmung Bertolt Brechts. Ausstellungskatalog. Hrsg. von Jürgen Hillesheim und Karl-Georg Pfändtner. Augsburg: Wißner, 2019, S. 142 f.

Edward T. Hall: The Hidden Dimension. New York: Garden City, 1966.

Hartmut Laufhütte: Die deutsche Kunstballade. Grundlegung einer Gattungsgeschichte. Heidelberg: Winter, 1979.

Joachim Lucchesi und Ronald K. Shull: Musik bei Brecht: Frankfurt a. M.: Suhrkamp, 1988.

Romantik und Metaphysik mit Hausmeistern. „Da Schnee“ von Ernst Molden, Willi Resetarits, Walther Soyka und Hannes Wirth (2013)

Molden, Resetarits, Soyka, Wirth

Da Schnee

wos bei mia wichdig is kummd ollas vo dia				 1
en resd hob i nua zum iagndwaun wieda valian
die haubdallee mochd heid kaan don kaa geräusch
mia schbüün en an schdumfüm und olle sans gleich wäus gfrian

und iangdwea haud owe an schnee 	    				 5
vo gaunz gaunz weid om aum juchee
un de hausmasda sogn okee
gengan owe und schaufen den schnee
daun ee							

mia schdendan in schnee und d wöd hod a end				10
mia schaub auf de fiass de ma noch und noch nimma akennd
und wos mi vuan schdeam schizzd san deine hend
i hoeds fest und gee duach duach oes wos en mein feia vabrennd

und iangdwea haud owe an schnee […]

     [Molden, Resetarits, Soyka, Wirth: Ho Rugg. Monkey 2013. Text zitiert nach dem Booklet der CD.]

Zugegeben, ich hab’s schon mit dem Schnee! Eigentlich mit allen seinen H2O-basierten Erscheinungsformen, die mir im Laufe meines Lebens mal mehr, mal minder freundlich begegnet sind: zu Bällen gepresst, Schaufeln beschwerend, Kufen, Brettern und zur Not auch dem Hinterteil eine rutschige Unterlage  bietend, als unverzichtbares winterliches Dekomaterial ebenso wie als vermutlich eher verzichtbarer Matsch auf städtischen Straßen und Fußwegen. Und so sympathisiere ich auch schon fast grundsätzlich mit musikalischen Referenzen an die weiße Pracht – mit traditionellen Kinder- (Schneeflöckchen, Weißröckchen) und Adventsliedern (Leise rieselt der Schnee), amerikanischen Winter- und Weihnachtsschnulzen (Jingle Bells, White Christmas), Einladungen zum Winterschlaf (Ludwig Hirsch) usw. usf. Insofern war mehr oder minder zu erwarten, dass mir das hier zu besprechende Lied gefallen würde; aber dann übte Moldens Schnee-Song, den ich der Einfachheit halber wie viele andere Produktionen der Formation Molden-Resetarits-Soyka-Wirth unter ,Big City Blues‘ einsortiere, auf mich doch noch einmal eine ganz spezielle Faszination aus …

Der Dichter (die Begriffe ,Texter‘ oder ,Songwriter‘ scheinen mir in diesem Kontext nicht richtig zu passen) fügt sein Lied aus drei Inhaltskomponenten zusammen: einer Liebeserklärung, der Beschreibung einer bestimmten Wiener Lokalität und der Darstellung eines winterlichen Wetterereignisses. Wie er diese Faktoren dann allerdings sprachlich und musikalisch (langsam, leise, unaufgeregt) zur Erscheinung bringt, mit Gefühlen auflädt und diese, quasi nebenbei und ganz unaufdringlich, mit Hilfe einer dezenten Dosis Schmäh wieder einfängt, bevor das Pathos in Kitsch umschlägt, ist… na ja, zu Lesern meiner Generation würde ich jetzt sagen: große Kunst, für jüngere Zeitgenossen moderner formuliert: einfach geil! Für Wiener: leiwand! 

Das Lied beginnt mit einer indirekten Liebeserklärung, die von der Sprecherinstanz in Form einer Feststellung höchster Wertschätzung vorgetragen wird: Alles wirklich Wichtige verdanke das Ich dem Du, sein ganzer übriger ,Besitz‘ (materieller oder anderer Art) sei im Vergleich dazu nur belangloses Zeug, von dem man sich irgendwann ohne größeres Bedauern wieder trennen werde. Mit dieser Aussage konstatiert das Ich eine provozierend absolute Abhängigkeit seiner Existenz und Identität von den Zuwendungen der Bezugsperson, die – zumindest mir – Assoziationen an religiöse Kontexte aufgedrängt hat, an Gebete, Bekenntnisse und Kirchenlieder, in denen fromme Autoren ihr gesamtes Sein tief dankbar auf einen Schöpfer bzw. Erlöser ausrichten.

Auf die zweite Strophe vorausblickend, dürfen wir jedoch diesen Verdacht verwerfen; mit einem Gott (oder einer Göttin) würde man doch eher nicht auf der Praterallee im Schnee herumstehen, oder? Nein, in unserem Lied geht es um Zwischenmenschliches.

