Der Proletarier fliehe das Strumpfband! Bertolt Brechts „Ballade vom Förster und der Gräfin“ (1949)

Bertolt Brecht

Ballade vom Förster und der Gräfin 

Es lebt eine Gräfin in schwedischem Land
Die war ja so schön und so bleich.
„Herr Förster, Herr Förster, mein Strumpfband ist los
Es ist los, es ist los.
Förster, knie nieder und bind es mir gleich!“
 
„Frau Gräfin, Frau Gräfin, seht so mich nicht an
Ich diene Euch ja für mein Brot.
Eure Brüste sind weiß, doch das Handbeil ist kalt
Es ist kalt, es ist kalt.
Süß ist die Liebe, doch bitter der Tod.“
 
Der Förster, er floh in der selbigen Nacht.
Er ritt bis hinab zu der See.
Herr Schiffer, Herr Schiffer, nimm mich auf in dein Boot
In dein Boot, in dein Boot
Schiffer, ich muß bis ans Ende der See.
 
Es war eine Lieb zwischen Füchsin und Hahn
„Oh, Goldener, liebst du mich auch?“
Und fein war der Abend, doch dann kam die Früh
Kam die Früh, kam die Früh:
All seine Federn, sie hängen im Strauch.

     [Bertolt Brecht: Große kommentierte Berliner und Frankfurter Ausgabe. Gedichte 5: Frankfurt a. M.: Suhrkamp, 1993, S. 209.]

Brechts Ballade vom Förster und der Gräfin hatte ihren ursprünglichen Platz in einem Theaterstück, nämlich in dem oft aufgeführten und beim Publikum wegen seiner deftigen Hauptfigur ausgesprochen beliebten Exildrama  Herr Puntila und sein Knecht Matti (1940, UA am Schauspielhaus Zürich 1948). Dieses Schauspiel, das auf humoristischen finnischen Vorlagen von Hella Wuolijoki fußt, hat eine komplizierte Entstehungsgeschichte, über die Jan Knopfs Brecht Handbuch (Band 1, Stücke, 2001, S. 440 ff.) detailliert Auskunft gibt. So erarbeitete Brecht im Laufe eines Jahrzehnts von 1940 bis 1950 für diverse Anlässe vier mehr oder weniger unterschiedliche Theater- bzw. Druckfassungen. Unser Lied entstand im Zuge dieser Entwicklung 1949 für die Ostberliner Premiere des Stücks am Berliner Ensemble und ersetzte von da an die Vorgängervariante, das Lied vom Wolf und vom Huhn.

Die Försterballade artikuliert am Schluss der opulenten 9. Szene des Stücks (scheiternde Verlobungsfeier mit sog. ,Ehe-Examen‘) ein kapitalismuskritisches Fazit, das Brecht dem Kommunisten Surkkala in den Mund legt: Arm und Reich, Herr und Knecht passen nicht zusammen. Selbst wenn es zwischen einzelnen Angehörigen der antagonistischen Sozialschichten im Ausnahmefall ein wenig ,menscheln‘ sollte, z.B. unter erhöhtem Alkohol- oder Hormoneinfluss, sei keine dauerhafte Versöhnung der Klassen denkbar.

Das Lied ist in der großen Berliner und Frankfurter Ausgabe der Brechtschen Werke zweimal abgedruckt – einmal im Rahmen des Puntila-Dramas, dann aber auch als Einzeltext im Bande der Gedichte und Gedichtfragmente 1940-1956, der hier zitiert wird. Paul Dessau hatte die Melodie des Lieds ursprünglich in enger Anlehnung an eine schottische Seeräuberballade (Henry Martin) für eine männliche Stimme komponiert. Inzwischen hat es sich freilich auch längst als Chanson verselbständigt und gehört zum Repertoire berühmter Brecht-Interpretinnen wie Meret Becker und Nina Hagen, deren großartige Performance in dem hier ausgewählten Video zu bewundern ist.

Die Försterballade besteht  aus vier weitgehend gleichgebauten Strophen zu je fünf Versen. Formal fallen dabei besonders die Endreime der Verse 2 und 5 auf sowie die dreifach wiederholten Phrasen in den jeweils dritten und vierten Versen der einzelnen Strophen. Auf kleinere Parallelen bzw. Unterschiede im Satzbau gehe ich jetzt nicht ein. Inhaltlich bilden die ersten drei Strophen eine Einheit, indem sie ein dramatisches Geschehen – teils erzählend, teils in wörtlicher Rede – wiedergeben, bei dem es offensichtlich um eine Liebe auf Leben und Tod geht. Literaturtheoretisch-generisch präsentiert uns Brecht hier eine ,Kunstballade‘ im engeren literaturwissenschaftlichen Sinne, d.h. ein singbares Erzählgedicht, das eine Handlung zu Schlüsselszenen verdichtet präsentiert, auf eine Pointe zuläuft und eine implizierte Botschaft bzw. ,Lehre‘ transportiert, die vom verständigen Leser selbständig zu erschließen ist.1 Der Erzähler siedelt die Geschichte in „schwedischem Land“ an; ob in Schweden selbst oder einem von schwedischen Truppen in Besitz genommenen Landstrich entzieht sich meiner Kenntnis. Immerhin verleiht die geographische Lokalisierung der Begebenheit eine gewisse Glaubwürdigkeit.

In der ersten Strophe macht eine schöne und vornehme2 Gräfin einem Förster, der, wie sich bald herausstellen wird, für sie arbeitet, erotische Avancen. Mit der Aufforderung, ihr Strumpfband zu binden, lädt sie ihn zum Eintritt in ihre Intimdistanz ein, zu der im nord- bzw. mitteleuropäischen Kulturkreis aber nur engste Bezugspersonen zugelassen sind. Besonders kritisch stellt sich eine solche ,Verletzung‘ der körperlichen Schutzzone dar, wenn die Beteiligten unterschiedlichen sozialen Ständen und Geschlechtern angehören. Würde sich in unserem Fall der Förster auf das Angebot seiner Arbeitgeberin einlassen und fände die Szene einen Beobachter, könnte das Abenteuer leicht tödlich für ihn ausgehen, zumal es für sie relativ leicht wäre, den Skandal von sich abzuwenden, indem sie ihn der Übergriffigkeit beschuldigte.   

Strophe zwei macht klar, dass dem Förster die Risiken eines ständeübergreifenden Techtelmechtels nur allzu klar sind. Der Hinweis auf das „Handbeil“ ist eindeutig: Vielleicht nimmt er damit Bezug auf das bekannte tragische Schicksal des Aufklärers Johann Friedrich Struensee, dem sein Verhältnis zur dänischen Königin 1772 den Richtblock eingetragen hat.3 Umgehend ergreift der Förster die Flucht, wovon die nächste, die dritte Strophe berichtet. Vorsichtig, wie er ist, verdrückt er sich – offenbar den Zorn der verschmähten Gräfin fürchtend – nicht bloß in ein Nachbardorf, sondern legt so viel Wasser zwischen sich und das vermaledeite Strumpfband, wie es nur eben geht.  Diese Vorsicht scheint durchaus gerechtfertigt, sintemal der Trojanische Krieg – so berichtet es wenigstens Victor Hugo – wegen nichts anderem als Helenas Strumpfband, einer modischen Weiterentwicklung des Gürtels der Aphrodite (στρόφιον), entbrannt ist …

Damit wäre die Balladen-Erzählung komplett, die Flucht des Försters könnte als Pointe durchgewinkt werden und eine Lehre, wenn auch keine besonders überraschende, wäre aus ihr auch abzuleiten: dass es nämlich eher nicht ratsam ist, bei der Partnerwahl die Grenzen des eigenen Standes zu überschreiten. Im feudalistischen Kontext konnte eine Verletzung dieser Regel mitunter lebensgefährlich sein, aber der dramatische Kontext des Puntila suggeriert die Gültigkeit besagter Weisheit auch noch für den Kapitalismus. Bevor wir hierüber ins Grübeln kommen, uns womöglich an das große Versprechen des American Dream und Filme wie Pretty Woman oder Forrest Gump erinnern, schieben Brecht bzw. Surkkala noch schnell eine Liedstrophe nach, die nun keine Ballade mehr ist, sondern eine Fabel und ihre Moral demzufolge auch nicht verrätselt, sondern ziemlich platt expliziert: Die Füchsin umschmeichelt den arglosen Gockel, um ihn aufzufressen. Damit sind innerfiktional alle Unklarheiten beseitigt;  die ,Sägemehlprinzessin‘4 hat die von ihrem Vater gewünschte Verlobung mit Matti schon vorher abgesagt. Nach dem Lied verabschiedet sich auch Urviech Puntila von seiner fixen Idee einer klassenübergreifenden Verbindung und sein Chauffeur tanzt mit dem Stubenmädchen Fina aus dem Bild.

