Muss man die Liebe gießen? „In meinem Garten“ von Reinhard Mey und seine französische Übersetzung

Reihard Mey

In meinem Garten

In meinem Garten, in meinem Garten
Blühte blau der Rittersporn,
Zwischen dem Unkraut, in meinem Garten,
Im Geröll in meinem Garten,
Wo die anderen Blumen verdorr'n.
In meinem Dache, in meinem Dache
Baut' ein Rabe sich sein Nest,
Unter meinem brüchigen Dache,
Unter dem zerfallenen Dache,
Wo der Wind durch die Balken bläst.

In mein Leben, in mein Leben
Hat sie sich zu mir verirrt,
Und sie nahm Platz in meinem Leben,
Platz in meinem engen Leben
Und hat meine Gedanken verwirrt.
Was ich besaß, hab' ich ihr gegeben
An Vernunft und an Verstand,
Meine Seele ihr gegeben,
Mag's der liebe Gott vergeben,
Weil ich sonst nichts zu schenken fand.

In meinem Garten, in meinem Garten
Goss ich meinen Rittersporn,
Jätete Unkraut in meinem Garten,
Harkte emsig meinen Garten,
Doch die Blume verwelkte im Zorn.
Für den Raben in meinem Dache
Deckt' ich Ziegel Stück für Stück,
Wo es Löcher gab im Dache,
Doch ins Nest unter dem Dache
Kam der Rabe nie mehr zurück.

Seit jenem Tag, an dem der Rabe
Sein geschütztes Nest verschmäht',
Seit ich die Blume trug zu Grabe,
Meine Ruhe nicht mehr habe,
Bitt' ich, dass sie nicht auch von mir geht.
Ginge sie fort, ging' auch mein Leben,
Und das ist kein leeres Wort.
Was ich besaß, hab' ich vergeben,
Meine Seele und mein Leben,
Und die nähme sie mit sich hinfort.

[Reihard Mey: Aus meinem Tagebuch. Intercord 1970.]
Frédérik Mey

Dans mon jardin

Dans mon jardin, dans mon jardin
Fleurissait la dauphinelle.
Au milieu des pierres de mon jardin,
Dans le sable aride de mon jardin,
Où se meurent même les immortelles.
Dessous mon toit, dessous mon toit
Un corbeau faisait son nid.
Sous les tuiles brisées qui font mon toit,
Sous les poutres bancales de mon toit,
Où les quatre vents ont leur abri.

Dans ma vie, dans ma vie
Elle est venue s'égarer.
Et elle s'est installée dans ma vie,
Et a pris tant de place dans ma vie
Que j'en suis tout déconcerté.
Je lui ai donné, je lui ai donné
Tout ce qui m'appartenait.
La tendresse que j'avais à donner,
Mon amour, mon âme, j'ai tout donné.
Elle est tout ce que j'ai désormais.

Dans mon jardin, dans mon jardin
Je soignais la dauphinelle.
J'enlevais les pierres de mon jardin,
J'arrosais le sable de mon jardin.
Mais la fleur est morte de tant de zêle.
Sur mon toit, sur mon toit
Une à une, j'ai remplacé
Les tuiles et les poutres de mon toit,
Mais le nid du corbeau sous mon toit
Depuis s'est trouvé déserté.

Depuis le jour, depuis le jour
Où la fleur bleue s'est fanée,
Où le corbeau s'est envolé sans retour,
J'ai peur qu'elle ne dédaigne mon amour
Et regrette sa liberté.
Depuis ce temps, depuis ce temps
Pour qu'elle reste, je prie.
Je ne voudrais plus vivre comme avant,
Sans elle, un jour, une heure seulement.
Avec elle, s'en irait ma vie.

[Frédérik Mey: Edition Francaise Vol. 2. Intercord 1973.]

In Deutschland wird es kaum einen Menschen geben, der Reinhard Mey nicht kennt. 28 Studioalben hat er seit 1967 veröffentlicht und denkt auch mit über 80 Jahren noch nicht ans Aufhören: Nummer 29, Nach Haus, ist für Mai 2024 angekündigt. Hierzulande wenig bekannt ist dagegen das französische Alter Ego des Sängers, Frédérik Mey, unter dem er immerhin sieben Alben auf den Markt brachte. Die Karriere begann zweisprachig. „[…] Als ich dann anfing, Musik zu machen, kam mir der Gedanke, Mensch, du hast ja eine zweite Sprache, laß sie nicht brach rumliegen […]“, kommentiert der Liedermacher selbst diese Entscheidung.

Die Zweisprachigkeit war ein Geschenk seiner Eltern. Deren Freundschaft mit einer französischen Familie überdauerte den Zweiten Weltkrieg, Reinhard Mey verbrachte vielfach die Ferien im Nachbarland und besuchte außerdem ab der fünften Klasse die französische Schule in Berlin. Auch als laut eigener Aussage schlechter Schüler bestand er das deutsche und das französische Abitur. Seine hervorragenden Französischkenntnisse führte er später vor allem auf das pädagogische Geschick seines Vaters zurück; als Lehrling beim Pharmaunternehmen Schering dolmetschte er für französische Gäste.

Zu einer Laufbahn als Industriekaufmann fühlte der junge Reinhard sich nicht berufen, auch das BWL-Studium brach er ab. Seine wahre Begabung lag nun einmal im Schreiben und Interpretieren von Liedern und nach einigen Jahren der Auftritte in kleineren Sälen stellte sich schließlich der bis heute andauernde kommerzielle Erfolg ein.

In Frankreich ging es sogar noch schneller, wobei der Weg dorthin über Belgien führte. Meys Auftritt auf dem Chansonfestival in Knokke im Jahre 1967 begeisterte den französischen Plattenproduzenten Nicolas Péridès, ein Jahr später erschien Frédérik Mey Volume 1. Das französischsprachige Debüt wurde mit dem „Prix International“ der Académie de la Chanson Française ausgezeichnet, der sich wiederum auf Reinhard Meys Karriere in Deutschland positiv auswirkte. Vierzehn Jahre lang lief sie in beiden Ländern parallel, 1982 erschien mit Volume 6 Frédérik Meys vorläufig letztes Album. Erst im Jahre 2005 meldete er sich mit Volume 7 – Douce France zurück.

Viele Lieder aus der frühen Schaffensphase existieren in beiden Sprachen. In einigen Fällen wurden sie im gleichen Jahr geschrieben, in anderen ist die französische Fassung einige Jahre jünger. Manches, das durch Erlebnisse in einem Sprachraum inspiriert wurde, ist in diesem Sprachraum geblieben: Christine von 1969, ein Liebeslied an die aus Frankreich stammende erste Ehefrau, wurde nie auf Deutsch gesungen. Die unter anderem mit Hannes Wader und Schobert Schulz begangenen und in der Trilogie auf Frau Pohl von 1964/1965 festgehaltenen Jugendsünden sind dagegen dem französischen Publikum nie zu Ohren gekommen.

Sowohl in der Muttersprache als auch in der Zweitsprache schrieb Reinhard Mey In meinem Garten. Die deutsche Fassung entstand 1969 und wurde Teil seines dritten deutschen Albums Aus meinem Tagebuch. In vier Strophen werden eine Pflanze, ein Vogel und ein Mensch besungen, die vielleicht ein und dasselbe sind…

Das Reimschema der Strophen ist abaabcdccd, wobei in der zweiten Strophe anstelle von c wiederum a auftaucht. Im ersten Vers jeder Strophe mit Ausnahme der vierten wird eine Wortgruppe („in mein[em] x“) zweimal wiederholt. Bei den Endreimen handelt es sich häufig um Wortwiederholungen: Sowohl in der ersten als auch in der dritten Strophe ist a stets „Garten“, c stets „Dache“. In der zweiten Strophe ist a das Wort „Leben“, das sich auch in der vierten Strophe zweimal am Versende findet, dort allerdings an Position c. Sehr oft verwendet wird im gesamten Text auch das Possessivpronomen „mein“.

Die Parallelen auf der formalen Ebene deuten bereits auf inhaltliche Parallelen hin. In der ersten und dritten Strophe ist von Rittersporn und einem Raben die Rede, während die zweite und vierte von einer Frau sprechen. Dabei kann man den Rittersporn bei einem Künstler, der sein gesamtes Leben in Berlin verbracht hat, als Hommage an die Heimat betrachten, da die hoch wachsende und blau blühende Staude eng mit dem Namen Karl Foersters (1874-1970) verbunden ist. Dieser wirkte in Bornim (heute ein Ortsteil von Potsdam) und züchtete fast 70 verschiedene Sorten.

Delphinium, so sein wissenschaftlicher Name, gehört zur Familie der Hahnenfußgewächse und soll unter anderem wundheilend und entzündungshemmend wirken. Die Pflanze steht für eine ritterliche Haltung und edle Gesinnung, das Blau ihrer Blüten verspricht beständige Liebe. Ebenso wie andere blau blühende Pflanzen soll Rittersporn heilend auf die Augen wirken; die elsässische Odilie, Schutzpatronin der Augenkranken, trägt eine Blüte als Attribut. Die mediterrane Art Delphinium ajacis L. wird auch mit Leid und Trauer assoziiert, da man die Zeichnung auf den inneren Kronblättern als griechisch „αι“ (ai) lesen kann, einen Ausruf der Klage.

Der Rabe gilt als besonders klug und zur Weissagung fähig; bekannt sind Odins zwei Raben, die dem Gott alle Neuigkeiten berichten. Andererseits steht er dem Tod nahe, gilt als Galgenvogel und Teufelstier und ist in der christlichen Ikonographie Symbol der Avaritia (Geiz / Gier) oder des sündhaften Menschen. Möchte man die beiden im Lied erwähnten Teile der Natur als Symbole sehen, sind sie also recht ambivalent.

