Romantik und Metaphysik mit Hausmeistern. „Da Schnee“ von Ernst Molden, Willi Resetarits, Walther Soyka und Hannes Wirth (2013)

Molden, Resetarits, Soyka, Wirth

Da Schnee

wos bei mia wichdig is kummd ollas vo dia				 1
en resd hob i nua zum iagndwaun wieda valian
die haubdallee mochd heid kaan don kaa geräusch
mia schbüün en an schdumfüm und olle sans gleich wäus gfrian

und iangdwea haud owe an schnee 	    				 5
vo gaunz gaunz weid om aum juchee
un de hausmasda sogn okee
gengan owe und schaufen den schnee
daun ee							

mia schdendan in schnee und d wöd hod a end				10
mia schaub auf de fiass de ma noch und noch nimma akennd
und wos mi vuan schdeam schizzd san deine hend
i hoeds fest und gee duach duach oes wos en mein feia vabrennd

und iangdwea haud owe an schnee […]

     [Molden, Resetarits, Soyka, Wirth: Ho Rugg. Monkey 2013. Text zitiert nach dem Booklet der CD.]

Zugegeben, ich hab’s schon mit dem Schnee! Eigentlich mit allen seinen H2O-basierten Erscheinungsformen, die mir im Laufe meines Lebens mal mehr, mal minder freundlich begegnet sind: zu Bällen gepresst, Schaufeln beschwerend, Kufen, Brettern und zur Not auch dem Hinterteil eine rutschige Unterlage  bietend, als unverzichtbares winterliches Dekomaterial ebenso wie als vermutlich eher verzichtbarer Matsch auf städtischen Straßen und Fußwegen. Und so sympathisiere ich auch schon fast grundsätzlich mit musikalischen Referenzen an die weiße Pracht – mit traditionellen Kinder- (Schneeflöckchen, Weißröckchen) und Adventsliedern (Leise rieselt der Schnee), amerikanischen Winter- und Weihnachtsschnulzen (Jingle Bells, White Christmas), Einladungen zum Winterschlaf (Ludwig Hirsch) usw. usf. Insofern war mehr oder minder zu erwarten, dass mir das hier zu besprechende Lied gefallen würde; aber dann übte Moldens Schnee-Song, den ich der Einfachheit halber wie viele andere Produktionen der Formation Molden-Resetarits-Soyka-Wirth unter ,Big City Blues‘ einsortiere, auf mich doch noch einmal eine ganz spezielle Faszination aus …

Der Dichter (die Begriffe ,Texter‘ oder ,Songwriter‘ scheinen mir in diesem Kontext nicht richtig zu passen) fügt sein Lied aus drei Inhaltskomponenten zusammen: einer Liebeserklärung, der Beschreibung einer bestimmten Wiener Lokalität und der Darstellung eines winterlichen Wetterereignisses. Wie er diese Faktoren dann allerdings sprachlich und musikalisch (langsam, leise, unaufgeregt) zur Erscheinung bringt, mit Gefühlen auflädt und diese, quasi nebenbei und ganz unaufdringlich, mit Hilfe einer dezenten Dosis Schmäh wieder einfängt, bevor das Pathos in Kitsch umschlägt, ist… na ja, zu Lesern meiner Generation würde ich jetzt sagen: große Kunst, für jüngere Zeitgenossen moderner formuliert: einfach geil! Für Wiener: leiwand! 

Das Lied beginnt mit einer indirekten Liebeserklärung, die von der Sprecherinstanz in Form einer Feststellung höchster Wertschätzung vorgetragen wird: Alles wirklich Wichtige verdanke das Ich dem Du, sein ganzer übriger ,Besitz‘ (materieller oder anderer Art) sei im Vergleich dazu nur belangloses Zeug, von dem man sich irgendwann ohne größeres Bedauern wieder trennen werde. Mit dieser Aussage konstatiert das Ich eine provozierend absolute Abhängigkeit seiner Existenz und Identität von den Zuwendungen der Bezugsperson, die – zumindest mir – Assoziationen an religiöse Kontexte aufgedrängt hat, an Gebete, Bekenntnisse und Kirchenlieder, in denen fromme Autoren ihr gesamtes Sein tief dankbar auf einen Schöpfer bzw. Erlöser ausrichten.

Auf die zweite Strophe vorausblickend, dürfen wir jedoch diesen Verdacht verwerfen; mit einem Gott (oder einer Göttin) würde man doch eher nicht auf der Praterallee im Schnee herumstehen, oder? Nein, in unserem Lied geht es um Zwischenmenschliches.

Die nächsten beiden Verse der ersten Strophe benennen den Ort des Geschehens und vermitteln einen intensiven Eindruck der herrschenden Atmosphäre. Mit der „haubdallee“, die selbstverständlich im Kontext eines Wiener Großstadtblues von Ernst Molden keines erklärenden Zusatzes bedarf, kann nur die schon im 16. Jahrhundert angelegte, 1866/67 erweiterte schnurgerade Verbindung vom Praterstern zum Lusthaus gemeint sein, die an schönen Sommertagen gerne von Spaziergängern, Läufern, Fiakern frequentiert wird, natürlich auch von den allerorten unvermeidlichen Velozipedisten sowie sonstigen freizeitgestaltenden Menschen. (Der einschlägige Wikipedia-Eintrag erwähnt hier ausdrücklich Reiter und Rikschafahrer!) Man beobachtet dort neben diversen Einheimischen, die man etwa an der mitgeführten Rikscha eindeutig als solche klassifizieren kann, auch zahlreiche, ihr Besichtigungsprogramm hurtig absolvierende Touristen.

,Heute‘ jedoch, d.h. zu jener winterlichen Stunde, von der unser Lied erzählt, ist alles anders. Eine ungewohnte Stille beherrscht die Szene. Ohne dass es extra ausgesprochen werden muss, ist klar, dass eine Schneedecke alle Töne erstickt. Zwar halten sich auch an diesem Tag Menschen vor Ort auf, aber sie wirken merkwürdig anders, kaum unterscheidbar. In der Wahrnehmung des Sängers ähneln sie sich zum Verwechseln, weil alle frieren und sich wie die Figuren eines Stummfilms benehmen. Dieser Vergleich entzieht der Szene neben den Geräuschen übrigens auch die Farbe, fügt ihr dafür aber einen Schlag Schmäh hinzu; denn es scheint doch ein wenig komisch, dass ausgerechnet ein Lied, dessen Medium nun einmal die Akustik ist, eine Szenerie völliger Stille entwirft.

