„Meine eigne Gestalt“: Differenzerfahrung in Schuberts „Der Doppelgänger“

Franz Schubert nach Heinrich Heine

Der Doppelgänger 

Still ist die Nacht, es ruhen die Gassen,
In diesem Hause wohnte mein Schatz;
Sie hat schon längst die Stadt verlassen, 
Doch steht noch das Haus auf demselben Platz.

Da steht auch ein Mensch und starrt in die Höhe
Und ringt die Hände vor Schmerzensgewalt;
Mir graust es, wenn ich sein Antlitz sehe, 
Der Mond zeigt mir meine eigne Gestalt.

Du Doppelgänger! Du bleicher Geselle,
Was äffst du nach mein Liebesleid,
Das mich gequält auf dieser Stelle
So manche Nacht, in alter Zeit?

     [Textvorlage: Heinrich Heine: Heimkehr XX, Buch der Lieder, Hamburg 1827.]

Obiger Text trägt seinen Titel (aus mehreren Gründen) zurecht: Er ist selbst sozusagen ein Doppelgänger des Gedichts Heimkehr XX aus Heinrich Heines Buch der Lieder, dessen Erstausgabe von 1827 Schubert als Textvorlage diente. Der später als „Liederfürst“ bezeichnete Franz Schubert (1797-1828) hatte zu diesem Zeitpunkt bereits zahlreiche Dichtungen vertont, teils von seinen Freunden (etwa Johann Mayrhofer, Franz von Schober oder Wilhelm Müller, Verfasser der Winterreise), aber auch von ihm nicht persönlich bekannten (größtenteils) zeitgenössischen Dichter:innen wie Friedrich Schlegel (Der Wanderer), Johann Senn (Schwanengesang), Marianne von Willemer (Suleika I und II) oder Goethe.

Schubert war 1828 einer der ersten, der Gedichte aus Heinrich Heines Buch der Lieder vertonte, das erst im Jahr zuvor erschienen war. Zugleich fiel die Komposition in die Zeit relativ kurz vor Schuberts Tod, und erschien auch erst postum 1829. Dass Schubert schon 1845 in der Allgemeinen Wiener Musikzeitung als „unerreichter Repräsentant des neueren deutschen Liedes“ (zitiert nach Gesse-Harm, 61) beschrieben wurde, liegt auch an dem starken Einfluss, den seine Vertonungen auf andere Komponisten ausüben sollten. Heine wusste schon 1830 von Schuberts Vertonung seines Textes, wie ein Brief belegt (vgl. Gesse-Harm, 62), allerdings hatte er noch keine Gelegenheit gehabt, die Komposition zu hören. Heine war zudem auch bewusst, wie sehr Schuberts Vertonungen zur Popularität seiner Lieder beitrugen, auch in Paris, wo sie allerdings in Übersetzung und teils ohne Heines Namen kursierten.

Schubert hat die Textvorlage dabei den Erfordernissen seiner Komposition angepasst und kleinere Veränderungen an ihr vorgenommen. Heines „Doppeltgänger“ wurde zu „Doppelgänger“, außerdem fügte Schubert den Titel „Der Doppelgänger“ hinzu; bei Heine trägt das Gedicht schlicht die Nummer XX und ist eins der Gedichte aus dem Zyklus Heimkehr.[1]

So wie der Text also zunächst als Gedicht und dann kurz darauf unter dem Titel Der Doppelgänger noch einmal als Lied in die Welt zieht, können auch Dichter und Komponist als aneinander gespiegelte Pendants voneinander erscheinen, oder, wie es die Schriftstellerin Clara Bauer 1852 in einem Brief an Heine ausdrückt, als zwei Hälften: „Franz Schubert, der sie in Musik gesetzt hat, hat sie mit Geist und Leben aufgefaßt. Sie müssen ihn gekannt haben, er ist ja gewissermaßen die andere Hälfte Ihres Seyns“, so Bauer (zitiert nach Gesse-Harm, 62). Diese Aufspaltung eines Ichs in zwei Teile spielt ebenso auf das Doppelgängermotiv an wie das von Bauer beschriebene Gefühl, jemand eigentlich Unbekanntem doch irgendwo schon einmal begegnet zu sein: „Sie müssen ihn [Schubert] gekannt haben“. Im Volkslied gilt ein erscheinender Doppelgänger als Todesbote, und Schuberts Tod so kurz nach Bearbeitung des Gedichts, unter dessen Eindruck er die Komposition bereits geschaffen haben soll, wie häufig angenommen wird, trägt auch seinen Teil dazu bei, dass Schuberts Version gemeinhin als ernsthafter und düsterer gilt als Heines, und dass ihr die in der Textvorlage zu findende „Entzauberung“ und Geste ironischer Distanzierung fehlen soll, wie sie Heines Werk eigen ist. In der Forschung wurde jedoch wiederholt darauf hingewiesen, dass Schuberts Komposition in dieser Hinsicht durchaus kongenial zu nennen ist und mit musikalischen Mitteln ebenfalls eine ironische Distanz zur musikalischen Form selbst einnimmt, indem etwa Klavier- und Singstimme metrisch nicht miteinander konform scheinen, oder indem Gestaltungsprinzipien des Volkslieds (wie strophische Form, Hierarchie von Singstimme und Begleitung) auf eine Weise umgestaltet werden, wie sie dem Volkslied fremd ist (vgl. z.B. Sonja Gesse-Harm: „Himmlische Funken“: Die Heine-Vertonungen Franz Schuberts, 130 ff., oder Urchueguía/Lüdeke 291 ff.).

