Hering satt: „Die Flunder und der Harung“, „Hering und Makrele“ und andere Heringslieder

Anonym

Die Flunder und der Harung

In einen Harung jung und schlank*,
zwo, drei, vier, sit tata, tirallala,
der auf dem Meeresgrunde schwamm,
zwo, drei, vier, sit tata, tirallala,
verliebte sich, o Wunder, ´ne olle Flunder,
verliebte sich, o Wunder, ´ne olle Flunder.
* oder: stramm

Der Harung sprach: "Du bist verrückt,
zwo, drei, vier, sit tata, tirallala,
du bist mir viel zu plattgedrückt.
zwo, drei, vier, sit tata, tirallala,
rutsch mir den Buckel ´runter, du olle Flunder!
Rutsch mir den Buckel ´runter, du olle Flunder!"

Da stieß die Flunder auf den Grund,
zwo, drei, vier, sit tata, tirallala,
wo sie ´nen goldnen Rubel fund,
zwo, drei, vier, sit tata, tirallala,
ein Goldstück von zehn Rubel, o welch ein Jubel
ein Goldstück von zehn Rubel, o welch ein Jubel!

Da war die olle Schrulle reich,
zwo, drei, vier, sit tata, tirallala,
da nahm der Harung sie sogleich,
zwo, drei, vier, sit tata, tirallala,
denn so ein alter Harung, der hat Erfahrung,
denn so ein alter Harung, der hat Erfahrung.

Und die Moral von der Geschicht?
zwo, drei, vier, sit tata, tirallala,
verlieb dich in 'nen Harung nicht;
zwo, drei, vier, sit tata, tirallala,
denn so ein alter Harung, der hat Erfahrung,
denn so ein alter Harung, der hat Erfahrung.

In den 67 im Alojado Lieder Archiv von mir gefundenen deutschen Tierliedern wird am häufigsten der Hering besungen (7 mal, an zweiter Stelle steht mit 5 Liedern der Kuckuck). Die beiden bekanntesten und ein aus 1847 stammendes Gedicht werden vorgestellt. Auf weitere „Heringslieder“ soll weiter unten kurz eingegangen werden.

Das am meisten verbreitete Lied In einen Harung jung und schlank wird zum ersten Mal 1856 in Chants populaires des Flamands de France (Gent) erwähnt. Die Melodie geht auf eine traditionelle Volksweise zurück; der Textdichter ist unbekannt (vgl. www.volksliederarchiv.de). Der Name Hering kommt ursprünglich aus dem Lateinischen clupea harengus und ist über das Altdeutsche und das plattdeutsche Harung zum hochdeutschen Hering geworden.

Dass, wie der Liedforscher Theo Mang (Der Liederquell, 2015, S. 595) in Erwägung zieht, das Gedicht Eine traurige Geschichte aus dem Jahr 1847 von Johann Victor von Scheffel, (1826-1886, Alt-Heidelberg, du feine, Als die Römer frech geworden u.v.a.) als Vorbild gedient hat, ist m. E. unwahrscheinlich.

Zwar gibt es eine Parallele: Beide Texte handeln von einer Love Story: einmal liebt ein Hering eine Auster (vgl. Eine traurige Geschichte), ein andermal verliebt sich eine Flunder in einen Hering (s. Liedtext oben). Vermutlich aber ist das Scheffelsche Gedicht in Flandern nicht bekannt genug gewesen, um als Anregung für das Lied mit dem Harung und der Flunder zu dienen. Zumal in der „traurigen Geschichte“ (nomen est omen) die Auster dem Hering, als er ihr einen Kuss rauben wollte, den Kopf abbeißt. Dagegen wird im Lied von 1856 die zunächst abgewiesene Flunder, nachdem sie ein Goldstück im Wert von zehn Rubel gefunden hat, von dem Hering erhört. Es passiert das, was man im Volksmund eine Geldheirat nennt.

Nicht ganz nachzuvollziehen ist, dass der anfangs als jung bezeichnete Hering plötzlich als alt und erfahren dargestellt wird, ebenso wenig wie die Warnung, sich nicht in einen alten Hering zu verlieben, weil der Erfahrung hat.

Die Warnung wird jedoch verständlich, kennt man eine alternative fünfte Strophe (vgl. ingeb.org), die allerdings in den meisten Liederbüchern nicht zu finden ist:

Er biss die alte Flunder tot,
verspeiste sie zum Abendbrot,
versoff dann die 10 Rubel,
o welch ein Jubel,
o welch ein Jubel.

Eine andere letzte Strophe weist der Musiker, Autor und Liedersammler Jochen Wiegandt in Singen Sie hamburgisch? – Vom Tüdelband bis zum Veermaster (Hamburg, 2013) aus:

Auch mit dem Hering ging‘s zu End‘,
er wurd‘ ins Fischernetz geschwemmt
und lag im Imbiss-Lädchen
in einem Brötchen,
in einem Brötchen!

Hering und Makrele

Wie es dem Liebespaar Hering und Makrele erging, erzählt uns der Hamburger „textende Taxifahrer“ Benno Strandt (1907–1995), Autor und Texter für Lieder, Gedichte und Geschichten in Plattdeutsch, Hochdeutsch und Missingsch. Berühmt wurde der Text durch den „Mann mit der Laute“, den Hamburger Volkssänger Richard Germer (1900–1993), der die Moritat vertonte und sie mit Hilfe zahlreicher Auftritte in der ganzen Bundesrepublik populär machte. 1963 erschien erstmalig eine Single mit Richard Germer; der Text dürfte Anfang der 1960er Jahre entstanden sein.

Benno Strandt

Hering und Makrele

Ein Hering und eine Makrele
Die waren ein Herz als auch Seele.
Er schwamm mit ihr durch die Kanäle,
auf dass der Makrele nicht fehle.

Sie kamen ins off'ne Gewässer,
da wurde der Hering schon kesser.
Er sprach: „Sei mein Weib, das wär besser."
Sie sprach: „Ach, du süßer Epresser".

So wurde die Ehe geschlossen.
Sie haben das Leben genossen
Er küsste ihr ganz unverdrossen
die Kiemen, das Maul und die Flossen.

So flitterten sie in den Wogen.
Und als ein paar Wochen verflogen
da wurd‘ ihr so seltsam im Rogen
Sie hat keine Miene verzogen.