Unzufrieden bleiben allenfalls Zuschauer wie ich, denen es mit der kapitalismuskritischen Indoktrination einfach ein bisschen zu wild wird: Man hat ja kapiert und akzeptiert, dass das Stück eine kapitalismuskritische Aussage unters Volk bringen will. Es ist einfach genug gebaut und hinreichend klar strukturiert, damit ein Publikum bei leidlichem Verstand dieses Anliegen nachvollziehen kann. Mit dem guten Willen, den man als Theaterbesucher ja immer mitbringen muss, sieht man auch noch ein, dass Brecht für spezielle Teile des Publikums, die gerade ein Nickerchen gemacht haben, oder aber – ganz im Gegenteil – hellwach und argwöhnisch als Spitzel der Kulturbürokratie auf ideologische Missgriffe lauern, noch schnell eine Ballade einschiebt, um auf Nummer Sicher zu gehen. Aber – um Himmels willen! – warum lässt er’s damit nicht genug sein, sondern setzt noch mal eine Fabel mit derselben Botschaft obendrauf? Will er so demonstrieren, für wie begriffsstutzig oder literaturfremd er sein Publikum hält, speziell jenes, das sich 1949 zur Premierenfeier des Berliner Ensembles zusammenfinden würde?

Ich weiß es nicht. Und je länger ich über den Fall nachsinne, umso mehr Details stoßen mir auf, die unlogisch scheinen und sich mit der Ideologie des Stückes nicht so recht vertragen wollen: Warum, um nur ein Beispiel zu nennen, wird im sog. Eheexamen die Tochter des Gutsbesitzers daraufhin geprüft, ob sie eine ordentliche Proletariersgattin abgeben könnte, und nicht Matti, ob er sich gegebenenfalls in die Rolle eines reichen Mannes schicken könnte? Denn genau letzteres steht doch zur Debatte: Als Evas Mann würde er zum Großgrundbesitzer aufsteigen und seine Gattin bräuchte weder Socken zu stopfen noch sich den Kopf darüber zu zerbrechen, wie oft der Mensch hintereinander Hering verträgt. Beim umgekehrten und d.h. in diesem Fall angemessenen Eheexamen würde sich vermutlich schnell zeigen, dass Matti keine großen Schwierigkeiten damit hätte, den reichen Herrn zu geben, und auch seine vorgeblich ach so strenge Mutter würde, so jedenfalls meine Prognose, sich mit hoher Wahrscheinlichkeit fix ans Wohlleben gewöhnen, den einen oder anderen Gänsebraten nicht verschmähen und die Wäsche vom Personal besorgen lassen. Andererseits hätte der gelernte Chauffeur erst noch zu beweisen, ob er einen größeren Betrieb organisieren und beim Holzhandel ordentliche Preise herausschlagen könnte …

Verlassen wir aber diesen Gedankengang, der zum Verständnis unserer Försterballade nichts beiträgt, die im Kontext des Puntila vielleicht die eine oder andere Irritation auslöst, als Chanson aber unsere Bewunderung verdient!

Hans-Peter Ecker, Bamberg

Fußnoten:

1) Vgl. Hartmut Laufhütte, 1979.

2) Vgl. ihr ,adelige Blässe‘.

3) Brecht war Struensees Biographie höchstwahrscheinlich aus Theaterstücken und Filmen vertraut.

4) Titel eines Lustspiels von Hella Wuolijoki, das Brecht als Vorlage diente.

Literatur:

Brecht Handbuch in fünf Bänden. Hrsg. von Jan Knopf. Band 1, Stücke. Stuttgart und Weimar: Metzler, 2001.

Hans-Peter Ecker: Dreifaches Bekenntnis […]. In: „… vollens ganz zum Bolschewisten geworden …“? Die Räterepublik 1919 in der Wahrnehmung Bertolt Brechts. Ausstellungskatalog. Hrsg. von Jürgen Hillesheim und Karl-Georg Pfändtner. Augsburg: Wißner, 2019, S. 142 f.

Edward T. Hall: The Hidden Dimension. New York: Garden City, 1966.

Hartmut Laufhütte: Die deutsche Kunstballade. Grundlegung einer Gattungsgeschichte. Heidelberg: Winter, 1979.

Joachim Lucchesi und Ronald K. Shull: Musik bei Brecht: Frankfurt a. M.: Suhrkamp, 1988.

„Bunt sind schon die Wälder“ von Johann Gaudenz von Salis-Seewis – Deutschlands beliebtestes Herbstlied

Johann Gaudenz von Salis-Seewis

Bunt sind schon die Wälder

1. Bunt sind schon die Wälder
gelb die Stoppelfelder
und der Herbst beginnt
Rote Blätter fallen
graue Nebel wallen
kühler weht der Wind.

2. Wie die volle Traube
an dem Rebenlaube
purpurfarbig strahlt
Am Geländer reifen
Pfirsiche mit Streifen
rot und weiß bemalt.

3. Dort im grünen Baume
hängt die blaue Pflaume
am gebognen Ast
gelbe Birnen winken
dass die Zweige sinken
unter ihrer Last.

4. Welch ein Apfelregen
rauscht vom Baum! es legen
in ihr Körbchen sie
Mädchen, leicht geschürzet
und ihr Röckchen kürzet
sich bis an das Knie.

5. Winzer, füllt die Fässer
Eimer, krumme Messer
Butten sind bereit
Lohn für Müh und Plage
sind die frohen Tage
in der Lesezeit.

6. Unsre Mädchen singen
und die Träger springen
alles ist so froh
Bunte Bänder schweben
zwischen hohen Reben
auf dem Hut von Stroh.

7. Geige tönt und Flöte
bei der Abendröte
und bei Mondenglanz
schöne Winzerinnen
winken und beginnen
deutschen Ringeltanz*.

* heute meistens „frohen Erntetanz“

Der Text wurde 1782 vom Schweizer Dichter Johann Gaudenz von Salis-Seewis verfasst. Mit ursprünglich sieben Versen erschien er 1786 zum ersten Mal im Vossischen Musen-Almanach. Heute sind hauptsächlich die Strophen 1, 2, 6 und 7 bekannt.

In der von Friedrich Matthisson 1793 herausgegebenen Fassung findet sich noch eine weitere Strophe, welche zwischen der 3. und 4. Strophe eigentlich vorgesehen war, die allerdings in der Mehrheit der mir zugänglichen Liederbücher nicht mehr vertreten ist.

Sieh! wie hier die Dirne*
Emsig Pflaum’ und Birne
In ihr Körbchen legt;
Dort, mit leichten Schritten,
Jene, goldne Quitten
In den Landhof trägt

* Bedeutung zur Zeit der Entstehung: Mädchen.

Eine rühmliche Ausnahme bildet das über 750 Lieder umfassende Werk von Theo und Sunhilt Mang: Der Liederquell – Volkslieder aus Vergangenheit und Gegenwart, Ursprünge und Singweisen (2015, S. 83 f.).

Freiherr von Salis-Seewis wurde 1762 auf dem Stammschloss seiner Familie im Kanton Graubünden geboren. In Weimar machte er die Bekanntschaft von Goethe, Herder, Schiller und Wieland. Bis zur Flucht 1789 des französischen Königs Ludwig XVI. anlässlich des Fortschreitens der Französischen Revolution war von Salis-Seewis Offizier in dessen Schweizergarde. Später bekleidete er etliche Staatsämter in der Schweiz. Er starb 1834 auf dem Familiensitz.