Das Lied wiederholt somit noch einmal die Differenzerfahrung, die das Gedicht beschreibt, wenn das lyrische Ich sich selbst als einem Fremden begegnet. Autor und Komponist, Gedicht und Lied, im Lied dann wiederum Klavier- und Singstimme, und innerhalb letzterer noch einmal Text und Melodie – bei so vielen „Verdoppelungen“ fällt es nicht leicht, zu unterscheiden, was das Original ist und was ein Substitut. Zeichen und Klang, Wort und Bedeutung: Wer oder was war zuerst? Repräsentiert das Zeichen wirklich etwas Abwesendes, oder wird nicht der Eindruck abwesender Präsenz erst durch das Zeichen hervorgebracht?

Im Text betrifft diese Verunsicherung die Identität des Ichs selbst. Ein lyrisches Ich schreitet nachts allein durch einsame Gassen, betritt, im Präsens in typischer Gedichtmanier wie zu sich selbst sprechend und sich selbst die Szenerie beschreibend, einen Schauplatz vergangener Liebessehnsucht und Liebesleids. Der „Schatz“, der hier wohnte, ist nun fort, das Haus noch da. In der semantischen Opposition des anwesendem Hauses und abwesenden Schatzes erscheint das Haus selbst hier als eine Metonymie der abwesenden Geliebten, wie Urchueguía/Lüdeke beschreiben (287). Während die Bilder der Vergangenheit im Bewusstsein des Ichs durch die Gegenwart hindurchscheinen und den an sich menschenleeren Ort beleben, wenn sich beim Anblick des Hauses Gedanken an die einst dort lebende Geliebte einstellen, entsteht nun eine Situation, die sich so in der Vergangenheit nicht abgespielt hat: Eine in fast schon übertriebener Theatralik verzweifelt die Hände ringende menschliche Gestalt wird als das eigene Ich erkannt, das hier als eine fremde Person auftritt und von außen gesehen und angesprochen werden kann. In anklagendem Ton wird diese Person nun direkt angeredet: „Du Doppelgänger!“ heißt es vorwurfsvoll, als wäre dies ein Schimpfwort. Dem so Adressierten wird nämlich eine parodistische Absicht unterstellt, ein spöttisches „Nachäffen“ von etwas, das zu diesem Zeitpunkt doch schon längst in der Vergangenheit stattgefunden hat. So wie sich das Ich nicht von seinen Erinnerungen trennen und das Haus nicht ohne die einst darin beherbergte Geliebte sehen kann, erscheint das frühere Ich hier als ein Bote aus der Vergangenheit, das dem gegenwärtigen Ich als eine außenstehende Person gegenübertritt und die Dissonanz, die schon darin liegt, sich selbst etwas zu erzählen und dabei zugleich zuzuhören, zumal eine Episode, die zeitgleich stattfindet („Still ist die Nacht, es ruhen die Gassen…“) praktisch verkörpert. Dass Selbstvergewisserung nur in der Erfahrung von Differentialität möglich ist, und Identität erst nachträglich konstruiert werden kann, zeigt sich hierin bereits, schon bevor der Doppelgänger, das Ich der Vergangenheit, auftritt und dies noch einmal plastisch vorführt. Das lyrische Ich scheint dementsprechend auch nicht übermäßig erschrocken durch den Anblick der Gestalt, sondern eher empört über deren Wiederholen einer als demütigend erfahrenen Situation.

Zugleich stellt der Doppelgänger offenbar kein nur einmaliges Ereignis der Vergangenheit nach, sondern zusammengefasst zahlreiche, denn „so manche Nacht“ hat sich das nun Nach- und Vorgespielte so zugetragen, in „alten Zeiten“ somit statt „in alter Zeit“, so dass im Grunde hier mehrere „Doppelgänger“ die Verzweiflungsgesten des Ichs imitieren müssten. Das in der Metaphysik der Romantik beschworene Ideal einer nicht vom Verstand verfälschten Authentizität und Präsenz (diese allerdings, als Objekt der Sehnsucht, bezeichnenderweise gerade in ihrer Abwesenheit interessant) erscheint bei Heine ambivalent, ironisch gebrochen, was dann in der Vertonung des Textes noch einmal unterstrichen wird, durch weitere Distanzierung und musikalische Inszenierung eines Bruchs, einer Differenz. Die doppelte Verdopplung in Heines Titel („Heimkehr“ bezeichnet einen Wiederholungsvorgang, und auch die beiden „X“ des Titels sind Wiedergänger voneinander, einerseits identisch und andererseits durch ihre Position unterschieden, das eine zuerst und das andere danach, und damit eben doch nicht identisch) wird in der weiteren Verdopplung durch die Komposition von Der Doppelgänger nachgezeichnet, wenn die Klavierbegleitung wie ein Schatten um die Singstimme herum- und an sie heranschleicht, ihr manchmal auch schon etwas voraus ist, im Augenblick der direkten Begegnung laut wird, um dann nach dem Moment des Kontakts und (gegenseitigen) Erkennens wieder leiser werdend sich der Szenerie zu entziehen, wobei sie aber der Singstimme zugleich auch voraus bleibt und weiter erklingt, als die Singstimme und damit der Text schon verstummt ist. Sie erscheint so als Begleiterin, beobachtend, während die düsteren, lange nachhallenden Akkorde Fortschritt und Stillstand zugleich zu suggerieren scheinen, hohl wie ein Echo unruhig sind und doch repetitiv.

