Seemannsgarn. Zu Achim Reichels „Aloha heja he“

Achim Reichel

Aloha heja he 

Hab die ganze Welt gesehn'
von Singapur bis Aberdeen,
wenn du mich fragst, wo's am schönsten war,
sag ich: Sansibar
Es war 'ne harte Überfahrt,
zehn Wochen nur das Deck geschrubbt.
Hab' die Welt verflucht, in den Wind gespuckt
und salziges Wasser geschluckt.

Als wir den Anker warfen, war's himmlische Ruh'
und die Sonne stand senkrecht am Himmel.
Als ich über die Reling sah, da glaubte ich zu träumen:
Da waren tausend Boote und die hielten auf uns zu
In den Booten waren Männer und Frau'n,
ihre Leiber glänzten in der Sonne
und sie sangen ein Lied,
das kam mir seltsam bekannt vor,
aber so hatt' ich's noch nie gehört,
uuh, so hatt' ich's noch nie gehört:

Aloha heja he aloha heja he aloha heja he
Aloha heja he aloha heja he aloha heja he

Ihre Boote machten längsseits fest
und mit dem Wind wehte Gelächter herüber.
Sie nahmen ihre Blumenkränze ab
und warfen sie zu uns herüber,
he und schon war die Party im Gange.

Aloha heja he aloha heja he aloha heja he
Aloha heja he aloha heja he aloha heja he

Ich hab das Paradies geseh'n,
es war um 1910,
der Steuermann hatte Matrosen am Mast,
und den Zahlenmeister ham' die Gonokokken vernascht,
aber sonst war'n wir bei bester Gesundheit.

Aloha heja he aloha heja he aloha heja he
Aloha heja he aloha heja he aloha heja he

     [Achim Reichel: Aloha heja he. WEA 1991.]
 

Seit 2007 werden auf Youtube Videos mit Titeln wie „Reactions to Two girls one cup“ hochgeladen, die die Menschen bei der Erstrezeption eines Trailers des Koprohpahie-Pornos Hungry Bitches zeigen (vgl. Wikipedia; erstes Video mit 14 Millionen Aufrufen hier, ein beispielhafter Zusammenschnitt hier). Das aufgrund der Notwendigkeit von Webcams und Videoplattformen noch recht junge „Reaction“-Genre könnte man erfolgversprechend erweitern um „Intersectional feminists reacting to Aloha heja he“ – die Reaktionen wären kaum weniger fassungslos als bei „Two girls one cup“. Denn ideologiekritisch betrachtet ist das, was in diesem Lied erzählt wird, ein rassistisch-sexistisch-exotistischer Alptraum.

Achim Reichel, als The Rattles-Sänger und später Vorreiter sowohl der elektronischen Musik (mit A.R. & Machines) als auch der neuen Volksmusik einer der interessantesten Musiker und Produzenten seiner Generation, nimmt hier eine der traditionsreichsten mann-männlichsten Sprechrollen ein: die des Seemanns, der alle sieben Weltmeere befahren hat. In der ersten Strophe belässt er es bei den gängigen Topoi vom rauhen Leben an Bord, bei dem das Deckschrubben (ähnlich wie das Waffenreinigen bei der Armee) u.a. dazu diente, die meist rein männliche Besatzung zu beschäftigen und so Langeweile mit Suff und Konflikten zu vermeiden; das Schlucken salzigen Wassers deutet hingehen auf Phasen mit rauher See oder Stürmen hin.

Im Kontrast zu den Härten des Alltags auf See steht in der zweiten Strophe die Idylle Sansibars mit nun nicht mehr feindlicher Natur und mit freundlichen Einheimischen – ein Szenario, das im Sprecher Assoziationan an den (religiösen) Himmel („himmlische Ruh'“) und einen Traum aufkommen lässt. So weit, so unspektakulär. Die erste Irritation kommt auf, wenn das Glänzen der „Leiber“ in der Sonne hervorgehoben wird – selbst wenn man vom objektivierenden Blick, der in „Leiber“ zum Ausdruck kommt, absieht: Denn das Bild (halb-)nackter Eingeborener passt so gar nicht zum muslimisch geprägten Sansibar (vgl. zur traditionellen Kleidung hier). Und wenn dann das Lied der Einheimischen mit der hawaiianischen Grußformel „Aloha“ beginnt, ist endgültig klar, dass dem Sprecher Eingeborene gleich Eingeborene sind, egal wie groß die georgaphische, ethnische und kulturelle Distanz ist. Und so ist es auch nur konsequent, wenn in der nächsten Strophe die ebenfalls mit Hawaii assoziierten Blumenkränze auftauchen (entsprechend kostümierte Tänzerinnen begleiteten auch einen Auftritt Reichels im ZDF). Die folgende „Party“ beinhaltet natürlich auch sexuelle Ausschweifungen, was durch die Erwähnung der Gonokokkeninfektion sowie der „Matrosen am Mast“ als ’seemännischer‘ Euphemismus für Filzläuse in der Schlussstrophe noch verdeutlicht wird. Hier kommt die gängige exotistische Projektion zum Tragen, dass außerhalb Europas und Nordamerikas Sexualität freier gelebt werde (eine Annahme, der etwa auch auch die Kulturanthropologin Margaret Mead aufsaß, vgl. dazu Peter Sandmeyer: Samoa: Die Illusion von der Südsee-Idylle).

Ansonsten bietet die Schlusstrophe noch eine Datierung: Die Fahrt fand 1910, in der Spätphase der Hochseesegelschiffahrt, statt. Damit wirkt das entworfene Szenario noch unrealistischer: Denn Sansibar war seit dem 10. Jahrhundert arabisch geprägt, und seit Anfang des 16. Jahrhunderts nacheinander von Portugiesen, Arabern, Deutschen und Briten beherrscht, weshalb die Ankunft eines Schiffs mit Europäern Alltag und keineswegs ein soziales Großereignis gewesen sein dürfte.

Wie nun umgehen mit diesen Beobachtungen? Falsch wäre es sicherlich, in einem interpretatorischen Kurzschluss Achim Reichel zum Rassisten und Sexisten zu erklären. Denn ebenso, wie anlässlich den rechten Aggressionen anlässlich des Umweltsau-Lieds des WDR (vgl. Interpretation hier), die in Morddrohungen und Einschüchterungen gegen Beteiligte und Unbeteiligte mündeten, ist auch bei Aloha heja he daran festzuhalten, dass es sich bei Songtexten grundsätzlich um Rollenrede handelt. In diesem Fall ist die Sprecherrolle sogar sehr konkret ausgestaltet: Es erzählt ein (mutmaßlich alter) Seemann von seinen früheren nautischen und erotischen Abenteuern. Angesprochen wird ein nicht näher bestimmtes Du – ob es tatsächlich gefragt hat, wo es dem Weitgereiste am besten gefallen habe, oder ob dieser selbst dem Du die Frage nur in den Mund legt und gleich selbst beantwortet, bleibt offen, denn man hört ja nur den Seemann. Als Redesituation denkbar wäre ein Szenario, in dem dieser, z.B. ganz klassisch an der Bar, einen Fremden, der zufällig neben ihm sitzt, oder den Barkeeper als captured audience schlicht vollschwallt.

Hier wird auch der (frühere) Beruf des Erzählers bedeutsam: Denn Seeleuten wird traditionell unterstellt, bei den Schilderungen ihrer Erlebnisse durchaus kreativ mit der Wahrheit umzugehen (man denke an Käpt’n Blaubär), was sogar in einem eigenen Genrebegriff für derartige, meist mündlich vorgetragene Abenteuergeschichten mit nur losem Realitätsbezug seinen Niederschlag gefunden hat: Seemannsgarn. Dazu passt auch die Hyperbel, dass angeblich tausend Boote auf das Schiff zusteuerten. Rezipiert man den Text dergestalt als in sich widersprüchliche Geschichte eines unzuverlässigen Erzählers, so kann man die wilde Mischung von Klischees und die prahlerisch zur Schau gestellte Mann-Männlichkeit durchaus amüsiert goutieren – und das ist für die eigene Psychohygiene allemal gesünder, als sich darüber zu erregen.