Was nützt es, dass ich es verhehle?
Sie wurde nun bald Mamakrele.
Doch er sprach: “Eh ich mich drum quäle, 
erlaubt mir, dass ich mich empfehle“.

Sie senkte gekränkt ihre Lider 
und blickte empört auf ihn nieder.
„Ihr Mannsleut‘ seid herzlose Brüder! 
Im Fischgericht sehn wir uns wieder“.

Der Schuft wird geschnappt in den Fjorden. 
Dort fängt man den Hering in Horden.
Makrelchen ist irgendwo im Norden.
schön goldgelb geräuchert worden.

Ein Wiedersehn gabs, wenn‘s auch spat war. 
Im Fischgeschäft, das delikat war,
erkannt‘ sie ihn, weil sie auf Draht war,
obwohl er schon Heringssalat war.

Hering und Makrele sind beides Schwarmfische, die in der Laichzeit im späten Frühjahr zusammen in Gruppen Jagd auf die Brut anderer Fischarten machen. Ansonsten ist der Hering eine wichtige Nahrungsgrundlage nicht nur für Wale, Robbe, Thunfische, Seelachse, sondern auch für die Makrele. Es ist also die dichterische Freiheit, zu behaupten, dass Hering und Makrele ein Herz und eine Seele waren.

Herrscht hier zunächst zwischen Hering und Makrele eitel Sonnenschein, so wird es nach all dem Küssen und Kosen ernst: die Makrele wird schwanger. Doch kaum ist sie „Mamakrele“ geworden, scheut der Hering die Verantwortung als Vater und verlässt sie. Empört beschimpft die Makrele „alle Mannsleut‘“ als „herzlose Brüder“ und stößt die unheilvolle Prophezeiung aus. „Im Fischgericht sehn wir uns wieder!“

Und tatsächlich werden der Hering in den Fjorden und die Makrele „irgendwo im Norden“ gefangen. Und nachdem die Makrele geräuchert in einem Fischgeschäft zum Verkauf angeboten wird, erkennt sie neben sich in der Auslage den Hering, verarbeitet zu Heringssalat.

So nimmt auch hier, wie in der Scheffelschen „schaurigen Geschichte“, die Liebesgeschichte ein trauriges Ende (s. unten youtube Link).

Intermezzo

Zu den anfangs erwähnten sieben „Heringsliedern“ gehören außer den drei bereits erwähnten,

– das relativ unbekannte Der Hering ist ein salzig Tier (1870) von  Heinrich Seidel, gesungen nach der Melodie Ich bin der Doktor Eisenbart und im Internet fälschlicherweise häufig Helge Schneider zugeschrieben

– der nur regional bekannte Waldheim-Boogie von 1950, in dem es um einen Hering und einen Rollmops geht

– das von einem Heringsweibchen und einem Walfisch handelnde Lied Armer Jonas (1963) von Franz Josef Degenhardt:

– das Couplet Der Hering von Georg Kreisler (1966):

Die Ballade von der Pellkartoffel und dem Hering (1967) gesungen von den Jacob Sisters:

Verbreitung/Rezeption

Wie oben erwähnt ist das Lied vom Harung und der Flunder eines der bekanntesten Scherzlieder. Dazu beigetragen haben vor allem das Allgemeine Deutsche Kommersbuch, das seit 1858 seine 167. Auflage im Jahr 2021 erreichte und damit das im deutschen Sprachraum das am häufigsten aufgelegte Liederbuch ist und außerdem die Mundorgel mit laut Christiane Müller vom Vertrieb des Verlags 15 Millionen verkauften Exemplaren.

Während im Liederarchiv www.deutscheslied.com/ weitere 38 Liederbücher unser Lied aufweisen, ist das Lied vom Hering und der Makrele nur in 2 Ausgaben vertreten. Auch bei Youtube übersteigt die Zahl der Treffer für Die Flunder und der Harung die für Hering und Makrele bei weitem.

Bleibt noch nachzutragen: Wenn ein Lied besonders populär ist, wird es häufig umgedichtet, meistens in Form einer Parodie. In unserem Fall ist aus Harung und Flunder ein politisches Lied geworden. 1981 dichteten der Sänger und Songschreiber Manfred Jaspers und Dieter Dombrowski

12 Strophen mit dem Titel Ein Lied zur Elbverschmutzung. (Quelle: Historisch-politische Lieder aus acht Jahrhunderten, Werner Hinze (Hg. Landeszentrale für politische Bildung Schleswig-Holstein, neue Ausgabe 2009). Die erste Strophe lautet:

In einen Harung jung und krank,
zwo, drei vier links ist Blei und rechts ist Blei
der auf den Grund der Elbe sank
zwo drei, vier und Cadmium ist auch dabei
verliebte sich, o Wunder, ´ne olle Flunder,
verliebte sich, o Wunder, ´ne olle Flunder.

Nachtrag: Hering in Gefahr

Der Hering, der in fast allen Weltmeeren und in der Nord- und Ostsee vorkommt, gehört wegen der Klimaerhitzung und der zunehmenden Verschmutzung sowie „dem fischereilichen Druck“ zu den gefährdeten Fischsorten (Deutsche Stiftung Meeresschutz).

Obwohl sich die Anlandungen von Hering in Deutschland aufgrund der Beschränkungen der Fischerei von 17.000 t in 2018 auf 9.250 t in 2019 fast halbiert, hatten, nahm 2020 der Hering einen Marktanteil von 10,9 % ein und stand auf Platz 4 der am meisten verzehrten Speisefische in Deutschland.

Wegen der gestiegenen Gefährdung, speziell in der Ostsee, sollte der Hering durch die gemeinsame Wahl vom Bundesamt für Naturschutz (BfN), vom Deutschen Angelfischerverband (DAFV) und dem Verband Deutscher Sporttaucher (VDST) zum Fisch des Jahres 2021 erhöhte Aufmerksamkeit und Anerkennung erhalten. Aufgrund der Corona-Pandemie im Jahr 2021 war es jedoch nicht möglich, Beschränkungen und Auflagen durchzusetzen. Daher wurde der atlantische Hering (Clupea harengus) auch zum Fisch des Jahres 2022 gewählt.

Georg Nagel, Hamburg

„Bunt sind schon die Wälder“ von Johann Gaudenz von Salis-Seewis – Deutschlands beliebtestes Herbstlied

Johann Gaudenz von Salis-Seewis

Bunt sind schon die Wälder

1. Bunt sind schon die Wälder
gelb die Stoppelfelder
und der Herbst beginnt
Rote Blätter fallen
graue Nebel wallen
kühler weht der Wind.

