Warum der Regenbogen ins Stadion gehört. Zu „Der Tag wird kommen“ von Marcus Wiebusch

Marcus Wiebusch

Der Tag wird kommen

Und der Tag wird kommen, an dem wir alle unsere Gläser heben
Durch die Decke schweben, mit 'nem Toast den hochleben lassen
Auf den ersten, der's packt, den Mutigsten von allen
Der erste, der's schafft
Es wird der Tag sein, an dem wir die Liebe, die Freiheit und das Leben feiern
Jeder liebt den, den er will, und der Rest bleibt still
Ein Tag, als hätte man gewonnen
Dieser Tag wird kommen

Dieser Tag wird kommen, jeder Fortschritt wurde immer erkämpft
Ganz egal, wie lang' es dauert, was der Bauer nicht kennt
nicht weiß, wird immer erstmal abgelehnt
Und auf den Barrikaden die Gedanken und Ideen,
dass das Nötige möglich ist, wie Freiheit und Gleichheit,
Dass nichts wirklich unmöglich und in Stein gemeißelt ist
Bis einer vortritt „Schluss jetzt mit Feigheit“
Geschichte ist Fortschritt im Bewusstsein der Freiheit
Wir den aufrechten Gang haben, nicht mehr in Höhlen wohnen
Nicht mehr die Keulen schwingen, Leute umbringen
Nicht umherstreifen in kleinen Herden
Weil Menschen nicht ewig homophobe Vollidioten bleiben werden

Und der Tag wird kommen, an dem wir alle unsere Gläser heben [...]

A-Jugend Leistungsklasse Wilhelmsburg-Süd
Ein verschworener Haufen und einer machte den Unterschied
Mit so viel mehr Talent und mit mehr Willen als alle
"Oh, das wird mal ein Profi", stolz wussten wir das alle
U17, U19, Hamburger Auswahl
Bei fast jedem Heimspiel mehrere Scouts da
Nur 'ne Frage der Zeit, bis das Angebot kam
1. Liga, drei Jahre und ein Traum wurde wahr
Und am Abend des Deals, als wir es krachen lassen wollten
Er sich uns anvertraute und sich nichts ändern sollte
Denn die einen ahnten es, den anderen war es längst klar
Manche wussten es schon, es war uns allen egal
Es war uns vollkommen egal ob er straight oder schwul war
Wir spielten zusammen seit der F-Jugend Fußball
Eine Gang, ein Team, ein "You'll never walk alone"
So wurde es beigebracht, so wird es jetzt gemacht, mein Sohn
Dann besoffene Tränen und die große Erleichterung
Oh, dieser Tag kommt aus genau dem gleichen Grund
Weil wir Menschen nicht danach bewerten, wen sie lieben
Ihr Sex ihre Sache ist und sie es nicht verdienen
Von den Dümmsten der Dummen beurteilt zu werden
Von den Dümmsten der Dummen beurteilt zu werden
Um von ihnen dann verurteilt zu werden

Und er nahm seinen Traum, zog in die fremde Stadt
Und wir behielten sein Geheimnis, blieben zurück und in Kontakt

Und der Tag wird kommen, an dem wir alle unsere Gläser heben [...]

Nicht den Anschein erwecken in der großen Maskerade
Agenturen stellen die Freundin und besorgen die Fassade
Die gestellten Urlaubsfotos und den öffentlichen Auftritt
Warten, bis die ganze Scheiße auffliegt
Nicht den Anschein erwecken, auf dem Feld härter spielen
Zehn gelbe, zwei rote Karten und die auch verdienen

"Du kennst mich, ich war nie ein unfairer Spieler
Und jetzt gelt' ich als Treter der Liga
Du weißt nicht, wie das ist, wenn man immer eine Maske trägt
Immer aufpassen muss, wer man ist, wie man lebt
Permanent, eigentlich die ganze Zeit Angst
Und du spielst in dem Mist dann so gut wie du kannst
Und der sehnliche Wunsch und die Frage, wie es wäre
Hier ein anderer zu sein, jetzt mit dieser Karriere
Wenn ich es ändern könnte, dieses traurige Leben
Für mein Fühlen nie entschieden und so ist es eben“

"Wir waren zusammen in Stadien, vor ca. 20 Jahren
Als sie farbige Spieler mit Bananen beworfen haben
Dann die Affenlaute, bei jeder Ballberührung
Diese Zeiten vorbei und keine glückliche Fügung
Sondern Fortschritt, Veränderung, wir sind auf dem Weg
Außenminister, Popstars, Rugby-Spieler zeigen, dass es geht
Früher undenkbar, heute normal, ich wette 90% ist es egal
Und dann erinner' dich an die Erleichterung als es raus war
Wie dein Herz zersprang, als die Wörter rauskamen
Die finden das zwei Wochen spannend und der Spuk ist verschwunden
Und du hättest deinen Frieden gefunden"

„Kein Verein will den Rummel, kein Team den Alarm
Und der Vertrag, den ich hab', geht so schnell wie er kam
Dass kann keiner absehen, wenn der Sturm losbricht
Und der Sturm wird kommen, ob man will oder nicht
Du bist dann der Erste, der Homo, der Freak
Es gibt dann keinen, der in dir nur noch den Fußballer sieht
Aber ja, es wird besser und der Tag ist in Sicht
Einer wird es schaffen, aber ich bin es nicht"

„Es ist deine Entscheidung, ganz egal wer was sagt“
Beim Abschied geflüstert „With hope in your heart“
Noch Einigkeit erzielt, dass der Tag kommen wird
Und das nächste Heimspiel wohl gewonnen wird
Auf dem Nachhauseweg, dieser eine Gedanke
Und fasst schon ein Lächeln
All ihr homophoben Vollidioten, all ihr dummen Hater
All ihr Forums-Vollschreiber, all ihr Schreibtischtäter
All ihr miesen Kleingeister mit Wachstumsschmerzen
All ihr Bibel-Zitierer mit euer'm Hass im Herzen
All ihr Funktionäre mit dem gemeinsamen Nenner
All ihr harten Herdentiere, all ihr echten Männer
Kommt zusammen und bildet eine Front
Und dann seht zu was kommt

Und der Tag wird kommen an dem wir alle unsere Gläser heben [...]

Dieser Tag wird kommen
Dieser Tag wird kommen

     [Marcus Wiebusch: Konfetti. ‎Grand Hotel Van Cleef 2014.]

Für die Niederlage der deutschen Nationalmannschaft gegen die englische werden in den professionellen Kommentaren verschiedene Ursachen diskutiert: die zu lange Amtszeit des Trainers, eine zu defensive Taktik, zu späte Einwechslungen; in den Leserkommentaren darunter erfreute sich eine weitere Erklärung großer Beliebtheit: Es war die Regenbogenarmbinde Manuel Neuers! Diese These mutet nicht nur deshalb seltsam an, weil der englische Kapitän Harry Kane ebenfalls eine solche trug; sie impliziert außerdem, dass Fußballer sich nicht mit Unwichtigem (Menschenrechte) vom Wichtigen (Fußball) ablenken lassen sollten.

Doch dass diejenigen, die im Stadion Regenbogenfarben tragen, auf dem Platz oder auf den Rängen, die Politik in den Fußball brächten, ist falsch. Denn sie war schon vorher dort, getarnt als angeblich „normale“ Fankultur. Wenn in politischen Debatten von Normalität geredet wird, wird damit die eigene Position für sakrosankt erklärt und wird alles vom „gesunden Empfinden“ Abweichende als abnormal denunziert. Indem so politische Gegenpositionen zu sittlichen Defiziten erklärt werden, wird nicht nur der politische Gegner auch menschlich abgewertet, sondern zugleich auch die eigene Haltung aus dem Bereich des Politischen und damit Verhandelbaren herausgenommen. Zu beobachten ist dieses Muster etwa auch bei vielen „unpolitischen“ Skinhead-Bands, die darauf insistieren, dass etwa die Ablehnung von Migranten oder die ausgestellte Abscheu vor Homosexuellen unpolitisch seien, gleichsam ein natürlicher Reflex; politisch und damit die Szene spaltend seien hingegen diejenigen, die dies als Rassismus und Homophobie kritisierten.