Die nächsten beiden Verse der ersten Strophe benennen den Ort des Geschehens und vermitteln einen intensiven Eindruck der herrschenden Atmosphäre. Mit der „haubdallee“, die selbstverständlich im Kontext eines Wiener Großstadtblues von Ernst Molden keines erklärenden Zusatzes bedarf, kann nur die schon im 16. Jahrhundert angelegte, 1866/67 erweiterte schnurgerade Verbindung vom Praterstern zum Lusthaus gemeint sein, die an schönen Sommertagen gerne von Spaziergängern, Läufern, Fiakern frequentiert wird, natürlich auch von den allerorten unvermeidlichen Velozipedisten sowie sonstigen freizeitgestaltenden Menschen. (Der einschlägige Wikipedia-Eintrag erwähnt hier ausdrücklich Reiter und Rikschafahrer!) Man beobachtet dort neben diversen Einheimischen, die man etwa an der mitgeführten Rikscha eindeutig als solche klassifizieren kann, auch zahlreiche, ihr Besichtigungsprogramm hurtig absolvierende Touristen.

,Heute‘ jedoch, d.h. zu jener winterlichen Stunde, von der unser Lied erzählt, ist alles anders. Eine ungewohnte Stille beherrscht die Szene. Ohne dass es extra ausgesprochen werden muss, ist klar, dass eine Schneedecke alle Töne erstickt. Zwar halten sich auch an diesem Tag Menschen vor Ort auf, aber sie wirken merkwürdig anders, kaum unterscheidbar. In der Wahrnehmung des Sängers ähneln sie sich zum Verwechseln, weil alle frieren und sich wie die Figuren eines Stummfilms benehmen. Dieser Vergleich entzieht der Szene neben den Geräuschen übrigens auch die Farbe, fügt ihr dafür aber einen Schlag Schmäh hinzu; denn es scheint doch ein wenig komisch, dass ausgerechnet ein Lied, dessen Medium nun einmal die Akustik ist, eine Szenerie völliger Stille entwirft.

Im folgenden Refrain erhält Ernst Molden stimmliche Unterstützung von Willi Resetarits, so dass der Sound einen Tick opulenter wird. Auch die Melodie entwickelt jetzt mehr Schwung und klingt schon beinahe nach ,Wiener Lied‘. Touristen aus dem Rheinland haken einander unter und fangen an zu schunkeln… Schock! – Eh net! (Das war jetzt bloß ein Schmäh auf niederbairisch.)

Und jetzt, im Refrain, fällt endlich auch das Wort „Schnee“, und zwar gleich zweimal. Die beiden Kontexte, in denen vom kristallinen Nass* die Rede ist, stehen einander diametral gegenüber: Einmal richtet sich der Blick weit nach oben, bis zum „Juchee“ hinauf, das andere Mal nach unten, auf die profane Sphäre der Großstadtgassen, wo die armen Hausmeister ihren Job erledigen müssen, um das überirdische weiße Zeugs wieder wegzuschaufeln.

An Vers 5 scheint mir die Personifizierung der Ursache des gewaltigen Schneefalls bemerkenswert: Zwar legt sich der Text auf keine konkrete Person fest – Petrus käme vielleicht in Frage oder Frau Holle, natürlich Gott höchstselbst als oberster Wettermacher, weniger wohl der Kachelmann –, aber er ordnet das Geschehen doch „iangdwea[m]“ zu und macht das Bild dadurch konkreter. Dieser „iangdwea“ agiert jedenfalls in erhabener Höhe, „gaunz gaunz weid om aum juchee“. Nun bezeichnet der Begriff ,Juchee‘ im östlichen Österreich einen ,Berggipfel‘, referiert aber zugleich auch auf die höchste Galerie im Theater. Beide Bezüge ergeben für unser Lied Sinn und ich denke, dass es Molden nur recht ist, wenn sich beim Zuhörer die Bildvorstellungen von Natur- und Kunstkulisse überlagern. Letztere Vorstellung würde unaufdringlich an die barocke, in den Künsten der Donaumetropole lange lebendig erhaltene Idee eines ,Welttheaters‘ anschließen und dabei selbstreflexiv (und insofern auch selbstironisch) die poetisch-artifizielle Inszenierung des Schnee-Erlebnisses hervorheben.

Mit Vers 7 richtet die Sprecherinstanz weniger ihren Blick als ihre Gedanken auf die ,Leidtragenden‘ des sie selbst zu romantischen Bekenntnissen beflügelnden Witterungsgeschehens, auf die arbeitende Klasse der Wiener Hausmeister, die sich vorgeblich willig in ihr Schicksal fügen. Wir wissen nicht, woher der Sänger das so genau wissen will. Selber ist er gewiss kein professioneller Schneeräumer und von seinem Standpunkt in der Prater-Hauptallee aus kann er wohl kaum sehen, was die Hausmeister in den Hauptstadtstraßen und -gassen treiben, und noch weniger hören, ob sie dem heftigen Wintereinbruch tatsächlich ihr ,o.k.‘ gegeben haben. Nein, hier beweist sich keineswegs die ,prästabilierte Harmonie‘ einer vom großen Uhrmacher wunderbar eingerichteten Schöpfung im Sinne des Leibnizschen Vorschlags zur Lösung des philosophischen Leib-Seele-Problems (vgl. Gottfried Wilhelm Leibniz: Monadologie, 1714), sondern da erlaubt sich Ernst Molden mit seinen zwischenzeitlich (vielleicht?) romantisch und/oder metaphysisch ergriffenen Zuhörern einen ordentlichen Schabernack.