Die heute noch geläufige Melodie der bunten Wälder aus dem Jahr 1799 stammt vom deutschen Komponisten Johann Friedrich Reichardt, eine andere aus dem Jahr 1816 von Franz Schubert, der eine ganze Anzahl von Gedichten des Freiherrn vertont hat.

Reichardt wurde 1752 in Königsberg geboren. Er war preußischer Hofkapellmeister und später Theaterdirektor. In Weimar war er gut bekannt mit Goethe, Schiller und Herder. Reichardt unternahm viele Kunstreisen innerhalb Europas. 1814 starb er in Giebichenstein bei Halle. Einen Namen machte er sich vor allem durch die Vertonung vieler Gedichte von Goethe.

Unser Lied beschreibt anschaulich, wie sich die Erscheinungen der Natur im Herbst wandeln. Die grünen Blätter nehmen verschiedene Farben an, sie werden braun, gelb und rot in mannigfaltigen Schattierungen. Der Buntheit der Wälder entsprechen abgeerntete Felder mit ihrem von der Sonne gegilbten Stroh. Stellvertretend für viele Blätter werden hier die roten Blätter (in anderen Versionen „bunten Blätter“) genannt, die zu Boden fallen. Und da es nicht mehr so warm wie im Sommer ist, wallen graue Nebel und weht der Wind kühler.

Und im Herbst sind auch die Weintrauben reif. Exemplarisch für alle Traubenarten schwärmt der Dichter hier offensichtlich von den Rotweinsorten, die (in der Sonne) purpurfarbig strahlen. Am Geländer (Spalierobst) reifen die Pfirsiche, die dem Dichter – romantisierend ausgedrückt, aber nicht der Realität entsprechend – vorkommen, wie mit roten und weißen Streifen bemalt.

Dass das Lied aus der Zeit der Romantik stammt, ist auch daran zu erkennen, dass hier nicht die häufig schwere Erntearbeit oder die nicht minder schweißtreibende Weinlese beschrieben werden. Die Träger, die die schweren Weinkiepen geschleppt haben, sind froh, wenn die Arbeit vorbei ist. Und es ist nicht nur Feierabend, sondern die Ernte ist eingebracht und das Erntefest kann beginnen. Da springen die Träger und die Mädchen singen. Alles jubelt und die Mädchen (und jungen Frauen) haben ihre Hüte, die sie bei der Arbeit vor der sengenden Sonne schützen, mit bunten Bändern geschmückt.

Mit Einbruch der Dunkelheit spielt die Musik auf: Man kann sich vorstellen, dass Geige und Flöte hier für ein ganzes Ensemble stehen, das flotte Melodien spielt. Die jungen Winzerinnen winken den jungen Männern zu, und es beginnt der frohe Erntetanz. Das Fest ist so stimmungsvoll, dass bis tief in die Nacht bei Mondenschein gefeiert wird.

Heutzutage würde der Herbst anders beschrieben werden. Vorzeitig haben viele Bäume Blätter abgeworfen, da es ihnen an Wasser mangelt. Der Herbstanfang ist nicht warm, sondern heiß, die Pfirsiche werden halbreif gepflückt, bevor sie in der Sonne vertrocknen oder verfaulen. Die Winzer beklagen sich über die Schwerstarbeit bei der sengenden Hitze und versuchen die Traubenlese vorzuziehen. Landwirte kommen mit der Ernte nicht nach, so dass Feldfrüchte verderben. Auf den Getreidefeldern werden die Halme vorzeitig zu Stroh.

Als 2008 das christliche Magazin chrismon (Beilage der Wochenzeitung Die Zeit) ihre Leser und Leserinnen um die Nennung des deutschen Liedes gebeten, das sie am liebsten singen oder hören, erreichte nach Der Mond ist aufgegangen (Rang 1) und Die Gedanken sind frei (Rang 2, Interpretation hier) unser Herbstlied den fünften Rang.

Im September 2011 hatten der MDR Figaro (Mitteldeutscher Rundfunk) und das MDR-Fernsehen von 250.000 Volksliedern 20 Lieder ausgewählt und seine Hörer und Zuschauer nach dem schönsten Volkslied befragt. Die Auswertung der Anrufe und Zuschriften ergab, dass Bunt sind schon die Wälder die achte Stelle der Rangfolge erreicht hatte. Wahrscheinlich wäre im Herbst 2022 unser Lied nicht einmal in eine Auswahl von100 Volksliedern aufgenommen worden.

Doch nach wie vor ist dieses Herbstlied in vielen Schulliederbüchern zu finden. In der Mundorgel, dem deutschen Liederbuch mit der höchsten Auflage von 11 Millionen, habe ich es jedoch vermisst.

Dagegen weist Youtube 30 Videos aus, darunter mit den Interpreten Hannes Wader und Rolf Zuckowski (und Freunde) und in der Vertonung von Franz Schubert gesungen von Dietrich Fischer-Dieskau. Und die Anzahl der im Internet angebotenen CDs mit dem 240 Jahre alten Lied Bunt sind schon die Wälder beträgt auch heute noch über 70.

Georg Nagel, Hamburg

„Meine eigne Gestalt“: Differenzerfahrung in Schuberts „Der Doppelgänger“

Franz Schubert nach Heinrich Heine

Der Doppelgänger 

Still ist die Nacht, es ruhen die Gassen,
In diesem Hause wohnte mein Schatz;
Sie hat schon längst die Stadt verlassen, 
Doch steht noch das Haus auf demselben Platz.

Da steht auch ein Mensch und starrt in die Höhe
Und ringt die Hände vor Schmerzensgewalt;
Mir graust es, wenn ich sein Antlitz sehe, 
Der Mond zeigt mir meine eigne Gestalt.

Du Doppelgänger! Du bleicher Geselle,
Was äffst du nach mein Liebesleid,
Das mich gequält auf dieser Stelle
So manche Nacht, in alter Zeit?

     [Textvorlage: Heinrich Heine: Heimkehr XX, Buch der Lieder, Hamburg 1827.]

Obiger Text trägt seinen Titel (aus mehreren Gründen) zurecht: Er ist selbst sozusagen ein Doppelgänger des Gedichts Heimkehr XX aus Heinrich Heines Buch der Lieder, dessen Erstausgabe von 1827 Schubert als Textvorlage diente. Der später als „Liederfürst“ bezeichnete Franz Schubert (1797-1828) hatte zu diesem Zeitpunkt bereits zahlreiche Dichtungen vertont, teils von seinen Freunden (etwa Johann Mayrhofer, Franz von Schober oder Wilhelm Müller, Verfasser der Winterreise), aber auch von ihm nicht persönlich bekannten (größtenteils) zeitgenössischen Dichter:innen wie Friedrich Schlegel (Der Wanderer), Johann Senn (Schwanengesang), Marianne von Willemer (Suleika I und II) oder Goethe.

Schubert war 1828 einer der ersten, der Gedichte aus Heinrich Heines Buch der Lieder vertonte, das erst im Jahr zuvor erschienen war. Zugleich fiel die Komposition in die Zeit relativ kurz vor Schuberts Tod, und erschien auch erst postum 1829. Dass Schubert schon 1845 in der Allgemeinen Wiener Musikzeitung als „unerreichter Repräsentant des neueren deutschen Liedes“ (zitiert nach Gesse-Harm, 61) beschrieben wurde, liegt auch an dem starken Einfluss, den seine Vertonungen auf andere Komponisten ausüben sollten. Heine wusste schon 1830 von Schuberts Vertonung seines Textes, wie ein Brief belegt (vgl. Gesse-Harm, 62), allerdings hatte er noch keine Gelegenheit gehabt, die Komposition zu hören. Heine war zudem auch bewusst, wie sehr Schuberts Vertonungen zur Popularität seiner Lieder beitrugen, auch in Paris, wo sie allerdings in Übersetzung und teils ohne Heines Namen kursierten.

