Flucht auf die Enterprise, Teil II: „Scotty, beam mich hoch!“ von Marteria

 

 

Marteria

Scotty, beam mich hoch!

Ein Maserati explodiert, ein Wischmopp randaliert
Am Glühweinstand da gibt's heute nur warmes Bier
Am Straßenrand, da liegt ein überfahrenes Tier
Kids malen einen Hitlerbart auf ein Plakat von mir
Ein Hai beißt in dein Segelschiff, Paparazzis sehen's nicht
Ein Promi sitzt am Nebentisch, Dauerschleife Greatest Hits
Ein Nazi tanzt zu Billy Jean, Punks kaufen ganze Berlin
Hunde schnüffeln an Lawinen, Menschen, die vor Panzern knien

Scotty, Scotty, Scotty, beam mich hoch!
Ich werd' verrückt hier unten, Scotty, wann geht's endlich los?
Wer hat sich das hier ausgedacht? Wer war dieser Idiot?
Bin auf dem Trampolin gefangen, Scotty, beam mich hoch!
Scotty, Scotty, beam mich hoch!
Scotty, beam mich hoch!
Vier, drei, zwei, eins – Scotty, beam mich hoch!
Scotty, Scotty, beam mich hoch!
Scotty, beam mich hoch!
Vier, drei, zwei, eins – Scotty, beam mich hoch!

Alles blitzt, Nebel bricht
Türkises Licht, Ziel in Sicht
Viel zu dicht, hier is' low 
Scotty, Scotty, beam mich hoch!
Alles blitzt, Nebel bricht
Türkises Licht, Ziel in Sicht
Viel zu dicht, hier is' low
Scotty, Scotty, beam mich hoch!

Sieht wohl so aus wie kurz vor Untergang
Alice glaubt nicht mehr an's Wunderland
Der Gerichtsvollzieher ist beim Ku-Klux-Klan
UFOs über Yucatan und alle sehen sich Bunker an
Der Rote Platz liegt vor dem Weißen Haus, Pferde peitschen Reiter aus
Endlich regnet's Eltern vor dem Waisenhaus
Beim Jogger läuft es rund, die NASA schießt 'n Hund zum Mars
Rentner werden undankbar und mein bester Kumpel Arzt

Scotty, Scotty, Scotty, beam mich hoch! [...]

Alles blitzt, Nebel bricht [...]
Er beamt mich hoch, er beamt mich hoch
Ja, er beamt mich hoch!

Jetzt sitz' ich hier schwerelos im Schneidersitz
Kein oben, kein unten, Tag und Nacht das gleiche Licht
Bin hier ganz alleine, kam ja leider keiner mit
Schick mich zurück, dahin wo's Schweinefleisch und Weiber gibt

Scotty, Scotty, beam mich hoch!
Scotty, beam mich hoch!
Vier, drei, zwei, eins – Scotty, beam mich hoch!

Scotty, Scotty, beam mich hoch! 
Scotty, beam mich hoch!
Vier, drei, zwei, eins – Scotty, beam mich hoch!

Scotty, Scotty, beam mich hoch! 
Scotty, beam mich hoch! 
Vier, drei, zwei, eins – Scotty, beam mich hoch!

     [Marteria: Roswell. Green Berlin 2017.]

Neben der Punkband Dritte Wahl (vgl. Interpretation), hat sich auch der Rostocker Rapper Marteria mit Scotty als einem Ausweg aus den Krisen der Erde beschäftigt. Beide Lieder erschienen 2017 und können somit auch als Antwort auf die vielen globalen Krisen unseres Zeitalters verstanden werden. Im Gegensatz zur Interpretation dieser Thematik durch Dritte Wahl entwickelt der hier vorgestellten Text allerdings kaum ein Gesamtnarrativ. Stattdessen arbeitet der Text mit einer listenartigen Struktur, deren Elemente nur lose Sinnzusammenhänge verbinden. In der hier vorgeschlagenen Leseart dient diese zunächst zufällig anmutende Darstellungsweise dazu, die Unsicherheit und Verwirrung des Sprecher-Ichs zu illustrieren.

Bereits in der ersten Zeile („Ein Maserati explodiert, ein Wischmopp randaliert“) werden die gegensätzlichen Verknüpfungen deutlich. Während der explodierende Maserati möglicherweise stellvertretend für Zerstörung und Gewalt steht, scheint der darauf folgende Verweis auf einen randalierenden Wischmopp ein humoristisches Wortspiel mit einem randalierenden Mob von Menschen, der somit einen direkten Kontrast zur real existierenden Zerstörung von Luxusautos steht.