Ganz ähnlich verläuft die Argumentation bei manchen Fußballfans. Nicht diejenigen, die dunkelhäutige Spieler mit Affenlauten beleidigen oder Spieler der gegnerischen Mannschaft, um sie herabzuwürdigen, als schwul bezeichnen, sind politisch, sondern diejenigen, die dagegen protestieren. Politik ist aber bereits mit jedem Affenlaut, jedem „XY ist homosexuell, homosexuell, homosexuell“-Sprechchor, mit jedem Absingen des U-Bahn-Lieds („Eine U-Bahn, eine U-Bahn, eine U-Bahn bauen wir, von [Heimatstadt der Gegenmannschaft] bis nach Auschwitz, eine U-Bahn bauen wir!“) im Stadion. Es geht denjenigen, die im Namen der Einheit der Fangemeinschaft gegen antirassistische und antihomophobe Faninitiativen angehen, keineswegs um den Erhalt eines politikfreien Raums, sondern um die Aufrechterhaltung ihrer eigenen politischen Lufthoheit.

Nun könnte man als Gegenstrategie dafür plädieren, entsprechendes Verhalten einfach zu ignorieren in der Hoffnung, die Provokationen würden damit ihren Reiz verlieren. Jedoch hat „Ignorier sie einfach“ schon auf dem Schulhof meistens nicht funktioniert. Und außerdem geht es denjenigen, die Rassismus und Homosexuellenfeindlichkeit als normale Teile einer rauen, „männlichen“ Fankultur begriffen wissen wollen, ja nicht primär um Provokation, sondern um die Etablierung bzw. demonstrative Aufrechterhaltung ihrer Auffassung von Normalität, weshalb der ausbleibende Widerspruch als stumme Zustimmung verstanden werden dürfte – auch z.B. von Jugendlichen, die in die Fanszenen hineinwachsen und sich an den Älteren orientieren. Doch auch über diesen immer noch recht überschaubaren Personenkreis hinaus hat die Frage, wie man mit zur Schau gestelltem Rassismus und Homosexuellenfeindlichkeit in Fußballstadien umgeht, Bedeutung, wird Fußball, zumal der von Nationalmannschaften, doch oft in Bezug zur Gesellschaft gesetzt: Man denke nur an die „deutschen Tugenden“ früher Nationalmannschaftsjahrgänge oder die Interpretation späterer, ethnisch vielfältiger Nationalmannschaften als Vorbilder gelungener Integration – worin vermutlich der Hauptgrund dafür zu sehen ist, dass gerade sich so bezeichnende „Patrioten“ in Kommentarspalten der deutschen Nationalmannschaft mit solchem Ingrimm begegnen.

Zu all diesen mittelbaren Folgen kommt hinzu, dass Homophobie in Fußballstadien ganz unmittelbar diejenigen trifft, wegen derer man in ein Fußballstadion geht: die Spieler, speziell wenn sie, was statistisch gesehen in jedem Spiel auf einen Spieler zutreffen müsste, nicht heterosexuell sind. Und davon handelt das Lied von Marcus Wiebusch, der sich schon mit …but alive, Rantanplan und Kettcar immer auch an politischen Debatten beteiligt hat.

Das Lied setzt ein mit dem Refrain, in dem antizipiert wird, dass es eines nicht mehr allzu fernen Tages Anlass zum Feiern geben wird – das erste Outing eines aktiven und erfolgreichen Profifußballers in der jüngeren Vergangenheit (Justin Fashanu unternahm diesen Schritt, nachdem seine Karriere de facto beendet und seine Homosexualität bereits gegen seinen Willen bekannt gemacht worden war). Dieses Ereignis wird vom Sprecher-Ich mit großer Bedeutung aufgeladen: „Es wird der Tag sein, an dem wir die Liebe, die Freiheit und das Leben feiern / Jeder liebt den, den er will, und der Rest bleibt still / Ein Tag, als hätte man gewonnen“ – es geht hier also um nicht weniger als um den Triumph liberaler humanistischer Werte. Das Wir, das diesen Moment zumindest kurz als Sieg empfindet – im Irrealis „als hätte man gewonnen“ klingt bereits die Skespis über dessen Dauerhaftigkeit an – kann als die Fußballclique, von der in den nachfolgenden Strophen die Rede ist, verstanden werden, aber auch als Gemeinschaft derjenigen, die diese Werte teilen – so können sich auch Rezipierende des Lieds mitgemeint fühlen bzw. laut oder leise mitsingend zum Teil dieses Wir werden.

Die folgende erste Strophe steht noch ganz in der Tradition des politischen Lieds, das mit Argumenten überzeugen und mit Pathos mitreißen will: Der Kampf um die Akzeptanz von Homosexualität (auch) im Fußball wird in die Reihe großer sozialer Bewegungen (im Video konkretisiert bezogen u.a. auf Sufragetten und die amerikanische Bürgerrechtsbewegung), ja sogar der Menschheitsentwicklung seit der Steinzeit, gestellt.

Die zweite Strophe wechselt ins Narrative: Erzählt wird die alte Geschichte von den elf Freunden – mit der neuen Wendung, dass das tradierte Ethos der verschworenen Gemeinschaft angewendet wird auf die Frage nach der sexuellen Präferenz („So wurde es beigebracht, so wird es jetzt gemacht, mein Sohn“): Das Outing des begabtesten Spielers, der eine Profikarriere vor sich hat, verläuft bestmöglich, nämlich unspektakulär: „Es war uns vollkommen egal ob er straight oder schwul war“. Er hat ein unterstützendes Umfeld – bessere Voraussetzungen also als viele.

Dennoch wagt er das öffentliche Outing als Profi nicht und beginnt ein professionell inszeniertes Scheinleben mit einer angeblichen Freundin; das Doppelleben hat nicht nur negative psychische Folgen für ihn, sondern wirkt sich auch auf sein Spiel aus, insofern er versucht, besonders mann-männlich aufzutreten und mehr foult, als er es bisher getan hat – was wiederum sein öffentliches Bild negativ beeinflusst.

Über diese Situation spricht er mit einem oder mehreren seiner alten Freunde. Sein Gegenüber versucht ihn unter Verweis auf die Erfolge im Kampf gegen offenen Rassismus in Fußballstadien sowie mit weiteren Argumenten zu ermuntern, sich zu outen. Damit steuert die Geschichte auf ihren Höhepunkt zu – man erwartet, dass der Protagonist der im Refrain besungene erste offen homosexuelle Fußballprofi wird, dass es eine „Gemeinsam sind wir stark“-Geschichte mit Happy End wird. Stattdessen bekräftigt er zwar, dass die allgemeine Situation bald das Outing eines Fußballprofis zulassen werde, konstatiert aber angesichts der immer noch erwartbaren Belastung durch die mediale Aufmerksamkeit, dass er selbst diesen Schritt nicht gehen wird. Sein zugleich hoffnungsvolles und resigniertes „Einer wird es schaffen, aber ich bin es nicht“, hervorgehoben durch das vorübergehende Aussetzen der instrumentellen Begleitung, bildet den emotionalen Höhepunkt des Lieds – aber noch nicht den Endpunkt der erzählten Geschichte.

Denn das Lied endet nicht mit dem Eingeständnis, dass die eigene Kraft nicht ausreicht, diesen Kampf für alle Nachfolgenden, die es ungleich leichter haben werden, zu führen, sondern mit der Reaktion des solidarischen Gegenübers: Dieses nimmt den homosexuellen Profi nicht in die Pflicht, sich für die gemeinsame politische Sache zu opfern, sondern praktiziert stattdessen die zutiefst humane Haltung, die überhaupt erst die Grundlage dafür ist, als Heterosexuelller für die Akzeptanz Homosexueller zu kämpfen: Er stellt das Individuum und dessen Recht auf persönliches Glück über die politische Agenda. Und wenn es seinem Freund zum Schluss mit „With hope in your heart“ einen Vers aus You’ll never walk alone zuflüstert, so nimmt das nicht nur das Pathos der verschworenen Gemeinschaft, in deren Kontext das Lied in der zweiten Strophe zitiert wurde, auf, evoziert nicht nur Szenen von singenden Fans in Anfield und anderswo, sondern ruft auch eine intertextuelle Folie auf: You’ll never walk alone, in der Coverversion von Gary & the Pacemakers zur Stadionhymne des FC Liverpool geworden, wurde für das 1945 uraufgeführte Musical Carousel (von Benjamin Glazer, Richard Rodgers und Oscar Hammerstein II nach einen Stück von Ferenc Molnár) geschrieben, worin es einer armen jungen schwangeren Frau, die ihren kriminellen Mann durch Suizid verloren hat, Mut machen soll. Zwar sind verschiedene Diskriminierungen nicht in eins zu setzen, aber die Situation einer alleinerziehenden Mutter mit dieser Vorgeschichte in den 1940er Jahren dürfte ebenfalls keine erfreuliche Perspektive gewesen sein. In der Parallelisierung dieses Schicksals mit dem des homosexuellen Profis wird zugleich die eingangs allgemein geschilderte mögliche progressive Entwicklung von gesellschaftlichen Verhältnissen aufgenommen: Wie heute der Status als Alleinerziehende gemeinhin nicht mehr als Makel angesehen wird, so steht zu hoffen, dass dies bald auch für Homosexuelle (im Fußball und anderswo) gelten wird. So werden die Themen Fußballfankultur und gesellschaftlicher Fortschritt mit diesem Liedzitat noch einmal zusammengeführt.