 
Martin Rehfeldt, Bamberg
 
PS: Auf Schützen- und Dorffesten hat sich eine kollektive Ruderperformance zu diesem Lied als Brauch etabliert, auf Youtube vielfach dokumentiert, exemplarisch etwa hier:

Eine Seefahrt war gar nicht immer lustig. Zu „Eine Seefahrt, die ist lustig“

Anonym 

Eine Seefahrt, die ist lustig

1. Eine Seefahrt die ist lustig
Eine Seefahrt, die ist schön
Denn da kann man fremde Länder
Und noch manches andre sehn.

[Refrain:]
Hol-la-hi, hol-la-ho
Hol-la-hi-a hi-a hi-a, hol-la-ho.

2. Unser Kapitän, der Dicke,
Kaum drei Käse ist er groß,
auf der Brücke eine Schnauze,
Wie’ne Ankerklüse groß.

3. In der Rechten einen Whiskey,
In der Linken einen Köm,
Und die spiegelblanke Glatze,
Das ist unser Kapitän.

4. In der einen Hand die Kanne,
In der andern Hand den Twist,
Und dazu die große Schnauze,
Fertig ist der Maschinist.

5. Und der erste Maschinist,
Ist Chinese, und kein Christ,
und der erste Offizier,
Der trägt Wäsche aus Papier.

6. Und man hat sich dann gewaschen
Und man denkt, nun bist du rein;
Kommt so’n Bootsmannsmaat der Wache:
"Wasch dich noch einmal du Schwein!"

7. In des Bunkers tiefsten Gründen,
Zwischen Kohlen ganz versteckt,
Pennt der allerfaulste Stoker,
Bis der Obermaat ihn weckt.

8. "Komm mal rauf, mein Herzensjunge,
Komm mal rauf, du altes Schwein,
Nicht mal Kohlen kannst du trimmen
Und ein Heizer willst du sein?"

9. Und er haut ihm vor'n Dassel,
Daß er in die Kohlen fällt
Und die heilgen zwölf Apostel
Für 'ne Räuberbande hält.

10. Und im Heizraum bei einer Hitze
Von fast über fünfzig Grad
Muß der Stoker feste schwitzen
Und im Luftschacht sitzt der Maat.

11. Und der Koch in der Kombüse,
Diese vollgefressene Sau,
Mit de Beene ins Gemüse,
Mit de Arme im Kakau.

12. Und der Koch in der Kombüse,
Diese zentnerschwere Sau,
Kocht uns alle Tage Pampe,
Uschi, Uschi mit Wauwau.

13. Mit der Fleischbank schwer beladen
Schwankt der Seemann über Deck;
Doch das Fleisch ist voller Maden,
Läuft ihm schon von selber weg.

14. Und die silberweißen Möwen,
Die erfüllen ihren Zweck
Und sie scheißen, scheißen, scheißen
Auf das frischgewaschne Deck.

15. In der Heimat angekommen,
Fängt ein neues Leben an,
Eine Frau wird sich genommen,
Kinder bringt der Weihnachtsmann.

Die Melodie stammt von einem alten Seemannslied, entstanden vermutlich um die Jahrhundertwende 1900, das auch die Grundlage für den Text bildet. Auf Grund der eingängigen Melodie fügten Seeleute und andere Texter, die am Lied Gefallen gefunden hatten, immer wieder neue Strophen hinzu. Die meisten Liederbücher enthalten eine Fassung mit vier Strophen (s. www.lieder-archiv.de); hier sollen die 14-strophige Version und zusätzlich eine Ergänzungsstrophe dargestellt werden.

Interpretation

Die Eingangsstrophe zeigt, dass eine derartige Seefahrt nicht für jeden Reisenden angenehm ist. Der erste Vers beginnt mit denselben Worten wie die 4-strophige Fassung, aber dann heißt es ganz realistisch, wie der Verfasser es einige Male auf Fahrten nach Helgoland erlebt hat:

1. Eine Seefahrt , die ist lustig,
eine Seefahrt , die ist schön,
ja, da kann man manche Leute
an der Reling spucken seh’n.

Hol-la-hi, hol-la-ho
Hol-la-hi-a hi-a hi-a, hol-la-ho.

[Der Refrain wird bei den nächsten Strophen weggelassen.]

In den folgenden Strophen werden die Mitglieder der Schiffsbesatzung beschrieben, und zwar aus Sicht der Crew.

Zunächst der Käpitän:

2. Unser Kapitän, der Dicke,
Kaum drei Käse ist er groß,
auf der Brücke eine Schnauze,
Wie ’ne Ankerklüse groß.

Dass auf der Brücke der Käpitän, so klein er körperlich auch sein mag, das Sagen hat, ist selbstverständlich. Hier wird der Käpt’n scherzhaft beschrieben, mit einer ‚Schnauze so groß „wie ’ne Ankerklüse“‘ (Eine Klüse ist eine verstärkte Öffnung in der Bordwand , durch die die Ankerkette, Leinen und Trossen durchgeführt werden). Auch die dritte Strophe beschreibt den Käpt’n ganz anders als in der 4-strophigen Version: Von Rum ist keine Rede, aber von Whiskey und Köm (Kümmelschnaps):

3. In der Rechten einen Whiskey,
In der Linken einen Köm,
Und die spiegelblanke Glatze,
Das ist unser Kapitän.

Nicht ganz der Hierarchie an Bord entsprechend werden hier dem Maschinisten gleich zwei Strophen gewidmet. Immer beschäftigt, hat er in der einen Hand die Ölkanne, in der anderen einen Putzlumpen zum Aufsaugen und Eindämmen von Leckagen bei Maschinen, den „Twist“.

4. In der einen Hand die Kanne,
In der andern Hand den Twist,
Und dazu die große Schnauze,
Fertig ist der Maschinist.

In der nächsten Strophe ist der Maschinist ein Chinese, der es sogar zum ersten Verantwortlichen für die Bedienung und Wartung des Schiffsmotors gebracht hat. So wie noch heute für viele sog. niedrige Arbeiten an Bord Thais oder Malaien angeheuert werden, waren es zur Zeit der Dampfschifffahrt häufig Chinesen (vgl. auch den Bau der Pacific-Eisenbahn in den USA mit den Erd- und Gleisarbeitern). Immerhin wird auch noch kurz der erste Offizier erwähnt, dem man spaßeshalber andichtet, dass er Unterwäsche aus Papier trägt.

5. Und der erste Maschinist,
Ist Chinese, und kein Christ,
und der erste Offizier,
Der trägt Wäsche aus Papier.

Auf den Schiffen wurde großer Wert auf Reinlichkeit gelegt, verständlich wenn man bedenkt, wie eng es in der häufig im Innern des Schiffes (was bedeutet ohne Luk zur frischen Luft) gelegenen Mannschaftskabine war und wie leicht die Männer bei ihrer schweren Arbeit ins Schwitzen kamen. So ist dann in der nächsten Strophe auch die Rede von einem Seemann, der vom Bootsmannsmaat (vergleichbar mit einem Unteroffizier des Heeres oder der Luftwaffe) rau angefahren wird:

6. Und man hat sich dann gewaschen
Und man denkt, nun bist du rein;
Kommt so’n Bootsmannsmaat der Wache:
„Wasch dich noch einmal du Schwein!“

Eine der körperlich am anstrengendsten und unangenehmsten Arbeiten war zur Zeit der Dampfschifffahrt das Heizen des Kessels, mit dessen Dampf die Motoren angetrieben wurden. Daher verwundert es nicht, dass der der „Stoker“, ein Gehilfe des Heizers, gleich mit vier Strophen besungen wird. Herumsitzen, Herumstehen, geschweige denn Schlafen außerhalb der Schlafenszeit war an Bord streng verpönt. Und obwohl sich der Stoker schon zwischen den Kohlen versteckt hat, hat ihn doch der Obermaat (Bootsmannanwärter) entdeckt:

7. In des Bunkers tiefsten Gründen,
Zwischen Kohlen ganz versteckt,
Pennt der allerfaulste Stoker,
Bis der Obermaat ihn weckt.