2. Wie die volle Traube
an dem Rebenlaube
purpurfarbig strahlt
Am Geländer reifen
Pfirsiche mit Streifen
rot und weiß bemalt.

3. Dort im grünen Baume
hängt die blaue Pflaume
am gebognen Ast
gelbe Birnen winken
dass die Zweige sinken
unter ihrer Last.

4. Welch ein Apfelregen
rauscht vom Baum! es legen
in ihr Körbchen sie
Mädchen, leicht geschürzet
und ihr Röckchen kürzet
sich bis an das Knie.

5. Winzer, füllt die Fässer
Eimer, krumme Messer
Butten sind bereit
Lohn für Müh und Plage
sind die frohen Tage
in der Lesezeit.

6. Unsre Mädchen singen
und die Träger springen
alles ist so froh
Bunte Bänder schweben
zwischen hohen Reben
auf dem Hut von Stroh.

7. Geige tönt und Flöte
bei der Abendröte
und bei Mondenglanz
schöne Winzerinnen
winken und beginnen
deutschen Ringeltanz*.

* heute meistens „frohen Erntetanz“

Der Text wurde 1782 vom Schweizer Dichter Johann Gaudenz von Salis-Seewis verfasst. Mit ursprünglich sieben Versen erschien er 1786 zum ersten Mal im Vossischen Musen-Almanach. Heute sind hauptsächlich die Strophen 1, 2, 6 und 7 bekannt.

In der von Friedrich Matthisson 1793 herausgegebenen Fassung findet sich noch eine weitere Strophe, welche zwischen der 3. und 4. Strophe eigentlich vorgesehen war, die allerdings in der Mehrheit der mir zugänglichen Liederbücher nicht mehr vertreten ist.

Sieh! wie hier die Dirne*
Emsig Pflaum’ und Birne
In ihr Körbchen legt;
Dort, mit leichten Schritten,
Jene, goldne Quitten
In den Landhof trägt

* Bedeutung zur Zeit der Entstehung: Mädchen.

Eine rühmliche Ausnahme bildet das über 750 Lieder umfassende Werk von Theo und Sunhilt Mang: Der Liederquell – Volkslieder aus Vergangenheit und Gegenwart, Ursprünge und Singweisen (2015, S. 83 f.).

Freiherr von Salis-Seewis wurde 1762 auf dem Stammschloss seiner Familie im Kanton Graubünden geboren. In Weimar machte er die Bekanntschaft von Goethe, Herder, Schiller und Wieland. Bis zur Flucht 1789 des französischen Königs Ludwig XVI. anlässlich des Fortschreitens der Französischen Revolution war von Salis-Seewis Offizier in dessen Schweizergarde. Später bekleidete er etliche Staatsämter in der Schweiz. Er starb 1834 auf dem Familiensitz.

Die heute noch geläufige Melodie der bunten Wälder aus dem Jahr 1799 stammt vom deutschen Komponisten Johann Friedrich Reichardt, eine andere aus dem Jahr 1816 von Franz Schubert, der eine ganze Anzahl von Gedichten des Freiherrn vertont hat.

Reichardt wurde 1752 in Königsberg geboren. Er war preußischer Hofkapellmeister und später Theaterdirektor. In Weimar war er gut bekannt mit Goethe, Schiller und Herder. Reichardt unternahm viele Kunstreisen innerhalb Europas. 1814 starb er in Giebichenstein bei Halle. Einen Namen machte er sich vor allem durch die Vertonung vieler Gedichte von Goethe.

Unser Lied beschreibt anschaulich, wie sich die Erscheinungen der Natur im Herbst wandeln. Die grünen Blätter nehmen verschiedene Farben an, sie werden braun, gelb und rot in mannigfaltigen Schattierungen. Der Buntheit der Wälder entsprechen abgeerntete Felder mit ihrem von der Sonne gegilbten Stroh. Stellvertretend für viele Blätter werden hier die roten Blätter (in anderen Versionen „bunten Blätter“) genannt, die zu Boden fallen. Und da es nicht mehr so warm wie im Sommer ist, wallen graue Nebel und weht der Wind kühler.

Und im Herbst sind auch die Weintrauben reif. Exemplarisch für alle Traubenarten schwärmt der Dichter hier offensichtlich von den Rotweinsorten, die (in der Sonne) purpurfarbig strahlen. Am Geländer (Spalierobst) reifen die Pfirsiche, die dem Dichter – romantisierend ausgedrückt, aber nicht der Realität entsprechend – vorkommen, wie mit roten und weißen Streifen bemalt.

Dass das Lied aus der Zeit der Romantik stammt, ist auch daran zu erkennen, dass hier nicht die häufig schwere Erntearbeit oder die nicht minder schweißtreibende Weinlese beschrieben werden. Die Träger, die die schweren Weinkiepen geschleppt haben, sind froh, wenn die Arbeit vorbei ist. Und es ist nicht nur Feierabend, sondern die Ernte ist eingebracht und das Erntefest kann beginnen. Da springen die Träger und die Mädchen singen. Alles jubelt und die Mädchen (und jungen Frauen) haben ihre Hüte, die sie bei der Arbeit vor der sengenden Sonne schützen, mit bunten Bändern geschmückt.

Mit Einbruch der Dunkelheit spielt die Musik auf: Man kann sich vorstellen, dass Geige und Flöte hier für ein ganzes Ensemble stehen, das flotte Melodien spielt. Die jungen Winzerinnen winken den jungen Männern zu, und es beginnt der frohe Erntetanz. Das Fest ist so stimmungsvoll, dass bis tief in die Nacht bei Mondenschein gefeiert wird.

Heutzutage würde der Herbst anders beschrieben werden. Vorzeitig haben viele Bäume Blätter abgeworfen, da es ihnen an Wasser mangelt. Der Herbstanfang ist nicht warm, sondern heiß, die Pfirsiche werden halbreif gepflückt, bevor sie in der Sonne vertrocknen oder verfaulen. Die Winzer beklagen sich über die Schwerstarbeit bei der sengenden Hitze und versuchen die Traubenlese vorzuziehen. Landwirte kommen mit der Ernte nicht nach, so dass Feldfrüchte verderben. Auf den Getreidefeldern werden die Halme vorzeitig zu Stroh.