Weit davon entfernt, Authentizität der dichterischen Rede oder des Gesangs zum Ausdruck zu bringen, erscheinen Musik wie Text jeweils in sich gespalten. Ambivalenz, Konflikthaftigkeit und Differenzerfahrung sind in die textliche Vorlage wie in ihre musikalische Bearbeitung bereits eingeschrieben, so dass sie auch insofern als Doppelgänger voneinander gesehen werden können, die dann, aneinander gespiegelt, weitere Wiederholungen erzeugen – keine harmonische Einheit, sondern weitere, potentiell unendliche, Verdoppelungen.

Karoline Baumann, Berlin

Literatur

Walther Dürr/Andreas Krause (Hg.): Schubert-Handbuch, 5. Auflage, Kassel u.a.: Bärenreiter Verlag 2018.

Gesse-Harm, Sonja: Zwischen Ironie und Sentiment. Heinrich Heine im Kunstlied des 19. Jahrhunderts. Stuttgart: J.B. Metzler 2006.

Höhn, Gerhard: Heine-Handbuch. Zeit, Person, Werk. Dritte, überarbeitete und erweiterte Auflage, Stuttgart, Weimar: J.B. Metzler 2004.

Schnell, Ralf: Heinrich Heine zur Einführung. Hamburg: Junius 1996.

Sousa, Karin: Heinrich Heines „Buch der Lieder“: Differenzen und die Folgen. Tübingen: Niemeyer 2007.

Urchueguía, Cristina/ Roger Lüdeke: „Der Doppelgänger. Für eine funktionsgeschichtliche Beschreibung von Schuberts Heine-Vertonung.“ In: Deutsche Vierteljahrsschrift für Literaturwissenschaft und Geistesgeschichte 74 (2000), S. 279-304.


[1] Weitere geringfügigere Änderungen des Ausgangstexts betreffen die Interpunktion. So wurden mehrere Ausrufezeichen zu Kommata abgeschwächt und einige Gedankenstriche und Kommata getilgt.

„Am Brunnen vor dem Tore“ (Der Lindenbaum) von Wilhelm Müller – Karriere als Kunstlied (Franz Schubert) und Volkslied (Friedrich Silcher)

Wilhelm Müller

Am Brunnen vor dem Tore

Am Brunnen vor dem Tore
Da steht ein Lindenbaum;
Ich träumt in seinem Schatten
So manchen süßen Traum.
Ich schnitt in seine Rinde
so manches liebe Wort.
Es zog in Freud und Leide
Zu ihm mich immer fort.

Ich musst auch heute wandern
Vorbei in tiefer Nacht,
Da hab ich noch im Dunkeln
Die Augen zugemacht.
Und seine Zweige rauschten,
Als riefen sie mir zu:
"Komm her zu mir, Geselle
Hier findst du deine Ruh!"

Die kalten Winde bliesen
Mir grad ins Angesicht,
Der Hut flog mir vom Kopfe,
Ich wendete mich nicht.
Nun bin ich manche Stunde
Entfernt von diesem Ort,
Und immer hör ich´s rauschen:
"Du fändest Ruhe dort!"

Der Text des Liedes stammt von Wilhelm Müller (1794–1827), einem Dichter, der als Lehrer an der Gelehrten Schule in Dessau und später als Bibliothekar arbeitete. Von seinem Gedichtzyklus Die Winterreise, veröffentlicht in Sieben und siebzig nachgelassenen Gedichten aus den Papieren eines reisenden Waldhornisten, sind 20 von Franz Schubert (1797-1828) im gleichnamigen Liederzyklus als Kunstlieder vertont worden (Siehe Alfred Brendels Beitrag Schuberts Winterreise in DIE ZEIT Nr. 48/2015, 26. November 2015). Darunter unter dem Titel Der Lindenbaum das 1822 entstandene Gedicht Am Brunnen vor dem Tore. Bereits 1821 hatte Müller Das Wandern ist des Müllers Lust verfasst.

Die zunehmende Beliebtheit dieser beiden Lieder hat Müller nicht mehr erleben dürfen. Am Brunnen vor dem Tore wurde erst zum Volkslied, nachdem der Komponist und Musikpädagoge Friedrich Silcher (1789–1860) die von Schubert komponierte Melodie für den Laiengesang arrangierte (1846); ähnlich wie das Lied Des Wandern ist des Müllers Lust, das ebenfalls von Franz Schubert komponiert, erst durch die Vertonung 1844 von Carl Friedrich Zöllner populär wurde.