Und schon holt der Heizer sich einen Rüffel, indem er zunächst ironisch als „Herzensjunge“, dann aber drastisch als „Schwein“ tituliert wird. Zusätzlich wird ihm der Vorwurf gemacht, dass er nicht mal die Kohlen trimmen kann. Das Trimmen der Kohle war wichtig für die Sicherheit des Schiffes. Trimmen bedeutete, von den Kohlehaufen die Kohle so abzuschaufeln, dass weder lawinenartig große Kohlenmengen von der Spitze herabrutschen konnten noch durch ein Verrutschen der Kohleladung insgesamt es zu einer Schieflage des Schiffes kommen durfte.

8. „Komm mal rauf, mein Herzensjunge,
Komm mal rauf, du altes Schwein,
Nicht mal Kohlen kannst du trimmen
Und ein Heizer willst du sein?“

Einen vor den Dassel kriegen, heißt laut Duden eigentlich einen schweren Schicksalsschlag erleiden. Hier bedeutet es, einen Hieb auf den  Kopf kriegen.

9. Und er haut ihm vor’n Dassel,
Daß er in die Kohlen fällt
Und die heilgen zwölf Apostel
Für ’ne Räuberbande hält.

Die 10. Strophe erkennt an, welch schwierige, schweißtreibende Arbeit so ein Heizer zu verrichten hatte. Und von dem bisschen Luft, das normalerweise durch den Luftschacht in den Heizraum kommt, ist er auch noch abgeschnitten, weil im Luftschacht (wahrscheinlich aus Schikane) der Maat sitzt.

10. Und im Heizraum bei einer Hitze
Von fast über fünfzig Grad
Muß der Stoker feste schwitzen
Und im Luftschacht sitzt der Maat.

Ein grundsätzliches Problem an Bord war angesichts der wochenlangen Fahrten nach Übersee die Verpflegung. Zum Vitaminmangel, der in früheren Zeiten zum Skorbut führte, kam noch, dass häufig die Verpflegung knapp wurde. Manche Köche versuchten, dann mit Mehlspeisen und oder „Wassersuppe“ der Crew wenigstens etwas Warmes zu bieten, aber man kann sich vorstellen, dass die Unzufriedenheit, je länger die Fahrt dauerte, zunahm, zumal Koch und Offiziere fast immer die wohlschmeckenden Mahlzeiten erhielten. Und so macht sich die Mannschaft Luft und nennt den Koch eine „vollgefressene Sau“ (weil man die strengen Sanktionen kannte, wurden die Offiziere nicht angegangen) und dichtet noch Einiges an, auch, dass er Uschi, den Bordhund, zur Essenszubereitung verwendet hat.

11. Und der Koch in der Kombüse,
Diese vollgefressene Sau,
Mit de Beene ins Gemüse,
Mit de Arme im Kakau.

12. Und der Koch in der Kombüse,
Diese zentnerschwere Sau,
Kocht uns alle Tage Pampe,
Uschi, Uschi mit Wauwau.

Aber nicht immer wurde das Fleisch erst während der langen Reise schlecht. Manchmal war es bereits „voller Maden“, bevor es an Bord kam. Auch an der Verpflegung wurde gespart.

13. Mit der Fleischbank schwer beladen
Schwankt der Seemann über Deck;
Doch das Fleisch ist voller Maden,
Läuft ihm schon von selber weg.

Die 14. und 15. Strophe passen m. E. nicht zur Beschreibung von Kapitän und Mannschaft. Warum die Möwen ihren Zweck erfüllen, wenn sie auf das frischgewaschenen Deck „scheissen“, erschließt sich mir nicht.

14. Und die silberweißen Möwen,
Die erfüllen ihren Zweck
Und sie scheissen, scheissen, scheissen
Auf das frischgewaschne Deck.

Und in der 15. Strophe hat sich eine Landratte in Person eines Schlagertexters in die Sehnsucht eines jungen Seebären eingefühlt, der ohne eine Braut zu haben jahrelang zur See gefahren ist. Auf diese Weise hat er dem doch manchmal recht harschen Text einen versöhnlichen Abschluss gegeben.

15. In der Heimat angekommen,
Fängt ein neues Leben an,
Eine Frau wird sich genommen,
Kinder bringt der Weihnachtsmann.

Rezeption

Obwohl das Lied eifrig gesungen wurde und von Seeleuten und anderen Verfassern immer neue Texte hinzugefügt wurden, erschien es erst 1934 in dem Liederbuch Der Kilometerstein – Klotzlieder mit neun Strophen; die 5. Auflage 1937 enthielt dann t 14 Strophen, die in hoher Auflage erschienene Feldpostausgabe wies ebenfalls 14 Strophen auf.

Bereits 1934/35 sang die jugendliche Isa Vermehren, begleitet von ihrem Schifferklavier (Akkordeon) Seemannslieder in dem von Werner Finck geleiteten Berliner Kabarett „Die Katakombe“. Ihren größten Erfolg hatte sie mit ihrer parodistischen Version von Eine Seefahrt, die ist lustig, indem sie indirekt Nazi-Größen karikierte. Ihren Vers

Unser Erster auf der Brücke
ist ein Kerl Dreikäsehoch,
aber eine Schnauze hat er,
wie ’ne Ankerklüse hoch

verstand das Publikum als Anspielung auf den Reichspropagandaminister Joseph Goebbels. 1935 wurde „Die Katakombe“ auf Betreiben von Goebbels von der Geheimen Staatspolizei geschlossen. Finck kam in ein Konzentrationslager, wurde aber auf Veranlassung von Göring, der damit Goebbels treffen wollte, nach kurzer Zeit wieder entlassen. Die von Telefunken verlegte Schallplatte Eine Seefahrt, die ist lustig mit Isa Vermehren wurde ein Kassenschlager. Vermehren wurde Schauspielerin und später Nonne. Auf Grund der Beliebtheit des Liedes diente Eine Seefahrt, die ist lustig auch als Titel eines 1955 produzierten Films mit Ida Wüst und Fritz Henckels. Mit dem Inhalt der Strophen hat der Film nichts zu tun; den Produzenten ging es wohl nur um einen zugkräftigen Titel.

Eine andere antifaschistische Parodie würde 1941 von der Hamburger Swing-Jugend gesunden (Quelle: Historische Lieder aus acht Jahrhunderten, Landeszentrale für politische Bildung, Hamburg, 1989):

Eine Seefahrt, die ist lustig
Eine Seefahrt, die ist schön
Und fährst du mit KDF1
Kannst du die Nazis kotzen sehn.

Und der Kaptain an der Reling
Sieht ein Boot und denkt: So’n Mist
Muß ich nun etwa Sieg Heil schrein
Weil der Butt ein Heilbutt ist?

Und der Koch in der Kombüse
Diese dicke fette Sau
Zieht den Göring2 durchs Gemüse
Und den Ley3 durch den Kakao.

Und der Moses hoch im Mastkorb
Pfeift den allerletzten Hot
Und dann schwingt er seinen Lümmel
Und er schifft auf die HJ.

Und wenn dann die „Wilhelm Gustloff“4
Durch die Nordseewellen stampft
wird an Bord so viel gelogen
Daß die braune Kacke dampft.

Eine Seefahrt, die ist lustig
Eine Seefahrt, die ist nett
Und wer heut dies Lied gesungen
Der sitzt morgen im KZ.

Doch die braune Mörderbande
Einmal wird sie untergehn
Und dann singen die Matrosen
Nun ist Seefahrt wirklich schön.

1. Kraft durch Freude, (KdF), war die NS-Gemeinschaft für Freizeitgestaltung, größter Reiseveranstalter, vorwoegend Land ausflüge und Seereisen

2. Hermann Göring war Oberbefehlshaber der deutschen Luftwaffe

3. Robert Ley war Leiter der Deutschen Arbeitsfront (DAF)

4. eines der vier KdF-eignen Schiffe

Bei den Naziorganisationen war das Schifferlied nicht besonders populär. Von der fränkischen und württembergischen Hitlerjugend abgesehen erschien Eine Seefahrt in keinem Nazi-Liederbuch. Auch von Nicht-Nazi-Verlagen wurde es nur selten verlegt.