Als 2008 das christliche Magazin chrismon (Beilage der Wochenzeitung Die Zeit) ihre Leser und Leserinnen um die Nennung des deutschen Liedes gebeten, das sie am liebsten singen oder hören, erreichte nach Der Mond ist aufgegangen (Rang 1) und Die Gedanken sind frei (Rang 2, Interpretation hier) unser Herbstlied den fünften Rang.

Im September 2011 hatten der MDR Figaro (Mitteldeutscher Rundfunk) und das MDR-Fernsehen von 250.000 Volksliedern 20 Lieder ausgewählt und seine Hörer und Zuschauer nach dem schönsten Volkslied befragt. Die Auswertung der Anrufe und Zuschriften ergab, dass Bunt sind schon die Wälder die achte Stelle der Rangfolge erreicht hatte. Wahrscheinlich wäre im Herbst 2022 unser Lied nicht einmal in eine Auswahl von100 Volksliedern aufgenommen worden.

Doch nach wie vor ist dieses Herbstlied in vielen Schulliederbüchern zu finden. In der Mundorgel, dem deutschen Liederbuch mit der höchsten Auflage von 11 Millionen, habe ich es jedoch vermisst.

Dagegen weist Youtube 30 Videos aus, darunter mit den Interpreten Hannes Wader und Rolf Zuckowski (und Freunde) und in der Vertonung von Franz Schubert gesungen von Dietrich Fischer-Dieskau. Und die Anzahl der im Internet angebotenen CDs mit dem 240 Jahre alten Lied Bunt sind schon die Wälder beträgt auch heute noch über 70.

Georg Nagel, Hamburg

Deutsche „Katjuscha“-Versionen in Zeiten des Friedens und des Krieges

Katjuscha (freie Übersetzung von Alexander Ott, 1949)  

1.Leuchtend prangten ringsum Apfelblüten,
still vom Fluß zog Nebel noch ins Land;
durch die Wiesen kam hurtig Katjuscha
zu des Flusses steiler Uferwand.

2.Und es schwang ein Lied aus frohem Herzen
jubelnd, jauchzend sich empor zum Licht,
weil der Liebste ein Brieflein geschrieben,
das von Heimkehr und von Liebe spricht.

3.Oh, du kleines Lied von Glück und Freude,
mit der Sonne Strahlen eile fort.
Bring dem Freunde* geschwinde die Antwort,
von Katjuscha Gruß und Liebeswort!

4.Er soll liebend ihrer stets gedenken,
ihrer zarten Stimme Silberklang.
Weil er innig der Heimat ergeben**,
bleibt Katjuschas Liebe ihm zum Dank.

5.Leuchtend prangten ringsum Apfelblüten;
still vom Fluss zog Nebel noch ins Land.
Fröhlich singend ging heimwärts Katjuscha,
einsam träumt der sonnenhelle Strand.

* im russ. Original:  Krieger, Kämpfer, Grenzsoldat; ** er soll die Heimat schützen.


Katjuscha (Umdichtung vom Julia Kossmann, 2022)

1.Leuchtend prangten ringsum Apfelblüten,
still vom Fluss zog Nebel noch ins Land;
durch die Wiesen kam traurig Katjuscha
zu des Flusses steiler Uferwand.

2.Und es schwang ein Lied aus schwerem Herzen
unter Tränen sich empor zum Licht,
weil der Liebste ein Brieflein geschrieben,
das vom Krieg in der Ukraine spricht.

3.Oh, du kleines Lied voll Schmerz und Leiden,
mit der Sonne Strahlen eile fort,
bring' dem Freunde inniglich die Bitte,
sag' endlich „nein“ zu Putins Brudermord.

4.Doch er starb mit Sonnenblumenkernen
und der schweren Waffe in der Hand.
Auf seinem Grab werden gelbe Blumen blühen,
im zerbombten Bruderland.

5.Leuchtend prangten ringsum Apfelblüten;
still vom Fluss zog Nebel noch ins Land.
Und sehr traurig ging heimwärts Katjuscha,
einsam träumt der sonnenhelle Strand.

Das russische Liebeslied Katjuscha (eine Verkleinerungsform von Jekaterina) erlebte seine Uraufführung Ende November 1938 im Moskauer Haus der Gewerkschaften.

Noch in der Zeit vor dem Zweiten Weltkrieg wurde es von zahlreichen Sängerinnen und Sängern und Chören der Roten Armee interpretiert und bald darauf in russischen Bevölkerungskreisen derart populär, dass man geradezu von einem Hit sprechen könnte. Auch im Großen Vaterländischen Krieg spielte das Lied Katjuscha eine wichtige Rolle. Wurde es in zunächst vorwiegend bei der Verabschiedung von an die Front ausrückenden Soldaten eingesetzt, so sangen bzw. hörten es im Lauf der Kriegsjahre die Soldaten an allen Fronten in ganz Europa. Der Name des sowjetischen Katjuscha-Raketenwerfers (von Soldaten der Wehrmacht Stalinorgel genannt) geht ebenfalls auf das Lied zurück.

Einige Historiker haben es mit der Bedeutung für die Frontsoldatendes weltberühmten Schlagers Lili Marleen verglichen (vgl. Interpretation) Wie Lili Marleen erfuhr auch Katjuscha zahlreiche Adaptionen und Nachdichtungen; eine der bekanntesten ist das 1943 entstandene italienische Lied Fischia il vento (Der Wind pfeift), das neben Bella Ciao das bekannteste, heute noch populäre italienische Partisanenlied ist. Aufgrund der eingängigen Melodie kam es in vielen Ländern Europa zu Textdichtungen, die aber keinen Bezug zum russischen Original haben, z.B. in Deutschland das Räuberlied In dem dunklen Wald von Paganowo. Mit der Melodie von Katjuscha wurde Casatschok, seit 1968 in seiner ersten, italienischen Fassung, ab 1969/70 zum Disko-Hit. Ivan Rebroff, Alexandra, Dalida (mit dem Text: Heute Nacht geht keiner von uns schlafen) und die Don Kosaken trugen zur wachsenden Popularität der Melodie bei. Bis 1978 folgten 16 Versionen in verschiedenen europäischen Sprachen. Ab 1989 lösten die Leningrad Cowboys mit ihrem Folkpunk-Casatschok eine zweite Erfolgswelle der Katjuscha-Melodie aus.