Schubert hat die Textvorlage dabei den Erfordernissen seiner Komposition angepasst und kleinere Veränderungen an ihr vorgenommen. Heines „Doppeltgänger“ wurde zu „Doppelgänger“, außerdem fügte Schubert den Titel „Der Doppelgänger“ hinzu; bei Heine trägt das Gedicht schlicht die Nummer XX und ist eins der Gedichte aus dem Zyklus Heimkehr.[1]

So wie der Text also zunächst als Gedicht und dann kurz darauf unter dem Titel Der Doppelgänger noch einmal als Lied in die Welt zieht, können auch Dichter und Komponist als aneinander gespiegelte Pendants voneinander erscheinen, oder, wie es die Schriftstellerin Clara Bauer 1852 in einem Brief an Heine ausdrückt, als zwei Hälften: „Franz Schubert, der sie in Musik gesetzt hat, hat sie mit Geist und Leben aufgefaßt. Sie müssen ihn gekannt haben, er ist ja gewissermaßen die andere Hälfte Ihres Seyns“, so Bauer (zitiert nach Gesse-Harm, 62). Diese Aufspaltung eines Ichs in zwei Teile spielt ebenso auf das Doppelgängermotiv an wie das von Bauer beschriebene Gefühl, jemand eigentlich Unbekanntem doch irgendwo schon einmal begegnet zu sein: „Sie müssen ihn [Schubert] gekannt haben“. Im Volkslied gilt ein erscheinender Doppelgänger als Todesbote, und Schuberts Tod so kurz nach Bearbeitung des Gedichts, unter dessen Eindruck er die Komposition bereits geschaffen haben soll, wie häufig angenommen wird, trägt auch seinen Teil dazu bei, dass Schuberts Version gemeinhin als ernsthafter und düsterer gilt als Heines, und dass ihr die in der Textvorlage zu findende „Entzauberung“ und Geste ironischer Distanzierung fehlen soll, wie sie Heines Werk eigen ist. In der Forschung wurde jedoch wiederholt darauf hingewiesen, dass Schuberts Komposition in dieser Hinsicht durchaus kongenial zu nennen ist und mit musikalischen Mitteln ebenfalls eine ironische Distanz zur musikalischen Form selbst einnimmt, indem etwa Klavier- und Singstimme metrisch nicht miteinander konform scheinen, oder indem Gestaltungsprinzipien des Volkslieds (wie strophische Form, Hierarchie von Singstimme und Begleitung) auf eine Weise umgestaltet werden, wie sie dem Volkslied fremd ist (vgl. z.B. Sonja Gesse-Harm: „Himmlische Funken“: Die Heine-Vertonungen Franz Schuberts, 130 ff., oder Urchueguía/Lüdeke 291 ff.).

Das Lied wiederholt somit noch einmal die Differenzerfahrung, die das Gedicht beschreibt, wenn das lyrische Ich sich selbst als einem Fremden begegnet. Autor und Komponist, Gedicht und Lied, im Lied dann wiederum Klavier- und Singstimme, und innerhalb letzterer noch einmal Text und Melodie – bei so vielen „Verdoppelungen“ fällt es nicht leicht, zu unterscheiden, was das Original ist und was ein Substitut. Zeichen und Klang, Wort und Bedeutung: Wer oder was war zuerst? Repräsentiert das Zeichen wirklich etwas Abwesendes, oder wird nicht der Eindruck abwesender Präsenz erst durch das Zeichen hervorgebracht?

Im Text betrifft diese Verunsicherung die Identität des Ichs selbst. Ein lyrisches Ich schreitet nachts allein durch einsame Gassen, betritt, im Präsens in typischer Gedichtmanier wie zu sich selbst sprechend und sich selbst die Szenerie beschreibend, einen Schauplatz vergangener Liebessehnsucht und Liebesleids. Der „Schatz“, der hier wohnte, ist nun fort, das Haus noch da. In der semantischen Opposition des anwesendem Hauses und abwesenden Schatzes erscheint das Haus selbst hier als eine Metonymie der abwesenden Geliebten, wie Urchueguía/Lüdeke beschreiben (287). Während die Bilder der Vergangenheit im Bewusstsein des Ichs durch die Gegenwart hindurchscheinen und den an sich menschenleeren Ort beleben, wenn sich beim Anblick des Hauses Gedanken an die einst dort lebende Geliebte einstellen, entsteht nun eine Situation, die sich so in der Vergangenheit nicht abgespielt hat: Eine in fast schon übertriebener Theatralik verzweifelt die Hände ringende menschliche Gestalt wird als das eigene Ich erkannt, das hier als eine fremde Person auftritt und von außen gesehen und angesprochen werden kann. In anklagendem Ton wird diese Person nun direkt angeredet: „Du Doppelgänger!“ heißt es vorwurfsvoll, als wäre dies ein Schimpfwort. Dem so Adressierten wird nämlich eine parodistische Absicht unterstellt, ein spöttisches „Nachäffen“ von etwas, das zu diesem Zeitpunkt doch schon längst in der Vergangenheit stattgefunden hat. So wie sich das Ich nicht von seinen Erinnerungen trennen und das Haus nicht ohne die einst darin beherbergte Geliebte sehen kann, erscheint das frühere Ich hier als ein Bote aus der Vergangenheit, das dem gegenwärtigen Ich als eine außenstehende Person gegenübertritt und die Dissonanz, die schon darin liegt, sich selbst etwas zu erzählen und dabei zugleich zuzuhören, zumal eine Episode, die zeitgleich stattfindet („Still ist die Nacht, es ruhen die Gassen…“) praktisch verkörpert. Dass Selbstvergewisserung nur in der Erfahrung von Differentialität möglich ist, und Identität erst nachträglich konstruiert werden kann, zeigt sich hierin bereits, schon bevor der Doppelgänger, das Ich der Vergangenheit, auftritt und dies noch einmal plastisch vorführt. Das lyrische Ich scheint dementsprechend auch nicht übermäßig erschrocken durch den Anblick der Gestalt, sondern eher empört über deren Wiederholen einer als demütigend erfahrenen Situation.

Zugleich stellt der Doppelgänger offenbar kein nur einmaliges Ereignis der Vergangenheit nach, sondern zusammengefasst zahlreiche, denn „so manche Nacht“ hat sich das nun Nach- und Vorgespielte so zugetragen, in „alten Zeiten“ somit statt „in alter Zeit“, so dass im Grunde hier mehrere „Doppelgänger“ die Verzweiflungsgesten des Ichs imitieren müssten. Das in der Metaphysik der Romantik beschworene Ideal einer nicht vom Verstand verfälschten Authentizität und Präsenz (diese allerdings, als Objekt der Sehnsucht, bezeichnenderweise gerade in ihrer Abwesenheit interessant) erscheint bei Heine ambivalent, ironisch gebrochen, was dann in der Vertonung des Textes noch einmal unterstrichen wird, durch weitere Distanzierung und musikalische Inszenierung eines Bruchs, einer Differenz. Die doppelte Verdopplung in Heines Titel („Heimkehr“ bezeichnet einen Wiederholungsvorgang, und auch die beiden „X“ des Titels sind Wiedergänger voneinander, einerseits identisch und andererseits durch ihre Position unterschieden, das eine zuerst und das andere danach, und damit eben doch nicht identisch) wird in der weiteren Verdopplung durch die Komposition von Der Doppelgänger nachgezeichnet, wenn die Klavierbegleitung wie ein Schatten um die Singstimme herum- und an sie heranschleicht, ihr manchmal auch schon etwas voraus ist, im Augenblick der direkten Begegnung laut wird, um dann nach dem Moment des Kontakts und (gegenseitigen) Erkennens wieder leiser werdend sich der Szenerie zu entziehen, wobei sie aber der Singstimme zugleich auch voraus bleibt und weiter erklingt, als die Singstimme und damit der Text schon verstummt ist. Sie erscheint so als Begleiterin, beobachtend, während die düsteren, lange nachhallenden Akkorde Fortschritt und Stillstand zugleich zu suggerieren scheinen, hohl wie ein Echo unruhig sind und doch repetitiv.