Im folgenden Refrain erhält Ernst Molden stimmliche Unterstützung von Willi Resetarits, so dass der Sound einen Tick opulenter wird. Auch die Melodie entwickelt jetzt mehr Schwung und klingt schon beinahe nach ,Wiener Lied‘. Touristen aus dem Rheinland haken einander unter und fangen an zu schunkeln… Schock! – Eh net! (Das war jetzt bloß ein Schmäh auf niederbairisch.)

Und jetzt, im Refrain, fällt endlich auch das Wort „Schnee“, und zwar gleich zweimal. Die beiden Kontexte, in denen vom kristallinen Nass* die Rede ist, stehen einander diametral gegenüber: Einmal richtet sich der Blick weit nach oben, bis zum „Juchee“ hinauf, das andere Mal nach unten, auf die profane Sphäre der Großstadtgassen, wo die armen Hausmeister ihren Job erledigen müssen, um das überirdische weiße Zeugs wieder wegzuschaufeln.

An Vers 5 scheint mir die Personifizierung der Ursache des gewaltigen Schneefalls bemerkenswert: Zwar legt sich der Text auf keine konkrete Person fest – Petrus käme vielleicht in Frage oder Frau Holle, natürlich Gott höchstselbst als oberster Wettermacher, weniger wohl der Kachelmann –, aber er ordnet das Geschehen doch „iangdwea[m]“ zu und macht das Bild dadurch konkreter. Dieser „iangdwea“ agiert jedenfalls in erhabener Höhe, „gaunz gaunz weid om aum juchee“. Nun bezeichnet der Begriff ,Juchee‘ im östlichen Österreich einen ,Berggipfel‘, referiert aber zugleich auch auf die höchste Galerie im Theater. Beide Bezüge ergeben für unser Lied Sinn und ich denke, dass es Molden nur recht ist, wenn sich beim Zuhörer die Bildvorstellungen von Natur- und Kunstkulisse überlagern. Letztere Vorstellung würde unaufdringlich an die barocke, in den Künsten der Donaumetropole lange lebendig erhaltene Idee eines ,Welttheaters‘ anschließen und dabei selbstreflexiv (und insofern auch selbstironisch) die poetisch-artifizielle Inszenierung des Schnee-Erlebnisses hervorheben.

Mit Vers 7 richtet die Sprecherinstanz weniger ihren Blick als ihre Gedanken auf die ,Leidtragenden‘ des sie selbst zu romantischen Bekenntnissen beflügelnden Witterungsgeschehens, auf die arbeitende Klasse der Wiener Hausmeister, die sich vorgeblich willig in ihr Schicksal fügen. Wir wissen nicht, woher der Sänger das so genau wissen will. Selber ist er gewiss kein professioneller Schneeräumer und von seinem Standpunkt in der Prater-Hauptallee aus kann er wohl kaum sehen, was die Hausmeister in den Hauptstadtstraßen und -gassen treiben, und noch weniger hören, ob sie dem heftigen Wintereinbruch tatsächlich ihr ,o.k.‘ gegeben haben. Nein, hier beweist sich keineswegs die ,prästabilierte Harmonie‘ einer vom großen Uhrmacher wunderbar eingerichteten Schöpfung im Sinne des Leibnizschen Vorschlags zur Lösung des philosophischen Leib-Seele-Problems (vgl. Gottfried Wilhelm Leibniz: Monadologie, 1714), sondern da erlaubt sich Ernst Molden mit seinen zwischenzeitlich (vielleicht?) romantisch und/oder metaphysisch ergriffenen Zuhörern einen ordentlichen Schabernack.

Macht man sich die Fallhöhe zwischen dem großen Unbekannten „gaunz weid om aum juchee“ und den Wiener Haumeistern bei ihrer Schaufel-Arbeit klar, kann an einer sehr wohl intendierten Komik dieser Kontrastierung kein Zweifel bestehen. Und falls jetzt doch noch jemand einwenden wollte, dass der Dichter mit dem Blick auf die Hausmeister vielleicht sein soziales Gewissen für die unteren Klassen entdeckt haben könnte, verweise ich auf die letzten Worte dieser Passage: „daun ee“. Das „ee“ ist bekanntlich ein Lieblingswort des Wiener Dialekts. Es besitzt mindestens 1001 Bedeutungsnuancen und mit den meisten davon verbindet sich eine gehörige Portion Schlitzohrigkeit. Unsere Sprecherinstanz bringt damit zum Ausdruck, dass sie aus langjähriger Erfahrung weiß, dass am Ende des Winterzaubers ,selbstverständlich‘ die Hausmeister zur Schaufel greifen müssen, um die normalen Verkehrsverhältnisse wieder herzustellen, ohne die eine große Stadt nun einmal nicht funktionieren kann. So war es schon immer und so wird es auch dieses Mal sein. Man weiß das, aber das Wörtchen „ee“ macht darüber hinaus deutlich, dass es im Grunde keinen interessiert. Schmäh in Reinkultur!

Nachdem die Refrain-Strophe das ,große Ganze‘ des Witterungsereignisses betrachtet und den Weg der weißen Pracht von ihrem himmlischen Ursprung bis zu ihrer unspektakulären Beseitigung verfolgt hat, geht es in den nächsten vier Versen wieder um das Private. Da der dichte Schneefall um das Paar herum den Horizont verengt, kommt es dem Sänger so vor, als sei die Welt hier an ihr Ende gekommen. In der Naheinstellung des Blicks verschwinden die eigenen Beine („fiass“) im Tiefschnee, wodurch sich das gute Gefühl von Bodenhaftung (,Erdung‘) und damit verbundener Sicherheit auflöst. Das Versinken im Schnee erinnert an die Situation des Ertrinkens im Wasser,* Gedanken an das Ende der eigenen Existenz drängen sich auf. Allerdings bleiben der Sprecherinstanz als letzte Rettungsanker noch die Hände der geliebten Bezugsperson, die sie festhält und von denen sie sich durch alle Gefahren leiten lässt. Der zweite Teil von Vers 13 gibt dem Interpreten allerdings noch einmal eine ordentliche Nuss zu knacken …

Eigentlich würde man angesichts des gewaltigen Schneefalls erwarten, dass sich das Ich von der Kälte, die allen Personen auf der Hauptallee ins Gebein kriecht (vgl. Vers 4), bedroht fühlen und sich an die wärmenden Hände der Geliebten halten würde, um diese Gefahr zu bannen. Diese Erwartung wird von Molden aber sofort gnadenlos abgeschmettert. Eine Gedankenführung nach diesem Schema wäre poetisch einfach zu konventionell. Kitschalarm! Stattdessen geleiten im vorliegenden Liedtext die schützenden Hände des Partners das Ich durch eine ,hausgemachte‘ Flammenhölle: „duach oes wos en mein feia vabrennd“. Die äußere Bedrohung durch Kälte und Schnee weicht überraschend einer neuen, nun aber inneren, seelischen Bedrohung. Für diese ist keine höhere Instanz im Wolken- oder Theaterhimmel verantwortlich zu machen, sondern sie entspringt einzig und allein der Sprecherinstanz, die ihr ,Feuer‘ nicht beherrschen, ihr hitziges Temperament, ihre Triebe etc. nicht zügeln kann, dadurch im Laufe ihres Lebens so manches verbockt hat und nun mit dieser Schuld zurecht kommen muss. (Zum Glück nicht allein!)