Der Text des Katjuscha-Lieds stammt von den dem russischen Lyriker Michail Issakovskij (1900–1973), der nicht nur die Sowjetunion lobpreisende Gedichte schrieb – er erhielt 1943 und 1943 den Stalinpreis –, sondern auch Liedtexte, die mit Hilfe eingängiger Melodien häufig zu beliebten Schlagern wurden.

Vertont wurde die Katjuscha-Melodie 1938 vom Komponisten Matwej Blanter (1903–1990), der volkstümliche ländliche Weisen aufgriff und mit städtisch geprägten Tanzklängen mischte. In den späten 1930er Jahren komponierte er Lieder im Stil des sozialistischen Realismus und erhielt für sein Werk 1946 den Stalinpreis.

Die heute in Deutschland bekannte Version geht auf die freie Übersetzung des DDR-Schriftstellers Alexander Ott (1903–1990) zurück, der sich 1949 an der wörtlichen Übersetzung, beginnend mit „Ringsum blühen Birn- und Apfelbäume“ (s. o.), orientierte. Ott hat russische Lieder nachgedichtet und politische Liedtexte geschrieben. Eines seiner bekanntesten ist das FDJ-Lied Wir sind die erste Reihe.

Betrachtet man die Version von Ott, so könnte man meinen, es handele sich um ein Liebeslied, in dem ein verliebtes Mädchen an ihren in der Ferne weilenden Liebsten denkt. Sie ist froh, denn er hat ihr ein „Brieflein geschrieben, das von Heimkehr und von Liebe spricht“. Aus den Zeilen „weil er innig der Heimat ergeben“ geht nicht eindeutig hervor, dass Katjuschas Freund an der Front ist; es könnte sich auch um einen Seemann handeln, der monatelang zur See fährt.

Doch in dem sich näher an das russische Original anlehnenden Text von J. Klöckner (Lebensdaten sind nicht bekannt) wird in der dritten und vierten Strophe deutlich, warum es im Großen Vaterländischen Krieg so außerordentlich beliebt war:

3. Ach du Liedchen des verliebten Mädchens,
fliege mit der Sonne um die Welt,
fliege hin zum Soldaten an ferner Grenze,
von Katjuscha grüße ihren Held.

4. Lass ihn zärtlich an Katjuscha denken,
hören, wie sie singt für ihn allein.
Er soll schützen die heimatliche Erde,
er soll treu in seiner Liebe sein.

Während sowohl die Originalversion als auch die Übersetzung von Klöckner bzw. die Nachdichtung von Ott heutzutage problemlos gesungen werden dürften, wird die Fassung (s.o.) von Julia Kossmann in Russland und bei Putin-Sympathisanten sicherlich verpönt sein. Die Musikantin (Gitarre und Gesang) und Leiterin einiger Gesangskreise, die zuletzt solo bei einem Konzert Singen für den Frieden in Hamburg Eimsbüttel aufgetreten ist, kannte das Lied seit Anfang der 70er Jahre. Ende der 80er Jahre wurde Katjuscha wieder zum Hit, z. B durch die Interpretation der Leningrad Cowboys (s.o.).

Der Überfall Russlands auf die Ukraine gab den Anstoß zu einer Art „musikalischer Rüstungskonversion“ (Kossmann): Eine traurige Katjuscha weiß hier ebenso wenig wie ihr junger Freund an der Front, warum dieser Krieg geführt wird, der auf der Lüge basiert, Russland müsse sich gegen einen Angriff der Ukraine verteidigen.

Eine weitere Inspiration war eine Sequenz im TV: Eine alte ukrainische Frau begrüßt am Straßenrand einen russischen Soldaten und gibt ihm Sonnenblumensamen, nicht um sie zu essen: „Steck sie in die Tasche, dann werden aus deinem Grab noch gelbe Blumen blühen!“.

Die Beschwingtheit Katjuschas, ausgelöst durch einen Brief ihres Liebsten, in der Fassung von Ott ist im Text von Kossmann wie weggeblasen. Katjuscha jauchzt und jubelt nicht, traurig geht sie zum Flussufer und beim Singen kommen ihr die Tränen. Der Liebste schützt nicht die Grenze Russlands, sondern ist aktiv an Putins Eroberungskrieg in der Ukraine beteiligt, in den er wie in ein einfaches Manöver geschickt wurde.

Während bei Ott der Liebste von Heimkehr spricht, ist derzeit an eine baldige Rückkehr aus der Ukraine nicht zu denken. Daher fordert in der Kossmann-Version Katjuscha ihren Liebsten auf, “Nein zum Bruderkrieg“ zu sagen.

Doch es ist zu spät; wie Tausende anderer Soldaten ist er „im zerbombten Bruderland“ getötet worden. Mit Sonnenblumenkernen, die Katjuscha ihm mitgegeben hat, ist er begraben worden. Daher werden, wie es in der vierten Strophe heißt, „auf seinem Grab gelbe Blumen blühen“.

In der Fassung des DDR-Schriftstellers Ott geht Katjuscha in der Hoffnung, dass ihr Liebster bald heimkehrt „fröhlich singend heimwärts“; dagegen geht sie in der Kossmann-Version, da sie vom Tode ihres Freundes weiß, „sehr traurig“ nach Hause.

So ist angesichts des russischen Überfalls auf die Ukraine und der im Laufe des Krieges verübten Gräueltaten, z.B. in Butscha,  aus dem Liebeslied ein anklagendes Antikriegslied geworden, während die Apfelblüten weiterhin leuchtend prangen.

Georg Nagel, Hamburg

„Zogen einst fünf wilde Schwäne“ – ein frühes Antikriegslied

Anonym (Übersetzung: Karl Plenzat)

Zogen einst fünf wilde Schwäne

Zogen einst fünf wilde Schwäne,
Schwäne leuchtend weiß und schön.
Sing, sing, was geschah?
Keiner ward mehr gesehen. Ja!

Wuchsen einst fünf junge Birken
schön und schlank am Bachesrand.
Sing, sing, was geschah?
Keine in Blüten stand. Ja!

Zogen einst fünf junge Burschen
stolz und kühn zum Kampf hinaus.
Sing, sing, was geschah?
Keiner kehrt nach Haus. Ja!