In Österreich dagegen wurde die 1944 herausgegebene Liedersammlung Lach’n oder rer’n recht bekannt (rer’n von rean = weinen).

Nach dem Zweiten Weltkrieg dauerte es bis 1949, bis als Taschenbuch Die Drehorgel – Ein Liederbuch für fröhliche Kreise herauskam; danach brachten kleinere und größere Verlage Liedersammlungen mit dem Lied heraus. Von denen mit höheren Auflagen sollen hier nur das Taschenbuch des Franz Schneider Verlags Spaß- und Quatschlieder (1981) und Deutscher Liederschatz“ (1988) des Weltbild Verlags erwähnt werden.

Bemerkenswert ist die Anzahl der Partituren für Männer- (vorwiegend Shantychöre) und Kinderchöre, für Klavier und speziell für Akkordeon, wie sie Online-Archive und vor allem das Deutsche Musikarchiv Leipzig (DMA) ausweisen. Mit knapp 50 Tonträgern steht Eine Seefahrt, die ist lustig von den im DMA-Katalog aufgeführten Scherzliedern nach Auf der schwäbschen Eisebahne und Mein Hut, der hat drei Ecken in seiner Beliebtheit auf dem dritten Rang.

Georg Nagel, Hamburg

„Wir lachen der Feinde und aller Gefahren“. Zu „Wir lieben die Stürme“

Anonym

Wir lieben die Stürme

1)Wir lieben die Stürme, die brausenden Wogen,
der eiskalten Winde rauhes Gesicht.
Wir sind schon der Meere so viele gezogen,
und dennoch sank uns're Fahne nicht.
Heijo, heijo, heijo, heijo, heijoho, heijo, heijoho, heijo!

2) Unser Schiff gleitet stolz durch die schäumenden Wogen,
jetzt strafft der Wind uns're Segel mit Macht.
Seht ihr hoch droben die Fahne sich wenden,
die blutrote Fahne, ihr Seeleut‘, habt Acht.

3) Wir treiben die Beute mit fliegenden Segeln,
wir jagen sei weit auf das endlose Meer.
Wir stürzen auf Deck, und wir kämpfen wie Löwen,
hei, unser der Sieg, viel Feinde, viel Ehr!

4) Ja, wir sind Piraten und fahren zu Meere,
wir fürchten nicht Tod und den Teufel dazu,
wir lachen der Feinde und aller Gefahren,
am Grunde des Meeres erst finden wir Ruh.

Entstehung

Entstanden ist das Lied in Kreisen der Pfadfinder; der Verfasser ist unbekannt. Die Melodie stammt gemäß dem Germanisten, Erzähl- und Liedforscher Heinz Rölleke (geb. 1936) aus der Jugendbewegung (vgl. Das große Buch der Volkslieder, 1993, S. 370). Wie zuvor Fritz Sotke (1902 – 1970), der als Herausgeber von Unser Lied fälschlicherweise als Verfasser des Liedes Wilde Gesellen vom Sturmwind durchweht angesehen wird (vgl. Interpretation), wird in manchen Liederbüchern der Musikpädagoge und Lehrer Wilhelm Volk (1909-1994) für den Urheber des Liedes gehalten. Wilhelm Volk hat das Lied in Lieder des Bundes (hg. vom Bund Deutscher Pfadfinder) zusammen mit anderen Liedern erstmals 1933 veröffentlicht.

Wir lieben die Stürme gehört zu der Reihe der jugendbewegten Sturmlieder wie auch Wenn die bunten Fahnen wehen (vgl. Interpretation), wie in der zweiten Strophe deutlich wird: „Blasen die Stürme, / brausen die Wellen, / singen wir mit dem Sturm unser Lied“). Auch Wir wollen zu Land ausfahrender mit dem Vers „Woll’n lauschen, woher der Sturmwind braust“ in der ersten Strophe (vgl. Interpretation) oder das bereits erwähnte Wilde Gesellen vom Sturmwind durchweht gehören dazu.

Interpretation

Die Freude der bündischen Jugendlichen, sich den Elementen, hier dem Sturm, den ‚eiskalten Winden‘ und dem Meer (dem Wasser), auszusetzen und ihnen zu widerstehen, wird deutlich. In ihrer Fantasie sind die unbekannten Verfasser in ihrem Segelschiff über viele Meere gefahren, sie sind stolz darauf, trotz ‚brausender Wogen‘ und Stürme nicht gekentert zu sein, poetisch benannt: „und dennoch sank uns’re Fahne nicht“. Und dem Sturm setzen sie, ähnlich wie in manchen Shanties einen im Chor gesungenen Refrain entgegen: „Heijo, heijo, heijo, heijo, heijoho, heijo, heijoho, heijo! (vgl. „to my hoodah, hoodah, ho“ aus: Ick heff mol een Hamburger Veermaster sehn).

In der zweiten Strophe wird klar: Hier handelt es sich nicht um ein Frachtschiff, geschweige denn um eine Yacht bei einem Segeltörn zum Vergnügen, sondern um ein Piratenschiff. Die Seeleute sind stolz darauf, wie ihr Schiff durch die „schäumenden Wogen“ gleitet und sie sind froh, eine steife Brise (seemännische Untertreibung für starken Wind) erwischt zu haben, die die Segel strafft und nicht wie in einer Flaute oder bei Schwachwind flattern lässt. Und in diesem Wohlgefühl warnen sie andere Seefahrer: Sie sollen den Hinweis auf ihre „blutrote Fahne erkennen und sich in Acht nehmen. Normalerweise ist eine Piratenflagge schwarz, meistens mit einem weißen Totenkopf. Wahrscheinlich haben hier die Verfasser aus dramaturgischen Gründen die Farbe Rot gewählt, die auf bevorstehende Kämpfe hinweist, bei denen Blut fließen wird.

Damit sich ein Frachter, von dem sie sich Beute versprechen, nicht in die Obhut eines Hafens flüchten kann, treiben unsere Piraten ihn „mit fliegenden Segeln / […] weit auf das endlose Meer“. Dort sind die Piraten sicher, dass dem von ihnen angegriffenen Schiff so schnell niemand zu Hilfe kommen kann. Nah genug gekommen, werden die Enterhaken geworfen, übergesetzt und dann auf dem fremden Deck „wie Löwen“ bis zum Sieg gekämpft, selbst wenn der Gegner zahlreich, unter Umständen sogar von der Anzahl her überlegen ist. Wie früher in der Schlacht bei Creazzo 1513, als der Landsknechtführer Georg von Frundsberg mit seinen perfekt gedrillten Landsknechten einen mehrfach zahlenmäßig überlegenen Gegner schlug, gilt dessen Devise auch hier: „Viel Feind, viel Ehr!“ (Offensichtlich hatten die bündischen Gymnasiasten im Geschichtsunterricht gut aufgepasst.)

Sie sind nun mal Piraten und fürchten weder ‚Tod noch Teufel‘. Sie machen sich selbst Mut, indem sie über den Feind und die drohende Gefahr lachen. Zugleich hoffen sie, dass sie noch lange leben werden, aber sie sind sich bewusst, dass auch sie der Tod ereilen kann und sie dann ‚auf dem Grund des Meeres Ruhe finden‘.

Rezeption

Nachdem – noch vor der Machtergreifung der Nationalsozialisten – der Deutsche Pfadfinderbund Wir lieben die Stürme veröffentlicht hatte, übernahmen die Nazis das Lied. Die mitreißende Melodie und der vitalisierende Text passten in ihre ‚Zeit des Aufbruchs‘. Mit der ‚blutroten Fahne‘ konnten sie sich identifizieren (vgl. Unsre Fahne flattert uns voran) und die Devise ‚Viel Feind, viel Ehr‘ wurde von den HJ-Führern schon den Pimpfen und Hitlerjungen nahegebracht.