Nicht zuletzt kann der Bezug zu You’ll never walk alone auch autoreflexiv auf die mögliche Funktion von Liedern als Ermutigung gelesen werden, als Bestätigung nicht allein zu sein. Und genau darauf zielte ja auch die Regenbogenarmbinde. Und sollte Manuel Neuers und Harry Kanes Geste auch nur einem einzigen homosexuellen Jugendlichen, der die Übertragung des Spiels gesehen hat, dieses Gefühl gegeben haben und ihn dadurch möglicherweise vom Suizid (das Suizidrisiko für homosexuelle Jugendliche liegt ca. vier mal höher als für gleichaltrige Heterosexuelle) abgehalten haben, so wäre das allemal die Niederlage gegen England wert gewesen.

Martin Rehfeldt, Bamberg

Vom König zum Kumpel. Zu „Fußball ist immer noch wichtig“ von Fettes Brot, Bela B., Marcus Wiebusch und Carsten Friedrichs

Fettes Brot, Bela B., Marcus Wiebusch und Carsten Friedrichs 

Fußball ist immer noch wichtig

Manchmal kommst du noch vorbei an diesem Klotz aus Beton
Dein Club hat wieder mal bloß an Erfahrung gewonnen
Kein Bock auf eine weitere verkorkste Saison
Und Fußball ist gar nicht so wichtig
Jetzt stehst du da allein vor′m Stadion,
Bist fest entschlossen, nicht mehr wieder zu kommen
Die zweite Halbzeit hat gerade begonnen,
Das Flutlicht geht an, nur für dich nicht

Ich hör sie alle schreien: "Macht es noch mal!
Für unseren Verein! Holt den Pokal!
Mensch mach das Ding jetzt rein, wie ist egal!"
Doch Fußball ist gar nicht so wichtig

Mittlerweile denkst du nicht mehr allzu häufig daran,
Weißt immer irgendwas mit deiner Zeit anzufangen
Dein Lieblingstrikot vergammelt hinten im Schrank
Und Fußball ist nicht mehr so wichtig

Jetzt standen da heut auf einmal deine Freunde vor der Tür - alle Mann
Erst wolltest du nicht so recht, dann bist du doch mitgegangen
Und nun stehst du in der Kurve, wo alles begann
Und weißt wieder, hier bist du richtig
Und Fußball ist immer noch wichtig

Ich hör sie alle schreien: "Macht es noch mal!
Für unseren Verein! Holt den Pokal!
Mensch mach das Ding jetzt rein, wie ist egal!"
Und Fußball ist immer noch wichtig

So soll's für immer sein, unser Schicksal,
Kann regnen oder schnei′n, König Fußball,
"Du gehst niemals allein" steht auf unserem Schal
Und Fußball ist immer noch wichtig

Fußball, mein alter Kumpel Fußball,
Ich glaube nicht an Zufall,
Ich glaube an dich, Fußball, Fußball

Dies ist nicht für RTL, ZDF und Premiere,
Ist nicht für die Sponsoren oder die Funktionäre,
Nicht für Medienmogule und Öl-Milliardäre,
Das hier ist für uns, für euch, für alle!

Für Fußball, du wunderschöner Fußball,
Wir glauben nicht an Zufall,
Wir glauben an dich Fußball, Fußball!

     [Fettes Brot, Bela B., Marcus Wiebusch und Carsten Friedrichs: Fußball ist immer noch wichtig. ‎ Fettes Brot Schallplatten 2006.]

Wenn es um die Wichtigkeit von Fußball geht, kommt man an zwei Namen nicht vorbei: Bill Shankley und Nick Hornby. Shankly, legendärer Trainer des FC Liverpool von 1959 bis 1974, wird mittlerweile auch auf Kleidungsstücken mit der Sentenz zitiert: „Some people believe football is a matter of life and death, I am very disappointed with that attitude. I can assure you it is much, much more important than that.“ Die überraschende Pointe entsteht dadurch, dass man natürlich nach dem ersten Satz erwartet, die Bedeutung des Fußballs werde à la Dragoslav Stepanović relativiert („Lebbe geht weider“). Indem Shankly stattdessen vorgibt, dass ihm die Auffassung von Fußball als Frage von Leben und Tod noch nicht weit genug gehe, erhält das Zitat über die Komik hinaus auch eine schwebene romantische Ironie, da es explizit die immense Bedeutung des Fußballs betont und sie gleichzeitig durch die Steigerung ins Absurde implizit relativiert. Direkter, aber nicht weniger komisch hat Nick Hornby in seiner autobiographischen Mutter aller Fußballromane, Fever Pitch, geschildert, wie das Fansein ein Leben prägen, ja beherrschen kann, aber auch, dass es schließlich gelingen kann, ihm seinen Platz in einem erfüllten bürgerlichen Leben mit Familie zuzuweisen.

Der Protagonist unseres Liedes ist zu dessen Beginn sogar noch einen Schritt weiter gegangen und hat den Fußball ganz aus seinem Leben verbannt. Der Prozess einer aus Frustration („Kein Bock auf eine weitere verkorkste Saison“) entstandenen Entfremdung scheint abgeschlossen, wenn das Heimstadion, früher jener Ort, an dem die Fans als ‚zwölfter Mann‘ mit ihrer Mannschaft zu einer Einheit verschmelzen, abwertend als „Klotz aus Beton“ bezeichnet wird. Als positiv wird hingegen der Zugewinn an frei verfügbarer Zeit erlebt – die Taktung des übrigen Lebens durch den Spielplan ist auch ein zentrales Motiv in Hornbys Roman. In die fußballfreie, aber auch etwas dröge wirkende häusliche Idylle platzt plötzlich die alte Fan-Clique hinein, um den Protagonisten, keinen Widerspruch duldend, ins Stadion mitzunehmen. Dort erkennt er, dass ihm Fußball, insbesondere das gemeinsame Erlebnis im Stadiom, nach wie vor viel bedeutet – statt allein vor dem Stadion steht er nun mit seinen Freunden als Teil der noch größeren Gruppe der Fans darin.

Soweit die recht einfache Geschichte, die bis hierhin erzählt wird – eine Geschichte, in der sich sicherlich viele leidgeprüfte Fußballfans wiederfinden, wobei die in Liedtexten eher seltene Verwendung der Du-Form die Identifikation noch unterstützt.

Komplexer wird es allerdings, wenn man die noch folgenden Verse betrachtet. Dabei stechen besonders zwei Formulierungen hervor: „Fußball, mein alter Kumpel Fußball“ erhält seine Bedeutung vor der intertextuellen Folie des frühen Fußballhits Fußball ist unser Leben (Interpretation hier), gesungen von der Deutschen Nationalmannschaft zur WM 1974. In dessen Refrain heißt es „Fußball ist unser Leben, / denn König Fußball regiert die Welt“. Vor diesem Hintergrund stellt die Bezeichnung des Fußballs als „Kumpel“ eine Degradierung dar, die zeigt, dass der Fußball zwar wieder einen Platz im Leben des Protagonisten hat, allerdings keinen so zentralen mehr, wie mutmaßlich zuvor. Denn während ein König traditionell uneingeschränkt herrscht, so ist ein Kumpel jemand, mit dem man zwar hin und wieder gerne Zeit verbringt, der aber für das eigene Leben nicht unverzichtbar ist. So erzählt dieses Lied nicht nur vom Wiedereinzuig des Fußballs ins Leben des Protagonisten, sondern auch – wiederum wie Hornbys Roman – davon, erwachsen zu werden, in ein Leben hineinzuwachsen, in dem Fußball eben nicht mehr alles beherrschend im Zentrum steht.