Wuchsen einst fünf junge Mädchen
schön und schlank am Memelstrand.
Sing, sing, was geschah?
Keins den Brautkranz wand. Ja!

Das ursprünglich litauische Lied, das ein unbekannter Verfasser um 1850 auf eine Volksweise dichtete, war auch im masurischen Ostpreußen bekannt. 1917 wurde Zogen einst fünf wilde Schwäne von dem Pädagogen Karl Plenzat und späteren Professor für Volkskunde an der Universität Königsberg übersetzt. Die Veröffentlichung in seiner Sammlung Der Liederschrein – 110 deutsche, litauische und masurische Lieder 1918 und die Aufnahme in zahlreiche Liederbücher der Jugendbewegung, darunter vor allem Fritz Sotkes Unsere Lieder (1922 bereits in der dritten Auflage) verbreitete das Lied in ganz Deutschland. Dazu mag nach dem verlorenen Ersten Weltkrieg die pazifistische Stimmung des Liedes und der Kriegsverdruss großer Teile der Bevölkerung beigetragen haben.

Hört man oberflächlich das Lied zum ersten Mal, könnte man nach den beiden ersten Zeilen meinen, es handele sich um eine spätromantische Naturbeschreibung. Da wird von dahinziehenden Schwänen berichtet, also von Zugvögeln, die im Herbst gen Süden ziehen und im Frühling zurückkehren. Aber und das ist entscheidend, die Schwäne ziehen nicht dahin, sie sind gezogen, und von einer Rückkehr ist nicht die Rede. Daher fragt die dritte Zeile nach: „Sing, sing, was geschah?“, worauf die vierte Zeile dann die traurige Antwort gibt: „Keiner ward mehr gesehen“.

Nun sind wir für die zweite Strophe vorgewarnt. Wir trauen der Idylle „Wuchsen einst fünf junge Birken schön und schlank am Bachesrand“ nicht und müssen dann auf die Frage nach dem, was geschehen ist, auch erfahren, dass keine der jungen Birken je „in Blüten stand“.

Auch ohne die endgültige Aufklärung in der dritten und vierten Strophe wissen wir, dass seit der griechischen Antike der Schwan auch ein Symboltier für einen jungen schmucken Mann ist (vgl. Leda und der Schwan). Auch „der berühmte ,Schwanengesang´ geht auf die schon bei Aischylos […] erwähnte prophetische Gabe des Apollo-Vogels zurück, der von seinem nahen Tod weiß und […] Klagelaute hören lässt“ (aus dem Skript des Probst-Effah-Seminars Deutsche Lieder des 20. Jahrhunderts, Wintersemester 2008/2009, Universität Köln).

Weiß („Schwäne leuchtend weiß und schön“) ist die Farbe der Unschuld, der Reinheit, rein und unschuldig im Sinne: frei von bösem Tun. Die Birken mit ihren hellgrünen Blättern und dem weißen Stamm symbolisieren Lebensfreude, den Frühling, die Jugend. Noch heute werden im Mai in einigen ländlichen Gegenden Deutschlands Birkenzweige als Zeichen der Zuneigung jungen Mädchen ans Fenster oder an die Türe gesteckt (vgl. „Ich geh, ein Mai zu hauen“, Zeile 1 der 2. Strophe aus Der Winter ist vergangen).

Erfahren wir in den beiden ersten Strophen zunächst nur die Folgen eines Ereignisses, geben erst die dritte und vierte Strophe Aufschluss darüber, was geschehen ist. Zugleich wird endgültig klar: bei den Schwänen und Birken handelt es sich um Metaphern für „junge Burschen“ und „junge Mädchen“. Kriegsbegeistert zogen die Burschen „stolz und kühn zum Kampf hinaus“ Sie waren zuversichtlich, dass sie bald nach Haus zurückkehren und dann ihre Liebste heiraten würden. Nun aber kehrt keiner von ihnen aus dem Krieg zurück. Und die jungen Mädchen, die einst „schlank und schön am Memelstrand“ (ein Hinweis auf die Entstehung im Litauischen) standen, müssen nun ihren Freunden oder Verlobten nachtrauern. Und keine von ihnen wird je den „Brautkranz“ winden.

Als Leser/Hörer des Liedes fragt man sich, wieso es sich um fünf Burschen handelt. Die 5 steht in der ersten und dritten Strophe stellvertretend für viele junge Männer, die in den Krieg zogen und wie es in späteren Mitteilungen an die Angehörigen heißt: „Gefallen für Volk und Vaterland“. Aber wieso 5? Als eine Erklärung könnte in Betracht kommen, dass, da das Lied in einer ländlichen Gegend entstand („am Memelstrand“), der Dichter fünf junge Burschen eines Dorfes meinte, die in ihrem Dorf oder einem anderen benachbarten Flecken ihre Liebste hatten. Die 5 könnte aber auch auf die fünf Sinne des Menschen deuten, die mit dem Tod der Burschen erloschen sind. Adäquat zu den fünf Schwänen bzw. Burschen steht die 5 in der zweiten und vierten Strophe für die fünf Birken bzw. Mädchen. Letztlich bleibt offen, aus welchem Grund der Dichter die Zahl 5 gewählt hat.

Dieses ‚Schwanenlied‘ ist bis heute beliebt geblieben. Bemerkenswert ist, dass es in den beiden ersten Jahren des Naziregimes Eingang in viele NS-Liederbücher fand, so z.B. in das auflagenstarke, vom Reichsjugendführer Baldur von Schirach herausgegebene, Hitlerjugend-Liederbuch Uns geht die Sonne nicht unter und in viele Schulbücher. Im Liederbuch des Bundes deutscher Mädel sind allerdings nur die beiden ersten Strophen zu finden, im Liederbuch der NS-Frauenschaft fehlte die vierte Strophe. Ab 1935 allerdings verbannten die Nationalsozialisten das Lied nahezu vollständig aus dem gedruckten Liedrepertoire.

Unabhängig davon war auch nach dem Zweiten Weltkrieg die Popularität des Liedes ungebrochen, vor allem in Vertriebenen- oder Flüchtlingskreisen, wo es bei Heimatreffen und vor allem bei Ostpreußenabenden gesungen wurde. Zur Erinnerungskultur gehören etliche Buchtitel mit dem Incipit Zogen einst fünf wilde Schwäne.  

Das Lied fand auch Aufnahme in zahlreiche Liederbücher der DDR, speziell der Freien Deutschen Jugend (FDJ) und in sogar in einige Liedersammlungen in Österreich.