Welcher Art aber könnte dieses Flammeninferno, das von keinem Schneegestöber zu ersticken ist, sein? Und was könnte darin verheert worden sein?

Schwer zu sagen, das Lied gibt dazu – soweit ich sehe – keine hilfreichen Hinweise. Also reicht der Dichter/Sänger das Problem höchstwahrscheinlich an seine Zuhörer weiter: Mögen die sich doch selber erforschen, ob sie dergleichen destruktive Mächte – schlechte Gefühle, Wut, Hass, Neid, Eifersucht – in sich verspüren. Ob Ihnen bei der Selbsterkundung womöglich ,Dinge‘ (Chancen, Beziehungen, Freundschaften…) einfallen, die sie im Laufe ihres Lebens ,verbrannt‘, d.h. ruiniert haben und deren kokelnde Überreste ihnen noch immer gewaltig an die Nieren gehen.

Hans-Peter Ecker, Bamberg

* Viele Lieder auf dem Album Ho rugg, haben in dieser oder jener Form mit dem feuchten Element zu tun, wobei dieses Blog allerdings nicht das geeignete Format bietet, solche einzeltextübergreifenden Zusammenhänge näher zu verfolgen.

Literatur:

Schmäh als ästhetische Strategie der Wiener Avantgarden. Hrsg. von Irene Suchy. Vorwort von Hubert Christian Ehalt. Weitra: Bibliothek der Provinz, 2015.

Michael Schophaus: Schnee: Eine Liebeserklärung an den Winter. Aarau und München: AT Verlag, 2019.     

Hering satt: „Die Flunder und der Harung“, „Hering und Makrele“ und andere Heringslieder

Anonym

Die Flunder und der Harung

In einen Harung jung und schlank*,
zwo, drei, vier, sit tata, tirallala,
der auf dem Meeresgrunde schwamm,
zwo, drei, vier, sit tata, tirallala,
verliebte sich, o Wunder, ´ne olle Flunder,
verliebte sich, o Wunder, ´ne olle Flunder.
* oder: stramm

Der Harung sprach: "Du bist verrückt,
zwo, drei, vier, sit tata, tirallala,
du bist mir viel zu plattgedrückt.
zwo, drei, vier, sit tata, tirallala,
rutsch mir den Buckel ´runter, du olle Flunder!
Rutsch mir den Buckel ´runter, du olle Flunder!"

Da stieß die Flunder auf den Grund,
zwo, drei, vier, sit tata, tirallala,
wo sie ´nen goldnen Rubel fund,
zwo, drei, vier, sit tata, tirallala,
ein Goldstück von zehn Rubel, o welch ein Jubel
ein Goldstück von zehn Rubel, o welch ein Jubel!

Da war die olle Schrulle reich,
zwo, drei, vier, sit tata, tirallala,
da nahm der Harung sie sogleich,
zwo, drei, vier, sit tata, tirallala,
denn so ein alter Harung, der hat Erfahrung,
denn so ein alter Harung, der hat Erfahrung.

Und die Moral von der Geschicht?
zwo, drei, vier, sit tata, tirallala,
verlieb dich in 'nen Harung nicht;
zwo, drei, vier, sit tata, tirallala,
denn so ein alter Harung, der hat Erfahrung,
denn so ein alter Harung, der hat Erfahrung.

In den 67 im Alojado Lieder Archiv von mir gefundenen deutschen Tierliedern wird am häufigsten der Hering besungen (7 mal, an zweiter Stelle steht mit 5 Liedern der Kuckuck). Die beiden bekanntesten und ein aus 1847 stammendes Gedicht werden vorgestellt. Auf weitere „Heringslieder“ soll weiter unten kurz eingegangen werden.

Das am meisten verbreitete Lied In einen Harung jung und schlank wird zum ersten Mal 1856 in Chants populaires des Flamands de France (Gent) erwähnt. Die Melodie geht auf eine traditionelle Volksweise zurück; der Textdichter ist unbekannt (vgl. www.volksliederarchiv.de). Der Name Hering kommt ursprünglich aus dem Lateinischen clupea harengus und ist über das Altdeutsche und das plattdeutsche Harung zum hochdeutschen Hering geworden.

Dass, wie der Liedforscher Theo Mang (Der Liederquell, 2015, S. 595) in Erwägung zieht, das Gedicht Eine traurige Geschichte aus dem Jahr 1847 von Johann Victor von Scheffel, (1826-1886, Alt-Heidelberg, du feine, Als die Römer frech geworden u.v.a.) als Vorbild gedient hat, ist m. E. unwahrscheinlich.

Zwar gibt es eine Parallele: Beide Texte handeln von einer Love Story: einmal liebt ein Hering eine Auster (vgl. Eine traurige Geschichte), ein andermal verliebt sich eine Flunder in einen Hering (s. Liedtext oben). Vermutlich aber ist das Scheffelsche Gedicht in Flandern nicht bekannt genug gewesen, um als Anregung für das Lied mit dem Harung und der Flunder zu dienen. Zumal in der „traurigen Geschichte“ (nomen est omen) die Auster dem Hering, als er ihr einen Kuss rauben wollte, den Kopf abbeißt. Dagegen wird im Lied von 1856 die zunächst abgewiesene Flunder, nachdem sie ein Goldstück im Wert von zehn Rubel gefunden hat, von dem Hering erhört. Es passiert das, was man im Volksmund eine Geldheirat nennt.

Nicht ganz nachzuvollziehen ist, dass der anfangs als jung bezeichnete Hering plötzlich als alt und erfahren dargestellt wird, ebenso wenig wie die Warnung, sich nicht in einen alten Hering zu verlieben, weil der Erfahrung hat.