In der ersten Strophe erfahren wir, dass der Sänger bei seiner Wanderung vor dem Stadttor an einem Lindenbaum und einem Brunnen vorbeikommt. Im Schatten der Linde hat er »so manchen süßen Traum« geträumt. So süß scheinen seine Träume aber nicht (mehr) zu sein, denn er meint, die Zweige riefen ihm zu: »hier find’st deine Ruh’«.

Der Musikwissenschaftler Heinz Rölleke versteht diesen vermeintlichen Ruf als Gedanken an den Tod (in: Das große Buch der Volkslieder – Über 300 Lieder, ihre Melodien und Geschichte, Köln 1983, S. 283).

Losgelöst von dem schwermütigen Zyklus Die Winterreise könnte das Lied auch anders gesehen werden: Als Geselle hat der Sänger es satt, immer wieder auf Wanderschaft gehen zu müssen (vgl. Hoffmann von Fallersleben: Heute noch sind wir hier zu Haus / morgen geht’s zum Tor hinaus / und wir müssen wandern / keiner weiß vom andern).

Zu der Zeit der Entstehung des Liedes war es eine Zunftpflicht, als Wanderbursche drei Jahre und einen Tag durch die deutschen Lande zu wandern und sich bei Meistern gegen Kost und Logis und einen geringen Lohn zu verdingen (Näheres s. Interpretation zu Es, es, es und es). Sicherlich hat der Wanderbursche manches Mädchen kennengelernt, dabei »Freud‘ und Leide« erfahren und wahrscheinlich nicht nur in unseren Lindenbaum »manches liebe Wort« geschnitten. Er träumt von den Freuden, als er verliebt war, aber denkt auch an das Leid, das ihm immer wieder das Abschiednehmen bereitet hat.

Abb.: Historische Bildpostkarten – Sammlung Prof. Dr. Sabine Giesbrecht, Uni Osnabrück; Österreichische Bildpostkarte von 1913 (Urheber unbekannt)

Der Anfang der zweiten Strophe könnte der Interpretation von Rölleke recht geben: »In tiefer Nacht« zu wandern, dabei im »Dunkeln die Augen zuzumachen«, kann nur sinnbildlich zu verstehen sein. Die Nacht, das Dunkel – mit den Substantiva Brunnen, Tor, Traum, Ruhe zum Vokabular der Romantik gehörend – lässt den Wanderburschen den Tod ahnen.

Doch er schiebt diese Gedanken von sich und wandert weiter, selbst wenn ihm »die kalten Winde gerad‘ ins Angesicht wehen«, und er dreht auch nicht um, als ihm der »Hut vom Kopfe fliegt«. Er geht den Weg, den er gehen muss, d.h. solange bis seine drei Jahre und ein Tag abgelaufen sind. Aber er ist gewiss: die Wanderschaft geht bald zu Ende, und er freut sich auf den Ort, in dem er seine Liebste weiß und hofft, dort endlich Ruhe zu finden.

1917 veröffentlichte Wohlfahrtspostkarte der Deutschen Kolonial- Kriegerspende nach einem Bild von Hans Baluschek (1870–1935) (Deutsches Historisches Museum).

Rezeption

Am Brunnen vor dem Tore gehörte 1975 laut einer repräsentativen Umfrage des Instituts für musikalische Volkskunde (heute: Institut für europäische Musikethnologie, Universität Köln) zum beliebtesten Lied der von den Befragten frei (heraus) genannten Lieder. Seit Silchers Bearbeitung zur volksliedhaften Melodie ist es durch die Jahrhunderte populär geblieben. Das erste mir bekannte Liederbuch, das das Lied aufnahm, war 1869 die Sammlung von Volksgesängen für den gemischten Chor, dem bis zur Jahrhundertwende (1900) einige Schulbücher (auch in Österreich und in der Schweiz) und zahlreiche andere Liederbücher folgten. Erwähnenswert – der hohen Auflage wegen – sind Schauenburgs Allgemeines Commersbuch, das 1911 die 110. Auflage erlebte und die von dem berühmten Liedersammler und -forscher Ludwig Erk (1800-1883) herausgegebene Sammlung Deutscher Liederschatz.

Während das Lied bis 1933 – geht man von den Lieder- und Chorbüchern aus – in allen Bevölkerungskreisen gesungen wurde, fand es keinen Eingang in eines der einschlägigen Liederbücher der Jugendbewegung.

Auch in die Liederbücher der NS-Organisationen wurde das Lied nicht aufgenommen; wahrscheinlich war es der Führung zu romantisch oder es wurde als Lied mit Todesgedanken für nicht geeignet befunden. Erst ab 1940 erschien es in einigen Liedersammlungen der Deutschen Wehrmacht; das ist umso erstaunlicher, als es seines 3/4-Taktes wegen nicht gerade zum Marschieren geeignet ist.