Zwar war das Lied im ersten vom Reichsjugendführer Baldur von Schirach herausgegebenen Hitlerjungen-Liederbuch Blut und Ehre (1933) nicht enthalten, aber 1934 wurde es in das am meisten verbreitete Liederbuch der Hitlerjugend (bis 1940 2,5 Millionen Auflage) Uns geht die Sonne nicht unter… aufgenommen. Der Titel entstammt dem Refrain des Liedes Wilde Gesellen vom Sturmwind durchweht, das wie viele andere Lieder der Jugendbewegung, z.B. Aus grauer Städte Mauern (Interpretation),  Im Frühtau zu Berge (Interpretation), Wir sind jung, die Welt ist offen oder Wir wollen zu Land ausfahren (Interpretation), von der HJ und anderen NS-Organisationen übernommen wurde. Und da es sich auf dem zugrunde liegenden 4/4-Takt gut marschieren ließ, folgten ab 1939 mehrere Liederbücher für Soldaten mit dem Lied, z. B. Der Führer hat gerufen – Unser Kriegsliederbuch und Morgen marschieren wir.

Einige Jahre nach dem Zweiten Weltkrieg galt das Lied als NS-belastet, aber seitdem es 1952 als Seemannslied wiederentdeckt wurde (vgl. Knurrhahn – Seemannslieder und Shanties und Die Seemannslust, 1954), setzte geradezu ein Run auf Wir lieben die Stürme ein: Die Sportjugend, die Christliche Pfadfinderschaft, die Turner- wie auch die Waldjugend nahmen das Lied in ihre Liederbücher auf. Da wollte der Deutsche Fußballbund nicht abseits stehen, und auch die konfessionellen Kreise liebten die Stürme, sogar die sonst so in sich gekehrten Schülerbibelkreise. Die größte Verbreitung erfuhren die Stürme seit 1953 durch Die Mundorgel (Textauflage bis 2013: 11 Millionen) mit den vier bekannten Strophen. Dagegen enthielten die ab 1956 hinzu gekommenen Liederbücher der Bundeswehr, wie die Mehrheit der Liedersammlungen, nur die ersten drei Strophen, vermutlich weil in der vierten Strophe vom Tod und vom Sterben die Rede ist.

Nachdem Heino 1965 die erste seiner 15 Schallplatten und CDs (bis 2013) mit dem Lied eingesungen hatte, wuchs die Popularität weiter an. Es erschienen auflagestarke Taschenbücher der Verlage Heyne, Schneider, Moewig, Insel und Reclam; auch namhafte Liederforscher wie Ernst Klusen und Heinz Rölleke nahmen das Lied mit jeweils vier Strophen in ihre Liedersammlungen auf. Die Nachfolgeorganisationen der Wandervögel und der bündischen Jugend scheuten sich ebenfalls nicht, alle vier Strophen des Liedes zu veröffentlichen.

Das Lied ist bis heute beliebt und bekannt geblieben. Dazu beigetragen haben auch die Interpretationen von Freddy Quinn, Hermann Prey, Achim Reichel und von zahlreichen Chören z.B. von Shanty-, Marine- und Polizeichören bis zum Montanarachor und den Alsterspatzen. Noch 2013 erschien eine jazzige Version der Combo Jazz Hoch Drei. Und wie bei beliebten Liedern so üblich, gibt es auch eine parodistische Strophe, die in Schülerkreisen gern gesungen wurde:

Wir lieben die Schule, die brausenden Lehrer,
des eiskalten Rektors graues Gesicht.
Wir sind schon so oft von der Schule geflogen,
und dennoch wankt uns’re Frechheit nicht.

Eine verachtenswerte Umdichtung wurde auf einer Veranstaltung von Pegida Nürnberg vorgetragen (die erste Strophe ist mit dem Original identisch):

2) Wir kommen von Süden und woll’n in die Mitte
Europas, wo Frauen und Geldscheine blühn.
Wir haben Macheten und heilige Bücher,
damit bringen wir Europa zum glühn.

3) Wir gehen in die Boote und lassen uns treiben
vor Libyens Küste, da wartet das Glück,
da warten die Retter, die schützen die Grenzen,
doch niemanden schicken die Retter zurück.

4) Auf unseren Booten ist mancher nicht gläubig,
denn nicht eine Sure kommt aus seinem Mund.
Für Christen und Heiden, da endet die Reise
mit offener Kehle am Meeresgrund.

5) So mancher von uns hat noch viele Geschwister,
die warten nur auf unser Rettungssignal.
Dann werden sie kommen, dann werden wir stärker.
Was wird aus Europa? Das ist uns egal!

6) So hört unsre Botschaft, ihr Frauen und Männer,
wir bringen euch Reichtum besonderer Art.
Wir zeigen euch bald die Gesetze des Dschungels
und wie man im Dschungel mit Wonne sich paart.

7) Denn ihr seid die Knechte und wir sind die Herren
der neuen Bevölkerungsmischungskultur.
Ihr werdet uns weichen, wir werden euch scheuchen
und darauf, da schwören wir jeden Schwur.

Getextet und gesungen wurde das Lied von Ernst Cran, einem ehemaligen evangelischen Pfarrer. Cran, der auch manchmal im schwarz-rot-goldenen T-Shirt auftritt, hält bei Pegida-Veranstaltungen im süddeutschen Raum Reden, in denen er Flüchtlinge ähnlich wie im Lied diskriminiert. Einem Video des Bayerischen Rundfunks ist zu entnehmen, dass Angehörige eines Verstorbenen, vor denen er eine Trauerrede gehalten hatte, völlig fassungslos waren, als sie von seinen Reden bei Pegida-Veranstaltungen hörten. Darauf hingewiesen, zeigte er sich unbeeindruckt: „Da muss ich natürlich intellektuell in einem Rahmen bleiben, der verstehbar ist, und ich muss sprachlich in einer Weise reden“, die dem Anlass entspreche. Mit der Überzeugung als Theologe, als geistig denkender Mensch äußere ich mich auch zu politischen Gegebenheiten“. „Ich schäme mich nicht für das, was ich sage, in keinster Weise“. Wie Ernst Cran die Texte seiner Lieder und Reden mit seinem Selbstbild „als empfindsamer, fühlender, denkender, gottesrufender Mensch“, so seine Worte in einer Nachtcafé-Sendung des SWR, vereinbaren kann, bleibt ein Rätsel.

Georg Nagel, Hamburg

Definition eines Berufsbildes, Lebensberatung, nett verpackter Korb oder Trost für sitzengelassene Mädchen? Lolitas „Seemann (deine Heimat ist das Meer)“ (1960)

Lolita (Text: Fini Busch)

Seemann 

Seemann, laß das Träumen, 
denk nicht an zuhaus, 
Seemann, Wind und Wellen rufen 
dich hinaus. 
 
Deine Heimat ist das Meer, 
deine Freunde sind die Sterne, 
über Rio und Shanghai, 
über Mali und Hawaii. 
Deine Liebe ist dein Schiff, 
deine Sehnsucht ist die Ferne, 
und nur ihnen bist du treu, 
ein Leben lang. 
 
Seemann, laß das Träumen, 
denke nicht an mich, 
Seemann, denn die Fremde wartet 
schon auf dich. 
 
Deine Heimat ist das Meer [...]

     [Lolita: Seemann. Polydor 1960.]

Zu den Schlagern meiner Kindheit, an die ich mich noch ganz genau erinnern kann, zählt mit Sicherheit Lolitas Ratgeberlied für Männer in nautischen Berufen. Lolita war der Künstlername der Österreicherin Edith Einzinger (geb. Zuser, 1931-2010), die schon als ,Ditta Zusa‘ gut im Geschäft gewesen war, mit ihrem Seemann dann aber auch die internationalen Hitparaden stürmte. Mit Sicherheit zählt das von Fini Busch getextete und Werner Scharfenberger komponierte Lied zu jenen Schlagern, die „wir“ (d.h. die Generation der Zeitgenossen) nie vergessen; so wurde der Titel auch mit vollem Recht in der Moritzschen Anthologie berücksichtigt. Elmar Kraushaars Besprechung (Männerwelten, in: Schlager, die wir nie vergessen. Verständige Interpretationen. Hg. v. Max & Moritz. Leipzig: Reclam 1997, S. 107-110) zählt nicht zu den schlechtesten Beiträgen jenes Readers und trägt bereits einige Aspekte zur Wirkungsgeschichte zusammen.