Macht man sich die Fallhöhe zwischen dem großen Unbekannten „gaunz weid om aum juchee“ und den Wiener Haumeistern bei ihrer Schaufel-Arbeit klar, kann an einer sehr wohl intendierten Komik dieser Kontrastierung kein Zweifel bestehen. Und falls jetzt doch noch jemand einwenden wollte, dass der Dichter mit dem Blick auf die Hausmeister vielleicht sein soziales Gewissen für die unteren Klassen entdeckt haben könnte, verweise ich auf die letzten Worte dieser Passage: „daun ee“. Das „ee“ ist bekanntlich ein Lieblingswort des Wiener Dialekts. Es besitzt mindestens 1001 Bedeutungsnuancen und mit den meisten davon verbindet sich eine gehörige Portion Schlitzohrigkeit. Unsere Sprecherinstanz bringt damit zum Ausdruck, dass sie aus langjähriger Erfahrung weiß, dass am Ende des Winterzaubers ,selbstverständlich‘ die Hausmeister zur Schaufel greifen müssen, um die normalen Verkehrsverhältnisse wieder herzustellen, ohne die eine große Stadt nun einmal nicht funktionieren kann. So war es schon immer und so wird es auch dieses Mal sein. Man weiß das, aber das Wörtchen „ee“ macht darüber hinaus deutlich, dass es im Grunde keinen interessiert. Schmäh in Reinkultur!

Nachdem die Refrain-Strophe das ,große Ganze‘ des Witterungsereignisses betrachtet und den Weg der weißen Pracht von ihrem himmlischen Ursprung bis zu ihrer unspektakulären Beseitigung verfolgt hat, geht es in den nächsten vier Versen wieder um das Private. Da der dichte Schneefall um das Paar herum den Horizont verengt, kommt es dem Sänger so vor, als sei die Welt hier an ihr Ende gekommen. In der Naheinstellung des Blicks verschwinden die eigenen Beine („fiass“) im Tiefschnee, wodurch sich das gute Gefühl von Bodenhaftung (,Erdung‘) und damit verbundener Sicherheit auflöst. Das Versinken im Schnee erinnert an die Situation des Ertrinkens im Wasser,* Gedanken an das Ende der eigenen Existenz drängen sich auf. Allerdings bleiben der Sprecherinstanz als letzte Rettungsanker noch die Hände der geliebten Bezugsperson, die sie festhält und von denen sie sich durch alle Gefahren leiten lässt. Der zweite Teil von Vers 13 gibt dem Interpreten allerdings noch einmal eine ordentliche Nuss zu knacken …

Eigentlich würde man angesichts des gewaltigen Schneefalls erwarten, dass sich das Ich von der Kälte, die allen Personen auf der Hauptallee ins Gebein kriecht (vgl. Vers 4), bedroht fühlen und sich an die wärmenden Hände der Geliebten halten würde, um diese Gefahr zu bannen. Diese Erwartung wird von Molden aber sofort gnadenlos abgeschmettert. Eine Gedankenführung nach diesem Schema wäre poetisch einfach zu konventionell. Kitschalarm! Stattdessen geleiten im vorliegenden Liedtext die schützenden Hände des Partners das Ich durch eine ,hausgemachte‘ Flammenhölle: „duach oes wos en mein feia vabrennd“. Die äußere Bedrohung durch Kälte und Schnee weicht überraschend einer neuen, nun aber inneren, seelischen Bedrohung. Für diese ist keine höhere Instanz im Wolken- oder Theaterhimmel verantwortlich zu machen, sondern sie entspringt einzig und allein der Sprecherinstanz, die ihr ,Feuer‘ nicht beherrschen, ihr hitziges Temperament, ihre Triebe etc. nicht zügeln kann, dadurch im Laufe ihres Lebens so manches verbockt hat und nun mit dieser Schuld zurecht kommen muss. (Zum Glück nicht allein!)

Welcher Art aber könnte dieses Flammeninferno, das von keinem Schneegestöber zu ersticken ist, sein? Und was könnte darin verheert worden sein?

Schwer zu sagen, das Lied gibt dazu – soweit ich sehe – keine hilfreichen Hinweise. Also reicht der Dichter/Sänger das Problem höchstwahrscheinlich an seine Zuhörer weiter: Mögen die sich doch selber erforschen, ob sie dergleichen destruktive Mächte – schlechte Gefühle, Wut, Hass, Neid, Eifersucht – in sich verspüren. Ob Ihnen bei der Selbsterkundung womöglich ,Dinge‘ (Chancen, Beziehungen, Freundschaften…) einfallen, die sie im Laufe ihres Lebens ,verbrannt‘, d.h. ruiniert haben und deren kokelnde Überreste ihnen noch immer gewaltig an die Nieren gehen.

Hans-Peter Ecker, Bamberg

* Viele Lieder auf dem Album Ho rugg, haben in dieser oder jener Form mit dem feuchten Element zu tun, wobei dieses Blog allerdings nicht das geeignete Format bietet, solche einzeltextübergreifenden Zusammenhänge näher zu verfolgen.

Literatur:

Schmäh als ästhetische Strategie der Wiener Avantgarden. Hrsg. von Irene Suchy. Vorwort von Hubert Christian Ehalt. Weitra: Bibliothek der Provinz, 2015.

Michael Schophaus: Schnee: Eine Liebeserklärung an den Winter. Aarau und München: AT Verlag, 2019.     

„All das mag ich – uns ganz doll mich.“ Warum Philipp Burger zwar Sänger, Zimmermann, Landwirt und Fischer, aber nicht Meredith Brooks ist.