Ähnlich verhält es sich mit dem Rest der ersten Strophe, in dem es kaum zur Beschreibung tatsächlicher Probleme kommt, sondern vielmehr um eine Aneinanderreihung kleiner Problemchen geht, z. B. warmes Bier am Glühweinstand oder absurde Beschreibungen („Ein Hai beißt in dein Segelschiff, Paparazzi sehen’s nicht“). Was Bergungshunde, die an Lawinen schnüffeln, mit Menschen, die vor Panzern knien, zu tun haben, weiß wohl nur das Sprecher-Ich – oder eben nicht. Letztlich lässt sich kaum ein Muster bei dieser Aneinanderreihung erkennen. Dennoch kommt die Tatsache, dass das Weltbild des Sprecher-Ichs ins Wanken gerät, implizit zur Sprache: Wie können Punks reich sein? Warum tanzen Nazis zur Musik eines Schwarzen? Die Welt dreht am Rad und das Sprecher-Ich mit. Die Strophen zielen möglicherweise auch darauf ab, beim ersten Lesen bzw. Hören zu verwirren, um damit die Verwirrung des Sprecher-Ichs auch auf die Rezipientinnen und Rezipienten zu übertragen.

Diese Lesart wird dadurch plausibler, dass das Sprecher-Ich im Refrain äußert, dass es „verrückt hier unten“, also auf der Erde, wird. Die vielen Eindrücke, die in der ersten Strophe beschrieben werden, stellen die diffusen Erfahrungen des Sprecher-Ichs dar. Passend dazu ist auch die Beschreibung, dass das Sprecher-Ich auf einem Trampolin gefangen ist. So wird das normalerweise spaßbringende Trampolinspringen zu etwas Negativem. Ungeduldig („wann geht’s endlich los?“) wartet das überforderte Sprecher-Ich darauf, von Scotty auf die Enterprise gebeamt zu werden.

Im Gegensatz zum Songtext von Dritte Wahl, kommentiert das Sprecher-Ich nicht den Gesamtzustand der Welt, sondern stört sich an den kleinen und großen Widersprüchlichkeiten, die ihr Weltbild zerstören, um dann auch aggressiv nachzufragen, wer die Welt plötzlich so verrückt gemacht hat („Wer hat sich das hier ausgedacht? Wer war dieser Idiot?“). Während bei Dritte Wahl verständlicherweise eine Abkehr von der Welt auf Grund von Gier und Zerstörung thematisiert wird, wirkt der Wunsch des Sprecher-Ichs in Marterias Text auf den ersten Blick lächerlich. Weil es ein totes Tier am Straßenrand liegen sah oder sich nicht vorstellen kann, dass auch Punks Immobilien kaufen, will es nun die Welt verlassen. Doch diese Beschreibungen stehen stellvertretend für eine Welt, die auf dem Kopf steht und aus den Fugen geraten ist.

Auch in der zweiten Strophe kommt die Unsicherheit des Sprecher-Ichs zum Tragen. Wird die Welt untergehen? Kann man den Behörden noch trauen? Sind sie vom Ku-Klux-Klan unterwandert? Was hat es mit UFOs und Verschwörungstheorien auf sich? Sollte man sich auf die Apokalypse vorbereiten? In dieser Strophe wird die wankende Weltordnung dann auch noch konkretisiert. Die ehemals tief verfeindeten Supermächte USA und Russland sind plötzlich politische Partner („Der Rote Platz liegt vor dem Weißen Haus“). Explizit wird auch nochmal die Thematik der auf dem Kopf stehenden Welt aufgegriffen („Pferde peitschen Reiter aus“), die seit dem Mittelalter eine Welt beschreibt, in der Bauern über Könige herrschen, Kinder ihre Eltern züchtigen, oder eben Pferde Reiter auspeitschen. Doch dann, passend zur Verwirrung des Sprecher-Ichs  wird der Text wieder durch eine utopisch-humoristische Komponente („Endlich regnet’s Eltern vor dem Waisenhaus“), eher banale Feststellungen („Beim Jogger läuft es rund“) und schließlich subjektive Probleme („mein bester [wird] Kumpel Arzt“) gebrochen. Wie auch in der ersten Strophe wird so eine Durchmischung von Kategorien und eine allgemeine Verwirrung seitens des Sprecher-Ichs dargestellt.

Schließlich wird dem Sprecher-Ich im letzten Refrain sein Wunsch gewährt: Ob nun wegen der scheinbar banalen Probleme der ersten Strophe oder der Furcht vor dem Weltuntergang in der zweiten beamt Scotty es oder nach oben. Nach einer ersten, großen Freude („Ja, er beamt mich hoch!“) weicht diese aber dem Wunsch, zurück auf die Erde zu kommen. Das Sprecher-Ich ist „ganz allein“, will wieder Tageslicht haben und vermisst „Schweinefleisch“ und Frauen. Auch hier herrscht also vor allem Verwirrung beim Sprecher-Ich, das sich nicht entscheiden kann, ob es nun auf die Enterprise oder die Erde will.