In der ersten Strophe wird die Ausgangssituation beschrieben. Der Garten des lyrischen Ich war in einem schlechten Zustand, geprägt von „Unkraut“ und „Geröll“, doch der Rittersporn blühte darin. Auch um das Haus mit seinem „brüchigen“ und „zerfallenen“ Dach stand es nicht besser, was einen Raben nicht davon abhielt, sich dort sein Nest zu bauen. In der dritten Strophe wird das lyrische Ich tätig, um bessere Bedingungen zu schaffen: Der Rittersporn wird gegossen, der Garten auf Vordermann gebracht, neue Ziegel schließen die Löcher im Dach. Das Ergebnis ist das genaue Gegenteil des eigentlich Bezweckten – der Rittersporn verwelkt, der Rabe lässt sich nicht mehr sehen.

Die zweite Strophe erzählt von der Begegnung mit einer Frau, die sich im „engen Leben“ des lyrischen Ich niedergelassen hat. Der Sprecher glaubt, ihr etwas schuldig zu sein, gibt ihr alles, was er „an Vernunft und an Verstand“ erübrigen kann, sowie seine Seele. In der vierten Strophe erinnert er sich an seine Erfahrungen mit Rittersporn und Rabe zurück (seine „Ruhe“ hat er dadurch verloren) und verleiht seiner Sorge Ausdruck, trotz (oder wegen?) der erbrachten Opfer auch die geliebte Frau zu verlieren. Das Wort „Seele“ wird als Gabe an sie erneut erwähnt, als weitere Gabe wird das „Leben“ genannt. Dieses wird bereits in der zweiten Strophe mehrfach erwähnt, dort jedoch wie ein Ort beschrieben, den die Frau betreten hat.

Die französische Version Dans mon jardin wurde 1971 geschrieben und auf dem Album Volume 2 veröffentlicht – gemeinsam mit völlig anderen Stücken als das deutsche Original. Hier finden wir neben zahlreichen weiteren Übereinstimmungen das gleiche Reimschema wie in der deutschen Fassung vor. Die Wiederholungen von Wortgruppen im ersten Vers jeder Strophe wurden hier noch weiter ausgeführt: Auch die vierte Strophe beginnt so und sogar ihre zweite Hälfte wird auf diese Weise eingeleitet. Während in Strophe eins bis drei „dans mon jardin“ und „dans ma vie“ (also Übersetzungen der entsprechenden Stelle im Deutschen) wiederholt werden, sind es in Strophe vier „depuis le jour“ (seit dem Tag) und „depuis ce temps“ (seit jener Zeit).

Eine zusätzliche Wiederholung findet sich auch in der zweiten Strophe, in deren Mitte es zweimal hintereinander „je lui ai donné“ (ich habe ihr gegeben) heißt. Die Parallelen zwischen Strophe zwei und vier sind also noch stärker als im Original. Ein Wortspiel, das im Deutschen so nicht möglich wäre, hat Frédérik Mey in die erste Strophe eingebaut: Der Garten ist so steinig und der Boden so wenig fruchtbar, dass „se meurent même les immortelles“ (selbst die Immortellen sterben).

Zwar ist der Sprecher im Französischen über die Ankunft der Frau in seinem Leben ebenso „déconcerté“, wie er im Deutschen „verwirrt“ ist, doch ihr Verhältnis wird etwas anders beschrieben. In der deutschen Fassung kommt das Wort „Liebe“ gar nicht vor, in der französischen dagegen zweimal, als Gabe in der zweiten Strophe und in der Formulierung „j’ai peur qu’elle ne dédaigne mon amour“ (ich habe Angst, dass sie meine Liebe verschmäht) in der vierten.

Was im Garten nur angedeutet wird (übertriebene Fürsorge kann erdrückend wirken), spricht der Jardin deutlicher aus. Neben seiner Liebe und seiner Seele hat das lyrische Ich der Frau auch „tendresse“ (Zärtlichkeit) gegeben und befürchtet, sie könnte „regrette[r] sa liberté“ (ihrer Freiheit nachtrauern). Ohne sie möchte er nicht einmal „un jour, une heure seulement“ (einen Tag oder nur eine Stunde) leben – eine Hyperbel, die der deutsche Text nicht enthält.

In der französischen Fassung verwelkt der Rittersporn nicht „im Zorn“, sondern er stirbt „de tant de zêle“ (durch so viel Eifer). Das lyrische Ich bittet nicht nur darum, dass die Geliebte bei ihm bleibt, es hat auch explizit Angst („peur“), sie zu verlieren. Der letzte Vers wiederum ist dem Schluss im Deutschen sehr ähnlich: „Avec elle, s’en irait ma vie“ (mit ihr ginge mein Leben fort).

Dans mon jardin wurde zwei Jahre nach In meinem Garten für ein anderes Publikum geschrieben. Empfand der Autor selbst mit etwas Abstand sein Thema anders und wollte bestimmte Aspekte stärker hervorheben? Wurde seine Entscheidung für andere Formulierungen von anderen Konventionen in französischen Liedtexten beeinflusst? Das Lied Ma liberté von Georges Moustaki wurde in jenen Jahren zunächst von Serge Reggiani und dann vom Autor selbst interpretiert und war Reinhard-Frédérik sicherlich bekannt.

Die berühmte Wirkungsäquivalenz ist trotz der genannten Unterschiede in diesem Falle ebenso gegeben wie bei zahlreichen anderen Selbstübersetzungen von Reinhard Mey. Seine Beherrschung der Nachbarsprache ist beeindruckend. Für des Französischen mächtige Fans des Liedermachers lohnt es sich, auch Volume 1 bis 7 zu entdecken. Ein Textvergleich kann auf Altbekanntes möglicherweise eine neue Sicht eröffnen.

Irina Brüning, Hamburg

Quellen:

Lurker, Manfred (Hrsg.): Wörterbuch der Symbolik, Stuttgart, 51991

Mey, Reinhard (mit Bernd Schroeder): Was ich noch zu sagen hätte, Köln, 2005. Das wörtliche Zitat stammt von Seite 60.

Zerling, Clemens H. (Hrsg. Wolfgang Bauer): Lexikon der Pflanzensymbolik, Darmstadt, 22013

https://www.reinhard-mey.de

https://www.potsdam.de/de/foerster-garten-potsdams-norden

Runter vom Sofa, raus aus der Luftaufsichtsbaracke! Reinhard Meys Chanson „Über den Wolken“ (1974)

Reinhard Mey

Über den Wolken

Wind Nord/Ost, Startbahn null-drei			 1
Bis hier hör' ich die Motoren
Wie ein Pfeil zieht sie vorbei
Und es dröhnt in meinen Ohren
Und der nasse Asphalt bebt				 5
Wie ein Schleier staubt der Regen
Bis sie abhebt und sie schwebt
Der Sonne entgegen

Über den Wolken			
Muss die Freiheit wohl grenzenlos sein			10
Alle Ängste, alle Sorgen
Sagt man
Blieben darunter verborgen
Und dann						
Würde was uns groß und wichtig erscheint		15
Plötzlich nichtig und klein

Ich seh' ihr noch lange nach
Die dunklen Wolken erklimmen
Bis die Lichter nach und nach
Ganz im Regengrau verschwimmen			        20
Meine Augen haben schon
Jenen winz'gen Punkt verloren
Nur von fern' klingt monoton
Das Summen der Motoren

Über den Wolken […]					25

Dann ist alles still, ich geh'	
Regen durchdringt meine Jacke
Irgendjemand kocht Kaffee				35
In der Luftaufsichtsbaracke
In den Pfützen schwimmt Benzin
Schillernd wie ein Regenbogen
Wolken spiegeln sich darin
Ich wär' gern mitgeflogen				40

Über den Wolken [..]

Über den Wolken […]

     [Reinhard Mey: Wie vor Jahr und Tag. Intercord 1974.]

Von den späten 1960er Jahren an war Reinhard Mey für mich über eine geraume Reihe von Jahren hinweg der Liedermacherschlechthin, wobei ich diesen Begriff aus den seinerzeit populären Medien übernommen hatte und ohne definitorischen Ehrgeiz als deutsche Variante des amerikanischen Begriffs Singer-Songwriter gebrauchte. Da ich um die Frankophilie Meys wusste, hätte ich auch nichts dagegen gehabt, wenn jemand seine Lieder als ,Chansons‘ bezeichnet hätte, d.h. als einigermaßen ,textlastige‘ Gesänge, die mit instrumenteller Begleitung vorgetragen werden.

Selbstverständlich waren mir zu Beginn der 1970er Jahre auch noch andere ,Liedermacher‘ vertraut, zum Beispiel Franz Josef Degenhardt, Wolf Biermann, Georg Kreisler, Ulrich Roski, Hannes Wader, Schobert und Black, Fredl Fesl, Rainhard Fendrich. Von anderen kannte ich nur einzelne Lieder, weil sie mir entweder nicht besonders zusagten oder sie viel seltener im Radio gebracht wurden: Hanns Dieter Hüsch, Bettina Wegner, Dietrich Kittner, Hans Söllner, Walter Mossmann, Willy Michl, Georg Ringsgwandl. Wieder andere lernte ich erst viel später kennen, etwa Hubert von Goisern, Wiglaf Droste, Rainald Grebe, Funny van Dannen oder Willi Resetarits, und manche Künstler hätte ich gar nicht als ,Liedermacher‘ wahrgenommen, sondern als ,Blödel-Barden‘, Austro-Popper, Jazzer oder Rocker in andere Schubladen gesteckt. Während nun – jedenfalls in meiner damaligen Wahrnehmung –  alle diese Personen ihr Liedermachertum auf eine relativ spezielle Art und Weise betrieben, sei es gesteigert intellektuell oder makaber, sei es sentimental oder als stramm-linke Agitation, hier in einem speziellen Dialekt, dort auf absurd-lustige, betont deftige oder gar forciert testosteronlastige Weise, bespielten Reinhard Meys unzählige Songs (fast) alle denkbaren Themen und Stile des Genres, ohne diese aber je ins Extreme zu treiben.