Die Warnung wird jedoch verständlich, kennt man eine alternative fünfte Strophe (vgl. ingeb.org), die allerdings in den meisten Liederbüchern nicht zu finden ist:

Er biss die alte Flunder tot,
verspeiste sie zum Abendbrot,
versoff dann die 10 Rubel,
o welch ein Jubel,
o welch ein Jubel.

Eine andere letzte Strophe weist der Musiker, Autor und Liedersammler Jochen Wiegandt in Singen Sie hamburgisch? – Vom Tüdelband bis zum Veermaster (Hamburg, 2013) aus:

Auch mit dem Hering ging‘s zu End‘,
er wurd‘ ins Fischernetz geschwemmt
und lag im Imbiss-Lädchen
in einem Brötchen,
in einem Brötchen!

Hering und Makrele

Wie es dem Liebespaar Hering und Makrele erging, erzählt uns der Hamburger „textende Taxifahrer“ Benno Strandt (1907–1995), Autor und Texter für Lieder, Gedichte und Geschichten in Plattdeutsch, Hochdeutsch und Missingsch. Berühmt wurde der Text durch den „Mann mit der Laute“, den Hamburger Volkssänger Richard Germer (1900–1993), der die Moritat vertonte und sie mit Hilfe zahlreicher Auftritte in der ganzen Bundesrepublik populär machte. 1963 erschien erstmalig eine Single mit Richard Germer; der Text dürfte Anfang der 1960er Jahre entstanden sein.

Benno Strandt

Hering und Makrele

Ein Hering und eine Makrele
Die waren ein Herz als auch Seele.
Er schwamm mit ihr durch die Kanäle,
auf dass der Makrele nicht fehle.

Sie kamen ins off'ne Gewässer,
da wurde der Hering schon kesser.
Er sprach: „Sei mein Weib, das wär besser."
Sie sprach: „Ach, du süßer Epresser".

So wurde die Ehe geschlossen.
Sie haben das Leben genossen
Er küsste ihr ganz unverdrossen
die Kiemen, das Maul und die Flossen.

So flitterten sie in den Wogen.
Und als ein paar Wochen verflogen
da wurd‘ ihr so seltsam im Rogen
Sie hat keine Miene verzogen.

Was nützt es, dass ich es verhehle?
Sie wurde nun bald Mamakrele.
Doch er sprach: “Eh ich mich drum quäle, 
erlaubt mir, dass ich mich empfehle“.

Sie senkte gekränkt ihre Lider 
und blickte empört auf ihn nieder.
„Ihr Mannsleut‘ seid herzlose Brüder! 
Im Fischgericht sehn wir uns wieder“.

Der Schuft wird geschnappt in den Fjorden. 
Dort fängt man den Hering in Horden.
Makrelchen ist irgendwo im Norden.
schön goldgelb geräuchert worden.

Ein Wiedersehn gabs, wenn‘s auch spat war. 
Im Fischgeschäft, das delikat war,
erkannt‘ sie ihn, weil sie auf Draht war,
obwohl er schon Heringssalat war.

Hering und Makrele sind beides Schwarmfische, die in der Laichzeit im späten Frühjahr zusammen in Gruppen Jagd auf die Brut anderer Fischarten machen. Ansonsten ist der Hering eine wichtige Nahrungsgrundlage nicht nur für Wale, Robbe, Thunfische, Seelachse, sondern auch für die Makrele. Es ist also die dichterische Freiheit, zu behaupten, dass Hering und Makrele ein Herz und eine Seele waren.

Herrscht hier zunächst zwischen Hering und Makrele eitel Sonnenschein, so wird es nach all dem Küssen und Kosen ernst: die Makrele wird schwanger. Doch kaum ist sie „Mamakrele“ geworden, scheut der Hering die Verantwortung als Vater und verlässt sie. Empört beschimpft die Makrele „alle Mannsleut‘“ als „herzlose Brüder“ und stößt die unheilvolle Prophezeiung aus. „Im Fischgericht sehn wir uns wieder!“

Und tatsächlich werden der Hering in den Fjorden und die Makrele „irgendwo im Norden“ gefangen. Und nachdem die Makrele geräuchert in einem Fischgeschäft zum Verkauf angeboten wird, erkennt sie neben sich in der Auslage den Hering, verarbeitet zu Heringssalat.

So nimmt auch hier, wie in der Scheffelschen „schaurigen Geschichte“, die Liebesgeschichte ein trauriges Ende (s. unten youtube Link).

Intermezzo

Zu den anfangs erwähnten sieben „Heringsliedern“ gehören außer den drei bereits erwähnten,

– das relativ unbekannte Der Hering ist ein salzig Tier (1870) von  Heinrich Seidel, gesungen nach der Melodie Ich bin der Doktor Eisenbart und im Internet fälschlicherweise häufig Helge Schneider zugeschrieben

– der nur regional bekannte Waldheim-Boogie von 1950, in dem es um einen Hering und einen Rollmops geht

– das von einem Heringsweibchen und einem Walfisch handelnde Lied Armer Jonas (1963) von Franz Josef Degenhardt:

– das Couplet Der Hering von Georg Kreisler (1966):

Die Ballade von der Pellkartoffel und dem Hering (1967) gesungen von den Jacob Sisters:

Verbreitung/Rezeption

Wie oben erwähnt ist das Lied vom Harung und der Flunder eines der bekanntesten Scherzlieder. Dazu beigetragen haben vor allem das Allgemeine Deutsche Kommersbuch, das seit 1858 seine 167. Auflage im Jahr 2021 erreichte und damit das im deutschen Sprachraum das am häufigsten aufgelegte Liederbuch ist und außerdem die Mundorgel mit laut Christiane Müller vom Vertrieb des Verlags 15 Millionen verkauften Exemplaren.

Während im Liederarchiv www.deutscheslied.com/ weitere 38 Liederbücher unser Lied aufweisen, ist das Lied vom Hering und der Makrele nur in 2 Ausgaben vertreten. Auch bei Youtube übersteigt die Zahl der Treffer für Die Flunder und der Harung die für Hering und Makrele bei weitem.

Bleibt noch nachzutragen: Wenn ein Lied besonders populär ist, wird es häufig umgedichtet, meistens in Form einer Parodie. In unserem Fall ist aus Harung und Flunder ein politisches Lied geworden. 1981 dichteten der Sänger und Songschreiber Manfred Jaspers und Dieter Dombrowski

12 Strophen mit dem Titel Ein Lied zur Elbverschmutzung. (Quelle: Historisch-politische Lieder aus acht Jahrhunderten, Werner Hinze (Hg. Landeszentrale für politische Bildung Schleswig-Holstein, neue Ausgabe 2009). Die erste Strophe lautet:

In einen Harung jung und krank,
zwo, drei vier links ist Blei und rechts ist Blei
der auf den Grund der Elbe sank
zwo drei, vier und Cadmium ist auch dabei
verliebte sich, o Wunder, ´ne olle Flunder,
verliebte sich, o Wunder, ´ne olle Flunder.