Die zweite auffallende Formulierung lautet „Ich glaube nicht an Zufall, / Ich glaube an dich, Fußball“. Zunächst könnte man im Glauben an den Fußball einen Widerspruch zu dessen eben angesprochener Relativierung sehen: Fasst man ‚glauben‘ religiös auf, so begegnete der Fußball hier als Gottheit (mit dieser Form quasi-religiösen Fantums spielt etwa der Titel des Fanzines Schalke Unser). Doch scheint in unserem Text, bei genauerer Betrachtung, etwas anderes gemeint zu sein: Der Glauben an Fußball wird nämlich als Gegenentwurf zur Vorstellung der bloßen Zufälligkeit von Ereignissen – im Kontext: Spiel- und Saisonverläufen – präsentiert. Diese Vorstellung der Folgerichtigkeit ist bis in Floskeln hinein („Die Tore, die man vorne nicht macht, bekommt man hinten rein.“ – rein logisch besteht hier kein Zusammenhang) in der Fußballfankultur verankert. Und sie macht wohl einen erheblichen Teil der Faszination dieses Sports aus – es gibt zwar schnellere, akrobatischere, härtete und ästhetischere Sportarten als Fußball – jedoch erreicht kaum eine sein narratives Potential, wozu u.a. die potentiell spielentscheidende Bedeutung eines einzelnen Tores beiträgt.

Aktuell hat die dänische Nationalmannschaft mit ihrem 4:1-Sieg gegen die russische eine weitere schlüssige Erzählung hervorgebracht: Wie ihr Kapitän Christian Eriksen nach seinem Herzstillstand im ersten Spiel buchstäblich vom Tod ins Leben zurückgekehrt ist, so ist seine Mannschaft nach zwei Niederlagen doch noch im Turnier weitergekommen. Diese Geschichte ist wesentlich faszinierender als die konkurrierende, den Faktor Zufall betonende Betrachtung, derzufolge die russische Mannschaft durchaus auch hätte in Führung gehen können und auf der anderen Seite das zweite Tor der Dänen aus einem aberwitzigen Fehlpass resultierte und das dritte ein klassischer Sonntagsschuss war. Hier bedarf es des Glaubens an den Fußball und seine innere Sinnhaftigkeit, also der Einnahme einer spezifischen Rezeptionshaltung ähnlich der des „willing suspension of disbelief“ (Samuel Taylor Coleridge) bei der Lektüre literarischer Texte. Die Europameisterschaft zeigt wieder einmal, dass es sich – trotz allen Ärgers über Fernsehvermarktung, Sponsoren und alle weiteren Aspekte, die unter dem Schlagwort „Kommerzialisierung“ verhandelt werden – lohnt, an den Fußball als große Geschichtenmaschine zu glauben.

Martin Rehfeldt, Bamberg

Kommentar zur Flüchtlingskrise: Zu Kettcars „Sommer ’89 (Er schnitt Löcher in den Zaun)“ (2017)

Kettcar 

Sommer '89 (Er schnitt Löcher in den Zaun)

Es war im Sommer '89.

Der 12. August.
In Hamburg ging es los.
In seinem alten, himmelblauen Ford Granada.
Kasseler Berge, Würzburg, Nürnberg, Linz, Wien
ließ er alles links liegen.
Das Ziel war das Burgenland, die österreichisch-ungarische Grenze.
In Mattersburg besorgte er sich „den besten Bolzenschneider, den man für Geld kaufen 
                                                                              konnte“.
Fast 400 Schilling.
In Mörbisch am See checkte er in die Pension Peterhof ein,
kaufte sich einen Döner und wartete auf die Nacht.
Um kurz nach eins klopfte es an seiner Tür.

Der Verbindungsmann gab ihm einen Brief
und verschwand wieder ohne ein Wort zu sagen.
Er lernte den Brief auswendig und machte sich zu Fuß auf den Weg.
Runter die Ödenburger Straße, vorbei an den letzten Laternen
und kurz vor der Kehre in den Feldweg rechts rein bis ganz zum Ende.
Die letzten hundert Meter weiter durch das hohe Gras,
hinein in das kleine Wäldchen.
Die Grenzpatrouille um 3:30 abgewartet.
Taschenlampe raus: drei mal kurz, zwei mal lang.
Und dann auf der Lichtung sah er sie.
Sie kamen. Gerannt.

Es war im Sommer '89, eine Flucht im Morgengrauen.
Er war der Typ, der durch die Nacht schlich
und schnitt Löcher in den Zaun.
An einer ungarischen Grenze,
im ersten Morgengrauen.
Nur ein Bolzenschneider nötig
für Löcher im Zaun.
Im Sommer '89

Als sie durch den Zaun durch waren,
liefen sie so schnell es die Kinder zuließen
bis zu den ersten Laternen.
14 Menschen, drei Familien.
Keine Champagnerkorken, kein Konfettijubel,
nur große Erleichterung und noch größere Erschöpfung.
Sie gingen gemeinsam zum Busbahnhof, setzten sich auf die Bänke,
und warteten auf den 6:22er Bus nach Wien.
Vor lauter Müdigkeit wurde kaum gesprochen.
Nur einmal fragte ihn eins der Kinder,
was denn der Spruch auf seinem Dead Kennedys T-Shirt zu bedeuten hätte.
Als der Bus dann pünktlich vorfuhr, gab er einem Vater seinen Wien-Stadtplan
mit der eingekreisten Adresse der deutschen Botschaft.
Er verteilte seinen letzten Schillinge noch auf die drei Familien
und wünschte ihnen allen ein gutes Leben.
Sie bedankten sich tränenreich und vielmals für alles,
in einer Sprache und einem Dialekt, den er kaum verstand.
Er vermutete damals, dass das Sächsisch war.

Es war im Sommer '89, eine Flucht im Morgengrauen.
Er war der Typ, der durch die Nacht schlich
und schnitt Löcher in den Zaun.
An einer ungarischen Grenze,
im ersten Morgengrauen.
Nur ein Bolzenschneider nötig
für Löcher im Zaun.

Zurück in Hamburg dann die große Einerseits-Andererseits-Diskussion
am WG-Küchentisch mit seinen Freunden.
Einerseits wäre die Aktion natürlich gut gemeint gewesen.
Wegen den Familien und so.
Aber andererseits wäre eine deutsche Einheit,
und darauf laufe die Entwicklung der letzten Wochen nun mal hinaus,
ein großer Fehler.
Deutschland dürfe nie wieder ein Machtblock mitten in Europa werden.
Und eine solche Hilfe zur Flucht der DDR-Bürger
würde nur zur weiteren Destabilisierung der Verhältnisse beitragen.
Also wie gesagt: „Die Aktion war menschlich verständlich, aber trotzdem falsch.“
Er schlug mit der flachen Hand auf die Tischplatte
und sagte so leise, wie es ihm grad noch möglich war:
„Ihr wisst, dass das Schwachsinn ist.
Sie lassen alles zurück und sie fliehen und vielleicht...“
Er machte eine kurze Pause und überlegte,
ob er den nächsten Satz wirklich sagen sollte.
Aber kein Wort mehr.
Eine komplette Stille trat ein.
Die anderen tauschten nur Blicke aus, einige lächelten milde.
Jemand legte sogar sacht eine Hand auf seine Schulter.
Die Sekunden vergingen.
Er stand auf, verließ das Zimmer,
Jacke, Tür, Treppenhaus, Luft,
er nahm seinen alten Ford Granada
und ward nie mehr gesehen.
Der Rest ist Geschichte.

Es war im Sommer '89, eine Flucht im Morgengrauen.
Es war im Sommer '89, und er schnitt Löcher in den Zaun.
Sie kamen für Kiwis und Bananen.
Für Grundgesetz und freie Wahlen.
Für Immobilien ohne Wert.
Sie kamen für Udo Lindenberg.
Für den VW mit sieben Sitzen.
Für die schlechten Ossi-Witze.
Sie kamen für Reisen um die Welt.
Für Hartz IV und Begrüßungsgeld.
Sie kamen für Besser-Wessi-Sprüche.
Für die neue Einbauküche.
Und genau für diesen Traum
schnitt er Löcher in den Zaun.