Auch der Verweis auf Star Trek bleibt deshalb nur ein Referenzpunkt unter vielen, der nicht genauer ausdifferenziert wird.  Kaum verwunderlich ist deshalb auch, dass die Probleme, die das Sprecher-Ich auf der Enterprise hat, kaum in dieses Universum passen. Bekanntlich wird auf der Enterprise Essen einfach generiert, Frauen sind durchaus Mitglieder der Crew und bei den legendären Ausflügen der Mannschaft gibt es auch reichlich Tageslicht. Das Sprecher-Ich ist so überfordert vom Zustand der Welt, dem möglichen Weltuntergang und nun auch der Enterprise, dass es „kein oben, kein unten“ mehr gibt. Folgerichtig will es deshalb logisch falsch auch nach „oben“ zurück auf die Erde gebeamt werden. Richtig müsste es ab diesem Zeitpunkt heißen „Scotty beam mich runter, weil das Sprecher-Ich ja bereits auf der Enterprise ist. Im Text heißt es stattdessen: „Schick mich zurück, […] Scotty, Scotty, beam mich hoch“. Die Schwerelosigkeit und das künstliche Licht verstärken die Zerstreutheit des Sprecher-Ichs nur noch zusätzlich. Oben, unten, Erde, Enterprise – es wird alles zu viel.

In der hier vorgeschlagenen Lesart handelt es sich bei den insgesamt losen Zusammenhängen und den auch innerhalb einzelner Zeilen vorhandenen Brüchen um ein bewusstes Stilmittel, um die Verwirrtheit des Sprecher-Ichs auszudrücken. Ob nun auf der Erde oder auf der Enterprise ist es, und das genauso wie das Sprecher-Ich im Text von Dritte Wahl, mit der Situation komplett überfordert. Letztlich weiß es dann nicht mehr, wie tanzende Nazis noch in das Weltbild passen sollen, was es von den UFOs halten soll oder ob es nun auf die Enterprise will oder nicht. Auch dieses des Sprecher-Ich geht so an der Welt schließlich zu Grunde.

Martin Christ, Erfurt

Kitsch für einen guten Zweck. Zur deutschen Version des Band Aid-Projektes „Do They Know It’s christmas?“ (2014)

Band Aid Thirty (Text: Campino, Marteria, Thees Uhlmann, Sebastian Wehlings)

Do They Know It’s Christmas? (Deutsche Version)

Endlich wieder Weihnachtszeit (Campino [Die Toten Hosen])
Die Nerven liegen so schön blank (Philipp Poisel)
Egal ob’s regnet oder schneit (Clueso)
Wir treffen uns am Glühweinstand (Seeed)
Wir vergessen unsere Nächsten nicht (Andreas Bourani) 
Kaufen all die Läden leer (Ina Müller) 
Die ganze Stadt versinkt heut‘ Nacht im Lichtermeer (Jan Delay) 
Und du fliegst nur 6 Stunden weiter: Ärzte, Schmerzen ohne Grenzen (Marteria)
Kleine Jungs im Barcelona-Shirt malen ihre Träume an die Wände (Marteria und Max Herre)
Es gibt so viel Zukunft, so viel Vielfalt (Max Herre) 
In all den 54 Ländern (Cro)
Doch immer nur dieselben Bilder (Cro und Michi Beck) 
Gelbe Schutzanzüge auf all den Sendern (Michi Beck)
Du gehst durch den Dezember (Peter [Sportfreunde Stiller])
Mit einem Lied im Ohr (Steffi [Silbermond])

Do they know it’s Christmas Time at all? (Clemens [Milky Chance])

Wir feiern unsere Feste (Max Raabe)
Doch wir sehen nicht wie sie fallen (Wolfgang Niedecken)
Der Tod kennt keine Feiertage (Udo Lindenberg) 
Und schon ein Kuss kann tödlich sein (Sammy Amara [Broilers] und Anna Loos)
Kein Abschied und keine Umarmung (Peter Maffay)
Jeder stirbt für sich allein (Thees Uhlmann & Joy Denalane)

Do they know it’s Christmas Time at all? (Gentleman)
Do they know it's Christmas Time at all? (Patrice)
Do they know it's Christmas Time (Chor)

Und auf all den Feiern (Clemens [Milky Chance])
Von hier bis nach Monrovia (Jan-Josef Liefers)
Denken wir daran in dieser stillen Nacht (Adel Tawil)

Do they know it's Christmas Time at all? (Campino)
Do they know it's Christmas Time at all? (Inga Humpe [2Raumwohnung])
Do they know it's Christmas Time (Chor)
Heal the world (Chor) 
Heal the world (Donots)
Heal the world (Chor)
Let them know it’s Christmas Time. Heal the world (Gentleman und Patrice)
Let them know it’s Christmas Time (Jennifer Rostock)
Heal The World.

Do we know it's Christmas Time at all.

Heal The World.

Let them know it's Christmas Time again (Chor)

     [Band Aid 30: Do They Know It’s Christmas? (2014). Polydor 2014.]