Philipp Burger 

Sänger, Zimmermann, Landwirt, Fischer 

Ich brauche die Sonne 
Den Himmel über mir 
Ich liebe Wind und Wetter 
Ich liebe die Natur 
Wollte schon immer 
Die große Freiheit 
Ob Dach, ob Fluss, ob Land 
Ob Job, ob Freizeit 

Es war bis heute 
Immer die beste Zeit 
Ein Lagerfeuer, ein Abenteuer 
Zusammen fischen gehen, ein Feierabendbier 
Gemeinsam Lieder singen, mein Herz es schlägt dafür 

Ich bin Sänger, ich bin Zimmermann 
Ich bin Landwirt, ich bin Fischer und dann 
Bin ich noch Gitarrist, und ein Songwriter 
Mit großen Schritten Richtung Freiheit 
So lebe ich gerne weiter 

Ich liebe die Ferne 
Ich lieb’s zu Hause zu sein 
Ich zimmere heute noch gerne 
Und steige in Schluchten ein 
Suche nach ’nem Sonnenaufgang 
Dem größten Fisch im Fluss 
Ich mähe gerne Wiesen nieder 
Und schreibe und singe Lieder

Es war bis heute […]

Ich bin Sänger, ich bin Zimmermann 
Ich bin Landwirt, ich bin Fischer und dann 
Bin ich noch Bergsteiger und ein Travelman 
Bin ein Naturmensch und bleibe es ein Leben lang 

Ich bin Sänger, ich bin Zimmermann […]

     [Philipp Burger: „Sänger, Zimmermann, Landwirt, Fischer“. Auf: Ders.: Kontrollierte Anarchie. Rookies & Kings 2021.]

Frei.Wild-Sänger Philipp Burger ist ein vielbeschäftigter Mann. Neben dem ohnehin schon beträchtlichen Output seiner Band schreibt er für diverse Musiker:innen (vgl. die Übersicht hier), darunter neben Deutschrockbands wie Hämatom, Serum 114 und Goitzsche Front auch für solche, die auf den ersten Blick recht weit von Frei.Wild entfernt zu sein scheinen: 

Außerdem hat Burger 2021 sein erstes Soloalbum veröffentlicht, aus dem Sänger, Zimmermann, Landwirt, Fischer stammt. Darin zählt der Sprecher, der der realen Person Philipp Burger recht nahe zu kommen scheint, auf, was er so alles tut. Für sich genommen wirkt diese Aufzählung zunächst reichlich banal und erinnert an Volker Lechtenbrinks Ich mag, das mit modifiziertem Text seinerzeit für eine Caro Landkaffee-Werbung verwendet und von Rolf Zuckowski zum Selbstliebekinderklassiker Und ganz doll mich umgedichtet wurde. Verstärkt wird die Assoziation zu Volker Lechtenbrinks Lied noch dadurch, dass das Video zu Burgers Song eine ungebrochene Werbeclipästhetik nutzt.

Sänger, Zimmermann, Landwirt, Fischer ruft jedoch über seine Aufzählungsstruktur im Refrain („Ich bin…“) noch eine weitere intertextuelle Folie auf: Meredith Brooks’ Hit Bitch aus dem Jahr 1991

Meredith Brooks

Bitch

I hate the world today
You’re so good to me, I know, but I can’t change
Tried to tell you but you look at me like maybe
I'm an angel underneath
Innocent and sweet

Yesterday I cried
You must have been relieved to see the softer side
I can understand how you’d be so confused
I don’t envy you
I’m a little bit of everything all rolled into one

I’m a bitch, I’m a lover
I’m a child, I’m a mother
I’m a sinner, I’m a saint
I do not feel ashamed
I’m your hell, I’m your dream
I’m nothing in between
You know you wouldn’t want it any other way

So take me as I am
This may mean you’ll have to be a stronger man
Rest assured that when I start to make you nervous 
And I'm going to extremes
Tomorrow I will change and today won't mean a thing

I’m a bitch, I’m a lover […]

Just when you think you got me figured out
The season’s already changing
I think it’s cool, you do what you do
And don’t try to save me

I’m a bitch, I’m a lover […]

I’m a bitch, I’m a tease
I’m a goddess on my knees
When you hurt, when you suffer
I’m your angel undercover
I’ve been numb, I’m revived
Can’t say I’m not alive
You know I wouldn’t want it any other way

     [Meredith Brooks: Blurring The Edges. Capitol Records 1997.]

Auch Brooks Ich zählt eine Vielzahl von Rollen auf, die es einnimmt. Doch während sich die Rollen bei Burger (abgesehen von vorstellbaren Zeitmanagementproblemen) konfliktfrei miteinander verbinden lassen, beansprucht das Ich in Bitch konträre Rollen und insistiert zudem darauf, „nothing in between“ zu sein. So stellt das Lied ein Bekenntnis zur Vielschichtigkeit, zur Vielgestaltigkeit und Widersprüchlichkeit einer Persönlichkeit dar und reflektiert, dass dies sowohl für die Person selbst als auch für deren Partner durchaus herausfordernd werden kann – dennoch wünschen sich beide nicht, dass die vielen widersprüchlichen Persönlichkeitsaspekte harmonisch in eine stabile Ich-Einheit integriert werden.