     [Kettcar: Ich vs. wir. Grand Hotel Van Cleef 2017.]

Unter der Überschrift „Die Linksliberalen schotten sich ab“ schreibt Philipp Krohn in der Frankfurter Allgemeinen Zeitung, wie der Linksliberalismus zur „Attitüde“ verkommen sei, da seine Verfechter lieber unter sich blieben. Zwar äßen die solchermaßen Geschmähten gerne äthiopisches und indisches Essen, blieben dafür aber gemeinsam mit ihren Nachbarn und Freunden, bei denen es sich um andere gut verdienende Akademiker handele, auf den Straßenfesten ihrer sanierten Altbauviertel, fernab der Flüchtlingsunterkünfte. Diese Erkenntnis, so der Autor, sei ihm nach dem Besuch zweier Konzerte von Kettcar im Sommer dieses Jahres gekommen. Dort habe die Hamburger Band auch ihr neues Lied Sommer ’89 gespielt. Nachdem der letzte Akkord und der Jubel der Fans verklungen gewesen seien, hätte Sänger Marcus Wiebusch gesagt: „Humanismus ist nicht verhandelbar“. Dieser Satz, ist sich der Autor sicher, habe bei dem anwesenden überwiegend linksliberalen Publikum nicht zum Nachdenken, sondern eher zu einer Stärkung der eigenen Sichtweise beigetragen, die jede ernsthafte Auseinandersetzung über die Folgen der Migration im Keim ersticke.

Vom Sommer 2018 in den Sommer 1989: Diskussionen im linken Milieu finden am WG-Küchentisch statt. Auslöser ist die Rückkehr des Protagonisten zu seinen Freunden in Hamburg. Von dort war er zuvor aufgebrochen, um an der ungarisch-österreichischen Grenze drei Familien aus Sachsen bei der Flucht in den Westen zu helfen. Doch sein mutiger Einsatz wird von seinen Freunden nicht honoriert, der erfolgreiche Ausgang nicht als solcher anerkannt. Stattdessen entspinnt sich eine „Einerseits-Andererseits-Diskussion“ über die politischen und gesellschaftlichen Konsequenzen.

Einerseits wäre die Aktion natürlich gut gemeint gewesen.
Wegen den Familien und so.
Aber andererseits wäre eine deutsche Einheit
und darauf laufe die Entwicklung der letzten Wochen nun mal hinaus
ein großer Fehler.
Deutschland dürfe nie wieder ein Machtblock mitten in Europa werden.
Und eine solche Hilfe zur Flucht der DDR-Bürger
würde nur zur weiteren Destabilisierung der Verhältnisse beitragen.
Also wie gesagt: „Die Aktion war menschlich verständlich, aber trotzdem falsch.“

Der derart gescholtene Protagonist kann die Argumentation seiner Freunde nicht nachvollziehen, bezeichnet sie als „Schwachsinn“, muss sich beherrschen, leise zu bleiben und traut sich nicht, auszusprechen, was die Konsequenzen einer gescheiterten Flucht oder eines Verbleibens in der DDR wären. Schließlich verlässt er ohne ein weiteres Wort die Wohnung „und ward nie mehr gesehen“.

Geschichtsstunde und Parabel zugleich

So pathetisch das Ende, so nüchtern realistisch der übrige Liedtext, bei dem es sich um eine ganze Erzählung handelt. Diese besticht durch ihre Ausführlichkeit und dadurch, überwiegend sprechend vorgetragen zu werden (live hört man Sänger Marcus Wiebusch die Anstrengung an). Gesungen wird nur der Refrain und das Outro. Dabei könnte man denken, es handle sich um eine Geschichte, die sich in dieser Weise tatsächlich ereignet hat. Die Lyrics lesen sich in ihrer Detailliertheit wie eine Erinnerung (die Fahrt in „seinem alten, himmelblauen Ford Granada“ führt den Protagonisten entlang der „Kasseler Berge, Würzburg, Nürnberg, Linz, Wien“, bis er am Ziel angekommen in die „Pension Peterhof“ eincheckt, sich einen „Döner“ kaufte und „auf die Nacht“ wartet). Nicht nur flohen im Sommer 1989 zahlreiche DDR-Bürger über Ungarn und Österreich in die Bundesrepublik Deutschland, auch existiert das im Lied genannte Mörbisch am See tatsächlich. Durch die kleine Gemeinde am Neusiedler See im nördlichen Burgenland führt die ebenfalls genannte Ödenburger Straße; sie mündet in ein kleines Waldstück, in dem die Grenze zwischen Österreich und Ungarn verläuft. Und auch einen Busbahnhof gibt es hier, von dem aus ein Postbus nach Wien fährt; die Fahrt dauert knapp über zwei Stunden.

Nur eine historische Ungenauigkeit findet sich in den Lyrics: Zwar gab es in Wien den ersten Döner Kebab im Jahr 1983 zu kaufen (vgl. Die Presse). Bis der Schnellimbiss auch im ländlichen Österreich zu haben war, sollte es aber noch einige Jahre dauern. 1989 habe es in Mörbisch „weit und breit keinen Döner“ gegeben, versicherte der Betreiber der Pension Peterhof der Burgenländischen Volkszeitung. Dennoch könne den Text nur jemand geschrieben haben, der sich vor Ort ein Bild gemacht habe, denn die beschriebene Route sei „genau der Weg, den viele Fluchthelfer damals benutzten“. Online jedenfalls wird über den Dönerkauf gerätselt, jemand schreibt: „Vermutlich hat er sich ein Langos oder so ähnlich gekauft und erinnert sich falsch bzw. er hat es absichtlich falsch gesungen, da es sich im Liedtext besser anhört“. (Durch die in diesem Kommentar erfolgte Gleichsetzung des Protagonisten mit dem Sänger wird zudem deutlich, dass die Lyrics von manchen Hörern als tatsächliche Begebenheit verstanden werden.)

Im Interview erzählt Kettcar-Sänger Marcus Wiebusch, er habe durch einen Zeitungsartikel über ein österreichisches Ehepaar, das im Sommer des Jahres 1989 zahlreichen DDR-Bürgern über die Grenze geholfen habe, die Idee zu dem Lied entwickelt; das Verhalten des Paares habe er „irgendwie heldenhaft“ gefunden. Er selbst habe sich zur damaligen Zeit im Zivildienst befunden; als er von der Flucht der Menschen über Ungarn erfahren habe, seien ihm die Tränen gekommen. Da er aus „sehr sehr linken Zusammenhängen“ käme, habe er ideologische Diskussionen, wie sie auch im Lied thematisiert werden, „hautnah mitgekriegt“. Unter dem Slogan „Nie wieder Deutschland!“ bezogen Linke im Jahr 1990 gegen die Deutsche Wiedervereinigung Stellung. Sie befürchteten in Folge ein Wiedererstarken des deutschen Nationalismus und Neonazismus sowie ein erneutes deutsches Weltmacht-Streben.

In den frühen Neunzigerjahren tourte Wiebusch im Gefolge der Punkband Slime – von der die Liedzeile „Deutschland muss sterben, damit wir leben können“ stammt – durch ein wiedervereinigtes Deutschland, in dem es zu ausländerfeindlichen Ausschreitungen kam und Asylbewerberheime angezündet wurden. Mit seiner Band …But Alive war er beim linken Publikum erfolgreich, doch die linke politische Szene habe ihn abgestoßen, da sie sich durch „Herzenskälte und übertriebene moralische Ansprüche“ auszeichnete, so Wiebusch im Gespräch mit Spiegel Online (vgl. auch die Besprechung von …But Alives Sie war, sie ist, sie bleibt auf diesem Blog). Die Gesellschaftsverhältnisse fünfzehn Jahre nach der Wende griff Wiebusch denn auch musikalisch mit Kettcar (gegründet 2001) auf und verarbeitete sie in dem Lied Deiche, in dem Helmut Kohl zitiert wird, der gesagt hatte, dass es niemandem schlechter gehen werde und es weiter heißt: „Du weißt, der Kuchen ist verteilt, du spürst, die Krümel werden knapp“.