 

Es ist so weit, der Advent ist wieder da und mit ihm auch die kopfschmerzbereitende Geschenkefrage, die Plätzchenbäckerei und die in Endlosschleife gespielten Weihnachtslieder im Radio. Ja, wir hassen den Hype manchmal, der mittlerweile um die Weihnachtsfeiertage zelebriert wird, aber entziehen können wir uns ihm nicht. Und ganz ehrlich – am Ende lässt sich doch jeder von der hektischen, aber trotz allem besinnlichen Stimmung mitreißen. Denn der Grundgedanke dieses Festes berührt letztendlich jeden von uns. Das hat sich in diesem Jahr auch Bob Geldof zum Ziel gesetzt, den vor einigen Wochen die UNO darum gebeten hat, zum Jubiläum seines Klassikers Do they know it’s christmas? von 1984 eine Neuauflage zugunsten der Ebola-Opfer in Westafrika zu produzieren. Der Sänger ließ sich nicht lange bitten, sondern trommelte im Handumdrehen eine Gruppe stimmgewaltiger Briten (u.a. Ed Sheeran, Sinead O’Connor und Chris Martin) zusammen, die den Song in unveränderter Form neu aufnahmen. Da dieses Projekt, das Band Aid genannt wird, in dieser Art schon des Öfteren organisiert wurde, zuletzt 2004, als das Geld zur Bekämpfung einer Hungersnot im afrikanischen Sudan verwendet wurde, ist es nicht unbedingt eine Überraschung, wenn der Weihnachtshit auch dieses Jahr wieder im Radio rauf und runter gespielt wird. Neue Töne werden diesmal allerdings aus den deutschen Lautsprechern schallen. Zum ersten Mal nämlich gibt es auch eine deutsche Version des Band Aid-Projektes, das von Campino, dem Frontsänger der Punkrockband Die Toten Hosen, auf Anfrage/Bitte/Auftrag von Bob Geldof in die Wege geleitet wurde. Der Rocksänger wurde Anfang November von seinem alten Bekannten angerufen, der ihm, wie Campino im ZEIT-Interview gestand (vgl. „Do they know it’s christmas?“: Heilt die Welt!), keine andere Wahl ließ als zuzusagen, den deutschen Beitrag zu organisieren. Kurz darauf, am 13. November, war Campino in der Lage, sein All-Star-Team vorzustellen, für das er fast die gesamte deutsche Pop-Elite gewinnen konnte. Rund dreißig Musiker haben Do they know it’s christmas? nun neu aufgenommen und jeder von ihnen singt i.d.R. eine Textzeile der Übersetzung, die Campino zusammen mit Thees Uhlmann, Sebastian Wehlings (u.a. Texter von Adel Tawil) und Marteria in mühevoller Kleinarbeit erarbeitete. Das allein sei laut dem Punksänger schon ein „Himmelfahrtskommando“ gewesen, wie er im Morgenmagazin von ARD/ZDF berichtete (vgl. Sendung vom 21.11.2014). Die Musiker hätten sich bemüht, den deutschen Text des Klassikers von all den Flachheiten zu reinigen, die, wie Bob Geldof selbst zugab, im Original steckten. Campino wollte mit seinem Team einen Song schaffen, hinter dem die deutschen Musiker stehen könnten und der frei von den Klischees und Undifferenziertheiten ist, die in der Gegenwart sowieso schon überhandgenommen haben. Natürlich ist der Song immer noch Kitsch – aber dafür Kitsch auf hohem Niveau.

Als Beispiel für eine solche Flachheit des Originals kann die Textzeile „And there won’t be snow in Africa this Christmas Time“ dienen. So hat man sich schließlich für einen komplett neuen Text entschieden, der nicht wie die Originalversion auf Hungersnöte eingeht, sondern spezifisch auf die Ebola-Epidemie verweist: „Gelbe Schutzanzüge auf all den Sendern“. Daher haben Campino und Co. auch den Refrain-Zusatz „Feed the world“ in „Heal the world“ verwandelt (und dabei Michael Jacksons Metapher wörtlich genommen). Manchmal sind Neuerungen einfach unumgänglich. Der Text überzeugt zwar nicht von tiefsinnigen Betrachtungen über das Elend in Afrika und er stellt auch nicht mit erhobenem Zeigefinger Moralvorstellungen in den Mittelpunkt. „Natürlich ist es ein Kitschlied“, meinte selbst Campino dazu. Aber es ist schon eine Leistung, dass der Text nicht in den Ohren weh tut, sondern man sich trotzdem noch an ihm erfreuen kann.

Do they know it’s christmas? wird mit seinem Bezug zur deutschen Alltagssprache zu einer Weihnachtshymne, in der Campino und Co. unter anderem auch deutsche Sprichwörter miteinbezogen haben: „Wir feiern unsere Feste / doch wir sehen nicht wie sie fallen“. Diese Redewendung verwendete in jüngster Vergangenheit schon die Newcomerin Julia Engelmann, die Anfang des Jahres mit ihrem Beitrag One Day/Reckoning Text beim Bielefelder Campus TV Hörsaalslam, einem Poetry-Slam-Wettbewerb, für Furore sorgte: „Lasst uns Feste wie Konfetti schmeißen, sehen, wie sie zu Boden reißen und die gefallenen Feste feiern, bis die Wolken wieder lila sind“. Man sieht, die junge Slammerin und auch die deutsche Band Aid-Gruppe haben mit der Botschaft, die sie in ihren Werken vertreten, irgendwie den Nerv der Zeit getroffen: Müssen die Deutschen mittlerweile daran erinnert werden, die Feste dann zu feiern, wann sie sind, anstatt sie aufzuschieben, obwohl der übervolle Terminkalender sowieso keinen Platz für sie lässt? Der Text appelliert also nicht nur an unsere Hilfsbereitschaft, sondern auch an unser Unvermögen, unseren Wohlstand so zu genießen, wie es ihm gebührt. Eine recht philosophische Botschaft für solch eine leichte Lektüre, wenn man es sich recht überlegt.