Betrachtet man die Ausgaben der Liederbücher nach 1945, so ist festzustellen, dass es in den ersten Nachkriegsjahren nur in wenigen Liederbüchern auftauchte, die zudem nur geringe Auflagen hatten. Erst 1962 wurde es in dem weitverbreiteten, vor allem in Schulen eingesetzten Reclam Taschenbuch Deutsche Volklieder abgedruckt. Die Popularität nahm weiter zu, nachdem 1972 bis 1977 von Heino fünf Langspielplatten mit dem Lied herauskamen. Den Schubertschen Lindenbaum interpretierten berühmte Sänger wie Rudolf Schock, Hermann Prey, Peter Schreier und Dietrich Fischer-Dieskau. Mireille Mathieu und Nana Mouskouri dagegen zogen es vor, Am Brunnen vor dem Tore als Volkslied zu singen.

Bald setzte bei den Liederbüchern ein regelrechter Boom ein. Allein 1977 bis 1988 kamen sechs Taschenbücher und auch weitere Liedersammlungen mit dem Lied heraus. Wie gern das Lied angehört wurde und heute noch wird, zeigen die rund 460 im Katalog des Deutschen Musikarchivs (DMA), Leipzig, aufgeführten Tonträger von der Schellackplatte bis zur CD und die vielen hundert Videos bei YouTube. Auch die im DMA katalogisierten rund 150 Partituren deuten darauf. Bei so gut wie jedem Auftritt eines Männerchors ist das Lied zu hören. Die Zentralstelle für deutschsprachigen Chorgesang in der Welt zählt mehr als 570 Chöre auf, die Am Brunnen vor dem Tore bzw. Der Lindenbaum in ihr Repertoire aufgenommen haben.

Georg Nagel, Hamburg

Vom autobiographischen Gedicht zum Volkslied: Joseph von Eichendorffs „Das zerbrochene Ringlein“

Joseph von Eichendorff

Das zerbrochene Ringlein

In einem kühlen Grunde,
da geht ein Mühlenrad;
mein Liebchen ist verschwunden,
das dort gewohnet hat.

Sie hat mir Treu' versprochen,
gab mir ein' Ring dabei,
sie hat die Treu gebrochen:
Das Ringlein sprang entzwei.

Ich möcht' als Spielmann reisen
weit in die Welt hinaus
und singen meine Weisen
und gehn von Haus zu Haus.

Ich möcht' als Reiter fliegen
wohl in die blut'ge Schlacht,
um stille Feuer liegen
im Feld bei stiller Nacht.

Hör' ich das Mühl'rad gehen,
ich weiß nicht, was ich will -
ich möcht' am liebsten sterben,
dann wär's auf einmal still.

Herkunft und Entstehung

Joseph von Eichendorff (1788-1857) hat den Text 1809/10 gedichtet. Anlass für das Verfassen des Gedichts war eine unglückliche Liebe Eichendorffs. Nach der Veröffentlichung seiner Tagebücher 1908 wurde offenbar, dass Eichendorff als Student in Heidelberg 1807/08 eine Liebesbeziehung zu einem Mädchen in Rohrbach (bei Heidelberg) hatte, deren Namen er im Tagebuch mit „K.“ abkürzte. Als das Tagebuch in Rohrbach bekannt wurde, meinten die Rohrbacher im Zusammenhang mit dem Text „In einem kühlen Grunde, / da geht ein Mühlenrad“, es könne sich nur um eine schöne Müllerstochter aus ihrem Ort handeln.

Zu Eichendorffs Zeit vor 200 Jahren besaß Rohrbach in einem zur Rheinebene abfallenden Seitental zwar fünf Wassermühlen, aber der Weg, der durch dieses Tal führte, hieß ganz unromantisch Bierhelder Weg, und der Grund wurde von den Bewohnern schlicht Mühlental genannt. Als Rohrbach im Jahre 1927 zu Heidelberg eingemeindet wurde, nutzte man die Chance zur Umbenennung dieses Weges in den touristenanziehenden „Kühlen Grund“.

Es dauerte noch etliche Jahre bis das „K.“ in Eichendorffs Tagebuch entschlüsselt wurde. Endgültige Klarheit schuf erst der Pfarrer Karl Otto Frey in einem Forschungsbericht (1938). Es war Katharina (Käthchen) Förster, die Tochter des Küfermeisters Johann Georg Förster, also keine Müllerstochter. Jedoch gab es eine Verbindung zu einer Wassermühle, da Käthchens Onkel Johann Jakob Förster Eigentümer der „Förstermühle“ war.

Eichendorffs Tagebuch bricht im April 1808 plötzlich ab. Es wird vermutet, dass er in seinem Gedicht Das zerbrochenen Ringlein seinen Schmerz über ein treuloses Mädchen von der Seele geschrieben hat.

Zum ersten Mal veröffentlicht wurde das Gedichtes 1813 in dem von Justinus Kerner und Ludwig Uhland herausgegebenen Almanach Deutscher Dichterwald mit der schlichten Überschrift „Lied“ und unterzeichnet mit „Florens“, dem Namen, den Eichendorff im Heidelberger Kreis (einer Gruppierung innerhalb der deutschen Romantik) erhalten hatte.

Der damaligen Theologiestudent und spätere Pfarrer Friedrich Glück (1793 – 1840) komponierte 1814 die Melodie zu dem Gedicht für sein Gesangsquartett.

Populär wurde das Lied vor allem in den Gesangvereinen, nachdem Friedrich Silcher dazu einen Männerchorsatz 1825 veröffentlicht hatte. Besonders in der ersten Hälfte des 20. Jahrhunderts war der Kühle Grund auch ein beliebtes Motiv auf Liedpostkarten.