Der in Brooks’ Lied affirmierten postmodernen Freiheit, alles sein zu können, stellt Burger die libertäre Freiheit entgegen, alles tun zu können („im Rahmen der freiheitlich demokratischen Grundordnung, versteht sich“, um Franz Josef Degenhardt zu zitieren – schließlich trägt Burgers Soloalbum den Titel Kontrollierte Anarchie). Die verschiedenen Tätigkeiten des musikalischen und reisefreudigen Naturburschen stehen auch nicht im Widerspruch zu traditionellen Rollenbildern, denn die Verbindung von Handwerk, Reisen, Gemeinschaft, Trinken und Gesang ist beileibe kein neuer Topos in der Geschichte des deutschen Lieds, man denke an die zahlreichen Wandergesellen- und Fahrtenlieder. Keine der aufgezählten Tätigkeiten irritiert. Vielmehr ergeben sie zusammen das sehr konsistente Bild eines Mannes, der traditionellen Männerbeschäftigungen nachgeht.

Eine wichtige Funktion für die Stärkung des Identitätsgefühls kommt dabei der gleichgeschlechtlichen peer group zu: „Zusammen fischen gehen, ein Feierabendbier / Gemeinsam Lieder singen, mein Herz es schlägt dafür.“ Auffallend ist, gerade im Vergleich zu Brooks‘ Lied, was in der umfangreichen Aufzählung fehlt: Es wird kein Bezug zu einer Partnerin hergestellt, das Ich erfährt sich nicht in einer Liebesbeziehung, sondern im verschworenen Männerbund, nicht in der Auseinandersetzung mit dem Anderen, in der es sich auch selbst verändert, sondern in der Übereinstimmung mit Gleichen, die ihm Stabilität vermittelt.

Martin Rehfeldt, Bamberg

Runter vom Sofa, raus aus der Luftaufsichtsbaracke! Reinhard Meys Chanson „Über den Wolken“ (1974)

Reinhard Mey

Über den Wolken

Wind Nord/Ost, Startbahn null-drei			 1
Bis hier hör' ich die Motoren
Wie ein Pfeil zieht sie vorbei
Und es dröhnt in meinen Ohren
Und der nasse Asphalt bebt				 5
Wie ein Schleier staubt der Regen
Bis sie abhebt und sie schwebt
Der Sonne entgegen

Über den Wolken			
Muss die Freiheit wohl grenzenlos sein			10
Alle Ängste, alle Sorgen
Sagt man
Blieben darunter verborgen
Und dann						
Würde was uns groß und wichtig erscheint		15
Plötzlich nichtig und klein

Ich seh' ihr noch lange nach
Die dunklen Wolken erklimmen
Bis die Lichter nach und nach
Ganz im Regengrau verschwimmen			        20
Meine Augen haben schon
Jenen winz'gen Punkt verloren
Nur von fern' klingt monoton
Das Summen der Motoren

Über den Wolken […]					25

Dann ist alles still, ich geh'	
Regen durchdringt meine Jacke
Irgendjemand kocht Kaffee				35
In der Luftaufsichtsbaracke
In den Pfützen schwimmt Benzin
Schillernd wie ein Regenbogen
Wolken spiegeln sich darin
Ich wär' gern mitgeflogen				40

Über den Wolken [..]

Über den Wolken […]

     [Reinhard Mey: Wie vor Jahr und Tag. Intercord 1974.]

Von den späten 1960er Jahren an war Reinhard Mey für mich über eine geraume Reihe von Jahren hinweg der Liedermacherschlechthin, wobei ich diesen Begriff aus den seinerzeit populären Medien übernommen hatte und ohne definitorischen Ehrgeiz als deutsche Variante des amerikanischen Begriffs Singer-Songwriter gebrauchte. Da ich um die Frankophilie Meys wusste, hätte ich auch nichts dagegen gehabt, wenn jemand seine Lieder als ,Chansons‘ bezeichnet hätte, d.h. als einigermaßen ,textlastige‘ Gesänge, die mit instrumenteller Begleitung vorgetragen werden.

Selbstverständlich waren mir zu Beginn der 1970er Jahre auch noch andere ,Liedermacher‘ vertraut, zum Beispiel Franz Josef Degenhardt, Wolf Biermann, Georg Kreisler, Ulrich Roski, Hannes Wader, Schobert und Black, Fredl Fesl, Rainhard Fendrich. Von anderen kannte ich nur einzelne Lieder, weil sie mir entweder nicht besonders zusagten oder sie viel seltener im Radio gebracht wurden: Hanns Dieter Hüsch, Bettina Wegner, Dietrich Kittner, Hans Söllner, Walter Mossmann, Willy Michl, Georg Ringsgwandl. Wieder andere lernte ich erst viel später kennen, etwa Hubert von Goisern, Wiglaf Droste, Rainald Grebe, Funny van Dannen oder Willi Resetarits, und manche Künstler hätte ich gar nicht als ,Liedermacher‘ wahrgenommen, sondern als ,Blödel-Barden‘, Austro-Popper, Jazzer oder Rocker in andere Schubladen gesteckt. Während nun – jedenfalls in meiner damaligen Wahrnehmung –  alle diese Personen ihr Liedermachertum auf eine relativ spezielle Art und Weise betrieben, sei es gesteigert intellektuell oder makaber, sei es sentimental oder als stramm-linke Agitation, hier in einem speziellen Dialekt, dort auf absurd-lustige, betont deftige oder gar forciert testosteronlastige Weise, bespielten Reinhard Meys unzählige Songs (fast) alle denkbaren Themen und Stile des Genres, ohne diese aber je ins Extreme zu treiben.