Noch plakativer sind die Lyrics von Sommer ’89, die wenig der Phantasie überlassen. Dies gilt auch für den Videoclip, der in Kooperation mit dem Fachbereich Medienproduktion der Hochschule Ostwestfalen-Lippe entstanden ist. Die einzelnen Szenen werden von dem Liedtext unterbrochen, der in weißer Schreibmaschinenschrift auf schwarzem Hintergrund erscheint. Zwar erweckt dies den Eindruck, als solle der Text gleichsam wie ein Appell hervorgehoben werden, doch kommt die Erzählung ohne einen erhobenen Zeigefinger aus.

In Sommer ’89 wird eine längst vergangene Geschichte erzählt, doch geht es um das Deutschland der Gegenwart, wie Marcus Wiebusch im Gespräch mit dem mdr bestätigt: Der Song nehme „Bezug auf das Jahr 2017, in dem das Flüchtlingsthema eine große Rolle spielte. Natürlich sagen manche: Man kann damals nicht mit heute vergleichen. Und wenn schon. Der Song wurde aus nur einem einzigen Grund geschrieben: Um alle daran zu erinnern, dass das Helfen über Zäune hinweg ein zutiefst menschlicher Akt ist“. Tatsächlich ist es fraglich, ob sich die Flucht aus der sozialistischen Diktatur mit der heutigen Situation von Migranten vergleichen lässt, die mit hochseeuntauglichen Schiffen versuchen, das Mittelmeer zu überqueren, um Krieg und Hunger zu entkommen, doch vielleicht ist diese Frage auch schlicht nicht zielführend.

Ein Appell für Menschlichkeit

Den Vorwurf, in einer „linken Filterblase“ zu leben und nur das eigene Klientel zu bedienen, weist Wiebusch im Interview von sich. Nicht zuletzt um dieser Anschuldigung entgegen zu wirken, habe die Band die dritte Strophe des Liedes geschrieben, in der sie sich „sehr kritisch mit linkem Dogmatismus auseinandersetzen“. Sommer ’89 ist somit ein Appell für Menschlichkeit – sowohl an diejenigen, die offen propagieren, Mauern und Zäune zu errichten, als auch an jene, die ihre Augen vor Flüchtlingselend verschließen und sich in ihre persönliche Komfortzone zurückziehen. Ein Aufruf, tätig zu werden, schließlich sei häufig „nur ein Bolzenschneider nötig“, um Menschen zu einem besseren Leben zu verhelfen.

Für Sommer ’89 erhalten Kettcar viel Zustimmung: Es handle sich um „einen der wichtigsten Songs des Jahres“, so der Musikexpress. „Wohltuend, wichtig und überfällig“, ein „Storytelling-Kommentar zur Flüchtlingskrise“. Das Lied sei „eine Liebeserklärung an alle, die nicht nur zusehen, sondern helfen“, heißt es auf ze.tt.

Aktualität und Brisanz des besungenen Themas spiegeln auch die Kommentare, die sich unter dem Video finden. Neben zustimmenden Äußerungen und mancher Erinnerung an eigene Fluchterfahrungen liest man dort Bemerkungen wie die folgenden: „Und heute jammern die Flüchtlinge von damals über die heutigen Wirtschaftsflüchtlinge…“ oder „Aktueller denn je! Ein bisschen Selbstrefektion [sic] und Menschlichkeit würde uns allen besser stehen! So viele die damals nach Freiheit riefen, wollen sie heute anderen verwehren!“.

Trotz der Ernsthaftigkeit des Themas kommt die Ironie in Sommer ’89 nicht zu kurz: Der Fluchthelfer versteht den an ihn gerichteten Dank nicht, denn er erfolgt auf Sächsisch. Auch der nach der Wende weit verbreitete Witz, die DDR-Bürger hätten es auf „Kiwis und Bananen“ abgesehen, wird aufgegriffen. Schwerer wiegen die „Immobilien ohne Wert“ und „Hartz IV“, Symbole enttäuschter Hoffnungen, geplatzter Träume und falscher Versprechen. Und auch „Ossi-Witze“ und „Besser-Wessi-Sprüche“ belegen, dass eine Annäherung von Ost und West nicht ohne Schwierigkeiten vonstatten ging. Ob es sich um eine Ironie oder um eine Konsequenz aus der Geschichte handelt, dass viele Menschen in Ostdeutschland heute Flüchtlingen kritischer bis ablehnender gegenüberstehen als dies im Westen der Fall ist, darüber lässt sich diskutieren.

Isabel Stanoschek, Bamberg

What is the answer? Zum Protest- und Lovesong „Sie war, sie ist, sie bleibt“ von …But Alive

…But Alive

Sie war, sie ist, sie bleibt

Ein Hool schreibt ein wirklich schönes Gedicht,
irgendjemand tritt ihm dafür ins Gesicht.
In den S-Bahnen fährt hier längst schon der Tod,
und die Bürgersteige verfärben sich rot.
In der Kneipe gegenüber hat man aufgehört zu fragen,
zuhause werden nur noch die Kinder geschlagen.
Einer Krawatte wird einmal mehr geglaubt,
in der Vorstadt ein effektives Ghetto gebaut.

Sie war, sie ist, sie bleibt.
Tut mir leid.

Und ‚Clockwork Orange‘ 10x gesehen
und wirklich versucht, ihn ganz zu verstehen.
Und ein Hippie sabbelt mich mit Weltfrieden voll,
weiß nicht was ich ‘93 davon halten soll.
Es wird immer härter je mehr wir verfallen,
wenn sich vor Wasserwerfern Hunderte von Fäuste ballen.
Manchmal kommt sie laut, viel öfter ist sie still,
ich kenne keinen der freiwillig am Fließband sein will.

Sie war, sie ist, sie bleibt.
Tut mir leid.

Ich seh in diese Augen die Zeit steht still,
weiß nur daß ich nirgendwo anders sein will.
Irgendetwas explodiert in mir,
so fern von jedem Hass, fern von jeder Gier.
Vielleicht hatte John Lennon doch irgendwo recht,
wenn es so wäre, es wäre wirklich nicht schlecht.
Dieses kleine Licht gib gut drauf acht,
wenn der kalte Sturm wieder auf dich niederkracht.

Sie war, sie ist, sie bleibt.
Du hast die Wahl.

     […But Alive. Für uns nicht. Weird System 1993.]

Schon der erste Vers von Sie war, sie ist, sie bleibt irritiert in zweifacher Hinsicht: Zum einen ist das Verfassen von Gedichten nicht die erste Hooligan-Tätigkeit, die einem in den Sinn kommt, steht das gängige Bild des Lyrikers als besonders feinfühligem Menschen doch der Bereitschaft zu exzessiver körperlicher Gewalt entgegen. Zum anderen erscheint die Rede von einem „wirklich schöne[n] Gedicht“ verwunderlich angesichts der Tatsache, dass es sich bei …But Alive um eine Hamburger Politpunkband handelte, denn im Punkdiskurs stellt eine solche Formulierung eigentlich eine contradictio in adjecto dar, verkörpert das, zumal ‚schöne‘, Gedicht, mit dem als Gattung ungeachtet seiner vielfältigen konkreten Ausgestaltung in der Literaturgeschichte prototypisch Innerlichkeit, Mehrdeutigkeit, Metaphorik, eine elaborierte, ungewöhnliche Ausdrucksweise und kunstvolle Gestaltung verbunden werden, doch genau das Gegenteil des gesellschaftskritischen, um Eindeutigkeit bemühten, sich der Umgangssprache bedienenden und jeden Kunstcharakter ablehnenden Politpunktextes. Hinzu kommt, dass das Gedicht literarisch den Inbegriff der ‚Hochkultur‘ darstellt als eine Textsorte, deren ‚Bedeutung‘ sich nicht jedem erschließt, sondern nur dem gebildeten, mit kulturellem Wissen und bestimmten hermeneutischen Techniken vertrauten Leser.