Kraushaar platziert den Schlager im historischen Kontext einer mitteleuropäischen Nachkriegsgesellschaft, die einerseits von abwesenden, gefallenen, versehrt und traumatisiert zurückgekehrten Männern geprägt war, anderseits von Frauen, die an der Heimatfront vielfältige Ersatzfunktionen auszufüllen gehabt und dabei an ,Macht‘ und Einfluss gewonnen hatten. 1960 sei es gesellschaftspolitisch darum gegangen, „das beschädigte kollektive Selbstwertgefühl“ zu entlasten, die altüberlieferte Genderrolle des Mannes als Abenteurer und Eroberer zu restaurieren (vgl. ebd. S. 108  f.) und die Frau wieder in die klassische untergeordnete Stellung zurückzudrängen (vgl. ebd. S. 109 f.). Diese These soll hier nicht rundweg bestritten, aber doch durch andere Beobachtungen und Kontextualisierungen sowie einige Lesarten ,gegen den Strich‘ ergänzt werden.

Der Künstlername der Sängerin steht heute wahrscheinlich einer unvoreingenommenen Rezeption ihrer Auftritte und Songs im Wege: Im Jahre 1960 konnte „Lolita“ mit dem warmen Timbre ihrer Stimme allerdings weder lustige Assoziationen zu Fußballer-(Ex-)Frauen noch zu Nabokovs Romanfigur wecken, war der gleichnamige Roman doch gerade erst im Herbst 1959 in deutscher Sprache erschienen und auch noch nicht verfilmt (Stanley Kubrick 1962). Wenn „Lolita“ beim damaligen Schlagerpublikum irgendwelche Erinnerungen ausgelöst hat, dann vermutlich an Rosita Serrano (1914-1997), die in den 1930er und 40er Jahren als ,Chilenische Nachtigall‘ in Deutschland Erfolge feierte (Roter Mohn). In der miefigen Enge der deutschen (bzw. österreichischen) Nachkriegsgesellschaft boten Namen wie Rosita, Lolita, Dalida oder Melina (Mercouri) eskapistischen Träumen von exotischer Ferne Anknüpfungspunkte, und Liedtexte wie Seemann halfen dabei kräftig nach: Rio und Shanghai, Mali und Hawaii mochten bei den Zeitgenossen, deren Urlaubsziele eher an der Nordsee, in der Wachau oder im Bayerischen Wald als in Karibik, Fernost oder gar im Pazifik lagen, schon ein wenig verführerischer durchs Ohr gegeistert sein als Baltrum, Melk oder Zwiesel.

Ironischerweise hatte die Österreicherin ihre ersten Erfolge mit Schlagern der Heimatwelle eingefahren (vgl. Weißer Holunder). Mit dem Namenswechsel zu Lolita folgte sie nur einem Trend der Zeit und entwickelte sich darin bald zur Spezialistin für exotische Fernwelten (Der weiße Mond von Maratonga, Mexicano, Melodia Ba-Bahia, Manana Caballero, Stern der Tropennacht, Sterne der Prairie usw.), ohne freilich den Bezug zum Volkstümlichen völlig aufzugeben. Ab Mitte der 1960er Jahre setzte sie wieder verstärkt auf das Pferd „Heimatverbundenheit“ und startete in diesem Unterhaltungsgenre eine zweite bzw. (je nach Zählung) dritte erfolgreiche Karriere als Moderatorin einschlägiger Fernsehsendungen (Im Krug zum grünen Kranze, Lustige Musikanten). Insofern verwundert es nicht, wenn man von ihr – auf 1993 datiert – auch die Antithese zu ihrem Erfolgsschlager von 1960 findet: „Seemann, bleib zu Hause, / fahr nicht hinaus aufs Meer, / da draußen sind die Nächte kalt / und ich brauch dich so sehr, / Seemann, bleib zu Haus!“

Im späteren Schlager von 1993 verkörpert die Sängerin – logisch unproblematisch – die Geliebte des angesungenen Seemanns, die sich nach ihrem Mann sehnt, Angst um ihn hat und eine gewisse Eifersucht gegen dessen Schiff erkennen lässt, das sie als ,alten Kahn‘ tituliert. Dagegen ist die Haltung der Sprecherinstanz im wesentlich bekannteren Lied von 1960 für den durchschnittlichen Schlagerkonsumenten einigermaßen schwer durchschaubar, ja eigentlich unplausibel. Sie ist zwar eindeutig weiblich, aber schon wenn man entscheiden sollte, ob es die Stimme der Freundin des Seemanns ist oder die seiner Mutter, beginnen die Schwierigkeiten. Genregemäß hätten aber sowohl Geliebte (Ein Schiff wird kommen etc.) als auch Mutter (Junge, komm bald wieder) einem geliebten (?) Mann, der sich dem ungewissen Element anvertraut, von Rechts wegen einen anderen Text einzusagen, als dass er aufhören solle zu träumen und endlich einsehen müsse, dass das Meer seine Heimat und das Schiff seine Liebe ist. Das ist doch reichlich seltsam, oder? Wenn es eine männliche Sprecherinstanz wäre, könnte man vielleicht sagen, das Ganze sei der Ruf der ,archaischen Männerhorde‘, die den Kumpel aus seinen familiären Bindungen herauslösen und zur infantilen Regression anstiften wolle (etwa im Sinne von Brechts Ballade von den Seeräubern). Aber so?

Neben Kraushaars ideologiekritischer Deutung, die sich allerdings mehr auf die politischen Verhältnisse im Lande zu Zeiten Adenauers bezieht als auf die textinterne Sprechsituation im Schlager, scheinen mir noch folgende Interpretationen der Situation – zumindest theoretisch – denkbar:

a) Die Sprecherinstanz – also Lolita, die in dieser Deutungsvariante als Freundin bzw. Geliebte aufgefasst wird, – hat noch einen zweiten, attraktiveren Lover; sie gibt also ihrem Seemann auf nette Art den Laufpass, indem sie ihm nicht einfach sagt, dass sie was Solideres in der Hinterhand habe, sondern ihm suggeriert, dass er nicht für die Liebe im klassischen Sinne geschaffen sei, sondern im Grunde mehr auf Wasserfahrzeugen stehe.

b) Sie – Lolita, jetzt aber als Mutter gedacht, – will noch was vom Leben haben, nachdem sie Deutschland gerade als Trümmerfrau (vgl. Kraushaars Situationsbeschreibung!) wieder aufgebaut und ihr Blag durch die schlechte Zeit gebracht hat. Der Nesthocker soll jetzt das mütterliche Sofa räumen und hinaus in die weite Welt. So verständlich uns diese Sicht der Dinge aus heutiger Zeit vielleicht anmutet, so wenig plausibel erscheint sie doch für die psychologische Situation für Mütter nach dem großen Krieg.

c) Lolita hat sich an Hapag Lloyd oder ein sonstiges Unternehmen der christlichen Seefahrt verdingt, dem in Zeiten des legendären Wirtschaftswunders (1960!) der nötige Nachwuchs zur Steigerung des Bruttosozialprodukts abgeht. Sie stellt deshalb im Werbejingle bzw. Rekrutierungs-Schlager ihre Stimme bewusst auf einen Sound zwischen mütterlicher Autorität und Sirene (Odysseus, nicht Polizei!) ein. Der Text entwirft dann ganz konsequent das Bild eines ultraromantischen Matrosenlebens und lockt vermutlich Scharen unbedarfter Landratten zu Mindestlöhnen auf die Seelenverkäufer der Auftraggeber, zumal ihnen versprochen wird, dass ,die Fremde schon auf sie warte‘.