Die kleine Einschränkung muss ich vielleicht noch erklären. In seiner Biographie Was ich noch zu sagen hätte wird Mey einmal von seinem Gesprächspartner gefragt, worüber er eigentlich noch kein Lied geschrieben hätte. Darauf der Künstler: „Über die Gen-Tomate, über Silikonimplantate, über die Haushaltsdebatte, über die alte Fußmatte, über Kindergeburtstage, über die Borkenkäferplage“ (S. 296.) Über alles andere hat er demnach schon gesungen und vermutlich habe ich die meisten dieser Lieder auch schon irgendwann einmal gehört. Da ich allerdings kein ausgesprochener Reinhard-Mey-Fan bin (wie mir überhaupt ganz grundsätzlich das Talent zum Aficionado abgeht), gerieten mir im Laufe der Jahre die allermeisten davon auch wieder in Vergessenheit. Hängen geblieben sind schließlich Erinnerungen an eine Handvoll, was angesichts der Lebensleistung dieses Liedermachers einerseits fast gar nichts ist, andererseits aber doch auch wieder mehr als bei allen seinen Kollegen.

So standen die folgenden fünf Titel zur Auswahl: Komm, gieß‘ mein Glas noch einmal ein (1970), Der Mörder ist immer der Gärtner (1971) Gute Nacht, Freunde und Annabelle von seinem fünften deutschen Studioalbum Mein achtel Lorbeerblatt (1972) sowie Über den Wolken (LP Wie vor Jahr und Tag, 1974). Mit der Wahl des letzten Titels habe ich mich für das wahrscheinlich bekannteste und zugleich poetischste Lied Reinhard Meys entschieden, das nicht nur unter den Verehrern und Liebhaberinnen fliegender Kisten treue Fans hat. Diese Entscheidung habe ich übrigens durchaus in dem Bewusstsein getroffen, dass Vers 37 auf das gesamte Chanson ein sehr bedenkliches Licht wirft! Ich sage nur: Umweltkatastrophe! Oma im Hühnerstall Kavaliersdelikt dagegen!  

Der Text des Songs ist im Grunde ganz leicht zu verstehen: Die Sprecherinstanz beobachtet den Start eines Flugzeugs und folgt ihm eine Weile mit Augen und Gedanken nach. Selber im Regen stehend malt sie sich aus, wie der Flieger gleich die Wolkendecke durchstoßen und die Sonne sehen wird. Indem sich die Insassen des Flugzeugs vom Boden lösen, werden sie Abstand zu ihren Alltagssorgen gewinnen und ein ungeheures Gefühl von Freiheit verspüren. Das nimmt der Sänger jedenfalls an, so hat er es auch schon von vielen anderen gehört. Mit einem wehmütigen Gefühl und der Sehnsucht, selber der Sonne entgegen fliegen zu dürfen, bleibt er – wenigstens noch dieses Mal – am Boden zurück – im Regen und vermutlich auch beschwert mit einigem Kummer und etlichen Sorgen. In der dritten und zugleich letzten erzählenden Liedstrophe ist das Flugzeug am Sichthorizont verschwunden und nur noch akustisch präsent. Der Sänger löst seinen Blick vom Himmel und wendet sich Objekten im Nahbereich zu, die ihm aber durchaus ein kleines Quantum Trost spenden: In der Luftaufsichtsbaracke wird Kaffee gekocht, was dem Sauwetter ein wenig Wärme und Gemütlichkeit entgegensetzt,* und die Pfützen am Boden spiegeln den Himmel. Trickreich, aber absolut stimmig retuschiert der Liedermacher das mythische Symbol des Regenbogens, der eine Brücke von der Erde in den Himmel schlägt und damit Götter und Menschen versöhnt, in diese Spiegelungen hinein.

Ich denke, dass Reinhard Meys Song vom großen Menschheitstraum, sich den vertikalen Raum zu erschließen, damit hinreichend verstanden ist. Alle weiteren Kommentare betreffen biographische, flugtechnische, literatur- und motivgeschichtliche sowie literarisch-handwerkliche Details, für die man sich interessieren kann, aber nicht muss, da sie das Vergnügen am Lied vermutlich nur in diesem oder jenen Einzelfall befördern werden.

Bei meiner Beschäftigung mit diesem Chanson habe ich mich gleich eingangs ausführlich mit der Frage nach dem räumlichen Standort der Sprecherinstanz und der Perspektive ihrer sinnlichen Wahrnehmungen befasst, auf die ich keine so richtig stimmige Antwort gefunden habe. Um hier keinen falschen Eindruck aufkommen zu lassen: Als poetisches Ganzes ,stimmt‘ das Lied m.E. absolut! Es evoziert eine dichte suggestive Atmosphäre und macht es Hörern leicht, sich mit den Eindrücken und Reflexionen des Sängers zu identifizieren. Aber wenn wir fragen, wo dieser Sänger konkret steht – direkt neben der Startbahn oder außerhalb des Flugfeldes? –, welcher Beschäftigung er wohl nachgeht, über welche fliegerischen Kenntnisse und Zutrittsbefugnisse er verfügt etc., bleibt vieles im Unklaren. Ist der Flugplatz, auf dem sich der beschriebene Vorgang abspielt, ein kleines Flugfeld (wofür die „Luftaufsichtsbaracke“ spricht) oder ein großer, vielleicht sogar militärisch genutzter Airport, wo die Sorte von Maschinen startet, die tatsächlich ,den Asphalt zum Beben bringen‘ können? Das hätte ich schon gerne genau gewusst.

Ein Blick in die Biographie Reinhard Meys erbringt ein paar nützliche Fakten, die sich interpretatorisch verwerten lassen. Man erfährt zum Beispiel, dass er 1973 seine erste Fluglizenz in Wilhelmshaven erworben hat; viele weitere sollten folgen, am Ende sogar solche für Kunstflug und Hubschrauber. Der dortige ‚JadeWeserAirport‘ (1974 noch unter dem Namen ,Wilhelmshaven-Mariensiel‘ etwas kleiner dimensioniert und schlechter ausgestattet) ist flugrechtlich als ,Verkehrslandeplatz‘ klassifiziert und damit strukturell zwischen Flughäfen und Segelflugplätzen zu verorten. Er besitzt zwei Start- bzw. Landebahnen; die im ersten Vers als Ort des Geschehens bezeichnete „Startbahn null-drei“ mag terminologisch authentisch sein oder auch nicht,** die heutigen Bahnen tragen jedenfalls andere Bezeichnungen („02/20“ und „16/34“).

Da ich leider keine Fluglizenz erworben habe und solche Verkehrslandeplätze nur als Spaziergänger und Vogelzähler von außerhalb kenne, weiß ich nicht, ob der erste Vers eine schriftliche Anzeige zitiert, die irgendwo an solchen Flugfeldern aushängt, oder eine Durchsage an den startenden Piloten. Allerdings weiß ich, dass vor dem Zaun des Flugplatzes kein Asphalt mehr unter den Füßen eines Beobachters zittert, wenn dort Sport- oder kleine Geschäftsreiseflugzeuge abheben. Ich erkläre mir die im Lied wiedergegebenen Wahrnehmungen der Sprecherinstanz als Amalgam aus Sinneseindrücken eines Piloten und eines Bodenbeobachters; dieser ist mit eigenem Leibe der Regengischt ausgesetzt, jener erfährt aus nächster Nähe die enorme Kraft der Triebwerke und die Beschleunigung der Maschine, während der ferner postierte Zaungast diese Bewegungen bei kleineren zivilen Fluggeräten eher als vergleichsweise behäbige Vorgänge wahrnimmt.

Vers 8 konstatiert, dass die gestartete Maschine „der Sonne entgegen“ fliegt. Im Kontext dieses Lieds bedeutet das mit Sicherheit nur Schönes: Das Flugzeug und seine Insassen lassen das fiese Regenwetter unter sich zurück und – zumindest nach Ansicht des Beobachters – auch  ihren Alltagskummer. Notorische Leser und gelernte Literaturwissenschaftler können sich an dieser Stelle allerdings kaum dagegen wehren, dass ihnen die mythischen Flieger Dädalus und Ikarus einfallen, von denen der jüngere dummerweise der Sonne ein wenig zu nahe gekommen ist. Reinhard Mey musste die Ikarus-Geschichte natürlich auch geistig präsent haben, wenngleich er in Über den Wolken einschlägige Anspielungen über das Sonnen-Motiv hinaus vermeidet. Sein nächstes Studioalbum (1975) sollte dann aber schon mit Ikarus überschrieben werden und auch einen entsprechenden Song enthalten. Überraschender Weise befasst sich dieses Lied dann jedoch nicht mit dem tragischen Schicksal des antiken Flugpioniers, sondern feiert zauberhafte Wetter- und Landschaftserlebnisse.

Zur Phrase „Der Sonne entgegen“ fallen mir eine Menge weiterer Bezüge ein – zu Filmen, mehr oder minder bekannten Schlagern, literarischen Texten und sogar zu einer gleich betitelten Fernsehserie –, ohne dass es sinnvoll erscheint, diesen Spuren zu folgen. Sie tragen zum Verständnis unseres Liedtextes schlicht nichts bei. Ausschließen dürfen wir auf alle Fälle eine Interpretation der Formel im Sinne des modernen Massentourismus, dass das Flugzeug seine Insassen zu einem südlichen ,Sonnenstrand‘ am Mittelmeer oder sonstigen attraktiven Fernreisezielen befördern würde.

Der Refrain betont das Freiheitsgefühl, das sich angeblich beim Fliegen einfinden würde. Im Lied geht es um eine ,Freiheit von‘, keine ,Freiheit wozu‘. Eine Kommentierung verdienen dabei auch die negativen ,Dinge‘, die Pilot und Mitreisende hinter sich lassen, wenn sie vom Boden abheben und die dunklen Wolken durchstoßen: Es sind dies nicht näher konkretisierte private Kümmernisse und Sorgen, nicht gesellschaftlich-politisch zu verhandelnde Übel oder Freiheitseinschränkungen. Man hat es Reinhard Mey in den frühen 1970er Jahren von linker Seite her ausgesprochen krumm genommen, dass er seine Popularität nicht in den Dienst der revolutionären Sache gestellt, sondern in seinen Liedern zumeist nur die kleinen Widrigkeiten des Alltags thematisiert hat, private Liebesverwicklungen, die Freuden der Fliegerei, den Schutz der Tiere und Ähnliches. Und wenn er sich ab und an dann doch mit politischen Sachverhalten auseinandergesetzt hat, dann trat er besagten Kritikern zu ,zahm‘ auf, im Ton zu moderat, kurz: zu angepasst an die Spießergesellschaft.