In diesem Sinne ist es wohl auch ein großer Pluspunkt des Projektes, dass sich Musiker aus so vielen unterschiedlichen Genres an der Spendenaktion beteiligen, die dem Song alle individuelle Stimmungen und Schattierungen geben, kurz, die dem Text, so verschieden wie diese Sänger sind, ihren Stempel aufdrücken. Es finden sich hier etablierte Interpreten aus Pop und Rock, aber auch unbekanntere Musiker aus dem Soul wie Joy Denalane oder dem Reggae wie Patrice. Abwechslung bieten insbesondere die Textzeilen der Rapper Marteria und Max Herre, die genau wie Cro und Michi Beck (Fanta 4) die idyllische Stimmung gesanglich wie textlich wieder auf den Boden holen: „Und du fliegst nur sechs Stunden weiter: Ärzte, Schmerzen ohne Grenzen“. Natürlich könnte man sich nun fragen, weshalb Herbert Grönemeyer und Schlagerstars wie Helene Fischer oder Andrea Berg nicht bei dem Projekt mitgewirkt haben. Auch eine deutsche Diskursband wie Tocotronic hätte sich in der bunten Vielfalt an Musikercharakteren sicher gut gemacht. Letztendlich spielt es aber keine Rolle, wer dabei war und wer nicht. Und Campino stellte außerdem ganz schnell klar, dass er „über die reden möchte, die mitgemacht haben und nicht über die, die nicht mitgemacht haben.“ (vgl. „Do they know it’s christmas?“: Heilt die Welt!)

Der Kampf gegen Ebola hat also dazu geführt, dass Musiker wie sie unterschiedlicher nicht sein könnten (und von denen sich mit Sicherheit einige bei der ECHO-Verleihung lieber aus dem Weg gehen), ein Lied produziert haben, das wider aller Erwartungen sogar richtig gut geworden ist. Der Band Aid Trust entscheidet schließlich, wem die Einnahmen aus dem Verkauf der Singles und Downloads zugespielt werden. Die Entwicklung eines neuen Impfstoffes ist neben der Bekämpfung des akuten Ausbruchs der Krankheit das Hauptanliegen der Bemühungen. Aber trotz des guten Zwecks wurden schon vor Veröffentlichung des Videos des deutschen Band Aid-Beitrags am Freitag, dem 21.11.14, kurz vor den Tagesthemen um 20.00 Uhr, kritische Stimmen laut. „Schlimmer als Ebola“ sei diese Version, die nur eine „neue Eskalationsstufe von Scheiße“ erreichen würde, wertete das Vice-Magazin den Beitrag ab. Harte Worte in Anbetracht der noch härteren Lage in Afrika. Natürlich könnte man die Künstler, die sich daran beteiligten, bezichtigen, dies nur wegen des Imagegewinns zu tun und auch für die Plattenfirmen bietet sich hier ein kostenloses globales Marketingmittel. Der Appell¸ der mit dem Lied aus dem Radio in unsere Ohren transportiert wird, grenze an zwischenmenschlichen Druck, der auf uns aufgebaut werden würde, sodass man gar keine andere Möglichkeit habe, als die Single zu kaufen. Das könnten schon alles wahre Worte sein. Aber muss man bei einem einfachen Popsong, dessen Gewinne lediglich an eine Hilfsorganisation gehen, gleich von modernem Ablasshandel sprechen, der uns wie eine Drohung mit dem Fegefeuer einschüchtert? Nun, diese Ansicht ist mit Sicherheit leicht übertrieben. Campino hält das alles jedenfalls für „beispiellosen Zynismus“. Und wenn man folgende Zeilen auf dem Internetauftritt des Vice-Magazins liest, dann stimmt man ihm auch schon mal zu: „2014 hat soeben offiziell seine Bewerbung für das beschissenste Jahr der Weltgeschichte eingereicht, 1939 kriegt schon kalte Füße.“ (Nicht mal Ebola rechtfertigt die deutsche Version von „Do They Know It’s Christmas“, 18.11.14). Soll man da lachen oder weinen? Man weiß es einfach nicht.

Die Ambivalenz eines solchen Projekts zeigt sich darin, dass zwar ungewiss ist, in welchem Umfang der die Veröffentlichung dieses Songs den Ebola-Opfern hilft, dass er jedoch uns  in jedem Fall hilft, uns in Weihnachtsstimmung zu versetzen. Denn das ist heutzutage ja auch, um Campino zu zitieren, „ein Himmelfahrtskommando“.