Liedbetrachtung

Anregungen zu dem Gedicht hat Eichendorff aus älteren Volksliedern gewonnen, z.B. aus den aus dem 18. Jahrhundert stammenden Liedern Da droben auf jenem Bergenicht zu verwechseln mit Goethes gleichnamigen Gedicht -, (vgl. in dessen Strophe fünf „da treibet das Wasser ein Rad“ und sechs „das Mühlrad ist zerbrochen“) sowie Da drunten in jenem Tale, (vgl. dessen in Strophe einsda treibet das Wasser ein Rad“ und Strophe zwei „das Mühlrad ist zersprungen“).

Für Liedforscher deutet sich schon in den ersten Zeilen ein trauriges Ereignis an, da im 18. Jahrhundert die Mühle als Schauplatz einer unglücklichen Liebe galt und das zerbrochene Ringlein als Treuebruch (vgl. Heinz Rölleke: Das große Buch der Volkslieder, 1993, S. 204; Thomas Mang: Der Liederquell, 2015, S. 311).

Die Folgezeilen bestätigen das: Das vom lyrischen Ich als Liebchen bezeichnete Mädchen ist verschwunden. Obwohl das ihrem Liebsten einst gegebene Treueversprechen mit der Übergabe eines Ringes besiegelt hat, hat sie es gebrochen. Die Metapher, „das Ringlein sprang entzwei“ drückt die Endgültigkeit der Trennung aus.

So wie der Ring entzwei sprang, so ist auch das Herz des Liebsten gebrochen. Er mag nicht länger am Ort seiner Liebe verweilen, sondern möchte am liebsten weit in die Welt hinaus reisen. Seine Vorstellung, als Spielmann singend von Haus zu Haus ziehen, dürfte als eine Überkompensation seiner Niedergeschlagenheit anzusehen sein.

Aus dem erlitten Schmerz heraus erklärlich ist auch sein Wunsch in den Krieg zu ziehen, sich kämpfend zu beweisen, um dann abends endlich zur Ruhe zu kommen und am Lagerfeuer zu liegen.

Zwischen Spielmann und Kämpfer hin und her gerissen, gesteht er sich ein, weder ein noch aus zu wissen. Ihm kommt der Gedanken, am liebsten sterben zu wollen. Aber noch dreht sich das Mühlrad, und so besteht die Hoffnung, dass seine Todessehnsucht nur vorübergehend war.

In einer Variante der letzten Strophe (aus Volkslieder von der Mosel und Saar nach L. Röhrich und R.W. Brednich: Deutsche Volkslieder. Texte und Melodien, 1967, Band II, S. 434) heißt es:

Hör‘ ich ein Mühlrad gehen,
ich weiß nicht, was es will:
Am liebsten möchte‘ ich sterben!
Dann stand‘s auf einmal still.

Hier wird deutlich, dass einst ein stehendes Mühlrad symbolisch für Herzstillstand und Tod steht (vgl. oben Rölleke und Mang).

Angeregt durch Eichendorffs In einem kühlen Grunde hat Justinus Kerner (1786-1862) sein Gedicht Dort unten in der Mühle 1830 verfasst und die Melodie von Friedrich Glück (s. o.) übernommen. In der sechsten und letzten Strophe seines Liedes greift Kerner das Bild des stehenden Mühlrads auf:

Vier Bretter sah ich fallen,
mir ward’s ums Herze schwer;
Ein Wörtlein wollt‘ ich lallen,
da ging das Rad nicht mehr.

Rezeption

In einem kühlen Grunde ist seit 1825 (s.o.) bis heute ein außerordentlich beliebtes Lied, vor allem bei Männerchören, geblieben. Darauf deuten die zahlreichen mir online und in Privatbibliotheken zur Verfügung stehenden Liederbücher (rund 500) hin.

Im 19. Jahrhundert trugen vor allem das Sammelwerk von Kretschmer und Zuccalmaglio Deutsche Volkslieder mit ihren Originalweisen (1840), Hoffmanns von Fallersleben Deutsches Volksgesangbuch (1848) und Schauenburgs Allgemeines Deutsches Commersbuch von 1858 (1914 101. bis 110. Auflage) zur Popularität des Liedes bei sowie Ludwig Erks Volkslieder-Album (1872).

Anfang des 20. Jahrhunderts erschienen zahlreiche Liederbücher für Studenten und Wandervögel. 1914 war Das zerbrochene Ringlein sogar im Kriegsliederbuch für das Deutsche Heer vertreten. 1933 erlebte das Liederbuch für Schule und Haus Kling Klang Gloria mit dem Lied seine 24. Auflage, und Das zerbrochene Ringlein fand Eingang in diverse NS- Liederbücher, darunter solche für den Bund Deutscher Mädel, die NS-Frauenschaften und das Chorliederbuch für die deutsche Wehrmacht.

Nach dem Zweiten Weltkrieg erschienen einige Liederbücher ohne die martialische 4. Strophe, so z. B. 1946 in der damaligen Sowjetischen Besatzungszone das Liederbuch für die deutsche Jugend (FDJ) und das vom Deutschen Gewerkschaftsbund herausgegebene Liederbuch für unsere schaffende Jugend (1948).