Die schärfsten Verrisse seiner Lieder und Auftritte lassen sich in den mittleren 1970er Jahren finden, nachdem Meys kommerzieller Erfolg unübersehbar geworden war und es sich zugleich herumgesprochen hatte, dass er sich politisch nicht würde vereinnahmen lassen:

Rechnet nicht mit mir beim Fahnenschwenken,
Ganz gleich, welcher Farbe sie auch sein’n.
Ich bin noch imstand‘, allein zu denken,
Und verkneif‘ mir das Parolenschrei’n.***

Als er sich dann auch noch ,erdreistete‘, Auswüchse der 68er Studentenbewegung satirisch aufzugabeln (Annabelle, 1972), wurde dieses Unterfangen plötzlich gar nicht mehr als ,harmlos-heintjeartig‘ empfunden, sondern als „Hexenjagd in Chanson-Form“ gegeißelt. (Diese ebenso maß- wie humorlose Formulierung findet sich in Thomas Rothschilds Liedermacher-Buch; vgl. im Wikipedia-Artikel über R. Mey den Abschnitt „Rezeption“.) Mit der Zeit wurde die Stimmung dann wieder unaufgeregter, der Zeitgeist marschierte in neue Richtungen, und so fand Hilmar Klute in der SZ vom 21. Dezember 2012 nur noch Worte der Anerkennung für den inzwischen 70 Jahre reif gewordenen Liedermacher: „Mittelmäßigkeit lautet der Vorwurf derer, die allen Ernstes von sich glauben, ihr Leben sei eine permanente Sensationsveranstaltung. Reinhard Mey, dessen Leben vermutlich bunter und interessanter war als das der meisten seiner Verächter, ist weise genug, auf all dies nichts zu geben. Er hat die Chronik unseres bürgerlichen Lebens in berührend langmütigen, wunderbar sentimentalen und angemessen moralischen Balladen gesungen.“

Auch unser Lied findet bei Klute eine Extra-Würdigung: „Sein größter Erfolg ist die Flieger-Hymne ‚Über den Wolken‘, eine klug und poetisch gezeichnete Miniatur, in der das Große sich im Kleinen spiegelt und die machtvollen Worte Freiheit, Angst und Sorge auf federleichte Weise zu ihrem Recht kommen. Allein für das Reimpaar Jacke/Luftaufsichtsbaracke müsste man ihm den Hölderlin-Preis geben.“ Ja, das Wort „Luftaufsichtsbaracke“ hat etwas, wenn es in einem lyrischen Kontext erklingt! (Deshalb habe ich es ja auch in meinen Titel eingebaut … ;-)) Allerdings würde ich mich jetzt nicht gleich dem Vorschlag für den Hölderlin-Preis anschließen. Dafür ist mir das Reimwort „Jacke“ zu blass im Nachgeschmacke. „Karacke“ (Segelschiffstyp des ausgehenden Mittelalters) oder „Schabracke“ (Pferdedecke, auch hellere Flankenfärbung eines Tiers,  z.B. bei der Schabrackenlibelle – Anax ephippiger) hätten mich reimtechnisch mehr beeindruckt, meinetwegen auch „Eisenhüttenschlacke“ oder …

Einen kleinen Kommentar zum guten Schluss verdient auch noch das Regenbogenmotiv. Als der Sänger das startende Flugzeug schon längst nicht mehr sehen kann und sich auf den Heimweg gemacht hat, hängt er seinem Erlebnis noch immer nach. Sein bodenzugewandter Blick wird von den Regenpfützen himmelwärts umgelenkt. Der Himmel ist freilich noch immer wolkenverhangen und die Sonne hält sich nach wie vor hinter dem Gewölk versteckt und wird sich nur dem Flieger zeigen, sobald dieser die Wolkendecke durchstößt. Doch ein bisschen Benzin zaubert die Farben des Regenbogens in die Spiegelungen, die damit das mächtige, vielen Kulturen dieser Welt vertraute Hoffnungs- und Versöhnungssymbol evozieren. Wo immer er aufscheint, verspricht uns der Regenbogen, dass wir das Schlimmste hinter uns haben und dass die Brücke, auf der wir unseren Himmel erklimmen können, schon gebaut ist. Der frischgebrühte Kaffee kommt da gerade recht …

Hans-Peter Ecker, Bamberg

 * Ganz gleich, ob der Sänger jetzt einen Pott davon abkriegen wird oder nicht.

** Was die Klanggestalt bzw. Vokal-Abfolge des ersten Liedverses („Wind Nord/Ost, Startbahn null-drei“) angeht, ist diese m.E. poetisch erste Sahne! Da spielt es überhaupt keine Rolle, wie die Startbahn von Wilhelmshaven-Mariensiel seinerzeit tatsächlich hieß.      

*** Bevor ich mit den Wölfen heule, 1971. Inhaltlich folgt dieses Lied übrigens einer ähnlich gearteten Positionserklärung, die Bob Dylan, freilich mit ganz anderen Formulierungen, in seinem Song My back pages (1964) abgegeben hatte.

Literatur:

Natascha Adamowsky: Das Wunder in der Moderne. Eine andere Kulturgeschichte des Fliegens. München: Fink, 2010.

Hilmar Klute: Poet des Alltäglichen. Reinhard Mey wird 70. Süddeutsche Zeitung vom 21. Dezember 2012.

Reinhard Mey: Was ich noch zu sagen hätte. Mit Bernd Schroeder. Köln: Kiepenheuer & Witsch, 2005.

Praktizierte emotionale Intelligenz. Ludwig Hirschs Chanson „Und der Schnee draußen schmilzt“ (2002)

Ludwig Hirsch

Der Schnee draußen schmilzt

Bist traurig?
A bissl traurig?
Du, es macht nix,
Setz di afoch hi und horch ma zua.
Und ganz allein für dich,
Wirst seh'n,
Zwitschern die Vogerl im Chor.
Und der Kater neben dir,
Wirst seh'n,
Schnurrt der wieder leise ins Ohr.
Horch ma zua.
Und der Schnee draußen schmilzt.

Bist grantig?
So richtig grantig?
Du, es macht nix,
Setz di afoch hi und horch ma zua.
Und die Vogerl kommen g'flogen,
Wirst seh'n,
Und schaun ganz frech zum Fenster rein
Und sie lachen sich halb tot
Wirst seh'n
Wenn sie dem Kater neben dir den Vogel zeigen.
Setz di hi
Und der Schnee draußen schmilzt.

Schau, da fliegt was hin und her
Zwischen uns zwa hin und her.
Schau, da fliegt ein Lächeln hin und her.
Und der Schnee draußen schmilzt.

Fürchst di?
Gel, du fürchst di?
Du, es macht nix,
Setz di afoch hi und horch ma zua.
Und die Vogerl tuan si z'amm,
Wirst seh'n,
Und pecken die Eingangstür auf.
Und der Kater neben dir,
Wirst seh'n,
Der faucht alle G'spenster raus.
Horch ma zua.
Und der Schnee draußen schmilzt.

     [Ludwig Hirsch: Der Schnee draußen schmilzt. Universal 2002.]

Erste Vorbemerkung: Mir ist klar, dass ich früher oder später hier den Schwarzen Vogel von Ludwig Hirsch besprechen will, ja MUSS. Dieses Lied ist einfach zu bedeutend, sein Thema zu wichtig, als dass die Deutschen Lieder es auf Dauer ignorieren könnten. Aber genau so klar ist mir auch, dass das keine leichte und auch keine angenehme Aufgabe wird. Deshalb hier und heute erst mal was anderes: gewissermaßen eine umwegige Annäherung an den Punkt, wo es wehtun wird …

Zweite Vorbemerkung: Ich denke, dass es ein ziemlich einfaches Kriterium dafür gibt, gute von schlechten Beziehungen zu unterscheiden – den Energiehaushalt. Gute Beziehungen erzeugen für alle Beteiligte ein deutliches Plus an Lebensfreude und guten Gefühlen, schlechte Beziehungen reduzieren die vorhandene Energie. (Bei ,vampirischen Beziehungen‘, die natürlich von besonderem Übel sind, saugt ein Partner den anderen energetisch aus.) Das nachfolgend zu besprechende Chanson von Ludwig Hirsch demonstriert, wie in einer intakten Beziehung ein Partner bzw. Freund den anderen aus einem seelischen Tief herausholt, statt sich selbst hinunterziehen zu lassen.

Der geschilderte Vorgang ist eigentlich ganz einfach. Ein Mensch spürt, dass es dem Partner nicht gut geht. Er reagiert darauf mit Zuwendung, Interesse und Empathie. Dreimal wird nachgefragt, wobei jede Frage tiefer gräbt bzw. eine möglicherweise schlimmere Ursache der Verstimmung in Betracht zieht: „Bist traurig?“ – „Bist grantig?“ – „Fürchst di?“ Jedes Mal folgt auf die Frage gleich die beruhigende Feststellung „Du, es macht nix,“ gefolgt von einer Einladung zu liebevoller Nähe. Der traurige, grantige oder sich fürchtende Partner muss sich weder rechtfertigen noch ,zusammenreißen‘ und Vorwürfe bekommt er schon gar nicht zu hören. Sein Partner signalisiert ihm gerade im Augenblick der Schwäche absolute Akzeptanz und Solidarität. Von ihm wird nicht mehr verlangt, als sich für den Partner, der ihn trösten und auf bessere Gedanken bringen will, zu öffnen.