Nachtrag: Hering in Gefahr

Der Hering, der in fast allen Weltmeeren und in der Nord- und Ostsee vorkommt, gehört wegen der Klimaerhitzung und der zunehmenden Verschmutzung sowie „dem fischereilichen Druck“ zu den gefährdeten Fischsorten (Deutsche Stiftung Meeresschutz).

Obwohl sich die Anlandungen von Hering in Deutschland aufgrund der Beschränkungen der Fischerei von 17.000 t in 2018 auf 9.250 t in 2019 fast halbiert, hatten, nahm 2020 der Hering einen Marktanteil von 10,9 % ein und stand auf Platz 4 der am meisten verzehrten Speisefische in Deutschland.

Wegen der gestiegenen Gefährdung, speziell in der Ostsee, sollte der Hering durch die gemeinsame Wahl vom Bundesamt für Naturschutz (BfN), vom Deutschen Angelfischerverband (DAFV) und dem Verband Deutscher Sporttaucher (VDST) zum Fisch des Jahres 2021 erhöhte Aufmerksamkeit und Anerkennung erhalten. Aufgrund der Corona-Pandemie im Jahr 2021 war es jedoch nicht möglich, Beschränkungen und Auflagen durchzusetzen. Daher wurde der atlantische Hering (Clupea harengus) auch zum Fisch des Jahres 2022 gewählt.

Georg Nagel, Hamburg

„De Hamborger Veermaster“ – Skandal im Hafenbecken

Anonym

De Hamborger Veermaster

Ick heff mol en Hamborger Veermaster sehn
To my hoodah, to my hoodah!
De Masten so scheev as den Schipper sien Been
To my hoodah! hoodah, hoodah ho!

Blow, boys, blow for Californio 
there is plenty of gold,
so I am told,
on the banks of Sacramento.

Dat Deck weer vun Isen, vull Schiet und vull Schmeer.
"Rein Schipp" weer den Käpten sein größtet Pläseer.

Dat Logis weer vull Wanzen, de Kombüs weer vull Dreck,
De Beschüten, de leupen von sülven all weg.

Dat Soltfleesch weer gröön, un de Speck weer vull Moden,
Kööm gev dat blots an Wiehnachtsobend.

Un wulln wi mol seiln, ich segg dat ja nur,
Denn lööp he dree vörut und veer wedder retur.

As dat Schipp, so weer ok de Kaptain,
De Lüd for dat Schipp weern ok blots schanghait


[Übersetzung für „Landratten“: 

Ich habe mal einen Hamburger Viermaster gesehen. Die Masten waren so krumm wie die Beine des Schiffers (des Schiffsführers, des Kapitäns).

Das Deck war aus Eisen, voller Dreck und voller Schmiere. „Rein Schiff“ (anzuordnen) war des Käpitäns größtes Pläsier.

Das Logis (die Kajüte mit den Kojen, den Schlafplätzen) war voller Wanzen, die Kombüse (die Küche, die Kochstelle) voller Dreck. Der Schiffszwieback (Beschüten abgeleitet aus dem frz. biscuit), der lief von selber weg (gemeint ist: voller Tiere).

Das Salzfleisch war (schimmlig-) grün und der Speck voller Maden. Und Kümmelschnaps gab es bloß am Weihnachtsabend.

Und wollten wir mal segeln (gemeint ist: kreuzen), ich sag‘ das ja nur, dann lief er drei (Faden = nautisches Längenmaß, rd. 1,8 m) voraus und vier wieder retour.

Und wie das Schiff, so war auch der Kapitän. Die Leute fürs Schiff waren auch bloß schanghait. (heimtückisch auf das Schiff gebracht).] 

Hintergrund und Inhalt

Der Hamborger Veermaster ist ein Shanty, ein Arbeitslied, wie es auf Segelschiffen gesungen wurde. Die Melodie basiert auf einem Minstrel Song, einem Lied aus den sogenannten Minstrel Shows, einer Frühform amerikanischen Theaterwesens, die etwa ab 1830 in den Südstaaten der USA entstanden ist. Die Textzeilen „to my hoodah, hoodah, ho“ und der Refrain „Blow, boys, blow, for Californio …“ stammen aus dem Shanty Banks of Sacramento. Dessen Anfangszeile „It was in the year eighteen hundred (and) forty nine“ deutet auf das Entstehungsjahr hin. Ende des 19. Jahrhunderts taucht das Lied in Schleswig- Holstein auf; vom wem der plattdeutsche Text stammt, ist nicht bekannt.

Gesungen wurde dieses Shanty während des Ankerlichtens. Wenn zur Ausfahrt oder zur Heimreise der Anker eingeholt werden sollte, musste das Gangspill (Ankerwinde, englisch: capstan) gedreht werden, eine senkrecht stehende Trommel, mit herausnehmbaren Speichen, den Spaken. Auf den Befehl „Man the capstan!“ eilten die Matrosen zu den bereitgestellten Spaken, steckten die Stäbe hinein und begannen ihren Rundgang um die Trommel, auf die die Ankertrosse aufgewickelt wurde (vgl. Jürgen Dahl, Shanties, 1979, S. 65). Ähnlich auch in dem berühmten Gangspill-Shanty Rolling Home „Call all hands to man the capstan, see the cable run down clear“.

Das Singen des Shanties hatte zwei Effekte: zum einen half er den Seeleuten die schwere körperliche Arbeit ein wenig zu erleichtern und die Eintönigkeit der Arbeit zu vergessen, zum anderen war es notwendig, den Arbeitsablauf zu rhythmisieren, damit alle im gleichen Schritt gingen und zugleich die Spaken bewegten. Ein Vorsänger sang „Ich heff mal en Hamborger Veermaster sehn“ und die anderen antworteten im Chor „To my hoodah, to my hoodah! usw.

Während der Sacramento-Shanty sich auf die Zeit des Goldrausches von Kalifornien um 1849 bezieht, als amerikanische Clipper von der Ostküste Goldsucher um das Kap Horn nach San Francisco (Bay of Sacramento) brachten, wurde der Hamborger Veermaster Ende des 19. Jahrhunderts auf den sogenannten Salpeterfahrten deutscher Segelschiffe gesungen. Die Schiffe brachten Kohle und Stahl nach Chile und hatten auf der Rückfahrt Salpeter und Guano (Vogeldünger) an Bord.