Als Antikriegslied wurde es Ende der 1970er Jahre zur Zeit der Proteste gegen den „Atomtod“ und der Friedensbewegung gern gesungen und von den Alben des Folkduos Zupfgeigenhansel, von Hannes Wader und den Barden Hein und Oss Kröher gern gehört.

Geht man von der Anzahl der Partituren im Katalog des Deutschen Musikarchivs Leipzig aus, haben es viele deutsche Chöre in ihrem Repertoire, z.B. der Dresdner Kreuzchor, die Regensburger  Domspatzen und die Gotthilf-Fischer-Chöre, um nur die berühmtesten zu nennen. Verbreitet ist es in allen Bevölkerungskreisen, wie die Aufnahme in bemerkenswert viele Liederbücher nicht nur der

Nachfolgeorganisationen der Jugendbewegung, sondern auch konfessioneller und politischer, Wander- und Folklore-Kreise zeigt. Allein 1980 bis 1999 kamen über 50 Liederbücher mit Zogen einst fünf wilde Schwäne heraus. Die letzten mir bekannten Ausgaben waren 2013 das Wandervogel-Liederbuch und das Liederbuch des Freien Begegnungsschachts.* Unverständlich ist mir, dass in der über 750 Volkslieder umfassenden Sammlung von Thero und Sunhit Mang Der Liederquell (über 1.300 Seiten) Zogen einst fünf wilde Schwäne nicht enthalten ist.

Georg Nagel, Hamburg

*Der FBS ist ein Zusammenschluss von reisenden und einheimischen Handwerksgesellen mit abgeschlossener Gesellenausbildung in einem traditionellen Handwerksberuf.

„Es geht eine dunkle Wolke herein“ – ein rätselhaftes Strophenpuzzle

Anonym

Es geht eine dunkle Wolke* herein

1.Es geht eine dunkle Wolke herein.
Mich deucht, es wird ein Regen sein,
ein Regen aus den Wolken
wohl in das grüne Gras.

2.Und kommt die liebe Sonn nit bald,
so weset alls im grünen Wald;
und all die müden Blumen,
die haben müden Tod.

3.Es geht eine dunkle Wolke herein.
Es soll und muss geschieden sein.
Ade Feinslieb, dein Scheiden
macht mir das Herze schwer.

[* oftmals auch „Wolk‘“]

Herkunft und Entstehung

Das Lied wurde lange Zeit aufgrund des angenommenen Entstehungsjahres (1646) als typisches „Zeitdokument des Dreißigjährigen Krieges“ (Wikipedia) charakterisiert, wozu der Text und die schwermütige Melodie beigetragen haben. Da es jedoch viel älter ist, wird es mittlerweile, vor allem wegen der dritten Strophe, eher als Liebes- und Abschiedslied eines Handwerksgesellen angesehen.

Die 1. Strophe steht in der Liederhandschrift des Benediktinerpaters Johann Werlin (1588–1666), der sie 1646 in der Einführung zum neunten Kapitel in sieben Bänden mit 3.000 geistlichen und weltlichen Liedern aufgeführt hat. Als Textfragment findet sie sich aber bereits 1540 in Georg Forsters (um 1500–1568) Frischen Teutschen Liedlein, Band 2: „Es geht ein finster Wöckle herein“ (vgl. Theo und Sunhilt Mang, Liederquell, 2015, S. 289). Aus dem Jahr 1630 existiert eine Flugschrift mit einem 13-strophigen Abschiedslied, von dem jedoch nur die oben aufgeführte erste Strophe beginnend mit Es geht ein dunckels Wölcklein herein in unser Lied übernommen wurde.

Später hinzugekommen sind die Strophen zwei und drei. Ob die 2.  Strophe tatsächlich vom Herausgeber des für die Jugendbewegung bedeutendsten Liederbuchs (geschätzte Gesamtauflage über eine Million) Der Zupfgeigenhansl, Hans Breuer (1883–1918) stammt, ist nicht gesichert. Vermutlich ist diese Zuweisung dadurch entstanden, dass Breuer zum ersten Mal die obigen drei Strophen zusammenhängend in die späteren Ausgaben des Zupfgeigenhansl aufgenommen hat (2. Auflage 1910 und 4. Auflage 1911).

Gemäß den Liedforschern Theo und Sunhilt Mang wurde die 3. Strophe unter Abänderung der letzten Zeile dem etwa seit 1840 im Kuhländchen (einer deutschsprachigen Region an der Oder in Tschechien) bekannten Handwerksburschenlied Ich waß wohl, wenn‘s gut wandern ist entnommen.

Die noch heute gesungene Form der Melodie hatte Wolfgang Schmeltzl (geboren 1500 oder 1505, gestorben 1564) in seine Quodlibet-Sammlung 1544 aufgenommen. Bekannte spätere Bearbeitungen stammen von Hugo Distler (1932) und Hanns Eisler (1953).

Interpretation

Vergleicht man Es geht eine dunkle Wolk‘ herein mit anderen Volksliedern, die eine Geschichte erzählen, eine Stimmung wiedergeben oder chronologisch aufgebaut sind, so fällt auf, dass die drei Strophen so recht nicht zueinander passen wollen. Das ist nicht weiter verwunderlich, stammen sie doch, wie bereits oben ausgeführt, aus verschiedenen Zeiten und verschiedenen Liedern.

Die Deutung der Metapher „dunkle Wolk‘“ als schicksalsschweres Ereignis in Bezug auf den Dreißigjährigen Krieg, wie manche Interpreten es sehen, lässt sich meines Erachtens aus dem Text nicht ableiten. Die erste Zeile könnte sich an dem Einleitungssatz (Incipit) des aus dem Jahr 1535 stammenden Liedes Es dunkelt schon in der Heide (Interpretation hier) orientiert haben. Im „Heidelied“ ist man froh, dass das Korn, bevor es regnet, schon geschnitten ist; in unserem Lied scheint man auf den Regen zu warten, der dafür sorgt, dass das Gras grün bleibt und sich nicht wie häufig in heißen Sommern gelb-bräunlich färbt.