Ich halte es auch für bemerkenswert, dass der besorgte Partner keine rationale Ursachenforschung betreibt. Er legt es nicht darauf an herauszufinden, welche konkrete Verlusterfahrung hinter der vermuteten Traurigkeit stehen könnte, welcher Ärger den Unmut ausgelöst hat oder wovor der geliebte Mensch Angst hat. Diese Strategie ist psychologisch klug bzw. ,emotional intelligent‘, weil sie nicht Gefahr läuft, das Leid des Betroffenen klein zu reden bzw. – was noch schlimmer wäre – auf eine falsche Realitätswahrnehmung, Verhaltensfehler oder Charakterschwächen zu reduzieren.

Dass Ludwig Hirschs Text kunstvoll komponiert ist, lässt sich an den drei Einreden erkennen, die sich inhaltlich steigern und dabei jedes Mal auf die unterstellte Ursache der Verstimmung bezogen sind. Der Traurigkeit wird ein Weltbezug entgegengesetzt, die tröstende Sprecherinstanz macht den Partner auf lebendige Wesen aufmerksam, die sich vorgeblich ganz speziell ihm zuwenden würden. Die im Mittelteil des Chansons vermutete ,Grantigkeit‘ des Partners, sein Ärger, wird mit Humor bekämpft, der seine Wirkung im Lächeln erweist, das zwischen den Menschen hin und herfliegt. Dass die Sprecherinstanz den Grantler auf dieses Lächeln aufmerksam machen muss, versteht sich. Zum Schluss geht es um die Möglichkeit einer bedrückenden Angst. Der empathische Partner verzichtet darauf, über denkbare Ursachen zu spekulieren und diesen ,vernünftig‘ beizukommen, sondern nimmt sie als gegeben hin und entwirft ein märchenhaftes Szenario, in dem die zuvor eher als Widersacher eingeführten Tiere exorzistisch zusammenarbeiten, um die bösen Gespenster zu verjagen.

Alle drei längeren Versblöcke enden mit „Und der Schnee draußen schmilzt.“ Die Funktion dieses Verses als Titel unterstreicht seine Bedeutung. Das zwischenmenschlich-seelische Geschehen verläuft parallel zum Naturgeschehen, und offensichtlich in eine gute Richtung. Wärme breitet sich aus, mit einiger Wahrscheinlichkeit nachhaltig: der Winter scheint gebrochen. Für mich ist nicht eindeutig zu entscheiden, ob dieser Vers jeweils noch der Einrede der Sprecherinstanz zuzuschlagen und damit an den aufzurichtenden Partner adressiert ist, oder besser als allgemeine Feststellung einer übergeordneten Erzählinstanz betrachtet werden soll. Letztere Variante würde ich präferieren. Im Grunde muss diese Entscheidung aber auch gar nicht getroffen werden, da es in beiden Fällen auf die Korrespondenz zwischen menschlicher Gefühlslage und kosmischem Kontext ankommt. Das Tauwetter der äußeren Natur bestätigt den Erfolg der liebevollen Zuwendung des tröstenden Partners: Er dringt zur Seele des leidenden Partners vor und befreit diese von ihrem metaphorischen Eispanzer.

Ludwig Hirsch (1946-2011) war ein in der Branche beruflich wie menschlich hoch geschätzter österreichischer Schauspieler und Liedermacher; viele seiner Chansons zeichnen sich durch emotional intensive Sprechgesang-Passagen aus. Eine spezielle Variante des hier besprochenen Titels kreierte die Ludwig Hirsch verbundene norwegische Songwriterin und Sängerin Rebekka Bakken als Hommage an den verstorbenen Freund:

Hans-Peter Ecker, Bamberg

Ein Quantum Trost aus der Mandschurei. André Hellers „Schnitterlied“ (1980)

André Heller

Schnitterlied

Ein Schnitter kommt gezogen
Weit aus der Mandschurei,
Der hat von Apfelschalen
Hosen und Rock dabei.

Ein Schnitter kommt […]

Sein Lachen, das ist Thymian,
Sein Lieben Rosmarin.
Es heißt, er bringt Erbarmen
Für New York und Berlin.

Sein Lachen, das […]

Für all die Menschenorte
Mit ihrer Lügen Not,
Den Ängsten der Verzweiflung,
Dem Leugnen von Alter und Tod.

Für all die […]

Ein Schnitter kommt gezogen
Weit aus der Mandschurei,
Der hat von Apfelschalen
Hosen und Rock dabei.

     [André Heller: Verwunschen. Mandragora 1980.]

Ich halte das Klischee für begründet, dass die Wiener ein besonders intimes Verhältnis zum Tod haben. Diese Beziehung ist meiner Kenntnis nach ausgesprochen facettenreich. In Reiseführern wird sie den Touristen gerne als ,liebevoll‘ oder ,gemütlich‘ verkauft, wofür sich mit Sicherheit auch viele Belege herbeibringen ließen. Aber es gibt halt auch ganz andere Ausprägungen, z.B. pragmatische. So war etwa dem aufklärerisch gestimmten Reformkaiser Joseph II. die Prunk- und Verschwendungssucht seiner Untertanen schon grundsätzlich ein Dorn im Auge und beim Begräbnispomp erst recht. Als ökonomisch denkender Regierungschef (was heute natürlich einen Widerspruch in sich darstellt!) regte er an, einen Sparsarg mit Bodenklappe zu entwickeln. Damit hätte man liebe Verstorbene auf respektable Weise zum Friedhof ihrer Wahl kutschieren, dort dann aber ressourcenschonend in Massengräbern verklappen können. Ich fürchte abzuschweifen …

Als Nicht-Wiener interessiere ich mich jedenfalls lebhaft dafür, was die dortigen Fachleute über den Tod, seinen Charakter, seine Vorlieben und Gewohnheiten, über seine kleinen Schwächen etc. etc. zu sagen wissen und welche Tipps sie für den Fall parat haben, dass einem Freund Hein (un)versehens über den Weg läuft. Dass dieses spezielle Interesse an einem zentralen Wiener Kompetenzbereich gerade in diesen Tagen Konjunktur hat, bedarf keiner Erläuterung. Weniger bekannt als andere einschlägige Lieder des schwarzen Genres wie Der Tod, das muss ein Wiener sein (Georg Kreisler/ Topsy Küppers), Es lebe der Zentralfriedhof (Wolfgang Ambros), Der Tod (EAV), Komm großer schwarzer Vogel (Ludwig Hirsch) oder Schickt mir die Post (Wanda) dürfte André Hellers Variation des barocken Volkslieds vom Schnitter Tod sein.

Zuerst nachgewiesen wurde das alte Schnitterlied auf einem Flugblatt von 1637. Diese früheste Fassung besteht aus fünf Versblöcken von zumeist sieben Zeilen und behandelt in konventioneller Bildlichkeit und mit vorhersehbarer Pointe das allbekannte Memento-mori-Motiv, d.h. es erinnert seine Rezipienten an die Fragilität des menschlichen Lebens und bläut ihnen ein, wie wichtig es sei, ihr Sinnen und Trachten auf das Jenseits zu richten. Die ersten vier Versblöcke entwerfen das Bild eines erbarmungslosen Sensenmanns, dem Gott die Gewalt gegeben hat, die als bunte „Blümelein“ gedachten Menschen ohne Ansehen ihrer Schönheit und Jugendblüte abzuschneiden. Trost können diese Hälmchen einzig und allein im christlichen Heilsversprechen finden:

Trutz, Tod, komm her, ich fürcht dich nit,
komm her und tu ein´n Schnitt!
Wenn er mich verletzet,
so werd ich versetzet,
ich will es erwarten,
in himmlischen Garten.
Freu dich, schöns Blümelein!

Der anonyme Text jener Flugschrift wurde in der Folge mehrfach erweitert, wobei sich weitere Verse relativ einfach hinzudichten ließen, indem man die Botanik bemühte und die Liste der Pflänzchen, die vom Schnitter abzumähen waren, einfach erweiterte. So waren im ursprünglichen Text auch die von André Heller namentlich erwähnten Kräutlein Thymian und Rosmarin noch nicht dabei. Jedenfalls kam das Thema – aus leicht nachvollziehbaren Gründen – auch nach Ende des 30jährigen Krieges, des Hexenwahns und der Pestjahre nicht aus der Mode. Clemens Brentano und Achim von Arnim kodifizierten das Schnitterlied gewissermaßen für die Moderne durch die Aufnahme in ihre Liedersammlung Des Knaben Wunderhorn (um 1806). Insofern sind wir nicht überrascht, es auch im Zupfgeigenhansel (1908), dem maßgeblichen Liederbuch der Wandervogel-Bewegung, sowie vielen anderen und neueren Liedersammlungen vorzufinden. Das sich für die diversen Textfassungen auch immer wieder neue Komponisten (Jacob Balde, Felix Mendelssohn-Bartholdy, Robert Schumann, Max Reger, Johannes Brahms, Leichenwetter und viele andere) erwärmen konnten, wird niemanden überraschen.

Hellers Schnitterlied ist in vielfacher Hinsicht bemerkenswert, weil ausgesprochen innovativ. Es findet sich im Kontext seines Studioalbums Verwunschen aus dem Jahr 1980. Man kann im Internet überall nachlesen, dass das Wiener Multitalent hier hauptsächlich Musiktitel mit autobiographischem Hintergrund veröffentlicht habe; im Hinblick auf das Schnitterlied hilft mir dieser Hinweis allerdings nicht weiter. Wichtiger scheint mir die Information, dass sich das ganze Verwunschen-Projekt der Zusammenarbeit mit dem Wiener Serapions Ensemble (gegründet 1973) verdankt, das sich vor 1980 übrigens noch Pupodrom genannt hat. Die hier zusammengeschlossenen Künstler verschiedener Sparten berufen sich auf E.T.A. Hoffmanns ,serapiontisches Prinzip‘, das die Wiener Truppe sowohl ästhetisch als auch ethisch auslegt. Die Programmatik dieser Serapiontiker ist so komplex wie anspruchsvoll. Für unseren Zusammenhang und die Kooperation mit André Heller scheinen mir vor allem drei Aspekte interessant: die beiden Ziele ihres Kunstschaffens, Gegensätzliches zu fusionieren und Geistig-Seelisches in Körperliches zu transformieren sowie das alles regierende Ethos einer grundsätzlichen Verweigerung gegenüber Opportunismus, Bevormundung und Ideologisierung in jeglicher Form. Dieses Selbstverständnis harmonierte mit André Hellers künstlerischem Selbstverständnis offensichtlich bestens.