Das plattdeutsche Lied mag in der ersten Strophe im Vergleich der Masten mit den Beinen des Kapitäns übertreiben, der folgende Text beschreibt jedoch der Wirklichkeit entsprechend die häufig erschreckenden Zustände an Bord vieler Schiffe. Auf diesen Windjammern, häufig „Seelenverkäufer“ genannt, heuerte kein anständiger Seemann an. Daher wurden die einfachen Seeleute – wie es in der letzten Strophe heißt – „schanghait“, indem Obdachlose und Kneipengänger betrunken gemacht und an Bord geschleppt wurden. Da das Interesse der Schiffseigner und Reedereien hautsächlich auf die Gewinne aus den Frachtfahrten gerichtet war, kümmerten sie sich nicht um die Zustände an Bord. An der Ausstattung der Schiffe und der Verpflegung der Mannschaften wurde besonders gespart. Dementsprechend sah es an Bord aus, und es herrschten Mangelkrankheiten wie Skorbut und Typhus (in Einzelfällen auch die Pest, vgl. Wir lagen vor Madagaskar (alle Strophen im Volksliederarchiv). Auch auf den ersten Frachtdampfern änderten sich die Zustände nicht. Shanties wurden auch weiterhin bei „Foftein“ (fünfzehn, kurze Pause) oder nach Feierabend gesungen.

Rezeption

In ganz Norddeutschland ist das Lied Ick heff mol en Hamborger Veermaster sehn bekannt. Wie beliebt es ist, lässt sich auch an der vielfachen Verwendung des Veermasters ablesen. So gibt es in Cuxhaven ein Hotel mit dem Namen Hamborger Veermaster, Ferienwohnungen auf den Inseln Baltrum und Langeoog und mehrere Restaurants die den gleichen Namen tragen (so auch ein Speiselokal auf der Reeperbahn in Hamburg), in Karlshagen auf der Insel Usedom und im Ostseebad Schönberger Strand. Auch ein Laden in Hamburg, der Buddelschiffe (kleine Schiffsmodelle in einer Flasche) verkauft und ein Tonstudio werben mit dem Begriff Veermaster. Und nicht nur Touristen kaufen gern den Virginia Tabak Hamborger Veermaster.

Obwohl das Lied aus der Mitte des 18. Jahrhunderts stammt, ist es weiten Kreisen in Deutschland erst mit seiner Veröffentlichung 1934 im Liederbuch Der Kilometerstein (9. Auflage 1939) bekannt geworden. Zahlreiche Liederbücher übernahmen das Lied, so Der Knurrhahn – Seemannslieder und Shanties (1935/36), das HJ-Liederbuch Der Hitler hat gerufen und das Liederbuch der Kriegsmarine (1940). Vorher ist es etwa bis zum Niedergang der Frachtsegler auf See vereinzelt auch von Shantychören an Land gesungen worden.

Nach dem Zweiten Weltkrieg blieb der Veermaster weiterhin beliebt, vor allem durch seine Aufnahme 1952 in Die Mundorgel (Auflage bis heute über 11 Millionen). In der Folgezeit nahmen außer allgemeinen Gebrauchsliederbüchern fast alle Jugendorganisationen, von den Pfadfindern über die Turnerjugend bis zur Waldjugend, den Veermaster in ihre Liedersammlungen auf. Eingang fand es auch in Soldatenliederbücher wie in der DDR Soldaten singen der Nationalen Volksarmee oder in das Liederbuch der Bundeswehr.

Wie gern das Lied angehört wird, kann man den rund 200 Schallplatten und CDs entnehmen, die im Katalog des Deutschen Musikarchivs aufgeführt sind. Vorwiegend wird das Lied von Männerchören, speziell von Shantychören gesungen. Von den bekannten Solisten sollen hier nur Lale Andersen, Freddy Quinn, Heino, Hannes Wader und Achim Reichel erwähnt werden.

Georg Nagel, Hamburg

„Bunt sind schon die Wälder“ von Johann Gaudenz von Salis-Seewis – Deutschlands beliebtestes Herbstlied

Johann Gaudenz von Salis-Seewis

Bunt sind schon die Wälder

1. Bunt sind schon die Wälder
gelb die Stoppelfelder
und der Herbst beginnt
Rote Blätter fallen
graue Nebel wallen
kühler weht der Wind.

2. Wie die volle Traube
an dem Rebenlaube
purpurfarbig strahlt
Am Geländer reifen
Pfirsiche mit Streifen
rot und weiß bemalt.

3. Dort im grünen Baume
hängt die blaue Pflaume
am gebognen Ast
gelbe Birnen winken
dass die Zweige sinken
unter ihrer Last.

4. Welch ein Apfelregen
rauscht vom Baum! es legen
in ihr Körbchen sie
Mädchen, leicht geschürzet
und ihr Röckchen kürzet
sich bis an das Knie.

5. Winzer, füllt die Fässer
Eimer, krumme Messer
Butten sind bereit
Lohn für Müh und Plage
sind die frohen Tage
in der Lesezeit.

6. Unsre Mädchen singen
und die Träger springen
alles ist so froh
Bunte Bänder schweben
zwischen hohen Reben
auf dem Hut von Stroh.

7. Geige tönt und Flöte
bei der Abendröte
und bei Mondenglanz
schöne Winzerinnen
winken und beginnen
deutschen Ringeltanz*.

* heute meistens „frohen Erntetanz“

Der Text wurde 1782 vom Schweizer Dichter Johann Gaudenz von Salis-Seewis verfasst. Mit ursprünglich sieben Versen erschien er 1786 zum ersten Mal im Vossischen Musen-Almanach. Heute sind hauptsächlich die Strophen 1, 2, 6 und 7 bekannt.

In der von Friedrich Matthisson 1793 herausgegebenen Fassung findet sich noch eine weitere Strophe, welche zwischen der 3. und 4. Strophe eigentlich vorgesehen war, die allerdings in der Mehrheit der mir zugänglichen Liederbücher nicht mehr vertreten ist.

Sieh! wie hier die Dirne*
Emsig Pflaum’ und Birne
In ihr Körbchen legt;
Dort, mit leichten Schritten,
Jene, goldne Quitten
In den Landhof trägt

* Bedeutung zur Zeit der Entstehung: Mädchen.