Mit Clockwork Orange wird zu Beginn der zweiten Strophe auf die hochgradig ästhetisierte Literaturverfilmung des Romans von Anthony Burgess durch Stanley Kubrick Bezug genommen. Im Kontext von Punk interessant erscheint an diesem Verweis, dass die Mitglieder der britischen Punkband The Adicts sich in ihren Outfits auf die Droogs aus Kubricks Film bezogen, viele andere Bands, insbesondere der Skinheadszene, den Film zitieren und der kommerziell erfolgreichen deutschen Punkband Die Toten Hosen mit der Single Hier kommt Alex und dem Album Ein kleines bisschen Horrorschau, die aus einer dramatischen Umsetzung des Stoffs am Bonner Schauspielhaus hervorgegangen waren, 1988 der Durchbruch gelang. Deren Texte interpretieren die Hauptfigur Alex, die u.a. extrem gewalttätig gegen wahllos ausgewählte Opfer vorgeht, als Rebellen. Wenn nun das Sprecher-Ich in Sie war, sie ist, sie bleibt mitteilt, den Film im Bemühen, „ihn ganz zu verstehen“, zehn Mal gesehen zu haben, so demonstriert es damit einen anderen Umgang damit: Es bezieht ihn nicht auf seine eigenen Lebensumstände, identifiziert sich nicht mit den Protagonisten, sondern versucht, sich dem Film als Kunstwerk in der Rolle des Interpreten zu nähern. Wie schon in der positiven Bezugnahme auf die Gattung Gedicht wird hier dem Identifikation ermöglichenden und in seiner Aussage zugespitzten Politsongtext eine Form von Literatur entgegengesetzt, die dem Rezipienten eine eingehende Beschäftigung abverlangt.

Dieser nähert sich der Text selbst insofern an, als zwar in den Strophen, wie in Politsongtexten üblich, konkrete Missstände geschildert werden, im folgenden Refrain daraus aber keine Forderung bzw. die Aufforderung zu einer Handlung abgeleitet wird, sondern anstelle einer solchen Zuspitzung eine Bedeutungsöffnung erfolgt. Denn der Refrain ist maximal unbestimmt gehalten: Jedes Substantiv mit weiblichem Genus kann für „sie“ eingesetzt werden. Und daraus, dass „sie“ dem Sprecher-Ich zufolge war, ist und bleibt, kann auch keine Konkretisierung abgeleitet werden. Der Leser ist also, will er den Text ‚verstehen‘, darauf angewiesen, sich aus dem Inhalt der dem Refrain jeweils vorangehenden Strophe zu erschließen, wie „sie“ konkretisiert werden könnte, wobei im siebenten Vers der zweiten Strophe auch von „sie“ die Rede ist, jedoch ebenfalls relativ vage: „Manchmal kommt sie laut, viel öfter ist sie still“. Wie auch immer der Rezipient dieses hermeneutische Problem – in einer Amazon-Kundenrezension heißt es „…But Alive ist fast die einzige deutsche Punkband, die sinnvolle Texte schreibt. Und schon ‚Sie war sie ist sie bleibt‘ muss man erstmal verstehen…“ (amazon.de)  – löst, er muss dies auf dem Wege einer Auseinandersetzung mit dem Text bzw. mit den darin geschilderten Zuständen tun. Textanalyse wird so in den ersten beiden Strophen zur Gesellschaftsanalyse. Der Rezipient sieht sich mit der Frage konfrontiert, unter welchen Begriff sich die verschiedenen geschilderten Zustände subsumieren lassen. Er wird so dazu gebracht, Zustände, zwischen denen er unter Umständen spontan keine Verbindung hergestellt hätte, als verschiedenen Ausformungen ein und desselben Phänomens oder als verschiedene Resultate ein und derselben Ursache zu sehen. Er wird also genau an der Stelle, an der im klassischen politischen Rocksongtext die Zuspitzung zur Parole erfolgt, im Refrain, also an dem Punkt, an dem ihm der Kritik aus einem anderen …But Alive-Song, Wir vs. verbitterte Empörung (Korrekt II), zufolge das Denken abgenommen wird, eben dazu gezwungen.

Dafür, dass eine solche Auseinandersetzung mit dem Text auch tatsächlich vielfach stattgefunden hat, spricht, dass die Frage danach, wofür „sie“ steht, auf der Homepage des Bandlabels B.A. Records unter Frequently asked Questions beantwortet wird:

Was ist mit „Sie“ gemeint in „Sie war, sie ist, sie bleibt“?
Unser bestgehütetes Geheimnis wird – hier und jetzt – preisgegeben: In den ersten beiden Strophen ist die Gewalt gemeint und in der dritten Strophe die Liebe. Kein Witz jetzt. Du hast die Wahl. (http://www.ba-records.de/label/faq.html)

In dieser seitens der Band vorgeschlagenen Lesart propagiert das Lied einen weiten Gewaltbegriff, der neben individueller („In den S-Bahnen fährt hier längst schon der Tod, / und die Bürgersteige verfärben sich rot“) und institutioneller („wenn sich vor Wasserwerfern Hunderte von Fäusten ballen“) auch familiäre („zuhause werden nur noch die Kinder geschlagen“) und v.a. strukturelle Gewalt („in der Vorstadt ein effektives Ghetto gebaut“, „Manchmal kommt sie laut, viel öfter ist sie still, / ich kenne keinen, der freiwillig am Fließband sein will“) einschließt. Mit dem Wechsel des besungenen Gegenstands in der dritten Strophe eröffnet sie zudem das Spannungsfeld Liebe/Sexualität und Politik, wobei der Text einen mittelbaren Zusammenhang zwischen diesen beiden Polen herstellt: Die Liebeserfahrung wird als emotional ausgleichender Gegenpol zur unvermeidlichen Gewalterfahrung gesehen. Das letzte „Du hast die Wahl“ könnte dahingehend verstanden werden, dass eine Wahl zwischen Gewalt und Liebe getroffen werden könne oder gar müsse. Diese Position ermöglicht bezogen auf die Bedeutung der Liebe eine Annäherung an John Lennon als eine der Ikonen der Hippiebewegung, obwohl deren politische Haltung als naiv abgelehnt wird: „Und ein Hippie sabbelt mich mit Weltfrieden voll, / weiß nicht, was ich ‘93 davon halten soll.“ Indem nicht nur in Erwägung gezogen wird, dass „Love ist the answer“ (Mind Games) tatsächlich zutreffen könnte, sondern diese Möglichkeit sogar begrüßt wird, deutet sich in Sie war, sie ist, sie bleibt vom …But Alive-Debutalbum bereits die Abkehr vom Politpunk an, die der Sänger und Texter Marcus Wiebusch nach drei weiteren Alben mit dieser Band und zweien mit Rantanplan mit der Gründung von Kettcar vollzog.

Martin Rehfeldt, Bamberg

Die Romantik des Aufwischens von Erbrochenem. Heroisierter Beziehungsalltag in „Rettung“ von Kettcar

Kettcar

Rettung

Wir verließen den Laden und jetzt noch 800 Meter.
Ich fühlte mich erhaben, wie ein Rettungssanitäter.
Du konntest nicht mehr gehen,
das heißt Huckepack nehmen.

Du sagtest: „Lass mich zurück, du kannst es schaffen ohne mich!“
Ich sagte: „Nein, ein Marine lässt niemanden im Stich.
Wir haben‘s gleich geschafft.“
Und ich ging langsam durch die Nacht.

Als die Sabberfäden zart mein Ohr streiften,
als wir mit allerletzter Kraft unser Fort erreichten,
als du's grad noch ins Bad schafftest, aber nicht zum Klo
und dann irgendwas in den Haaren hattest und ich wusste wieso.

Es ist nicht das, was man empfindet,
nicht nur das, was man fühlt,
nicht, was man voller Sehnsucht sucht,
Liebe ist das, was man tut.

Wir zahlten den Abend mit unsrer härtesten Währung,
Für alles einen Grund, aber für nichts eine Erklärung.
Und jetzt liegst du da,
und ich puhl Essen aus deinem Haar.

Ich sagte: „Komm, trink das aus, das wird das Schlimmste verhindern,
das Unheil morgen früh vielleicht ein kleines bisschen lindern.“
Ich wischte alles weg,
ich stellte Schüsseln nebens Bett.

Und du sagtest: „Ich möchte nicht, dass du mich so siehst,
ich will hier leise sterben und ich möchte dass du gehst.“
Alle Fenster auf Kipp und ich dachte: „Na gut,
nicht was man empfindet, es ist das, was man tut!“

Und im Türrahmen ein letzter Blick
auf dich und auf das Bild des Elends,
auf dem Küchentisch dann eine Zeile:
„Guten Morgen, Liebe meines Lebens!“

     [Kettcar: Zwischen den Runden. Grand Hotel van Cleef 2012.]