Die kleine Einschränkung muss ich vielleicht noch erklären. In seiner Biographie Was ich noch zu sagen hätte wird Mey einmal von seinem Gesprächspartner gefragt, worüber er eigentlich noch kein Lied geschrieben hätte. Darauf der Künstler: „Über die Gen-Tomate, über Silikonimplantate, über die Haushaltsdebatte, über die alte Fußmatte, über Kindergeburtstage, über die Borkenkäferplage“ (S. 296.) Über alles andere hat er demnach schon gesungen und vermutlich habe ich die meisten dieser Lieder auch schon irgendwann einmal gehört. Da ich allerdings kein ausgesprochener Reinhard-Mey-Fan bin (wie mir überhaupt ganz grundsätzlich das Talent zum Aficionado abgeht), gerieten mir im Laufe der Jahre die allermeisten davon auch wieder in Vergessenheit. Hängen geblieben sind schließlich Erinnerungen an eine Handvoll, was angesichts der Lebensleistung dieses Liedermachers einerseits fast gar nichts ist, andererseits aber doch auch wieder mehr als bei allen seinen Kollegen.

So standen die folgenden fünf Titel zur Auswahl: Komm, gieß‘ mein Glas noch einmal ein (1970), Der Mörder ist immer der Gärtner (1971) Gute Nacht, Freunde und Annabelle von seinem fünften deutschen Studioalbum Mein achtel Lorbeerblatt (1972) sowie Über den Wolken (LP Wie vor Jahr und Tag, 1974). Mit der Wahl des letzten Titels habe ich mich für das wahrscheinlich bekannteste und zugleich poetischste Lied Reinhard Meys entschieden, das nicht nur unter den Verehrern und Liebhaberinnen fliegender Kisten treue Fans hat. Diese Entscheidung habe ich übrigens durchaus in dem Bewusstsein getroffen, dass Vers 37 auf das gesamte Chanson ein sehr bedenkliches Licht wirft! Ich sage nur: Umweltkatastrophe! Oma im Hühnerstall Kavaliersdelikt dagegen!  

Der Text des Songs ist im Grunde ganz leicht zu verstehen: Die Sprecherinstanz beobachtet den Start eines Flugzeugs und folgt ihm eine Weile mit Augen und Gedanken nach. Selber im Regen stehend malt sie sich aus, wie der Flieger gleich die Wolkendecke durchstoßen und die Sonne sehen wird. Indem sich die Insassen des Flugzeugs vom Boden lösen, werden sie Abstand zu ihren Alltagssorgen gewinnen und ein ungeheures Gefühl von Freiheit verspüren. Das nimmt der Sänger jedenfalls an, so hat er es auch schon von vielen anderen gehört. Mit einem wehmütigen Gefühl und der Sehnsucht, selber der Sonne entgegen fliegen zu dürfen, bleibt er – wenigstens noch dieses Mal – am Boden zurück – im Regen und vermutlich auch beschwert mit einigem Kummer und etlichen Sorgen. In der dritten und zugleich letzten erzählenden Liedstrophe ist das Flugzeug am Sichthorizont verschwunden und nur noch akustisch präsent. Der Sänger löst seinen Blick vom Himmel und wendet sich Objekten im Nahbereich zu, die ihm aber durchaus ein kleines Quantum Trost spenden: In der Luftaufsichtsbaracke wird Kaffee gekocht, was dem Sauwetter ein wenig Wärme und Gemütlichkeit entgegensetzt,* und die Pfützen am Boden spiegeln den Himmel. Trickreich, aber absolut stimmig retuschiert der Liedermacher das mythische Symbol des Regenbogens, der eine Brücke von der Erde in den Himmel schlägt und damit Götter und Menschen versöhnt, in diese Spiegelungen hinein.

Ich denke, dass Reinhard Meys Song vom großen Menschheitstraum, sich den vertikalen Raum zu erschließen, damit hinreichend verstanden ist. Alle weiteren Kommentare betreffen biographische, flugtechnische, literatur- und motivgeschichtliche sowie literarisch-handwerkliche Details, für die man sich interessieren kann, aber nicht muss, da sie das Vergnügen am Lied vermutlich nur in diesem oder jenen Einzelfall befördern werden.

Bei meiner Beschäftigung mit diesem Chanson habe ich mich gleich eingangs ausführlich mit der Frage nach dem räumlichen Standort der Sprecherinstanz und der Perspektive ihrer sinnlichen Wahrnehmungen befasst, auf die ich keine so richtig stimmige Antwort gefunden habe. Um hier keinen falschen Eindruck aufkommen zu lassen: Als poetisches Ganzes ,stimmt‘ das Lied m.E. absolut! Es evoziert eine dichte suggestive Atmosphäre und macht es Hörern leicht, sich mit den Eindrücken und Reflexionen des Sängers zu identifizieren. Aber wenn wir fragen, wo dieser Sänger konkret steht – direkt neben der Startbahn oder außerhalb des Flugfeldes? –, welcher Beschäftigung er wohl nachgeht, über welche fliegerischen Kenntnisse und Zutrittsbefugnisse er verfügt etc., bleibt vieles im Unklaren. Ist der Flugplatz, auf dem sich der beschriebene Vorgang abspielt, ein kleines Flugfeld (wofür die „Luftaufsichtsbaracke“ spricht) oder ein großer, vielleicht sogar militärisch genutzter Airport, wo die Sorte von Maschinen startet, die tatsächlich ,den Asphalt zum Beben bringen‘ können? Das hätte ich schon gerne genau gewusst.