Eine rühmliche Ausnahme bildet das über 750 Lieder umfassende Werk von Theo und Sunhilt Mang: Der Liederquell – Volkslieder aus Vergangenheit und Gegenwart, Ursprünge und Singweisen (2015, S. 83 f.).

Freiherr von Salis-Seewis wurde 1762 auf dem Stammschloss seiner Familie im Kanton Graubünden geboren. In Weimar machte er die Bekanntschaft von Goethe, Herder, Schiller und Wieland. Bis zur Flucht 1789 des französischen Königs Ludwig XVI. anlässlich des Fortschreitens der Französischen Revolution war von Salis-Seewis Offizier in dessen Schweizergarde. Später bekleidete er etliche Staatsämter in der Schweiz. Er starb 1834 auf dem Familiensitz.

Die heute noch geläufige Melodie der bunten Wälder aus dem Jahr 1799 stammt vom deutschen Komponisten Johann Friedrich Reichardt, eine andere aus dem Jahr 1816 von Franz Schubert, der eine ganze Anzahl von Gedichten des Freiherrn vertont hat.

Reichardt wurde 1752 in Königsberg geboren. Er war preußischer Hofkapellmeister und später Theaterdirektor. In Weimar war er gut bekannt mit Goethe, Schiller und Herder. Reichardt unternahm viele Kunstreisen innerhalb Europas. 1814 starb er in Giebichenstein bei Halle. Einen Namen machte er sich vor allem durch die Vertonung vieler Gedichte von Goethe.

Unser Lied beschreibt anschaulich, wie sich die Erscheinungen der Natur im Herbst wandeln. Die grünen Blätter nehmen verschiedene Farben an, sie werden braun, gelb und rot in mannigfaltigen Schattierungen. Der Buntheit der Wälder entsprechen abgeerntete Felder mit ihrem von der Sonne gegilbten Stroh. Stellvertretend für viele Blätter werden hier die roten Blätter (in anderen Versionen „bunten Blätter“) genannt, die zu Boden fallen. Und da es nicht mehr so warm wie im Sommer ist, wallen graue Nebel und weht der Wind kühler.

Und im Herbst sind auch die Weintrauben reif. Exemplarisch für alle Traubenarten schwärmt der Dichter hier offensichtlich von den Rotweinsorten, die (in der Sonne) purpurfarbig strahlen. Am Geländer (Spalierobst) reifen die Pfirsiche, die dem Dichter – romantisierend ausgedrückt, aber nicht der Realität entsprechend – vorkommen, wie mit roten und weißen Streifen bemalt.

Dass das Lied aus der Zeit der Romantik stammt, ist auch daran zu erkennen, dass hier nicht die häufig schwere Erntearbeit oder die nicht minder schweißtreibende Weinlese beschrieben werden. Die Träger, die die schweren Weinkiepen geschleppt haben, sind froh, wenn die Arbeit vorbei ist. Und es ist nicht nur Feierabend, sondern die Ernte ist eingebracht und das Erntefest kann beginnen. Da springen die Träger und die Mädchen singen. Alles jubelt und die Mädchen (und jungen Frauen) haben ihre Hüte, die sie bei der Arbeit vor der sengenden Sonne schützen, mit bunten Bändern geschmückt.

Mit Einbruch der Dunkelheit spielt die Musik auf: Man kann sich vorstellen, dass Geige und Flöte hier für ein ganzes Ensemble stehen, das flotte Melodien spielt. Die jungen Winzerinnen winken den jungen Männern zu, und es beginnt der frohe Erntetanz. Das Fest ist so stimmungsvoll, dass bis tief in die Nacht bei Mondenschein gefeiert wird.

Heutzutage würde der Herbst anders beschrieben werden. Vorzeitig haben viele Bäume Blätter abgeworfen, da es ihnen an Wasser mangelt. Der Herbstanfang ist nicht warm, sondern heiß, die Pfirsiche werden halbreif gepflückt, bevor sie in der Sonne vertrocknen oder verfaulen. Die Winzer beklagen sich über die Schwerstarbeit bei der sengenden Hitze und versuchen die Traubenlese vorzuziehen. Landwirte kommen mit der Ernte nicht nach, so dass Feldfrüchte verderben. Auf den Getreidefeldern werden die Halme vorzeitig zu Stroh.

Als 2008 das christliche Magazin chrismon (Beilage der Wochenzeitung Die Zeit) ihre Leser und Leserinnen um die Nennung des deutschen Liedes gebeten, das sie am liebsten singen oder hören, erreichte nach Der Mond ist aufgegangen (Rang 1) und Die Gedanken sind frei (Rang 2, Interpretation hier) unser Herbstlied den fünften Rang.

Im September 2011 hatten der MDR Figaro (Mitteldeutscher Rundfunk) und das MDR-Fernsehen von 250.000 Volksliedern 20 Lieder ausgewählt und seine Hörer und Zuschauer nach dem schönsten Volkslied befragt. Die Auswertung der Anrufe und Zuschriften ergab, dass Bunt sind schon die Wälder die achte Stelle der Rangfolge erreicht hatte. Wahrscheinlich wäre im Herbst 2022 unser Lied nicht einmal in eine Auswahl von100 Volksliedern aufgenommen worden.

Doch nach wie vor ist dieses Herbstlied in vielen Schulliederbüchern zu finden. In der Mundorgel, dem deutschen Liederbuch mit der höchsten Auflage von 11 Millionen, habe ich es jedoch vermisst.

Dagegen weist Youtube 30 Videos aus, darunter mit den Interpreten Hannes Wader und Rolf Zuckowski (und Freunde) und in der Vertonung von Franz Schubert gesungen von Dietrich Fischer-Dieskau. Und die Anzahl der im Internet angebotenen CDs mit dem 240 Jahre alten Lied Bunt sind schon die Wälder beträgt auch heute noch über 70.

Georg Nagel, Hamburg

The Times Are A-Changing. Zu Hubert von Goiserns „Heast as nit“ (1992)

Erlauben Sie mir einen persönlichen Einstieg zu dieser Analyse. Es ist meine erste in vielen Jahren. Wo Dylans Song The Times They are A-Changing (1964) von den Zeiten, die sich ändern, von einer Kulturenwende träumt, kann man sagen, von einem Anders-Sein und Anders-Tun, von einer Art messianischer Volksparade, die von Blumenkindern inspiriert ins Prä-Woke-Zeitalter taumelt, da spricht Hubert von Goiserns Heast as nit von einer Zeitenwende existentieller, universaler Dimension. Wo sich die Zeiten ändern, altmodisch formuliert ‘a-changing‘ sind, da ist was los. Wo man aufgefordert wird, das Vergehen der Zeit zu hören, sitzt die schmerzliche Nostalgie, vielleicht die Unaufhörlichkeit des Vergangen-Werdens: die Unwiederbringlichkeit des Dahin-Seins.