 Marina Willinger, Bamberg

Non-stop Tempus fugit. Zu „Sekundenschlaf“ von Marteria feat. Peter Fox: Anklänge an Andreas Gryphius und Johann Wolfgang von Goethe im deutschen Hip Hop?


Marteria

Sekundenschlaf

Tick Tack, Tick Tack, Zeit is’ knapp.
Du bist gehetzt, weil die Uhr dir Beine macht.
Halt nich’ fest, sieh nich’ hin,
wenn dir Sand durch die Finger rinnt.

Denn jeder Fluss fließt ins Meer,
lass los, kein Grund dich zu wehr’n,
alles glitzert im hellen Licht,
nimm die Welle mit, bis die Welle bricht.

Tick Tack, Tick Tack, Zeit is’ knapp.
Du fühlst dich jung, doch das Leben hat dich alt gemacht,
du merkst es jedes Jahr zu Silvester.
Tut mir leid, du bist ein Teil der Jugend von gestern.
Du siehst vor lauter Kerzen den Kuchen nich’ mehr,
willst raus in die Natur und endlich Ruhe vor dem Lärm.
Jetzt wohnst du im Reihenhaus, denn du bist villenlos,
die wilde Zeit vorbei, die Augen klein, die Brille groß.
Es dauert schon bis es vorbei is’,
doch man is’ nicht so alt, wie man sich fühlt, sondern so alt, wie man alt is’.
Wenn du jung bist, denkst du, dass du alles vor dir hast:
auf 20 folgt 30, auf 30 das, was dir Sorgen macht;
einmal durchatmen und du vergisst die Zeit,
einmal nicht aufgepasst da draußen und es ist vorbei,
denn jetzt vergeht das Leben im Sekundenschlaf.
Du zählst die Tage bis zur nächsten runden Zahl,
du machst Diäten und gehst pumpen,
doch die Zeit heilt keine Wunden, weil die Zeit sich vor die Hunde warf.

Tick Tack, Tick Tack, Zeit is’ knapp.
Du bist gehetzt, weil die Uhr dir Beine macht.
Halt nich’ fest, sieh nich’ hin,
wenn dir Sand durch die Finger rinnt.

Denn jeder Fluss fließt ins Meer,
lass los, kein Grund dich zu wehr’n,
alles glitzert im hellen Licht,
nimm die Welle mit, bis die Welle bricht.

Wach auf aus deinem Winterschlaf,
zehn Jahre bunt verpackt in ‘nem Wimpernschlag.
Die Erfolge an der Wand in vergoldeten Rahmen,
plötzlich schiebt dich ‘n Zivi in ‘nem Rollstuhl durch den Park.
Wenn’s soweit is’, dass deine Haut verschrumpelt,
dein Körper übersäht wird mit kleinen braunen Punkten,
mach dir keine Sorgen, auch wenn du planlos durch dein’ Garten rennst,
Gespenster siehst und deine Tochter Petra plötzlich Lara nennst.
Genieß’ dein Leben, tanz zufrieden in dein Grab hinein.
Kuck dich um: Jede Oma in Berlin hat’n Arschgeweih.
Ich weiß, du hast noch so viel vor,
doch langsam hörst du dieses Ticken in dei’m Ohr.

Tick Tack, Tick Tack, Zeit is’ knapp.
Du bist gehetzt, weil die Uhr dir Beine macht.
Halt nich’ fest, sieh nich’ hin,
wenn dir Sand durch die Finger rinnt.

Denn jeder Fluss fließt ins Meer,
lass los, kein Grund dich zu wehr’n,
alles glitzert im hellen Licht,
nimm die Welle mit, bis die Welle bricht.

     [Marteria: Sekundenschlaf. Auf: Zum Glück in die Zukunft. Four Music 2010.]

Dass deutscher Hip Hop keineswegs tot ist, beweist der Wahl-Berliner Marteria mit seinem zweiten Studioalbum Zum Glück in die Zukunft, das 2010 beim Plattenlabel Four Music erschien und von The Krauts produziert wurde. Nach Marterias eigener Aussage sei es „das erste Newschool-Album, das sich wieder verkauft“ habe (vgl. zur Entstehung des Albums auch das Marteria-Interview im deutschen Hip Hop-Magazin Juice). Das The Krauts-Team um David Conen, Vincent von Schlippenbach und Dirk Berger, als Trio mittlerweile für BMG tätig, arbeitete 2008 erfolgreich mit Peter Fox für dessen Album Stadtaffe zusammen. Letzterer ist es auch, der Rapper Marteria auf Zum Glück in die Zukunft featured, und zwar bei Sekundenschlaf, dem letzten Track des Albums, das, wie es mittlerweile zum guten Ton gehört, auch als Vinyl-LP erhältlich ist. Diese Kooperation hört man dem Song durchaus an, denn basslastige Beats dominieren Sekundenschlaf (vgl. hierzu auch die Seeed-Remix-Version), mit dem sich Marteria zeitlosen und zunehmend brisanten gesellschaftlichen Themen widmet: der Vergänglichkeit und dem Altern.