Weit davon entfernt, Authentizität der dichterischen Rede oder des Gesangs zum Ausdruck zu bringen, erscheinen Musik wie Text jeweils in sich gespalten. Ambivalenz, Konflikthaftigkeit und Differenzerfahrung sind in die textliche Vorlage wie in ihre musikalische Bearbeitung bereits eingeschrieben, so dass sie auch insofern als Doppelgänger voneinander gesehen werden können, die dann, aneinander gespiegelt, weitere Wiederholungen erzeugen – keine harmonische Einheit, sondern weitere, potentiell unendliche, Verdoppelungen.

Karoline Baumann, Berlin

Literatur

Walther Dürr/Andreas Krause (Hg.): Schubert-Handbuch, 5. Auflage, Kassel u.a.: Bärenreiter Verlag 2018.

Gesse-Harm, Sonja: Zwischen Ironie und Sentiment. Heinrich Heine im Kunstlied des 19. Jahrhunderts. Stuttgart: J.B. Metzler 2006.

Höhn, Gerhard: Heine-Handbuch. Zeit, Person, Werk. Dritte, überarbeitete und erweiterte Auflage, Stuttgart, Weimar: J.B. Metzler 2004.

Schnell, Ralf: Heinrich Heine zur Einführung. Hamburg: Junius 1996.

Sousa, Karin: Heinrich Heines „Buch der Lieder“: Differenzen und die Folgen. Tübingen: Niemeyer 2007.

Urchueguía, Cristina/ Roger Lüdeke: „Der Doppelgänger. Für eine funktionsgeschichtliche Beschreibung von Schuberts Heine-Vertonung.“ In: Deutsche Vierteljahrsschrift für Literaturwissenschaft und Geistesgeschichte 74 (2000), S. 279-304.


[1] Weitere geringfügigere Änderungen des Ausgangstexts betreffen die Interpunktion. So wurden mehrere Ausrufezeichen zu Kommata abgeschwächt und einige Gedankenstriche und Kommata getilgt.

Silvestermenü:  Fünferlei von der „Fledermaus“ des ,Walzerkönigs‘ Johann Strauß (Sohn), 1874

Ich riskiere einmal die These, dass heutzutage und hierzulande die Operette neben oder vielleicht auch nur knapp nach dem Schlager das meistgeschmähte musikalische Genre ist. Jedenfalls was die publizierten Äußerungen von Feuilletonisten, Kulturpolitikern und sonstigen medialen Gatekeepern angeht. Merkwürdiger Weise scheint jedoch ein beträchtlicher Teil des Publikums den Dauerbeschuss professioneller Spaßbremsen seit Jahrzehnten einfach an sich abprallen zu lassen, um sich hernach umso lieber von opulenten Bühnenshows, artistischen Stimmen und der Darstellung aufwühlender Gefühle erbauen zu lassen. Ich persönlich finde das ganz in Ordnung, weil ich meinen eigenen ästhetischen Geschmack nicht absolut setze und niemandem einen Spaß neide, der keinem anderen schadet. Hin und wieder versuche ich sogar, für diese minder-beleumundeten Vergnügungen eine Lanze zu brechen und damit auch etwas gegen das schlechte Gewissen zu tun, das womöglich den einen oder anderen braven Bildungsbürger anfällt, wenn er sich in die Untiefen der Unterhaltungsindustrie verirrt hat und feststellen muss, dass er sich in diesen Gewässern pudelwohl fühlt.

So will ich also hier, aus gegebenem jahreszeitlichen Anlass, für die Operette in die Schranken treten – einerseits generell, dann aber auch für eine ganz spezielle, die mit großer Wahrscheinlichkeit auch heuer wieder bei vielen deutschen Bühnen auf dem Silvester-Spielplan steht: Die Fledermaus von Johann Strauß (Sohn). Es ist angesichts der Vielfalt verwandter Genres des Musiktheaters nicht einfach zu definieren, was eine Operette ,eigentlich‘ ausmacht, welche kulturpolitische Funktionen sie historisch erfüllt hat (und evtl. auch noch heute zu erfüllen imstande ist) und was gute und schlechte Vertreter dieser Gattung (bzw. auch gute und schlechte Inszenierungen!) unterscheidet. Es hilft beim Verständnis der Materie ein wenig weiter, wenn man die Operette als – in mehrfacher Hinsicht – kleinere Schwester der Oper betrachtet und ihre Situierung im gesellschaftlichen Kontext des europäischen Bürgertums seit dem späten 18. und vor allem dann im 19. und beginnenden 20. Jahrhundert als zentral begreift und stets im Auge behält. Ihre Abwertung gegenüber der Oper begründet sich durch eine in der Regel ,leichtere‘, sprich eingängigere Musik, deren Gesangspartien den Darstellern weniger abverlangen, ihre in der Regel komödiantische Handlung mit unblutigem Happy End, ihre großen Anteile gesprochenen Textes, die es dem Publikum leichter machen, dem Geschehen zu folgen, eine weniger aufwändige Ausstattung und die zumeist auch weniger reputierlichen Aufführungsorte – privatwirtschaftlich betriebene Bühnen anstelle der großen Hoftheater.

Im Rahmen dieses Beitrags kann weder auf die historischen Veränderungen der Operette eingegangen werden, noch auf ihre feinen Unterschiede zu anderen Spielarten des unterhaltenden Musiktheaters wie Singspiel, Opéra comique, Vaudeville, Zarzuela oder der musikalischen Revue. Seit den 1860er Jahren entwickelte sich jedenfalls in Wien eine deutschsprachige Operettenkultur, zunächst in deutlicher Anlehnung an Pariser Vorbilder (insbesondere Jacques Offenbach), dann aber zunehmend mit eigenen musikalischen und inhaltlichen Akzenten: Bevorzugung des Wiener Walzers, reichere Orchestrierung, Verbürgerlichung der Inhalte, nach dem 1870/71er Krieg auch mit einer stärkeren Gewichtung des sog. ,Volkstümlichen‘ und ,Vaterländischen‘. Die Fledermaus (UA Theater an der Wien, 1874) lässt sich inhaltlich noch der frühen, unter französischem Einfluss stehenden Zeit der Wiener Operette zurechnen, obwohl sie bereits nach dem Krieg gegen Frankreich entstanden ist. Dessen ungeachtet bringt sie nach dem Pariser Vorkriegs-Vorbild noch lustvoll ,Frivolitäten‘ auf die Bühne und geht auch mit bürgerlicher Gefühligkeit parodistisch um. Ein Beispiel dafür ist die scheinheilige Abschiedsszene zwischen dem Ehepaar Gabriel und Rosalinde von Eisenstein im ersten Akt mit der Kammerjungfer Adele im Hintergrund. Vorgeblich grämen sich die Eheleute zutiefst, dass sie sich für acht Tage trennen müssen, weil er ins Gefängnis einrücken muss. Tatsächlich aber kann Rosalinde seinen Abmarsch kaum erwarten, weil ihr Liebhaber draußen nur auf den Moment lauert, wenn der Hausherr sein Revier verlässt. Der Göttergatte hingegen wurde von einem Freund darüber informiert, dass er erst am nächsten Morgen in den Knast einrücken muss und davor noch eine feudale Champagnernacht mit reichlich Chancen zum Ehebruch verbringen darf. Die Zofe weiß sowohl vom Liebhaber der Gnädigsten als auch von der geplanten Party beim steinreichen russischen Prinzen Orlofsky, zu der sie ebenfalls eingeladen ist, und jetzt nur noch einen Dreh finden muss, um ihren Dienstpflichten bei Madame Eisenstein zu entfliehen.

Terzett. So muß allein ich bleiben (Rosalinde, Adele, Eisenstein)

ROSALINDE. So muß allein ich bleiben
Acht Tage ohne dich?
Wie soll ich dir beschreiben
Mein Leid so fürchterlich?
Wie werd' ich es ertragen,
Daß mich mein Mann verließ?
Wem soll mein Leid ich klagen?
O Gott, wie rührt mich dies!
Ich werde dein gedenken
Des Morgens beim Kaffee,
Wenn ich dir ein will schenken,
Die leere Tasse seh.
Kann keinen Gruß dir winken.
Aus Jammer werd ich g‘wiß
Ihn schwarz und bitter trinken. – Ach!