In der zweiten Strophe dagegen wünscht man sich die Sonne herbei, da sonst alles im Wald verwesen würde. Gemeint dürfte sein, dass die Sonne feuchte Stellen bzw. Pflanzen trocknen soll, bevor sie der Fäulnis anheimfallen. Dass jedoch die „müden Blumen“ ohne Hilfe des Sonnenscheins einen „müden Tod“ erleiden, ist für mich nicht nachzuvollziehen, benötigen Blumen, die ihre „Köpfe haben hängen lassen, doch eher Wasser als zusätzlichen Sonnenschein.   

In der dritten Strophe ist „dunkle Wolk‘“ eine Metapher, die andeutet, dass es sich um ein trauriges Ereignis handelt, und zwar, wie in den Folgezeilen erkennbar, um ein Abschiednehmen. Es wird klar, warum das Lied als Abschiedslied und Lied der Wandergesellen gilt, zumal einige Zeilen der dritten Strophe wörtlich aus der letzten Strophe des Wanderliedes Ich waß wohl, wenn‘s gut wandern stammen (s.o.), das Wandergesellen gern sangen.

In der Zeit der Entstehung der dritten Strophe musste man, um ein bestimmtes Handwerk ausüben zu dürfen, einer zuständigen Zunft beitreten und die jeweilige Zunftordnung erfüllen. Unabhängig von der Art der Zunft mussten die jungen Männer, nachdem sie ihre Gesellenprüfung abgelegt hatten, drei Jahre und einen Tag von Meisterbetrieb zu Meisterbetrieb durch ganz Deutschland wandern. Diese „Lehr- und Wanderjahre dienten dazu, ihre bereits erworbenen handwerklichen Fähigkeiten anzuwenden und zu verbessern und auch neue, in anderen Regionen gebräuchliche Techniken und Fertigkeiten zu erlernen. Hier, wie auch in anderen Liedern der Handwerksburschen, z.B. Es, es, es und es, es ist ein harter Schluss (Interpretation hier) und Das Wandern ist des Müllers Lust, muss der Sänger schweren Herzens von seiner Liebsten scheiden.

Das Lied wurde im Ersten Weltkrieg als „Gaskampflied“ mit weiteren Strophen versehen (Text nach (Dr. Erwin Wolfgang Koch, Assistenzarzt bei den Pionieren). Hier die erste Strophe:

Es geht eine dunkle Wolk‘ herein
mich dünkt, es wird ein Angriff sein
Ein Angriff von den Feinden
mit dunkelgrünem Gas.

Heuzutage könnte man die „dunkle Wolk‘ “ als Metapher für die Corona-Pandemie verstehen, die wie ein Platzregen über uns kam. 

Rezeption

Einer der Ersten, der das Lied erstmals mit drei Strophen in eine Liedersammlung (Altdeutsches Liederbuch) aufnahm, war 1877 der Liederforscher Franz Magnus Böhme (1827–1898).

Ab 1909 folgten Liederbücher des Wandervogels, darunter Der Zupfgeigenhansl (Auflage bis etwa 1930 geschätzt über 1 Million) und ab 1921 zahlreiche der Jugendbewegung, einige davon mit mehreren Auflagen, z. B. das 1925 von Fritz Sotke (1902–1970) herausgegebene Unsere Lieder (5. Auflage 1931) und Was singet und klinget – Lieder der Jugend (9. Auflage 1926). Auch einige Schulbücher übernahmen Es geht eine dunkle Wolk‘ herein. Geht man von den mir in Online-Archiven und Privatbibliotheken zugänglichen Liederbüchern aus, wurde von 1921 bis 1931 im Durchschnitt pro Jahr ein Liederbuch mit der „dunklen Wolk‘“ herausgegeben.

In der Zeit des Nationalsozialismus erschienen mit dem Lied nicht nur dem NS-Regime nahestehende Liederbücher wie Lieder der Arbeitsmaiden (2. Auflage 1939, herausgegeben vom Reichsarbeitsdienst) und Schulbücher mit NS-Liedern, sondern auch von der katholischen Pfadfinderschaft St. Georg das Lied der deutschen Jugend (1935) und von evangelischer Seite Ein neues Lied – Liederbuch für die deutsche evangelische Jugend (1938). Erstaunlich für mich ist, dass die Deutsche Wehrmacht das traurige Abschiedslied noch 1944 in ihr Chorbuch für Front und Heimat – Kameradschaft im Lied aufgenommen hat.

Die Anzahl der Liederbücher mit Es geht eine dunkle Wolk‘ herein nach dem Zweiten Weltkrieg ist schier unüberschaubar. Hier sollen nur exemplarisch einige angeführtwerden. Bereits 1946 erschien das Liederheft Singt mit (herausgegeben vom Magistrat der Stadt Berlin), Der helle Ton der evangelischen Jugend (1948 in der 5. Auflage) und 1951 im Altenburger Singebuch der katholischen Jugend. Etliche Schulbücher folgten, wovon das Chorbuch Die Garbe – ein Musikwerk für die Schule wegen der 12. Auflage 1956 und Musik im Leben – Schulwerk für die Musikerziehung (12. Auflage 1963) hervorzuheben sind.  

Auch in der Schweiz (z.B. Fahrtenlieder der Schweizer Wandervögel), Österreich (z.B. Deutsche Weise – Die beliebtesten Volkslieder) und in der damaligen DDR(z.B. Leben, kämpfen, singen, 10. Auflage 1964, 17. Auflage 1985) ist bzw. war das Lied gut bekannt.

Von der Vielzahl der Liederbücher seit 1970 sollen nur das Fischer-Taschenbuch Volkslieder aus 500 Jahren (herausgegeben 1978 vom Volksliedforscher Ernst Klusen), die vom Folkduo Zupfgeigenhansel besorgte Sammlung Es wollt‘  ein Bauer früh aufstehn (1979) und die Jurtenburg  des Verbands christlicher Pfadfinderinnen und Pfadfinder (2010) erwähnt werden.

Angesichts der überaus zahlreichen Liederbücher (fast 200) finde ich es bemerkenswert, dass im Katalog des Deutschen Musikarchivs (DMA) nur 2 Tonträger mit dem Lied aufgeführt werden; allerdings weist das DMA 27 Musiknoten, hauptsächlich Chorpartituren, aus. Wie beliebt Es geht eine dunkle Wolk‘ herein noch heute ist, zeigen auch die mehr als 180 Videos bei YouTube, darunter Aufnahmen mit Hannes Wader (s.o.) und Manfred Krug.

Georg Nagel, Hamburg