In der 14. Episode der ersten Staffel von How I Met Your Mother beschließen Lily und Marshall ihr neunjähriges Jubiläum nicht, wie ursprünglich geplant, in einer Bed and Breakfast-Pension zu begehen, sondern den Tag gemütlich in der Wohnung zu verbringen, die sie zusammen mit dem erst frisch wieder liierten Ted bewohnen. Als sie Zähne putzend im Bad stehen, kommt überraschend Ted mit seiner neuen Partnerin Victoria in die vermeintlich leere Wohnung. Im Wissen darum, dass die beiden ihren ersten gemeinsamen Sex vor sich haben, bleiben Lily und Marshall im Bad, um sie nicht zu stören – und sie zu belauschen. Zunächst machen sie sich über deren verliebtes Verhalten lustig, dann stellen sie fest, dass ihre eigene Beziehung nicht mehr so romantisch sei, dass es keine ersten Male mehr für sie gebe. Lily empfindet zunehmend starken Harndrang, während Ted und Victoria keine Anstalten machen, sich in Teds Zimmer zu begeben. Weil Marshall nun also das Bad nicht mehr verlassen kann, ohne bemerkt zu werden, womit auch klar wäre, dass er und Lily die ganze Zeit über im Bad waren und alles mitgehört haben, muss Lily wohl oder übel eines der letzten Geheimnisse, das sie in ihrer Beziehung wahren wollten, lüften und in Marshalls Anwesenheit die Toilette benutzen. Doch anders als von beiden befürchtet, geht damit keine endgültige Entzauberung einher, vielmehr gelangen sie erleichtert zu der Erkenntnis, dass es für sie doch noch erste Male gibt.

Dieses Szenario radikalisiert Markus Wiebusch, der Sänger von Kettcar, der schon die Formulierung „rückläufige Entleerung als komplexes Reflexgeschenen“ in einem Songtext untergebracht hat (Rantanplan: Sterben), in seinem Text zu Rettung. Der Protagonist (im Folgenden wird von einer heterosexuellen Beziehung ausgegangen, obwohl der Text dies, anders als das Video, nicht vereindeutigt) hat zunächst mit seiner Partnerin in einem Club gefeiert – so weit, so rock’n‘roll. Betrunken machen sie sich auf den Weg zur Wohnung der Frau, wobei sie stärker betrunken zu sein scheint als er – bis hierhin immer noch rock’n’roll, die betrunkene Frau widerspricht lediglich bürgerlichen Vorstellungen von weiblicher Anmut und Sittsamkeit, im antibürgerlichen Rock’n’Roll hingegen ist Exzess positiv codiert. Würden die beiden jetzt enthemmt Sex haben und damit oder anderweitig öffentliche Ärgernisse verursachen, entspräche dies den Erwartungen, die man gegenüber Rocksongtexten hegt – zumal, wenn der Texter Mitglied mehrerer Punkbands (…But Alive, Rantanplan) war.

Durch die Reihung von drei mit ‚als‘ beginnenden temporalen Nebensätzen im dritten Versblock wird zusätzlich die Erwartung aufgebaut, dass etwas Spektakuläres bevorstehe. Jedoch bleiben diese Nebensätze grammatische Ellipsen, denn es folgt kein Hauptsatz; und auch auf der semantischen Ebene geschieht im anschließenden Refrain nichts, jedenfalls nicht im Sinne einer äußeren Handlung. Vielmehr wird dem Protagonisten offenbar in den beschriebenen Momenten, in denen seine Partnerin sich im Badezimmer übergibt, etwas klar: Er fasst Liebe ausdrücklich nicht als Emotion, schon gar nicht als abstrakten Gegenstand von Sehnsucht auf, sondern als Handeln, als Übernahme von Verantwortung für den anderen, gerade auch, wenn dies mit sich bringt, ihn in gemeinhin nicht als erotisch aufgefassten Situationen zu erleben: die Formulierungen „Als die Sabberfäden zart mein Ohr streiften“ [Hervorh. durch d. Verf.] und „[…] jetzt liegst du da, / und ich puhl Essen aus deinem Haar“ dekontextualisieren erotische Topoi (die zärtliche Berührung des Ohrs, die lasziv daliegende Frau, das In-den-Haaren-Spielen).

Dieser Auffassung von Liebe entspricht die nicht nur vom erzählenden Ich, sondern auch innerfiktional von den Liebenden verwendete Metaphorik, die Motive aus Katastrophenfilmen und Western sowie Phrasen aus Kriegsfilmen nutzt: Sie betont das solidarische Element der Liebesbeziehung, nicht das erotische.

Das weitere Verhalten des Protagonisten ist im Handlungsrepertoire von Rocksongtextfiguren nicht vorgesehen: Fürsorge. Die Perspektive auf die Folgen übermäßigen Alkoholkonsums, die hier eingenommen wird, ist eine ganz und gar pragmatische – sie werden nicht als ehrenhafte Konsequenzen heroischen Handelns idealisiert (das Sprecher-Ich in Sonntag morgen von Terrorgruppe etwa berichtet stolz davon, wie es in seiner mit diversen Ausscheidungen behafteten Kleidung in seinem Bett aufwacht), sondern es wird versucht, die körperlichen Konsequenzen abzumildern.

Bei all dem ist dem Sprecher-Ich nie anzumerken, dass es die aufgeführten Tätigkeiten ungern und nur pflichtschuldig verrichtet, im Gegenteil: Als seine Partnerin ihn auffordert, sie allein zu lassen, weil sie offenbar fürchtet, dass es ihre Anziehung auf ihn beeinträchtigen könnte, sie in diesem Zustand zu sehen, muss er sich selbst seine Auffassung von Liebe vergegenwärtigen. Denn er würde es offenbar vorziehen, bei ihr zu bleiben. In der anschließenden Abschiedsszene wird erneut ein traditionelles erotisches Motiv umgekehrt: Der Blick aus dem Türrahmen fällt nicht auf die noch Schlafende, deren Körper nur teilweise bedeckt ist, sondern ausdrücklich „auf das Bild des Elends“.

Nach so viel alltagspraktischer Zuwendung überrascht das hohe Pathos der auf dem Frühstückstisch – typischerweise eher Ort für Einkaufslisten als für Liebeserklärungen – hinterlassenen Nachricht. Es liegt nahe, das Sprecher-Ich als ihren Verfasser zu identifizieren, jedoch lässt der letzte Versblock mit seiner elliptischen Form auch die Lesart zu, dass es sich um eine von seiner Partnerin bereits vor dem Aufbruch dort deponierte Nachricht handelt, die er dort nach einer gemeinsam verbrachten Nacht vorfinden sollte.

Die Heroisierung des Beziehungsalltags, die das Paar in seinen Vertrautheit vermittelnden Zitat-Dialogen ebenso betreibt wie der Text insgesamt, steht im Gegensatz zu dem Liebesideal, das üblicherweise im jugendverherrlichenden Rock und Pop propagiert wird (→ z. B. Alphaville: Forever Young): Liebe erscheint dort als etwas, für das man eventuell sogar sterben würde („Would you die tonight for love?“ fragt etwa das Ich in Join Me von HIM), jedoch nicht als etwas, das man lebt. Dagegen hatte sich auch schon das Sprecher-Ich in Kettcars Balu entschieden, das zu seiner Partnerin sagt: „Vergiss Romeo und Julia. / Wann gibt’s Abendbrot? / Willst du wirklich tauschen? Am Ende war’n sie tot.“

Das Video zu Rettung setzt das Umschlagen von Alltäglichkeit in Pathos kongenial um: Die von den darin gezeigten zwei Leuten erzählte Geschichte darüber, wie sie ein Paar geworden sind, ist für sich genommen eher gewöhnlich; erst dadurch, dass beide sie bis in Details hinein identisch erzählen, wird die Bedeutung deutlich, die sie für dieses Paar hat, weil es eben ihre Geschichte ist. Und die Abgrenzung zur Rocktradition findet im Bild des beim Erzählen auf der nicht eingestöpselten E-Gitarre Herumklampfenden ihre Entsprechung.

Martin Rehfeldt