Bemerkenswert finde ich, dass 1953 der Deutsche Fußballbund das romantische Lied in sein Liederbuch des DFB aufnahm, ebenso wie ein Jahr später der deutsche Turnerbund in sein Liederbuch des DTB. Gleich in zwei Versionen ist es in der zweibändigen Sammlung der Volksliedforscher L. Röhrich und R.W. Brednich Deutsche Volkslieder (1967) vertreten. Wie populär Eichendorffs In einem kühlen Grunde auch in den 1970er Jahren war, zeigt sich daran, dass es Eingang fand im weit verbreiteten Sammelband Volkslieder aus fünfhundert Jahren von Ernst Klusen (1978, 2. Auflage 1981 51. bis 100. Tausend) und in den in relativ hohen Auflagen erschienenen Taschenbüchern des Heyne Verlags Der Deutsche Liederschatz (1975) und Der Deutsche Balladenschatz (1975, 3. Auflage 1976). Aufgrund der Verkaufserfolge zogen die Verlage Schneider mit Lieder unserer Zeit (1982) und Weltbild mit Deutscher Liederschatz (1988) und 1998 mit Das Volksliederbuch nach.

Wie beliebt das Lied heute noch ist, kann man an den 11 Liederbüchern mit ihm sehen, die in der Zeit von 2002 bis 2015 erschienen sind. Wie gern es gesungen wird, zeigt der Katalog des Deutschen Musikarchivs Leipzig mit 62 Partituren für Männerchöre. Angesichts der Tatsache, dass es sich bei den 123 Tonträgern mit dem Lied im Katalog fast ausschließlich um Schellackplatten handelt, könnte man davon auszugehen, dass Das zerbrochene Ringlein heutzutage weniger angehört als gesungen wird.

Jedoch sprechen die Videos bei YouTube eine andere Sprache: Von den Comedian Harmonists und zahlreichen Chören, darunter dem Dresdner Kreuzchor (s.o.), abgesehen, haben die Tenöre Richard Tauber und Fritz Wunderlich, die Baritone Hermann Prey, Thomas Quasthoff und Max Raabe sowie die Sopranistin Elisabeth Schwarzkopf, alle das Lied interpretiert. Auch Freddy Quinn und Hannes Wader und sogar die Chansonette Mireille Mathieu haben es sich nicht nehmen lassen, auf ihre Art In einem kühlen Grunde zu singen.

Georg Nagel, Hamburg

Welcome to Interzone: „Zwielicht“ von Robert Schumann (Text: Joseph von Eichendorff)

Robert Schumann

Zwielicht 

Dämmrung will die Flügel spreiten,
Schaurig rühren sich die Bäume,
Wolken ziehn wie schwere Träume –
Was will dieses Grau'n bedeuten?

Hast ein Reh du lieb vor andern,
Laß es nicht alleine grasen,
Jäger ziehn im Wald und blasen,
Stimmen hin und wider wandern.

Hast du einen Freund hienieden,
Trau ihm nicht zu dieser Stunde,
Freundlich wohl mit Aug' und Munde,
Sinnt er Krieg im tück'schen Frieden. 

Was heut gehet müde unter,
Hebt sich morgen neu geboren.
Manches geht in Nacht verloren –
Hüte dich, sei wach und munter!

     [aus: Liederkreis nach Joseph Freiherrn von Eichendorff op. 39.]

Was will dieses Grau’n bedeuten? „Grau’n“ hat hier (mindestens) zwei Bedeutungen, einmal das diffuse Grau des Zwielichts, von dem das Lied seinen Namen hat, in dem Farben und Konturen verschwimmen und ununterscheidbar werden. Zugleich meint „Grau’n“ Schaudern, Gruseln oder Fürchten, das durch den Verlust der Schärfe des Blicks und die daraus resultierende Ungewissheit ausgelöst wird. Das Zwielicht, die Zeit, in der der Tag noch nicht vorbei ist und die Nacht noch nicht begonnen hat, ist eine Zeit der Uneindeutigkeit und Unabgeschlossenheit, des Übergangs und der offenen Bedeutung. Tagsüber sieht man auf der Erde gut, nachts wird wenigstens der Himmel durchsichtig und erlaubt einen in diese Richtung sogar viel weiteren Blick als das Tageslicht. Was aber gibt es im Zwielicht zu sehen?

Zwielicht ist das zehnte der zwölf Lieder aus Schumanns Liederkreis (1842), dessen Texte Schumann einem 1837 erschienenen Gedichtband Joseph von Eichendorffs entnommen hat, und bildet, in Adornos Lesart, den „Schwerpunkt“ des Liederkreises, „die tiefste, dunkelste Stelle des Gefühls“ (Adorno 90). Handelt es sich denn überhaupt um einen Liedtext, wenn die Vertonung doch erst nachträglich und durch jemand anderen erfolgte, sind es nicht eigentlich Gedichte, denen im Nachhinein eine Melodie zugefügt wurde? In der Romantik war die Vorstellung einer ursprünglichen Einheit von Sprache und Musik verbreitet, welche verlorengegangen sei und daher nun künstlich hergestellt werden müsse. Dieser Idee verdankt das romantische Kunstlied in hohem Maße seine Beliebtheit (und Schumann selbst betrachtete seinen „Eichendorff’sche[n] Cyclus“ sogar als „wohl mein aller Romantischstes“ (Brief an Clara Wieck vom 22. Mai 1840), denn das Lied galt als Möglichkeit, diese Einheit wiederherzustellen.