EISENSTEIN. O Gott, wie rührt mich dies!

ALLE DREI. O Gott, wie rührt mich dies!
O je, o je, wie rührt mich dies!

ROSALINDE. Wo bleibt die traute Gruppe,
Kommt Mittag dann heran?
Beim Rindfleisch wie zur Suppe,
Zum Braten – keinen Mann!
Und sinkt der nächt'ge Schleier,
Gibt's wieder mir 'nen Riß,
Mein Schmerz wird ungeheuer!

ALLE DREI. O Gott, wie rührt mich dies!
O je, o je, wie rührt mich dies!

EISENSTEIN. Was soll das Klagen frommen?
Den Kopf verlier' ich schier!

ROSALINDE. Mein Kopf ist ganz benommen!

ADELE (den Schweinskopf nehmend).
Den meinen hab' ich hier!

EISENSTEIN. Leb' wohl, ich muss nun gehen.

ROSALINDE. Leb' wohl, du musst nun gehen.

ADELE. Leb‘ wohl, er muss nun gehen.

ALLE DREI. Doch bleibt ein Trost so süss:

ADELE. Es gibt ein Wiedersehen, es gibt ein Wiedersehen!

ALLE DREI. O Gott, o je, wie rührt mich dies!

(Eisenstein tanzt ab, Adele folgt, während Rosalinde zurückbleibt)

Auch die Heimattümelei im berühmten Csárdás1 des zweiten Akts dürfen wir – völlig analog zur Verspottung bürgerlicher Sentimentalität – mitnichten für bare Münze nehmen. Sie dient der Sängerin nur zur betrügerischen Beglaubigung einer fingierten Identität. Rosalinde stößt nämlich in der Maske einer ungarischen Gräfin mit einer kleinen Verspätung auch noch zum Fest des Prinzen Orlofsky, weil sie inzwischen über die geplanten Eskapaden ihres Gattes informiert worden ist und diesen nun in flagranti erwischen will. Als ihre madjarische Echtheit angezweifelt wird, und das noch ausgerechnet von ihrer Kammerjungfer, die sich selber für eine große Schauspielerin ausgibt, beglaubigt sie diese durch ein ebenso feuriges wie von übertriebenen Ungarn-Klischees triefendes Bekenntnis zur transleithanischen Hälfte der k.u.k. Doppelmonarchie, deren Existenz im Bewusstsein der Wiener in den Jahren nach dem Österreichisch-Ungarischen Ausgleich von 1867 vermutlich besonders aktuell und populär war. Besondere Beachtung verdient dieser Csárdás auch deshalb, weil er neben der Ouvertüre den einzigen musikalischen Passus der Operette darstellt, der ganz allein auf die Urheberschaft von Strauß rückführbar ist.2 Bei den anderen Musiknummern des Stücks erfand der Walzerkönig zwar die Melodien, überließ deren Instrumentierung aber weitgehend seinem Mitarbeiter Richard Genée, dem neben Karl Haffner auch erhebliche Verdienste um das Libretto der Operette zukommen.  Dieses entstand in enger Anlehnung an eine französische Vorlage,3 die wiederum einzelne Motive einem Lustspiel des Leipziger Komödiendichters und Theaterdirektors Roderich Benedix (1811-1873) verdankt.

Csárdás. Klänge der Heimat (Rosalinde)

ADELE. Übrigens könnte ich zehn gegen eins wetten, daß sie keine Ungarin ist. Eine Dame jenseits der Leitha hat mehr Feuer und wäre in unserer Gesellschaft längst explodiert!

ORLOFSKY. Und dennoch ist sie eine Ungarin!

MELANIE. Und wer verbürgt uns das, Durchlaucht?

ROSALINDE. Die Musik verbürgt es!

ALLE. Die Musik?

ROSALINDE. Ja, die nationalen Töne meines Vaterlands mögen für mich sprechen!
                                                        Nr. 10. Csárdás
ROSALINDE. Klänge der Heimat, ihr weckt mir das Sehnen,
Rufet die Tränen ins Auge mir!
Wenn ich euch höre, ihr heimischen Lieder,
Zieht mich's wieder, mein Ungarland, zu dir!
O Heimat, so wunderbar, wie strahlt dort die Sonne so klar,
Wie grün deine Wälder, wie lachend die Felder,
O Land, wo so glücklich ich war!
Ja, dein geliebtes Bild meine Seele so ganz erfüllt,
Und bin ich auch von dir weit,
Dir bleibt in Ewigkeit doch mein Sinn immerdar
Ganz allein geweiht!
O Heimat, so wunderbar, wie strahlt dort die Sonne so klar,
Wie grün deine Wälder, wie lachend die Felder,
O Land, wo so glücklich ich war!
Feuer, Lebenslust schwellt echte Ungarbrust,
Hei, zum Tanze schnell, Csárdás tönt so hell.
Braunes Mägdelein, mußt meine Tänz'rin sein,
Reich den Arm geschwind, dunkeläugig Kind!
Zum Fiedelklingen tönt jauchzend Singen: ho, ha, ha!
Mit dem Sporn geklirrt, wenn dann die Maid verwirrt
Senkt zur Erd' den Blick, das verkündet Glück!
Durst'ge Zecher, greift zum Becher,
Laßt ihn kreisen schnell von Hand zu Hand!
Schlürft das Feuer im Tokaier,
Bringt ein Hoch dem Vaterland!
Feuer, Lebenslust schwellt echte Ungarbrust,
Hei, zum Tanze schnell, Csárdás tönt so hell.
Lalalala!

ALLE (applaudierend). Brava! Bravissima!

Die hinreißende Musik und der Auftritt Rosalindes überzeugen die Festgesellschaft genauso wie kurz zuvor Adele mit ihrer sog. ,Lacharie‘, die Einwände Eisensteins weggewischt und diesen der allgemeinen Lächerlichkeit preisgegeben hatte. Der hatte Adele in der von seiner Frau ,ausgeborgten‘ Abendrobe erkannt und spricht sie bei der offiziellen Vorstellung auch auf ihre Ähnlichkeit mit seinem Stubenmädchen an. Adele zeigt sich vor versammeltem Publikum, das einen Skandal wittert, beleidigt und erzwingt von dem vorgeblichen Marquis eine gestammelte Entschuldigung, die sie in ihrer Lacharie dann geschickt gegen ihn wendet:

EISENSTEIN. Nein, diese Ähnlichkeit!

ADELE.  Mit wem, mein Herr, mit wem?

EISENSTEIN. Mit ...meinem Stubenmädchen!

ORLOFSKY, FALKE (losplatzend). Hahaha!

ADELE. Ich einem Stubenmädchen ähnlich? Impertinent! Wollen Sie mich beleidigen?

EISENSTEIN. Beruhigen Sie sich! Das Stubenmädchen, dem Sie ähnlich sehen, ist ein reizendes, seltenes Exemplar, die Krone aller Stubenmädchen!
[...]

Couplet. Mein Herr Marquis (Adele)

ADELE. Mein Herr Marquis, ein Mann wie Sie
Sollt' besser das verstehn!
Darum rate ich, ja genauer sich
Die Leute anzusehn.
Die Hand ist doch wohl gar zu fein, ah,
Dies Füßchen so zierlich und klein, ah,
Die Sprache, die ich führe, die Taille, die Turnüre,
Dergleichen finden Sie bei einer Zofe nie!
Gestehen müssen Sie fürwahr,
Sehr komisch dieser Irrtum war.
Ja, sehr komisch, hahaha, ist die Sache, hahaha,
Drum verzeihn Sie, wenn ich lache, hahaha,
Sehr komisch, Herr Marquis, sind Sie.

ALLE. Ja, sehr komisch, hahaha, ist die Sache, hahaha!

ADELE. Mit dem Profil im griech'schen Stil
Beschenkte mich Natur.
Wenn nicht dies Gesicht schon genügend spricht,
So sehn Sie die Figur!
Schaun durch die Lorgnette Sie dann, ah,
Sich diese Toilette nur an, ah,
Es scheint mir wohl, die Liebe macht Ihre Augen trübe,
Der schönen Zofe Bild hat ganz Ihr Herz erfüllt!
Nun sehen Sie sie überall,
Sehr komisch ist fürwahr der Fall.
Ja, sehr komisch, hahaha, ist die Sache, hahaha,
Sehr komisch, Herr Marquis, sind Sie.
wenn ich lache, hahaha!