Zum Rapper Marteria selbst: Der Rostocker, Jahrgang 1982, mit bürgerlichem Namen Marten Laciny, war einige Zeit in der Jugendmannschaft des F.C. Hansa Rostock aktiv, gar Teammitglied der U17-Nationalmannschaft, bevor er mit 18 Jahren für einen Model-Job nach New York ging (vgl. Marterias autobiografischen Rap-Track Endboss und die ausführliche Biografie auf laut.de). 2007 wurde er einem breiteren Publikum bekannt, als er mit Jan Delay tourte. Sein zweites Künstler-Pseudonym, das „Comic-Alter-Ego“ Marsimoto, unter dem er zuletzt das Album „Grüner Samt“ (2012) veröffentlichte, ist inspiriert vom amerikanischen Rapper Madlib aka Quasimoto. Das gemeinsame Markenzeichen: eine extrem hochgepitchte Stimme. Als Marteria wirkte er am aktuellen Album der Formation Die Toten Hosen, „Ballast der Republik“, mit. Mit sogenannten Gangster-Rappern wie Bushido oder Sido lässt sich Marteria jedoch kaum vergleichen, auch wenn sein Label ihm die Herkunft aus einem „Rostocker Plattenbau-Ghetto“ zuschreibt (vgl. hierzu auch Marterias Auseinandersetzung mit der Deutschrap-Szene in Todesliste, einem Lied, das er selbst als Persiflage, nicht als „Diss-Song“ beschreibt).

Sekundenschlaf setzt ein mit der Hook, interpretiert von Peter Fox, die den Grundton und das zentrale Motiv des Songs vorgibt: Ein metallenes Uhrticken, Streicherklänge, darüber der Vers „Tick Tack, Tick Tack, Zeit is’ knapp“ verweisen auf das allgegenwärtige Tempus fugit. Im Refrain besingt der Seeed-Frontmann die Unterwerfung des Menschen unter die Zeitmessung mittels Chronometer und verweist auf die Beschleunigung des modernen Lebens, in dem der Mensch, gepresst in das Korsett des Schneller-Höher-Weiter, als Getriebener durch die Welt hetzt. Der Verweis auf das Stundenglas ruft das Vanitas-Motiv auf, die Vergänglichkeit des irdischen Lebens. Der Refrain eröffnet in der zweiten Strophe noch einen weiteren Bildbereich: Der aufmerksame Zuhörer fühlt sich bei Marterias Sekundenschlaf an Heraklits Sentenz Panta rhei erinnert, jene Wendung, wonach der Mensch nicht zweimal „in denselben Fluss steigen“ könne, habe sich doch letzterer, mithin die ganze Welt, ebenso verändert wie der Mensch selbst.

Von der Beschreibung alles Seins, das sich im ewigen Fluss von Werden und Vergehen befindet, verengt sich der Fokus in der ersten reinen Textstrophe auf die Einzelperson. Marterias Rap apostrophiert ein nicht näher benanntes Gegenüber, äußerlich gezeichnet von der Wechselhaftigkeit des Lebens, innerlich jedoch durchaus noch nicht bereit, sich aufs Altenteil zu verlegen, kontrastiert allerdings mit der ritualisierten Form der Feier des Jahreswechsels. Die Sprechstimme in Sekundenschlaf nimmt sich hingegen aus dem Alterungsprozess heraus. Nichtsdestotrotz ist ihr die Hektik der Moderne keineswegs fremd, weiß sie um die Enge der bürgerlichen Welt mit ihren Reihenhaussiedlungen (vgl. Marterias Verstrahlt) und dem Nachtrauern einer vergangenen Jugend. Der die Interpretationsrichtung des Songs vorgebende Vers ist strukturell in der Mitte der Strophe prominent platziert: „doch man is’ nicht so alt, wie man sich fühlt, sondern so alt, wie man alt is’.“

Zunächst jedoch bietet die Strophe noch einmal eine Retrospektive auf die Jugend des angesprochenen Gegenüber, quasi ein Jedermann wie du und ich, der sich in jedem Lebensmoment der Vergänglichkeit der Zeit wie seiner eigenen viel zu selten bewusst ist. Kritische Töne trifft der Text, wenn er sich dem gegenwärtigen Jugendwahn und Körperkult widmet, die er als vergebliche Bemühungen, dem eigenen Verfall entgegenzuwirken, charakterisiert.

In der zweiten Gesangsstrophe Marterias erfolgt eine imperativische Aufforderung an den Zuhörer, aus dem Dämmerzustand aufzuwachen, bevor es zu spät ist, das Leben also im Moment zu genießen, bevor „dich ‘n Zivi in ‘nem Rollstuhl durch den Park“ schiebt – Carpe diem in Reinform, ein Motiv, dem sich Marteria auch in Lila Wolken widmet. Diese Produktion entstand 2012 in Zusammenarbeit mit Yasha und Miss Platnum und feiert gleichsam den Augenblick, wenngleich mehr im Stile eines luftig-leichten Sommerabendsongs, als es bei Sekundenschlaf der Fall ist. In letzterem treibt das beständige Uhrticken den Sound wie die Zeit gleichmäßig voran.