Dieser benennt als Quelle für seine neue Behandlung des Schnitter-Themas ein portugiesisches Volkslied, das ich bislang leider noch nicht ermitteln konnte. Mitwirkende Künstler waren bei der Uraufführung:

  • Arrangement – René Clemencic
  • Bombarde [auch Pommer, Holzblasinstrument, im 15. Jh. aus der Schalmei entwickelt] – Alfred Hertel
  • Countertenor – Mircea Mihalache
  • Vasentrommel, Santur – Esmail Vasseghi
  • Renaissancelaute, Kobys [Schalenhalslaute] – András Kecskés
  • Text – A. Heller unter Rückgriff auf ein portugiesisches Volkslied
  • Rabab [auch Rubab genannt, afghanische (?) Schalenhalslaute] – Mikis Michaelides
  • Violine [engmensurierte Geige] – Andrea Bischof
  • Viola da braccio – Herwig Zelle
  • Violoncino – Alexandra Bachtiar
  • Violone – Ewald Zimmermann

André Hellers Schnitterlied besteht aus sieben vierzeiligen Strophen, von denen sich allerdings nur drei im Wortlaut unterscheiden. In drei Fällen werden die Strophen dergestalt wiederholt, dass sie zunächst von einem Countertenor präsentiert werden und in der Folge dann noch einmal von André Heller. Langeweile kommt bei dieser Verfahrensweise nicht auf, da sich die Darbietungsweisen der Sänger extrem unterscheiden. Der Vortrag des Countertenors, oft in der Maske einer mittelalterlich-frühneuzeitlichen Narrenfigur, ist stimmlich virtuos, evoziert ein längst vergangenes Zeitalter und wirkt zugleich gesteigert kunstvoll-künstlich. Heller singt betont ,unprofessionell‘, d.h. leise, sehr verhalten und in sich gekehrt. Die Performance und Stimmgewalt des Countertenors dürfen wir bewundern, aber sie erlaubt uns eine rein ästhetische Rezeption, verbunden mit einer maximalen emotionalen Distanzierung. Bei Hellers Wiederholung verhält es sich umgekehrt. Die letzte Liedstrophe wiederholt die erste; sie wird nur vom Countertenor gesungen, der im Verlauf des Videos aber demaskiert gezeigt wird, wodurch die Fremdheit bzw. Künstlichkeit seines Vortrags ein Stück weit reduziert wird.   

Wer sich mit deutschem Liedgut schon ein wenig befasst hat, weiß, dass mit einem ,daher ziehenden Schnitter‘ eigentlich nur der Tod gemeint sein kann. Dass der hier aus der ,Mandschurei‘ kommt, gibt uns ein kleines Rätsel auf, das sich aber lösen lässt, sobald die ,Apfelschalen‘ und dazu noch zwei Kleidungsstücke in den Blick geraten, die für Männer und Frauen als typisch gelten. Nach alttestamentarischem Narrativ ist der Tod erst nach dem Sündenfall in das Leben der Menschen eingebrochen, nach einer Ordnungswidrigkeit, die mit Äpfeln zu tun hatte. One apple a day keeps the doctor away? Von wegen! – Wenn unser Lied einsetzt, ist das Kind bereits in den Brunnen gefallen bzw., besser gesagt, der Apfel gegessen, wie die übrig gebliebenen Schalen beweisen. Obwohl diese, das müssen wir einräumen, nicht ganz bibelkonform sind. (Hatten Adam und Eva wirklich schon diese Keramik-Obstschälmesser? Falls ja, wer hat geschält? Adam oder Eva? Oder gar die Schlange? Eine Alternative, die ich aus Gründen, die – raumbedingt – hier nicht mehr expliziert werden können, präferieren würde. Hach, Fragen über Fragen!)

Halten wir uns nun aber wieder an die dürren Fakten! Der Tod hat die Schalen aufgelesen, gesichert und vernünftiger Weise verwertet bzw. verwerten lassen. Adam und Eva sind nach ihrem frugalen Mahl bekanntlich die Augen aufgegangen; anders formuliert: ihr Sinn für Mode ist auf einen Schlag erwacht. Nachvollziehbar, dass die Hosen und Röcke, die der Tod zum Tarnen gewisser (übrigens neu herangewachsener!) Körperteile im Sortiment hatte, mehr hermachten als alte Feigenblätter. Ob der Gevatter die schicken Teile nun selber geschneidert oder schon richtige Nadelmeister aufgetrieben hatte, konnte ich auf die Schnelle nicht in Erfahrung bringen, halte dieses Detail in unserem Kontext aber auch für nebensächlich. Auch die weiterführende Problematik essbarer Kleidung habe ich natürlich für diesen Beitrag ventiliert, zumal sie ökologisch hoch interessant ist. Ich erwähne in diesem Zusammenhang das kubanische Nationalgericht Ropa vieja („alte Kleidung“) sephardischen Ursprungs, das aber bedauerlicherweise nicht aus Apfelschalen, sondern Gemüse und geschmortem Rindfleisch zubereitet wird, und deshalb hier nicht weiter verfolgt werden soll.

Ich fasse als Zwischenergebnis zusammen: Mit dem Sündenfall und der Vertreibung aus dem Paradies ist dem AT zufolge der Tod ins Leben der Menschheit getreten, die sich damals in Gestalt von Adam und Eva urplötzlich als ,nackt‘ wahrgenommen und nach Kleidungsstücken verlangt hat, um ihre Blößen zu bedecken. André Hellers Schnitter führt sich ziemlich nett ein, insofern er nicht zu Sense und Wetzstein greift wie seine ungehobelten barocken Vorläufer, sondern Klamotten anschleppt. Ach ja, das Stichwort ,Mandschurei‘ steht noch unerklärt im Raum! Die Angaben der Bibel sind hinsichtlich der geographischen Lokalisierung des Paradieses, vorsichtig gesagt, unscharf; allerdings war einschlägig Interessierten bis zum Ende des Mittelalters klar, dass man den Garten Eden irgendwo im Osten zu suchen hatte. Mit zunehmender Kenntnis der Topographie Asiens verschob man seine vermutliche Lage immer weiter nach hinten. Aber irgendwann konnte man nicht weiterschieben, denn hinter der Mandschurei kam nur noch Wasser: Wenn das Paradiesgärtlein nicht dort angepflanzt sein sollte, wo dann sonst?

Die zweite Doppelstrophe bestätigt, ja verstärkt das Bild eines gnädigen Todes, der es mit den Menschen vergleichsweise gut meint. Während sich der Schnitter in den traditionellen Lied-Varianten nun unverdrossen seiner Sensenarbeit widmen und ohne Unterschied die gesamte Botanik köpfen würde, hat André Hellers Titelfigur aber auch gar nichts von einem gefräßigen Mähdrescher an sich! Dieser Ankömmling aus dem fernen Osten ist einer, der lacht, liebt und voller Erbarmen ist. Mich erinnert das dezent an die Ankunft eines anderen Fernreisenden, natürlich ebenfalls parallel zum Lauf der Sonne, der den alten Griechen, Wein, Fruchtbarkeit und Lebensfreude als Gastgeschenke mitgebracht hatte, weshalb sie ihn – unter anderem (jetzt arg verkürzt!) – als Dionysos, den Sorgenbrecher, verehrten. Die mythologische Nähe dieser Gestalt aus der griechischen Mythologie zu unserem freundlichen Schnitter, der lacht und liebt, ist m.E. nicht ganz von der Hand zu weisen.

In Hellers Lied verwandelt sich das Lachen des Todes zu Thymian und sein Lieben zu Rosmarin. Diese Metamorphosen setzen in poetischer Sprache das Programm der Wiener Serapiontiker um, Geistig-Seelisches in sinnlich erfahrbare Materie zu verwandeln, denn beide Heilkräuter besitzen eine spirituelle Aura, sollen aber zugleich ganz konkret und praktisch bestimmten Krankheiten bzw. Mangelerscheinungen entgegenwirken. Nach jahrhundertealtem Glauben vertreibt Thymian Depressionen und flößt den Menschen wieder Selbstbewusstsein, Mut und Tatkraft ein. Rosmarin war der Aphrodite zugesprochen und somit selbstverständlich für alle möglichen Liebesangelegenheiten zuständig. Troubadoure verehrten ihren hohen Damen Rosmaringebinde, um sie ihrer Treue zu versichern, und in Deutschland trugen Bräute jahrhundertelang Kränze aus Rosmarin, bevor die Myrte in Mode kam. Allerdings spielte das Rosmarin-Kraut seit der Antike auch eine prominente Rolle bei Begräbnissen und in Totenkulten, da man ihm eine außerordentliche Schutzkraft gegen Infizierungen und sonstige Übergriffe aus dem Totenreich zuschrieb.

Dass die guten Gaben dieses Schnitters Akte des Erbarmens darstellen, ist plausibel. Warum er aber gerade New York und Berlin beglücken soll, erschließt sich nicht auf den ersten Blick. Beim Nachdenken über diese Kombination fiel mir spontan Leonard Cohens ,Terroristen-Song‘ First We Take Manhattan (… then wie take Berlin) ein. Da dieser Titel allerdings erst 1986 aufgenommen und 1987 veröffentlicht worden ist, kann eine ,Inspiration‘ André Hellers von dieser Seite her nicht in Betracht kommen; auch in umgekehrter Richtung waren keine Bezüge zu ermitteln. Hinweise für eine sinnvolle Deutung scheint der Texter aber in der nächsten Strophe untergebracht zu haben:

Für all die Menschenorte
Mit ihrer Lügen Not,
Den Ängsten der Verzweiflung,
Dem Leugnen von Alter und Tod.