ALLE. Hahaha! Hahaha!

Eisenstein merkt, dass er sich blamiert hat, bläst entschlossen zum Rückzug und bittet um Gnade. Diese wird ihm von Adele großmütig gewährt; sie entlässt ihn allerdings mit der Mahnung, sich in Zukunft vor schönen Kammerzofen in Acht zu nehmen. Das beherzigt der unverbesserliche Schwerenöter sogar, allerdings auch nur insofern, indem er sich in der Folge an die ungarische Gräfin heranmacht, die er nicht als seine Frau erkennt, da sie sich in eine neue Garderobe geworfen hat und ihre Maske partout nicht fallen lässt. Für das Publikum im Theatersaal und einen Teil der Festgesellschaft ist klar, dass sein raffiniertes Werben mithilfe eines ganz speziellen und schon vielfach erprobten ,Köders‘ (einer hübschen Repetieruhr, die er seinen Opfern als Belohnung in Aussicht stellt), nur auf eine weitere Blamage hinauslaufen wird. Denn letztlich dient das ganze Arrangement des fürstlich-frivolen Festes, wie im weiteren Verlauf der Handlung enthüllt wird, nur dazu, Eisenstein öffentlich zu beschämen. Der große Drahtzieher im Hintergrund ist sein alter Kumpan Dr. Falke, der mit ihm noch eine Rechnung offen hat. Vor ein paar Jahren hatten die beiden einen Maskenball besucht, Eisenstein als Papillon und Falke in einem komischen Fledermaus-Kostüm. Damals hatte jener diesem einen üblen Streich gespielt, als er ihn bei der Heimfahrt sturzbetrunken an einem öffentlichen Ort ab- und dem Spott der Gesellschaft aussetzte. Seitdem sann Falke auf Revanche, während Eisenstein auf der Hut war.

Günstige Zufälle spielen nun Falke in die Hände. Da taucht ein blasierter russischer Prinz auf, der sich zu Tode langweilt, Geld wie Heu hat und Falke für das Versprechen, ihn zu amüsieren, die notwendigen Mittel für seine Intrige bietet. Eisenstein soll für eine Woche ins Gefängnis einziehen, weil er einen Amtsdiener beleidigt und geprügelt hat, und ist deshalb nur allzu schnell bereit, auf Falkes Einladung zu einem frivolen Fest bei Orlofsky einzugehen, um sich vor der Fastenzeit im Knast noch ein Extravergnügen zu gönnen. Dass der Gefängnisdirektor selber den als besonders renitent verschrienen Eisenstein in sein neues Domizil geleiten wollte, dabei aber einen Tick zu spät kommt, so dass er anstelle des richtigen Delinquenten nur noch Rosalindes Liebhaber im Schlafrock des Gatten erwischen kann, war nicht vorauszusehen, macht die Sache für Falke aber nur noch reizvoller. Rosalinde, Gefängnisdirektor, Kammerzofe, Ballettmädchen, Ausländer, Diplomaten, zwielichtige Adlige und andere vergnügungswillige Zeitgenossen folgen seiner Einladung zum fürstlichen Fest, um Zeugen seiner Vergeltungsaktion zu werden.

Der komplizierte Gang der turbulenten Handlung und die letztliche Auflösung der durchaus sichtbar gewordenen Konflikte und Bruchlinien im Gefüge gutbürgerlicher Verhältnisse müssen hier nicht nacherzählt werden. Am Ende hat die Festgesellschaft genug vom Spaß am Fremdschämen, Falkes Revanche ist gelungen und auch die Bilanz der ehelichen Verfehlungen zwischen Eisenstein und Rosalinde scheint ausgeglichen, nachdem man am Morgen den falschen Gatten im Gefängnis vorgefunden hat. Der Chor appelliert an Falke, es mit seiner Rache gut sein zu lassen („O Fledermaus, o Fledermaus, / Laß endlich jetzt dein Opfer aus.“) und zum Schluss stimmen alle begeistert dem Vorschlag Eisensteins und Rosalindes zu, allein dem Champagner die Schuld an allen Fehltritten und Verwirrungen zu geben:

Es sind viele Faktoren, die im Zusammenspiel, die herausragende Qualität dieser Operette ausmachen – der Witz der Dialoge, die stimmige Handlung nach den Gesetzlichkeiten eines Schwanks,4 die intelligent durchdachte und emotional mitreißende Komposition sowie viele Gelegenheiten für kreative Balletteinlagen, hier ein Beispiel:

Besonders gerühmt hat man an der Fledermaus immer ihre unnachahmliche Befähigung zur Evokation ausgelassener Festfreude, die bei einer guten Inszenierung über die Rampe schwappt, das Theaterpublikum erfasst und in die rechte gehobene Stimmung versetzt, einen Jahreswechsel zu feiern oder sich in den Karnevalstrubel zu stürzen …

Hans-Peter Ecker, Bamberg

1) Ein Csárdás ist zunächst ein traditioneller Tanz in Ungarn und einigen Nachbarländern, der verhalten beginnt, sich dann aber zu einem wilden Tempo steigert, wobei viele unterschiedliche Figuren improvisierend kombiniert werden. Die dazugehörige Volksmusik fand im 19. Jh. durch Franz Liszt ihren Weg in kunstmusikalische Gefilde.

2) Den Csárdás Klänge der Heimat hatte Strauß schon ein Jahr vor der Fledermaus komponiert; seine UA als leicht veränderte Gesangsfassung mit Orchesterbegleitung erfolgte im Herbst 1873 im Rahmen einer Wohltätigkeitsveranstaltung und war seinerzeit ein großer Publikumserfolg. Ich stelle mir vor, dass das damalige Konzertpublikum die Ungarn-Romantik ohne den Kontext der Fledermaus für bare Münze genommen hat.

3) La Réveillon, comédie en trois actes, 1872, der Autoren Henri Meilhac und Ludovic Halévy. Der Titel des Lustspiels bezieht sich auf den Heiligen Abend, der in Frankreich fröhlicher als in deutschsprachigen Ländern begangen und mit einem opulenten Festmahl gefeiert wird.

4) Das Genre des Schwanks ist nicht präzise einzugrenzen; aber bei vielen Schwänken geht es um ,Streiche‘, die sich Menschen gegenseitig spielen, wobei es im Sinne der ,poetischen Gerechtigkeit‘ dem Publikum in der Regel gut gefällt, wenn am Ende die ,Konten‘ ausgeglichen sind, also ein Angriff durch eine angemessene Revanche beantwortet wird.

Literatur:

Johann Strauß: Die Fledermaus. Operette in drei Aufzügen. Text nach H. Meilhac und L. Halévy von C. Haffner und Richard Genée. Hrsg. und eingeleitet von Wilhelm Zentner. Stuttgart: Reclam, 2009.     

Volker Klotz: Operette. Porträt und Handbuch einer unerhörten Kunst. Kassel: Bärenreiter, 2004.

„Am Brunnen vor dem Tore“ (Der Lindenbaum) von Wilhelm Müller – Karriere als Kunstlied (Franz Schubert) und Volkslied (Friedrich Silcher)

Wilhelm Müller

Am Brunnen vor dem Tore

Am Brunnen vor dem Tore
Da steht ein Lindenbaum;
Ich träumt in seinem Schatten
So manchen süßen Traum.
Ich schnitt in seine Rinde
so manches liebe Wort.
Es zog in Freud und Leide
Zu ihm mich immer fort.

Ich musst auch heute wandern
Vorbei in tiefer Nacht,
Da hab ich noch im Dunkeln
Die Augen zugemacht.
Und seine Zweige rauschten,
Als riefen sie mir zu:
"Komm her zu mir, Geselle
Hier findst du deine Ruh!"