Bleibt noch Variante d): Lolita – nun als verlassene Seemannsbraut gedacht oder als Freundin einer solchen – tröstet sich oder besagte Freundin mit der Einsicht, dass man Männer mit Salzwasser im Blut und Möwengeschrei in den Genen ziehen lassen muss. Zweifel an der eigenen Attraktivität sind in solchen Fällen unangemessen, gegen die Natur ist nun einmal nichts zu machen…

Hans-Peter Ecker, Bamberg

„Seemanns Braut ist die See“ Zu Hans Albers‘ „La Paloma“ (1944) (Text: Helmut Käutner)

Hans Albers (Text: Helmut Käutner)

La Paloma

Ein Wind weht von Süd
Und zieht mich hinaus auf See,
Mein Kind, sei nicht traurig
Tut auch der Abschied weh.
Mein Herz geht an Bord,
Und fort muss die Reise gehen.
Dein Schmerz wird vergehn
Und schön wird das Wiedersehn.
Mich trägt die Sehnsucht fort
In die blaue Ferne.
Unter mir Meer
Und über mir Nacht und Sterne.
Vor mir die Welt,
So treibt mich der Wind des Lebens.
Wein nicht, mein Kind,
Die Tränen, die sind vergebens.

Auf Matrosen, ohé!
Einmal muss es vorbei sein
Nur Erinnerung an Stunden der Liebe
Bleibt noch an Land zurück.
Seemanns Braut ist die See
Und nur ihr kann er treu sein
Wenn der Sturmwind sein Lied singt,
Schon winkt mir
Der großen Freiheit Glück.

Wie blau ist das Meer,
Wie groß kann der Himmel sein.
Ich schau hoch vom Mastkorb
Weit in die Welt hinein.
Nach vorn geht mein Blick,
Zurück darf kein Seemann schauen,
Kap Horn liegt auf Lee,
Jetzt heißt es auf Gott vertrauen.

Seemann gib Acht,
Denn strahlt auch als Gruß des Friedens
Hell durch die Nacht
Das leuchtende Kreuz des Südens,
Schroff ist ein Riff
Und schnell geht ein Schiff zugrunde,
Früh oder spät schlägt
Jedem von uns die Stunde.

Auf Matrosen ohé!
Einmal muss es vorbei sein,
Einmal holt uns die See.
Und das Meer gibt keinen
Von uns zurück.
Seemanns Braut ist die See
Und nur ihr kann er treu sein,
Wenn der Sturmwind sein Lied singt,
Dann winkt mir
Der großen Freiheit Glück.

La Paloma adé
Auf Matrosen, ohé! Ohé!

Adé.

     [Hans Albers. La Paloma. Decca 1953.]

Hätte dem 1809 geborenen Spanier Sebastián Yradier (vgl. Guy Bourligueux: s.V. Iradier y Salaverri. In: Musik in Gegenwart und Geschichte, S.37267) jemand schon damals verraten, welche Reise seine Komposition La Paloma, zu deutsch Die Taube, im 19. und 20. Jahr­hundert nehmen würde, er hätte es wohl nicht für möglich gehalten. Von Mexiko aus eroberte sein Lied die ganze Welt und dies ist nicht im übertragenen Sinn gemeint. La Paloma wurde in unzählige Sprachen übersetzt; darunter sind neben spanisch, deutsch, französisch und englisch auch beispielsweise baskisch, afghanisch und swahili (vgl. wie auch zu den folgenden Informationen: Sigrid Faltinund/Andreas Schäfler: La Paloma. Das Lied. Hamburg: Marebuchverlag 2008.). Elvis Presley sang es wie auch Mireille Mathieu; für den deutschen Schlager sind Versionen von unter anderem Caterina Valente, Freddy Quinn und Hans Albers überliefert. In Deutschland setzte sich die 1880 entstandene Fassung von Heinrich Rupp durch, dessen Text sich um 1900 auf unzähligen Postkarten noch heute wiederfinden lässt. Er war es auch, der zum ersten Mal im Liedtext Matrosen auftauchen ließ. Der rupp’sche Text sollte bis 1944 die in Deutschland bekannteste Version der Paloma bleiben.

Selbst die Nationalsozialisten versuchten, das Lied für sich zu vereinnahmen, indem sie es in ihren Pool des germanischen Liedguts aufnahmen. Es wurde nicht wie andere ausländische Titel als verfemte Musik diffamiert. 1943 gaben sie sogar den Befehl, das Lied ins Zentrum eines Films über die deutsche Handelsmarine zu stellen. Man beauftragte Helmut Käutner mit der Regie und engagierte als singenden Matrosen Hans Albers, der sich als bekannter Star des Tonfilms und des Schlagers die Mitarbeit mit einer Gage von 460.000 RM vergolden ließ. Käutner drehte einen Film, der alles andere als im Sinn des Propagandaministeriums war. Die große Freiheit Nr. 7 strotzte so reichhaltig vor Friedens- und Freiheitssymbolik, dass der Film am 15.12.1944 zwar in Prag Premiere feiern durfte, im Deutschen Reich aber bis Kriegsende verboten blieb. Käutner schrieb auch die Songtexte seines Films selbst und somit auch den Text für La Paloma, die nach Kriegsende Hans Albers einen derart großen Erfolg bescherte, dass er bis zu seinem Tod im Juli 1960 auf das Image des raubeinigen Draufgängers mit einem Sinn für norddeutsche Seefahrerromantik festgelegt blieb.

Käutners La Paloma, von Albers gesungen, beginnt damit, dass das Sprecher-Ich ein Gefühl gleich einer äußeren Kraft beschreibt, die es in die Ferne auf das Meer zieht: „Ein Wind weht von Süd / Und zieht mich hinaus auf See.“ Darauf wird einer Person, die mit „Mein Kind“ benannt wird, davon abgeraten traurig zu sein. Es scheint sich um die Freundin zu handeln, die sich an dieser Stelle wohl zu recht fragt, wieso sie der Aufbruch ihres Seemanns nicht betrüben darf. Zumindest für den Mann wird die Antwort nachgeliefert. Er braucht nicht traurig zu sein, da er sein Herz nicht zurück an Land lässt, sondern es mit auf Reisen nimmt. Für sie ist das natürlich kein Trost – für den Matrosen schon. Es wird zwar ein freudiges Wiedersehen versprochen, aber letztlich kann das Sprecher-Ich es gar nicht erwarten, die Segel zu hissen. Die Sehnsucht nach der Freiheit und der Weite des Meeres wird in vier aufeinanderfolgenden Versen mit kraftvollen Bildern entworfen. „Mich trägt die Sehnsucht fort / In die blaue Ferne / Unter mir Meer / Und über mir Nacht und Sterne.“ Die personifizierte Sehnsucht trägt das Ich in die blaue Ferne. Spätestens seit der blauen Blume der Romantik darf die Farbe blau im Themengebiet Sehnsucht/Liebe/Ferne kaum fehlen. Hier wird sie kombiniert mit den unendlichen, unergründlichen Weiten des Meeres, des Himmels und der Nacht. Auffällig ist, dass das Ich von dieser Sehnsucht getragen wird, also passiv bleibt. Wie es vom Wind aufs Meer gezogen wird, so wird es von der Sehnsucht aufs Meer getragen. Widerstand ist zwecklos. Und so erscheint auch der Hinweis an das Mädchen, ihre Tränen seien vergebene Liebesmüh, aus der völligen Alternativlosigkeit der Seereise zu entstehen. Die Sehn-Sucht des Seemanns kann also durchaus wörtlich genommen werden; er, der Getriebene, muss gehen.

Im Folgenden ziehen die Matrosen aus auf große Fahrt: „Auf Matrosen, ohé!“ Die Verlockungen der Seefahrt werden ein paar Verse weiter unten noch deut­licher als in diesem kameradschaftlichen Ausruf: „Wenn der Sturmwind sein Lied singt, / Schon winkt mir / Der großen Freiheit Glück.“ Der ähnlich wie die Sehnsucht personifizierte Seewind führt zur Freiheit, die wiederum zum Glück führt. Man muss ergänzen, dass hier jemand sich in freudiger Erwartung von der Sehnsucht aufs Meer treiben lässt, anstatt nur getrieben zu werden. Die bisher unterschlagenen Zeilen 18-22 werden von dieser freudigen Erwartungshaltung auf die abenteuerliche Fahrt eingerahmt. Sie enthalten noch einmal Enttäuschendes für Braut des Seemanns an Land. Der Text macht unmissverständlich klar, dass es keine Braut an Land geben kann. Die einzige Geliebte, die Treue von einem Seefahrer erwarten kann, ist die See selbst.