Ein Blick in die Biographie Reinhard Meys erbringt ein paar nützliche Fakten, die sich interpretatorisch verwerten lassen. Man erfährt zum Beispiel, dass er 1973 seine erste Fluglizenz in Wilhelmshaven erworben hat; viele weitere sollten folgen, am Ende sogar solche für Kunstflug und Hubschrauber. Der dortige ‚JadeWeserAirport‘ (1974 noch unter dem Namen ,Wilhelmshaven-Mariensiel‘ etwas kleiner dimensioniert und schlechter ausgestattet) ist flugrechtlich als ,Verkehrslandeplatz‘ klassifiziert und damit strukturell zwischen Flughäfen und Segelflugplätzen zu verorten. Er besitzt zwei Start- bzw. Landebahnen; die im ersten Vers als Ort des Geschehens bezeichnete „Startbahn null-drei“ mag terminologisch authentisch sein oder auch nicht,** die heutigen Bahnen tragen jedenfalls andere Bezeichnungen („02/20“ und „16/34“).

Da ich leider keine Fluglizenz erworben habe und solche Verkehrslandeplätze nur als Spaziergänger und Vogelzähler von außerhalb kenne, weiß ich nicht, ob der erste Vers eine schriftliche Anzeige zitiert, die irgendwo an solchen Flugfeldern aushängt, oder eine Durchsage an den startenden Piloten. Allerdings weiß ich, dass vor dem Zaun des Flugplatzes kein Asphalt mehr unter den Füßen eines Beobachters zittert, wenn dort Sport- oder kleine Geschäftsreiseflugzeuge abheben. Ich erkläre mir die im Lied wiedergegebenen Wahrnehmungen der Sprecherinstanz als Amalgam aus Sinneseindrücken eines Piloten und eines Bodenbeobachters; dieser ist mit eigenem Leibe der Regengischt ausgesetzt, jener erfährt aus nächster Nähe die enorme Kraft der Triebwerke und die Beschleunigung der Maschine, während der ferner postierte Zaungast diese Bewegungen bei kleineren zivilen Fluggeräten eher als vergleichsweise behäbige Vorgänge wahrnimmt.

Vers 8 konstatiert, dass die gestartete Maschine „der Sonne entgegen“ fliegt. Im Kontext dieses Lieds bedeutet das mit Sicherheit nur Schönes: Das Flugzeug und seine Insassen lassen das fiese Regenwetter unter sich zurück und – zumindest nach Ansicht des Beobachters – auch  ihren Alltagskummer. Notorische Leser und gelernte Literaturwissenschaftler können sich an dieser Stelle allerdings kaum dagegen wehren, dass ihnen die mythischen Flieger Dädalus und Ikarus einfallen, von denen der jüngere dummerweise der Sonne ein wenig zu nahe gekommen ist. Reinhard Mey musste die Ikarus-Geschichte natürlich auch geistig präsent haben, wenngleich er in Über den Wolken einschlägige Anspielungen über das Sonnen-Motiv hinaus vermeidet. Sein nächstes Studioalbum (1975) sollte dann aber schon mit Ikarus überschrieben werden und auch einen entsprechenden Song enthalten. Überraschender Weise befasst sich dieses Lied dann jedoch nicht mit dem tragischen Schicksal des antiken Flugpioniers, sondern feiert zauberhafte Wetter- und Landschaftserlebnisse.

Zur Phrase „Der Sonne entgegen“ fallen mir eine Menge weiterer Bezüge ein – zu Filmen, mehr oder minder bekannten Schlagern, literarischen Texten und sogar zu einer gleich betitelten Fernsehserie –, ohne dass es sinnvoll erscheint, diesen Spuren zu folgen. Sie tragen zum Verständnis unseres Liedtextes schlicht nichts bei. Ausschließen dürfen wir auf alle Fälle eine Interpretation der Formel im Sinne des modernen Massentourismus, dass das Flugzeug seine Insassen zu einem südlichen ,Sonnenstrand‘ am Mittelmeer oder sonstigen attraktiven Fernreisezielen befördern würde.

Der Refrain betont das Freiheitsgefühl, das sich angeblich beim Fliegen einfinden würde. Im Lied geht es um eine ,Freiheit von‘, keine ,Freiheit wozu‘. Eine Kommentierung verdienen dabei auch die negativen ,Dinge‘, die Pilot und Mitreisende hinter sich lassen, wenn sie vom Boden abheben und die dunklen Wolken durchstoßen: Es sind dies nicht näher konkretisierte private Kümmernisse und Sorgen, nicht gesellschaftlich-politisch zu verhandelnde Übel oder Freiheitseinschränkungen. Man hat es Reinhard Mey in den frühen 1970er Jahren von linker Seite her ausgesprochen krumm genommen, dass er seine Popularität nicht in den Dienst der revolutionären Sache gestellt, sondern in seinen Liedern zumeist nur die kleinen Widrigkeiten des Alltags thematisiert hat, private Liebesverwicklungen, die Freuden der Fliegerei, den Schutz der Tiere und Ähnliches. Und wenn er sich ab und an dann doch mit politischen Sachverhalten auseinandergesetzt hat, dann trat er besagten Kritikern zu ,zahm‘ auf, im Ton zu moderat, kurz: zu angepasst an die Spießergesellschaft.