Im Video werden werden die Bilder dominiert vom Zeitraffer der hektisch vorbeirasenden Außenwelt – das Setting ist die thailändische Metropole Bangkok – bei gleichzeitiger Slow motion-Darstellung von Marteria und Peter Fox. Der körperliche Verfall des Menschen wird auf vielfältige Weise besungen, bis hin zur Referenz auf Demenz und Alzheimer, bevor erneut die „Nutze den Tag“-Aufforderung die zentrale Botschaft des Liedes untermauert.

Vanitas, Memento mori, Carpe diem: Die von Marteria zitierten Topoi erweisen sich seit jeher als Grundthemen der Literatur, prominent vertreten etwa durch den Barocklyriker Andreas Gryphius, der in dem Lissaer Sonett Es ist alles eitel (1643) – die Fassung aus dem Jahr 1637 trägt noch den Titel Vanitas, vanitatum, et omnia vanitas – im Stile des die regelpoetisch überformte Variations- und Emblemtechnik beherrschenden Poeta doctus das Problem der Vergänglichkeit von verschiedenen Standpunkten aus betrachtet. Denn geprägt von den Wirren des Dreißigjährigen Krieges, den Konfrontationen mit Frankreich und dem Auseinanderbrechen des Heiligen Römischen Reiches Deutscher Nation korreliert die literarische Strömung des Barock mit einer Zeit religiöser und gesellschaftlicher Umbrüche, so dass sich diese Epoche vor allem durch die Beschäftigung mit Todeserfahrungen und Existenzängsten auszeichnet. Vor diesem Hintergrund kann auch die im Gedicht als Ausweg aus der Vergänglichkeit aufgezeigte Hinwendung zur Religiosität und einem Leben im Jenseits nicht verwundern.

Circa 170 Jahre später widmet sich Johann Wolfgang von Goethe in Dauer im Wechsel (1803) dem Vanitas-Motiv, ausgehend von der Beschäftigung mit Johann Christian Reils Überlegungen zur Wandelbarkeit menschlicher Identität in Rhapsodien über die Anwendung der psychischen Kurmethode auf Geisteszerrüttungen. Goethe jedoch erweitert die Perspektive in seinem Gedicht dahingehend, dass er den Akzent dieses Zeugnis seiner Gedankenlyrik stärker auf Wechsel und Veränderung legt („Ach! und in demselben Flusse / Schwimmst du nicht zum zweitenmal“ als Verweis auf Panta rhei). Insofern bewegt er sich von der eigentlichen Grundbedeutung der Vergänglichkeit weg, so dass das Vanitas-Motiv nicht konkret ausgesprochen wird, sondern nur thematisch vorhanden ist. Darüber hinaus löst Goethe das Motiv als solches aus seinem religiösen Bezugsrahmen heraus und sieht die literarische Produktion als Möglichkeit, Überzeitliches zu schaffen, um auf diese Weise der Vergänglichkeit alles Irdischen entgegenzuwirken. Damit thematisiert dieses poetologische Gedicht nicht nur die Bedeutung von Kunst, sondern ist gleichzeitig exemplarisch das Kunstwerk selbst. Der Leser wiederum ist nun ebenfalls künstlerisch tätig, indem er den Text im Rezeptionsakt fortschreibt.

Die Ausrichtung auf ein Leben nach dem Tod in einem nicht näher spezifizierten Himmelreich bei Gryphius kontrastiert mit dem Gedanken auf Ewigkeit durch Gehalt und Form bei Goethe. Unvergänglichkeit bei Gott steht der Unvergänglichkeit in der Kunst gegenüber. So weit geht Marteria, der sich ebenfalls mit der Vanitas-Motiv auseinandersetzt, in Sekundenschlaf allerdings  nicht. Gottesfürchtigkeit sucht man in diesem Zeugnis des profanen Hip Hop vergebens. Seine Kunst hingegen nimmt Marteria durchaus ernst: Wortspiele („villenlos“), Stilfiguren und Sentenzen prägen seinen Text; die Co-Produktion mit Peter Fox und The Krauts sorgt, neben der entsprechenden Publicity, für einen überzeugenden Sound. Mit seiner Kunstfigur Marsimoto geht Marteria noch einen Schritt weiter: stimmliche Variation (High Pitch), Maskerade, Rezeption literarischer Figuren (vgl. Ich Tarzan, Du Jane), Spiel mit politischen Statements (vgl. Indianer), Szenekritik (vgl. Wellness), Genre-Mix etc. Über die Vielfalt von Marterias respektive Marsimotos Hip Hop-Kunst ließe sich noch einiges sagen.

Corina Erk, Bamberg