Bob Dylan

The times they are a-changin'

Come gather 'round people
Wherever you roam
And admit that the waters
Around you have grown
And accept it that soon
You'll be drenched to the bone
If your time to you is worth savin'
And you better start swimmin'
Or you'll sink like a stone
For the times they are a-changin'

[...]

[Kommt, versammelt euch Leute, /wo auch immer ihr herumstreunt, / und gesteht’s euch doch ein, dass die Wasser / angestiegen sind um euch her, /und nehmt es einfach an, / dass ihr bald nass bis auf die Knochen sein werdet, / wenn eure Zeit für euch des Aufsparens wert ist/ Und lernt mal besser schwimmen, / oder ihr werdet sinken wie ein Stein, Denn: Die Zeiten ändern sich] [frei übersetzt durch den Verf.]

     [Bob Dylan: The Times They Are A-Changin'. Columbia 1964.]

In Dylans Strophe gibt es amerikanische Aktivität und Aufbruchstimmung: Schwimmenlernen, Zusammenkommen, auch gibt es eine persönliche Wahlfreiheit – lernt schwimmen oder sinkt.

Hubert von Goisern & Die Alpinkatzen

Heast as nit

Heast as nit
Wia die Zeit vergeht
Huidiei jodleiri Huidiridi

Gestern no'
Ham d'Leut ganz anders g'redt
Huidiei jodleiridldüeiouri

Die Jungen san alt wordn
Und die Altn san g'storbn
Duliei, Jodleiridldudieiouri

     [Hubert von Goisern & Die Alpinkatzen: Heast as nit. Ariola 1992.]

Von Goisern hingegen verliert wenige Worte. Ganz unaufgeregt schildert die Sprechinstanz die Sachlage: Gestern noch haben die Leute anders geredet. Das Gestern wird zur Generationenfrage. Und die Generationenfrage zum Kreislauf des Lebens in unanfechtbarer Kettung: „Die Jungen san alt wordn / Und die Altn san g’storbn“. Das Adjektiv wird zum Substantiv und beschreibt nicht mehr nur eine Altersstufe, sondern eine Gruppenexistenz. Schwimmen braucht keiner zu versuchen, höchstens vielleicht Jodeln in die transzendentalen Berglandschaften des ewigen Lebens hinein.

Natürlich kann man literaturwissenschaftlich keck argumentieren, das Lied stelle eine Frage, die es selbst beantworte: Hörst du nicht, wie die Zeit vergeht? Doch, klar. Du hörst, was man paradoxerweise gar nicht wirklich hören kann. Hier ist ein Lied darüber. Aber diese Pointe griffe zu kurz. Wenn man sinnlich erfahrbar das Vergehen der Existenz hervorruft, dann wird da ein Gefühl ganz deutlich auf den Punkt gebracht: Das Gefühl, das im Moment vielleicht viele teilen – nach mehr als zwei Jahren Corona. Plötzlich ist da Zeit vergangen, und man hat es erst gar nicht gemerkt, gar nicht gehört, aber nun spürt man die historische Distanz, das Zerfallen ins Früher, damals, vor der Mauer, als die Butter noch günstig war, als es Frieden gab in Europa, und heute, hinter der Mauer, wo alles schlechter ist, so fühlt man, wo die Bahnen nicht fahren, noch weniger als sonst, die Flüge nicht fliegen, die Oma vom Ende der Straße hinter dem Mundschutz sitzt und gar nicht weiß, ob sie soll, ob sie darf, mit Leuten sprechen, sozial sein, im Sozialen noch leben kann. Selbst jahrelanges geisteswissenschaftliches Studium ermöglicht es in diesem Radikalzerfall ins Gestern und Heute nur noch schwer, das Nicht-Binäre zu finden. War denn früher wirklich alles besser?, fragt der weise Philologe. Nein, freilich, es fuhren früher auch schon kaum Züge. Ist denn heute wirklich alles schlecht?, fragt die Optimistin. Nein, so gesehen, könnte es uns schlechter gehen.

Aber darum geht es nicht im Lied und im Gefühl, im Nachhören, wie die Zeit vergeht. Es geht nicht um ein besseres Früher und ein schlechteres Heute, es geht um das plötzliche Spüren, dass etwas zu Ende geht, vergeht, zu Ende gegangen ist, rheinländisch gesprochen am zu-Ende-gehen ist. Der Trost steckt im: Es war schon immer so, in der Kettung ‚Junge sind alt geworden, Alte sind gestorben.‘ Und wie geht es dann weiter? Es fängt wieder mit den Jungen an? Goisern spendet Seelsorge mit dem Immer-so-des-Lebens.

Roger Willemsen (inzwischen auch schon tot, früher nicht) hat in seinem Buch Der Knacks (2009) das Gefühl ‚Hörst du nicht, wie die Zeit vergehet‘ theoretisch gefasst. Bei ihm ist es das diffuse Erfahren des Futurums II, einmal wird etwas abgeschlossen sein. Noch bevor man es weiß, überhaupt merkt, noch bevor man die Zeit vergehen hört, ist man sich schon bewusst, dass es eine Zeit geben wird, gegeben haben wird, in der sie vergangen sein wird. Der Knacks, in Willemsens Metapher, ist das Gefühl, das Spüren des allmählichen Ablösens der Illusion (Überzeitlichkeit, Unsterblichkeit?) von der Wirklichkeit (Altern, Verlust – oder auch Gewinn?). Es ist das Bewusstsein des Verlierens, das er beschreibt. Und vielleicht war es in unserer post-post-modernen Welt, die sich für Dekaden in Sicherheit fühlte, noch nie so bewusst, dass etwas verloren gegangen – im verloren gehen ist.

Die Butter, sagt man, ist ja noch nicht ganz so teuer, der Krieg, denkt man, ist ja noch nicht ganz so da. Aber es wird vielleicht eine Zeit geben, in der das Futurum II zugeschlagen haben wird, bereits Vergangenheit ist. Und dann hören wir vielleicht Goisern, und denken, nun habe ich es doch wieder überhört, gestern waren die Zeiten andere. Heute, meint man, ist gestern noch fast Wirklichkeit, noch keine Metapher. Morgen, ahnt man, ist allerdings auch das schon passé.

Was bleibt, scheinbar unverändert? Na, hören Sie’s nicht?

Florian Seubert, London