Die kalten Winde bliesen
Mir grad ins Angesicht,
Der Hut flog mir vom Kopfe,
Ich wendete mich nicht.
Nun bin ich manche Stunde
Entfernt von diesem Ort,
Und immer hör ich´s rauschen:
"Du fändest Ruhe dort!"

Der Text des Liedes stammt von Wilhelm Müller (1794–1827), einem Dichter, der als Lehrer an der Gelehrten Schule in Dessau und später als Bibliothekar arbeitete. Von seinem Gedichtzyklus Die Winterreise, veröffentlicht in Sieben und siebzig nachgelassenen Gedichten aus den Papieren eines reisenden Waldhornisten, sind 20 von Franz Schubert (1797-1828) im gleichnamigen Liederzyklus als Kunstlieder vertont worden (Siehe Alfred Brendels Beitrag Schuberts Winterreise in DIE ZEIT Nr. 48/2015, 26. November 2015). Darunter unter dem Titel Der Lindenbaum das 1822 entstandene Gedicht Am Brunnen vor dem Tore. Bereits 1821 hatte Müller Das Wandern ist des Müllers Lust verfasst.

Die zunehmende Beliebtheit dieser beiden Lieder hat Müller nicht mehr erleben dürfen. Am Brunnen vor dem Tore wurde erst zum Volkslied, nachdem der Komponist und Musikpädagoge Friedrich Silcher (1789–1860) die von Schubert komponierte Melodie für den Laiengesang arrangierte (1846); ähnlich wie das Lied Des Wandern ist des Müllers Lust, das ebenfalls von Franz Schubert komponiert, erst durch die Vertonung 1844 von Carl Friedrich Zöllner populär wurde.

In der ersten Strophe erfahren wir, dass der Sänger bei seiner Wanderung vor dem Stadttor an einem Lindenbaum und einem Brunnen vorbeikommt. Im Schatten der Linde hat er »so manchen süßen Traum« geträumt. So süß scheinen seine Träume aber nicht (mehr) zu sein, denn er meint, die Zweige riefen ihm zu: »hier find’st deine Ruh’«.

Der Musikwissenschaftler Heinz Rölleke versteht diesen vermeintlichen Ruf als Gedanken an den Tod (in: Das große Buch der Volkslieder – Über 300 Lieder, ihre Melodien und Geschichte, Köln 1983, S. 283).

Losgelöst von dem schwermütigen Zyklus Die Winterreise könnte das Lied auch anders gesehen werden: Als Geselle hat der Sänger es satt, immer wieder auf Wanderschaft gehen zu müssen (vgl. Hoffmann von Fallersleben: Heute noch sind wir hier zu Haus / morgen geht’s zum Tor hinaus / und wir müssen wandern / keiner weiß vom andern).

Zu der Zeit der Entstehung des Liedes war es eine Zunftpflicht, als Wanderbursche drei Jahre und einen Tag durch die deutschen Lande zu wandern und sich bei Meistern gegen Kost und Logis und einen geringen Lohn zu verdingen (Näheres s. Interpretation zu Es, es, es und es). Sicherlich hat der Wanderbursche manches Mädchen kennengelernt, dabei »Freud‘ und Leide« erfahren und wahrscheinlich nicht nur in unseren Lindenbaum »manches liebe Wort« geschnitten. Er träumt von den Freuden, als er verliebt war, aber denkt auch an das Leid, das ihm immer wieder das Abschiednehmen bereitet hat.

Abb.: Historische Bildpostkarten – Sammlung Prof. Dr. Sabine Giesbrecht, Uni Osnabrück; Österreichische Bildpostkarte von 1913 (Urheber unbekannt)

Der Anfang der zweiten Strophe könnte der Interpretation von Rölleke recht geben: »In tiefer Nacht« zu wandern, dabei im »Dunkeln die Augen zuzumachen«, kann nur sinnbildlich zu verstehen sein. Die Nacht, das Dunkel – mit den Substantiva Brunnen, Tor, Traum, Ruhe zum Vokabular der Romantik gehörend – lässt den Wanderburschen den Tod ahnen.

Doch er schiebt diese Gedanken von sich und wandert weiter, selbst wenn ihm »die kalten Winde gerad‘ ins Angesicht wehen«, und er dreht auch nicht um, als ihm der »Hut vom Kopfe fliegt«. Er geht den Weg, den er gehen muss, d.h. solange bis seine drei Jahre und ein Tag abgelaufen sind. Aber er ist gewiss: die Wanderschaft geht bald zu Ende, und er freut sich auf den Ort, in dem er seine Liebste weiß und hofft, dort endlich Ruhe zu finden.

1917 veröffentlichte Wohlfahrtspostkarte der Deutschen Kolonial- Kriegerspende nach einem Bild von Hans Baluschek (1870–1935) (Deutsches Historisches Museum).

Rezeption

Am Brunnen vor dem Tore gehörte 1975 laut einer repräsentativen Umfrage des Instituts für musikalische Volkskunde (heute: Institut für europäische Musikethnologie, Universität Köln) zum beliebtesten Lied der von den Befragten frei (heraus) genannten Lieder. Seit Silchers Bearbeitung zur volksliedhaften Melodie ist es durch die Jahrhunderte populär geblieben. Das erste mir bekannte Liederbuch, das das Lied aufnahm, war 1869 die Sammlung von Volksgesängen für den gemischten Chor, dem bis zur Jahrhundertwende (1900) einige Schulbücher (auch in Österreich und in der Schweiz) und zahlreiche andere Liederbücher folgten. Erwähnenswert – der hohen Auflage wegen – sind Schauenburgs Allgemeines Commersbuch, das 1911 die 110. Auflage erlebte und die von dem berühmten Liedersammler und -forscher Ludwig Erk (1800-1883) herausgegebene Sammlung Deutscher Liederschatz.

Während das Lied bis 1933 – geht man von den Lieder- und Chorbüchern aus – in allen Bevölkerungskreisen gesungen wurde, fand es keinen Eingang in eines der einschlägigen Liederbücher der Jugendbewegung.

Auch in die Liederbücher der NS-Organisationen wurde das Lied nicht aufgenommen; wahrscheinlich war es der Führung zu romantisch oder es wurde als Lied mit Todesgedanken für nicht geeignet befunden. Erst ab 1940 erschien es in einigen Liedersammlungen der Deutschen Wehrmacht; das ist umso erstaunlicher, als es seines 3/4-Taktes wegen nicht gerade zum Marschieren geeignet ist.

Betrachtet man die Ausgaben der Liederbücher nach 1945, so ist festzustellen, dass es in den ersten Nachkriegsjahren nur in wenigen Liederbüchern auftauchte, die zudem nur geringe Auflagen hatten. Erst 1962 wurde es in dem weitverbreiteten, vor allem in Schulen eingesetzten Reclam Taschenbuch Deutsche Volklieder abgedruckt. Die Popularität nahm weiter zu, nachdem 1972 bis 1977 von Heino fünf Langspielplatten mit dem Lied herauskamen. Den Schubertschen Lindenbaum interpretierten berühmte Sänger wie Rudolf Schock, Hermann Prey, Peter Schreier und Dietrich Fischer-Dieskau. Mireille Mathieu und Nana Mouskouri dagegen zogen es vor, Am Brunnen vor dem Tore als Volkslied zu singen.

Bald setzte bei den Liederbüchern ein regelrechter Boom ein. Allein 1977 bis 1988 kamen sechs Taschenbücher und auch weitere Liedersammlungen mit dem Lied heraus. Wie gern das Lied angehört wurde und heute noch wird, zeigen die rund 460 im Katalog des Deutschen Musikarchivs (DMA), Leipzig, aufgeführten Tonträger von der Schellackplatte bis zur CD und die vielen hundert Videos bei YouTube. Auch die im DMA katalogisierten rund 150 Partituren deuten darauf. Bei so gut wie jedem Auftritt eines Männerchors ist das Lied zu hören. Die Zentralstelle für deutschsprachigen Chorgesang in der Welt zählt mehr als 570 Chöre auf, die Am Brunnen vor dem Tore bzw. Der Lindenbaum in ihr Repertoire aufgenommen haben.

Georg Nagel, Hamburg