Der erste Vers dieses Vierzeilers macht m.E. klar, dass die zuvor genannten Städte repräsentativ zu verstehen sind; stellvertretend für viele andere Menschenballungen, in denen Lüge, Verzweiflung und Verdrängung von Verfall und Sterben den Alltag bestimmen. Wenn wir eine solche Intention als gegeben ansehen, scheint es durchaus plausibel, dass sich der Dichter New York und Berlin als exemplarische Beispiele für seinen Zweck ausgesucht hat, entfalteten in den 1970er und 80er Jahren doch gerade diese beiden Metropolen eine überragende Anziehungskraft auf die ,kreative Szene‘ der westlichen Hemisphäre – dort steppte der Bär seinerzeit vielleicht noch ein bisschen atemloser als sonst wo, Jugendlichkeit wurde exzessiver zelebriert und ihr Gegenteil sturer ignoriert, obwohl die intelligenteren der Beteiligten gewusst haben dürften, dass …

Spürbar und nachvollziehbar wird das alles, auf Schritt und Tritt, zumindest aus heutiger Perspektive, in Kunstwerken, Autobiographien und Zeitdokumenten, vgl. etwa David Bowies Where Are We Now?

Ein Quantum Trost, werden sich André Heller und seine Künstler-Kollegen vom Wiener Serapions-Theater gedacht haben, kann da nicht schaden.

Hans-Peter Ecker, Bamberg

Literatur:

Lisa Freund: Es ist ein Schnitter, der heißt Tod – ein Lied über den Sensenmann. In: Elysium.Digital. Online Magazin | Leben – Sterben – Tod – Werden | unabhängig und überkonfessionell. (2017)

Homepage des Bestattungsmuseums am Wiener Zentralfriedhof.

Homepage Serapions Theater Wien.

Lieder Archiv.

Volksliederarchiv.

Erinnerung, Ermahnung, Ermutigung: Konstantin Weckers Chanson „Wenn der Sommer nicht mehr weit ist“ (1976)

Konstantin Wecker

Wenn der Sommer nicht mehr weit ist

Wenn der Sommer nicht mehr weit ist
und der Himmel violett,
weiß ich, dass das meine Zeit ist,
weil die Welt dann wieder breit ist,
satt und ungeheuer fett.

Wenn der Sommer nicht mehr weit ist
und die Luft nach Erde schmeckt,
ist's egal, ob man gescheit ist,
wichtig ist, dass man bereit ist
und sein Fleisch nicht mehr versteckt.

Und dann will ich, was ich tun will, endlich tun.
An Genuss bekommt man nämlich nie zuviel.
Nur man darf nicht träge sein und darf nicht ruh'n,
denn genießen war noch nie ein leichtes Spiel.

Wenn der Sommer nicht mehr weit ist
und der Himmel ein Opal,
weiß ich, dass das meine Zeit ist,
weil die Welt dann wie ein Weib ist,
und die Lust schmeckt nicht mehr schal.

Wenn mein Ende nicht mehr weit ist,
ist der Anfang schon gemacht.
Weil's dann keine Kleinigkeit ist,
ob die Zeit vertane Zeit ist,
die man mit sich zugebracht.

Und dann will ich, was ich tun will, endlich tun.
An Genuss bekommt man nämlich nie zuviel.
Nur man darf nicht träge sein und darf nicht ruh'n,
denn genießen war noch nie ein leichtes Spiel.

Wenn der Sommer nicht mehr weit ist
und der Himmel violett,
weiß ich, dass das meine Zeit ist,
weil die Welt dann wieder breit ist,
satt und ungeheuer fett.
satt und ungeheuer fett.

     Konstantin Wecker: Weckerleuchten – Neues von Konstantin Wecker. Polydor 1976.] 

Ich kann mich nicht daran erinnern, wann und unter welchen Umständen ich Konstantin Weckers Chanson vom nahenden Sommer zum ersten Mal gehört habe. Obwohl es vom Rolling Stone im letzten Jahr zu den ,besten deutschen Songs aller Zeiten‘ gerechnet wurde, hatte es bei mir offenkundig keinen besonderen Eindruck hinterlassen. Immerhin hatte ich mir den Titel auf einer Liste für eventuelle Besprechungen notiert und so kam es an einem knackig kalten Wintertag zu einer neuerlichen Begegnung …

Ein paar Worte zum Kontext dieser Wiederbegegnung scheinen angebracht, da er für meine Rezeption sicher nicht ganz unerheblich ist: Bamberg liegt unter einer geschlossenen Schneedecke, die Nachttemperaturen bewegen sich in zweistelligen Minusbereichen. Dank der Fürsorge unserer bayerischen Obrigkeit für das Wohl der Untertanen gibt es eine abendliche Ausgangssperre, zugesperrte Kneipen und allerlei weitere Maßnahmen dafür, dass die Menschen hübsch alleine zu Hause bleiben, sich nicht zusammenrotten und keinen Unsinn anstellen.

Dass man in dieser Lage gerne Konstantin Wecker zuhört und sogar zu glauben geneigt ist, wenn er davon singt, dass „der Sommer nicht mehr weit“ sei, muss wohl nicht näher begründet werden. Über den spitzen Türmen des Doms strahlt der Winterhimmel zwar noch eisig-hellblau, aber wenn ich nur ein wenig blinzle, kann ich mir gut vorstellen, dass sich in das kalte Himmelsblau peu à peu rote, wärmere Farbnuancen mischen, so dass allmählich die violette Färbung entsteht, die den kommenden Sommer ankündigt. Im dritten Vers der Eingangsstrophe deklariert der Sänger selbstbewusst und nicht ohne ein wenig Anmaßung seinen Besitzanspruch auf die sommernahe Jahreszeit, den er in den Schlusszeilen – ein wenig seltsam, zugegeben! – mit der ,ungeheuren‘ Fülle der Welt zu jener Zeit begründet.

Dieser Gedankengang ist nicht so ganz leicht nachvollziehbar und auch einzelnen Worten, die der Dichter/Sänger hier verwendet, muss man ein wenig ,nachschmecken‘, bis sie schließlich stimmig erscheinen. Natürlich bedient er sich einer poetischen Sprache, die das Intendierte so formuliert, dass es nicht allzu banal daherkommt, sondern ,die message‘ mittels einer Korona von Nebenbedeutungen, Anklängen und Assoziationen aufspeckt, wenn man mir diesen Ausdruck als Vorgriff auf das Adjektiv „fett“ in der fünften Zeile durchgehen lässt. Auch der oben erwähnte ,Besitzanspruch‘ wäre noch genauer zu explizieren: Wenn der Sänger von seiner Zeit spricht, stellt er sich bestimmt kein Besitzverhältnis jener Art vor, wie man sein Geld auf dem Sparbuch zu eigen oder eine Erfindung durch ein Patent geschützt hat. „Meine Zeit“ sollten wir – so jedenfalls mein Vorschlag – als Behauptung einer Art perfekter Passung verstehen, etwa so, wie sintemalen Marlene Dietrich über sich und die Liebe gesungen hat: „Ich bin von Kopf bis Fuß / Auf Liebe eingestellt, / Denn das ist meine Welt / Und sonst gar nichts.“

Ich komme noch kurz auf die in attributiver Funktion verwendeten Adjektive „breit“, „satt“ und „fett“ zu sprechen, die sich im vierten und fünften Vers der Strophe finden. Alle drei Adjektive passen, wörtlich genommen, nicht besonders gut zu ihrem Bezugswort „Welt“. Noch weniger funktionieren ihre gängigen Bedeutungen, wenn man sich vorstellt, dass die „Welt“ im Winter anders gewesen sein müsse, weil sie ja erst mit dem nahenden Sommer, also im Frühling, wieder „breit“, „satt“ und „fett“ geworden sei. Ich glaube nicht, dass sich die genannten Adjektive so erklären lassen, dass man sie zu hundert Prozent durch verständlichere Synonyme ersetzen könnte. Das macht ja gerade die Verfahrensweise von Lyrik aus, dass hier alle Wörter – im Gegensatz zu anderen Sprachspielen (Mathematik, Logik, Regelkanon im American Football etc.) – eine ganz und gar individuelle, höchst unscharfe Bedeutungsaura besitzen, die sich nun einmal nicht 1:1 verdolmetschen lässt. Aber man kann und darf dennoch darüber reden, um einander ungefähr zu verdeutlichen, in welche Richtung sich das jeweils eigene Verstehen bewegt.

Zu „breit“ findet man in Wörterbüchern auch den Bedeutungsbereich „betrunken, berauscht“ (Gegensatz: „nüchtern“). Aus der klassischen Lyrik kennt man den Ausdruck ,trunken‘ für die überglückliche Empfindung, an der Fülle der Welt teilhaben zu dürfen. Mir fällt hier zum Beispiel die Sommer-Strophe von Hölderlins Hälfte des Lebens ein, die mit holden Schwänen, die „trunken von Küssen“ sind, die schöne Jahreszeit feiert. Konstantin Weckers „breit“ lese ich in dieser Tradition als salopp-moderne Übertragung der altehrwürdigen Bezeichnung ,trunken‘ für einen Zustand hochemotionaler, glücklicher Begeisterung. Im Lied wird dieser Zustand der Welt zugeschrieben; ich mache mir hier aber ehrlich gesagt keinen großen Kopf, ob diese Zuschreibung ernst und wörtlich oder als Projektion der Sprecherinstanz zu nehmen ist. Viel wichtiger erscheint da die lautliche Nähe zu dem Adjektiv „bereit“ an gleicher Position in der nächsten Liedstrophe: der ,Breite‘ der Welt muss das Subjekt mit einer entsprechenden ,Bereitschaft‘ entgegenkommen, um etwas Gutes entstehen zu lassen.  