Die schärfsten Verrisse seiner Lieder und Auftritte lassen sich in den mittleren 1970er Jahren finden, nachdem Meys kommerzieller Erfolg unübersehbar geworden war und es sich zugleich herumgesprochen hatte, dass er sich politisch nicht würde vereinnahmen lassen:

Rechnet nicht mit mir beim Fahnenschwenken,
Ganz gleich, welcher Farbe sie auch sein’n.
Ich bin noch imstand‘, allein zu denken,
Und verkneif‘ mir das Parolenschrei’n.***

Als er sich dann auch noch ,erdreistete‘, Auswüchse der 68er Studentenbewegung satirisch aufzugabeln (Annabelle, 1972), wurde dieses Unterfangen plötzlich gar nicht mehr als ,harmlos-heintjeartig‘ empfunden, sondern als „Hexenjagd in Chanson-Form“ gegeißelt. (Diese ebenso maß- wie humorlose Formulierung findet sich in Thomas Rothschilds Liedermacher-Buch; vgl. im Wikipedia-Artikel über R. Mey den Abschnitt „Rezeption“.) Mit der Zeit wurde die Stimmung dann wieder unaufgeregter, der Zeitgeist marschierte in neue Richtungen, und so fand Hilmar Klute in der SZ vom 21. Dezember 2012 nur noch Worte der Anerkennung für den inzwischen 70 Jahre reif gewordenen Liedermacher: „Mittelmäßigkeit lautet der Vorwurf derer, die allen Ernstes von sich glauben, ihr Leben sei eine permanente Sensationsveranstaltung. Reinhard Mey, dessen Leben vermutlich bunter und interessanter war als das der meisten seiner Verächter, ist weise genug, auf all dies nichts zu geben. Er hat die Chronik unseres bürgerlichen Lebens in berührend langmütigen, wunderbar sentimentalen und angemessen moralischen Balladen gesungen.“

Auch unser Lied findet bei Klute eine Extra-Würdigung: „Sein größter Erfolg ist die Flieger-Hymne ‚Über den Wolken‘, eine klug und poetisch gezeichnete Miniatur, in der das Große sich im Kleinen spiegelt und die machtvollen Worte Freiheit, Angst und Sorge auf federleichte Weise zu ihrem Recht kommen. Allein für das Reimpaar Jacke/Luftaufsichtsbaracke müsste man ihm den Hölderlin-Preis geben.“ Ja, das Wort „Luftaufsichtsbaracke“ hat etwas, wenn es in einem lyrischen Kontext erklingt! (Deshalb habe ich es ja auch in meinen Titel eingebaut … ;-)) Allerdings würde ich mich jetzt nicht gleich dem Vorschlag für den Hölderlin-Preis anschließen. Dafür ist mir das Reimwort „Jacke“ zu blass im Nachgeschmacke. „Karacke“ (Segelschiffstyp des ausgehenden Mittelalters) oder „Schabracke“ (Pferdedecke, auch hellere Flankenfärbung eines Tiers,  z.B. bei der Schabrackenlibelle – Anax ephippiger) hätten mich reimtechnisch mehr beeindruckt, meinetwegen auch „Eisenhüttenschlacke“ oder …

Einen kleinen Kommentar zum guten Schluss verdient auch noch das Regenbogenmotiv. Als der Sänger das startende Flugzeug schon längst nicht mehr sehen kann und sich auf den Heimweg gemacht hat, hängt er seinem Erlebnis noch immer nach. Sein bodenzugewandter Blick wird von den Regenpfützen himmelwärts umgelenkt. Der Himmel ist freilich noch immer wolkenverhangen und die Sonne hält sich nach wie vor hinter dem Gewölk versteckt und wird sich nur dem Flieger zeigen, sobald dieser die Wolkendecke durchstößt. Doch ein bisschen Benzin zaubert die Farben des Regenbogens in die Spiegelungen, die damit das mächtige, vielen Kulturen dieser Welt vertraute Hoffnungs- und Versöhnungssymbol evozieren. Wo immer er aufscheint, verspricht uns der Regenbogen, dass wir das Schlimmste hinter uns haben und dass die Brücke, auf der wir unseren Himmel erklimmen können, schon gebaut ist. Der frischgebrühte Kaffee kommt da gerade recht …

Hans-Peter Ecker, Bamberg

 * Ganz gleich, ob der Sänger jetzt einen Pott davon abkriegen wird oder nicht.

** Was die Klanggestalt bzw. Vokal-Abfolge des ersten Liedverses („Wind Nord/Ost, Startbahn null-drei“) angeht, ist diese m.E. poetisch erste Sahne! Da spielt es überhaupt keine Rolle, wie die Startbahn von Wilhelmshaven-Mariensiel seinerzeit tatsächlich hieß.      

*** Bevor ich mit den Wölfen heule, 1971. Inhaltlich folgt dieses Lied übrigens einer ähnlich gearteten Positionserklärung, die Bob Dylan, freilich mit ganz anderen Formulierungen, in seinem Song My back pages (1964) abgegeben hatte.

Literatur:

Natascha Adamowsky: Das Wunder in der Moderne. Eine andere Kulturgeschichte des Fliegens. München: Fink, 2010.

Hilmar Klute: Poet des Alltäglichen. Reinhard Mey wird 70. Süddeutsche Zeitung vom 21. Dezember 2012.

Reinhard Mey: Was ich noch zu sagen hätte. Mit Bernd Schroeder. Köln: Kiepenheuer & Witsch, 2005.