Sehr rätselhaft erscheint dieser Vers: „Einmal muss es vorbei sein.“ Wer oder was mit es gemeint sein könnte, bleibt unklar, da der Satz nur schwach in den Kontext eingebunden ist. Vorangestellt ist der auffordernde Ruf an die Matrosen zum Aufbruch. Damit könnte es schlicht auf das Ende des Landganges deuten. Gefolgt wird der Vers von der Feststellung, dass nur Erinnerungen an die Liebe an Land zurück­bleiben. Außer die Erinnerungen an selige Stunden der Liebe zu einer Frau kann der Seemann anscheinend das meiste mitnehmen. Wenn man den Gegensatz zwischen der Liebe zur Frau und der Liebe zum Meer als roten Faden wählt, lassen sich die Verse wie folgt deuten: Man sollte freudig zu den Schiffen aufbrechen, auch wenn dadurch die Zeit der Liebe vorübergeht. Die Liebe zur Frau geht zwar verloren, aber dies erscheint unbedeutend im Vergleich zur Glückseligkeit versprechenden Freiheit auf See.

An diesem Punkt springt die Handlung auf ein Schiff. Man befindet sich nun auf dem Ozean. Das Ich ergötzt sich ein weiteres Mal an der freiheitlichen Szenerie. Dies wird ähnlich wie in der ersten Strophe illustriert: Blaues Meer, endloser Himmel, die Weite der Welt – hier ist der tüchtige Matrose in seinem Element. Die Sehnsucht bleibt dabei immer auf die Zukunft gerichtet. Der Seemann ist ein Mann der Zukunft und dezidiert nicht der Vergangenheit. Vor dem Bug des Schiffes lässt sich das Fernweh befriedigen; es lauern aber auch die Gefahren der Natur. Der Blick zurück würde die Konzentration auf das Kommende verringern und damit das Leben gefährden. Die Natur stiftet nicht nur Freiheit, sondern auch Gefahr. Nebenbei verhindert der verweigerte Blick zurück, dass der Seemann etwas von seiner absolut gesetzten Frei­heit durch soziale Bindungen an Frauen einbüßen muss. Die Gefahr ist allgegenwärtig, wenn dank der unberechenbaren Natur in der Gestalt der schwierigen Passage am Kap Horn nur noch das Vertrauen auf Gott bleibt. Der Seefahrer ist ein Getriebener, der Natur zwingend ausgeliefert. Doch diese ständige Lebensbedrohung wird durch ein starkes Vertrauen auf Gott ins Positive gewendet.

Dies ist jedoch kein Grund zur Sorglosigkeit, selbst wenn das christliche Symbol für Frieden und Erlösung, das Kreuz des Südens, vom Firmament leuchtet. Denn ein guter Matrose sollte sein Schicksal nicht herausfordern, da früher oder später jeden der Tot ereilt. Das Motiv des tödlichen Meeres wirkt nicht wie eine Kata­strophe, die es um jeden Preis zu verhindern gilt. Die Verse „Auf Matrosen, ohé! / Einmal muss alles vorbei sein“ werden hier nochmals aufgegriffen und in ihrem freudig-fatalistischen Tonfall mit dem Seemannstod verknüpft. „Einmal holt uns die See. / Und das Meer gibt keinen / von uns zurück.“ Der Tod wird zum Preis für die große Freiheit (v)erklärt. Denn „[d]er großen Freiheit Glück“ lockt noch immer und koste es auch das Leben.

Gegen Ende des Schlagers verabschiedet sich das Ich von seiner Paloma (Im Film Große Freiheit Nr. 7 nennt der von Albers gespielte Seemann seine Angebete gern Paloma.), der er keine Treue versprechen kann, denn – auch das wird noch einmal betont – „Seemanns Braut ist die See / Und nur ihr kann er treu sein“. Gleich darauf werden die Matrosen nochmals freudig zum Aufbruch angetrieben und ein letztes „Adé“ wird in Richtung Kaimauer gehaucht.

Die Paloma feiert das Matrosendasein und die mit ihm verbundene Freiheit. Es wird nicht verschwiegen, dass einerseits die Annehmlichkeiten der Liebe aufgegeben werden müssen und dass andererseits die große Freiheit auch den schnellen Tod mit sich bringen kann. Der Text betont jedoch, dass es die Freiheit und die Ferne wert seien, große Opfer zu bringen. Die Matrosen werden als Getriebene dargestellt, die keine Wahl haben. Sie sind ruhelos und müssen zwangsläufig zur See fahren. Dies lässt einen Hang zum Fatalismus erkennen, der sich durch den ganzen Text zieht. Der Matrose muss zur See – es geht nicht anders; dabei muss die Frau zurückbleiben – es muss nun einmal sein; die Gefahr auf hoher See lauert überall – jeder muss einmal sterben.

Es gab auch vor Käutners La Paloma-Version schon Matrosenlieder. In der Zeit un­mittelbar nach dem Zweiten Weltkrieg war jedoch keines so erfolgreich wie das von Albers intonierte. Wie die Capri-Fischer fand auch die Paloma eifrige Nachahmer. Das Motiv des zur See fahrenden Matrosen war in den 1950er Jahren sehr beliebt. Thomas Phleps beschreibt die Merkmale dieses Genres, die sich auch in der Paloma entdecken lassen:

Seemannslos ist, auf den Weltmeeren letztlich ziellos herumzuirren und an die Heimat zu denken oder umgekehrt im heimischen Hafen zu sein und die Ferne rufen zu hören; das Los der Frau hingegen […] in Wartestellung hingebungsvoll und treu der Rückkehr des geliebten Mannes zu harren. (Thomas Phleps: Die Fremde als Insel der Seligen im deutschen Schlager. In: Zeitschrift für Kulturaustausch (1991). H.41.2, S.282-287, hier S.285.)

Ein weiteres, gerne bemühtes Bild zur Beschreibung von Schlagern dieser Zeit ist der lachende Vagabund, zu dem auch der Seemann gezählt werden kann. Er bereiste die Ferne, erlebte Abenteuer, oft in Form von Liebesabenteuern, ließ die treue Frau zu Hause und verspürte bei all dem starke Befriedigung. Die lachenden Vagabunden liefer­ten den Männern des Nachkriegsjahrzehnts ein Gegenbild zu ihren eigenen, bürger­lichen Existenzen. Der deutsche Mann der 1950er Jahre lässt sich gerne zur Flucht aus seinem sesshaften Leben animieren, dem

er sich freilich in der sozialen Wirklichkeit der Bundesrepublik Deutschland durch ‚Schaffe-schaffe-Häusle-bauen‘ und Karrierestreben voll ausgesetzt sieht. Aber zumindest innerlich […] kann Der lachende Vagabund die ganze Welt sich zu Füßen legen. (ebd.)

Die Fremde erweckt in La Paloma nicht mehr den Anschein eines geographisch fixier­ten Ortes. Sie wird in größeren Konzepten wie den Ozeanen gefasst, die sich nicht genau lokalisieren lassen. Es bleibt der Fremde jedoch nicht erspart, auch in diesem Zusammenhang exotisch überhöht zu werden. Die Ferne bleibt Ort der Sehnsucht, indem männliche Bilder der unendlichen Freiheit und sozialen Ungebundenheit herauf­beschworen werden. Angereichert mit ein wenig Spannung erzeugender Aussicht auf Gefahr, ist auch die Paloma ein Paradebeispiel für gut konstruierten Exotismus: Die Szenerie lässt Sehnsüchte erwachen, bietet etwas Nervenkitzel, aber nicht zu viel und die Ehefrauen müssen zu Hause und treu bleiben.

Nico Albrecht, Bamberg