Meine Deutungen von „satt“ und „ungeheuer fett“ gehen in die gleiche Richtung: Das Ich erlebt bzw. charakterisiert die Welt zur Zeit des nahenden Sommers als eine Sphäre strotzenden Überflusses, überbordender Fülle und Fruchtbarkeit. „Satt“ impliziert abermals Fülle, dazu Zufriedenheit, die Aufhebung von Mängeln und Bedürfnissen, aber auch eine gesteigerte Intensität der Wahrnehmung (vgl. ,ein sattes Rot‘). „Fett“ steht nicht nur für eine Anhäufung von Glycerin-Estern, sondern findet sich auch in Wortverbindungen wie ,fette Pfründe‘ oder ,fettes Ackerland‘, die für Reichtum stehen und für die Zukunft ,satte Erträge‘ versprechen. In der Jugendsprache der 2000er Jahre hat sich diese positive Nebenbedeutung noch einmal gesteigert, so dass dort ,fett‘ für ,hervorragend‘ bzw. ,sehr gut/schön‘ gebraucht wird. Inwieweit Konstantin Wecker noch der älteren Bedeutung (,Fruchtbarkeit‘) verhaftet ist oder schon die neue jugendsprachliche Bedeutung teilt, kann ich nicht entscheiden; an seiner positiven Wahrnehmung des Frühlings ändert sich ohnehin nichts.

Kleiner Nachsatz zur Eingangsstrophe: Der Songwriter verstärkt sein Adjektiv „fett“ noch durch das Adverb „ungeheuer“, das ein außerordentliches Ausmaß einer bestimmten Quantität zum Ausdruck bringt. Aber es macht sehr wohl einen Unterschied, ob man sagt, jemand wäre ,außerordentlich‘, ,enorm‘ oder ,ungeheuer‘ groß, reich bzw. mächtig. ,Ungeheuer‘ bringt im Gegensatz zu den Alternativen eine starke emotionalisierende Komponente ins Spiel. Ich kann meine starke Vermutung natürlich nicht beweisen, würde aber jederzeit darauf wetten, dass der versierte Liedermacher Konstantin Wecker bei seiner Formulierung Bertolt Brechts berühmte Wolke vor Augen und im Ohr hatte: „Sie war sehr weiß und ungeheuer oben“ …

Die nächste Liedstrophe variiert die Eingangsverse dahingehend, dass nun ,der Mensch‘ schlechthin (im Lied: „man“) gewissermaßen in die Pflicht genommen wird – sein Verhalten sollte der vorsommerlichen Welt entsprechen: er soll „bereit“ sein, wobei der Sänger nicht expliziert, wozu. Immerhin gibt die Anweisung, ,sein Fleisch nicht zu verstecken‘ einen Hinweis auf die intendierte Richtung. Mit meinen unpoetischen Worten würde ich den Sinn dieser Zeilen so auslegen, dass sich die Menschen (die Sprecherinstanz einschließend) der erwachenden, vor Fruchtbarkeit und anderen positiven Optionen nur so strotzenden Natur mit all ihrem sinnlichen Potential zuwenden und öffnen sollten, um die Möglichkeiten der Zeit zu nutzen und deren Schätze für sich zu heben.

Die lautliche Nähe von „breit“ im vierten und „bereit“ im neunten Vers bringt diese ideale Korrespondenz von – sagen wir mal – ,Angebot und Nachfrage‘ sehr schön mit lyrischen Mitteln auf den Punkt. Vermutlich unterliege ich momentan gerade einer gewissen Brecht-Fixierung, denn bei dieser Konstellation fällt mir sofort die Begegnung von Philosoph und Zöllner in der bekannten Legende von der Entstehung des Buches Taoteking auf dem Weg des Laotse in die Emigration ein. Ohne zu unterstellen, dass Wecker seinen Gedankengang besagtem Lehrgedicht des Altmeisters schulden würde, verweise ich auf die Parallele der Konstellationen. Beide Texte formulieren die Erkenntnis, dass es zur Ausmünzung einer Chance eben nicht nur eines großartigen Angebots bedarf, sondern auch eines würdigen Empfängers, der für diese Gabe ,bereit‘ ist, auch bereit, dafür Mühen und Risiken in Kauf zu nehmen.

Unkommentiert blieb bislang noch die achte Liedzeile: „ist’s egal, ob man gescheit ist,“ die eventuell für Irritationen sorgen könnte. Ich denke, dass diese Phrase grundsätzlich die Betonung der sinnlichen Bereitschaft – wir erinnern uns an das Stichwort „Fleisch“! – vorbereitet und unterstützt. Allerdings sollte man sie nicht im Sinne der ländlichen Weisheit vom dümmsten Bauern, der die dicksten Kartoffeln kriegt, missverstehen. Konstantin Wecker wollte bestimmt nicht behaupten, dass Geist bzw. Intellekt bei einer produktiven Begegnung mit der erwachenden Welt stören würden. Wenn man den Bedeutungsnuancen des Wortes „gescheit“ nachfragt, stößt man im Hochdeutschen auf die Komponente „vernünftig“ (im Sinne von analytisch zergliedernd), im Süddeutsch-Bayerischen zusätzlich auch noch auf die Konnotationen „richtig“ bzw. „ordentlich“ (im Sinne von ,der Norm gemäß‘). Auf unser Lied bezogen würde ich den Vers so deuten, dass die Sprecherinstanz der Meinung ist, dass es bei der rechten Einstellung zum Frühling nicht weiterhilft, dessen Energieströme theoretisch aufzudröseln, um sie mit der Vernunft zu fassen. Gleichermaßen akzeptabel wäre für mich aber auch die Lesart, dass man sein Verhalten zu dieser Jahreszeit nicht vorsichtig an vernünftig-traditionellen Maßstäben ausrichten müsse. Möglicherweise wären solche Regeln ja dabei hinderlich, ,Fleisch zu zeigen‘ …

Ein längeres Zwischenspiel leitet zu einem neuen Versblock über, der rhythmisch anders gebaut ist als die Vorgängerstrophen, einen Vers weniger zählt und von Wecker in einer Art Sprechgesang vorgetragen wird. In diesen Zeilen bekennt sich der Sänger zum „Genuss“ bzw. zum „Genießen“ und erteilt damit indirekt jeder Form von Askese eine Absage. Das Genießen wird nicht auf einen bestimmten Objektbereich eingeschränkt; allerdings sind durch das Schlüsselwort „Fleisch“ und die „Weib“-Metapher der nächsten Strophe Assoziationen zu Sexualität naheliegend. Die Behauptung, dass man es mit dem Genuss gar nicht übertreiben könne, widerspricht pointiert und provozierend der ursprünglich einmal platonischen, heute aber fast überall gepredigten Idee der Mäßigung und Zähmung unserer Begierden. (Ich kann mich z.B. nur an einen einzigen Lehrer erinnern, der vehement eine gegenteilige Ethik vertreten hat. Seine Predigt, ganz im Geiste Konstantin Weckers, lautete: ,Du sollst deine Triebe zwiebeln wie sie dich!“) Obendrein schärft der Sänger seinem Publikum noch ein, dass der Genuss durch Anstrengung errungen werden müsse: Ohne Fleiß gäbe es eben auch in hedonistischer Hinsicht keinen Preis! Das klingt, speziell in deutschen Ohren, absolut plausibel; schließlich sind wir alle irgendwie zutiefst Goethe- und Faust-geschädigt …

Dass Falco ein paar Jahre später das Verhältnis von Genuss und gutem Leben komplizierter, um nicht zu sagen ,dialektischer‘ gesehen hat, sei nur am Rande erwähnt:

Der Kommissar geht um – oh, oh, oh
Er wird dich anschaun, und du weißt warum:
Die Lebenslust bringt dich um!

Zur Verteidigung der recht naiven Sichtweise Weckers ist erstens anzuführen, dass man hinterher halt immer klüger ist, und zweitens darf man auf den Kontext der siebziger Jahre verweisen. Damals konnten Liedermacher dem verrotteten ,Establishment‘ noch glaubwürdig entgegenschleudern, dass ungenießbar sei, wer nicht genieße! Vgl. Konstantin Weckers einschlägigen Song, der in ästhetischer Hinsicht allerdings um Welten hinter dem hier besprochen zurückbleibt:

In der nächsten, wieder fünfzeilig-konventionell angelegten Strophe unseres Chansons bedarf m.E. höchstens der „Opal“ einer Kommentierung, der nun zum Vergleich für den Himmel, nicht nur seiner Färbung, herangezogen wird. Opale galten in längeren Phasen der Geschichte als ausgesprochen kostbar. In der Esoterik spricht man diesen Edelsteinen heilende Kräfte zu. Als Amulette verkörpern sie Liebe und Hoffnung und gewähren ihren Trägern angeblich ein intensiveres Gefühlsleben. Alle diese Konnotationen fügen sich unserem Interpretationsgang recht gut ein.

In der nächsten Strophe denkt der Sänger weiter. Seine Gedanken schweifen weit über den kommenden Sommer hinaus und richten sich auf das Ende seiner Existenz. Dann steht – für einen selber – die entscheidende Bilanzierung an, ob man sein Leben genutzt oder eher verdödelt hat. Die Folgeverse machen klar, dass es am Lebensende die genussvoll erlebten Momente sein werden, die auf der Haben-Seite zu Buche schlagen, dass es davon überhaupt nicht genug geben kann und sie im Rückblick des Rechnungsprüfers auch gewiss alle Mühen wert waren, die er dafür in jüngeren Jahren investiert hat. Die Schluss-Strophe verschiebt die Perspektive noch einmal, nun wieder auf den nahenden Sommer mit seinen ,ungeheuren‘ Möglichkeiten. Der Sänger und vermutlich auch sein Publikum wissen darum. Womöglich sind sie jetzt sogar ernsthaft entschlossen, ihr Glück endlich einmal mutig beim Schopf zu packen. Fleisch zu zeigen, die Masken wegzuschmeißen.

Hans-Peter Ecker, Bamberg