Robert Schumann, 1850

Musik existiert in der Romantik nicht nur als das akustische Medium, sondern auch als literarische Gattung: Texte, die als Lieder „gedacht“ sind und als solche in romantischen Prosatexten figurieren. Ebendiese „Lieder“ bilden nun eine Vorlage für die musikalische Gattung. Heinrich Heine nannte seine Gedichtsammlung Buch der Lieder (1827), Schumann dessen spätere Vertonung Dichterliebe (1840) – nicht nur hierin zeigt sich die von beiden Seiten angestrebte Verschränkung der beiden Medien Musik und Literatur. Für Lieder und Gesänge aus J.W.v. Goethes „Wilhelm Meister“ op. 98a (1849) klaubte Schumann (bis auf eines) sämtliche Gedichte aus Goethes Roman heraus, änderte lediglich ihre Reihenfolge, und schuf so gewissermaßen dessen „lyrisches Substrat“ (Tewinkel 416). Auch bei Eichendorff sind zahlreiche Liedtexte in Prosaerzählungen enthalten, in Aus dem Leben eines Taugenichts, Das Marmorbild, Das Schloß Dürande usw., und als solche in das Erzählgeschehen integriert. Zwielicht erscheint erstmals als Lied in Eichendorffs Roman Ahnung und Gegenwart (1815), wo es von einer unbekannten Stimme vor der Szenerie einer sich abends allmählich dem Ende neigenden Waldjagd gesungen wird. Den Namen Zwielicht erhielt es jedoch erst für den 1837 erschienenen Gedichtband, den Schumann als Quelle nutzte. Einem solchen Liedtext, auch wenn er in einem Band erscheint, der den Titel „Gedichte“ trägt, liegt damit eine „Rhetorik des Liedes“ (Schanze 12) zugrunde, bereits bevor eine Melodie dazu komponiert wird. Diese Rhetorik manifestiert sich in verschiedenen, auf Wiederholung basierenden Figuren wie Reim und Rhythmus, auch Anapher, Epipher, Homophonie, Paronomasie, Symploke und zahlreiche weitere können dazu zählen. Hinzu kommen weitere Merkmale wie relative Kürze, sowohl der Zeilen als auch des Gesamttextes, relative Schlichtheit der Sprache und Bilder, häufig Strophenform und allgemein eine gewisse Regelmäßigkeit im Aufbau – mehr noch als bei anderen Gedichten, die zwar wie die Dichtung insgesamt ursprünglich ebenfalls auf den mündlichen Vortrag, begleitet von Musikinstrumenten, ausgerichtet waren, sich aber davon mit der Zeit entfernt und ausdifferenziert haben, später auch oftmals eher auf die individuelle Lektüre als auf eine soziale Aufführungspraxis hin angelegt sind.

Adorno zufolge wahren die Zwielicht-Verse zumindest in Eichendorffs Prosaerzählung „eine gewisse Oberflächen-Verständlichkeit. Aber sie reicht nicht weit“ (Adorno 80). Es wäre auch kaum Zwielicht, wenn die Verständlichkeit weit reichen würde. Und auch kein romantischer Text. Zwielicht ist der Fragmenthaftigkeit und dem ständigen Andeuten von Bedeutungen, die nie ganz eingelöst werden, geradezu verpflichtet. Der Text stellt selbst die Frage: „Was will dieses Grau’n bedeuten?“, wie um Deutungsversuche herauszufordern und natürlich ohne die Antwort darauf zu liefern. Was also bedeutet das Grauen, warum löst die Unverständlichkeit solches Schaudern aus? Die äußere Form ist beruhigend regelmäßig, der Text besteht aus vier vierzeiligen Strophen, die jeweils einen umarmenden Reim (abba) aufweisen und im regelmäßigen vierhebigen Jambus verfasst sind (hier, im Rhythmus und in den mit Variationen wiederholten Klängen der Reime findet sich das oben versprochene, im Text bereits angelegte musikalische Element). Die Strophen bilden jeweils einen Satz, bis auf die letzte, die zwei Sätzen enthält und mit dem Appell endet: „Hüte dich, sei wach und munter!“, der in Schumanns Komposition deutlich herausgehoben und als Secco-Rezitativ gesprochen wird, während das Piano schweigt.

In der ersten Strophe wird die Szenerie umrissen, die Dämmerung beginnt, beschrieben wie ein riesenhaftes Phantasiewesen, das seine Flügel ausbreitet, die Bäume wirken jetzt schaurig, bewegen sich, auch die Wolken sind in Bewegung. Durch die Analogie zu Träumen wird ein halbbewusster Zustand suggeriert, der dem paradoxen Wachen und Erleben bei gleichzeitiger Bewusstlosigkeit im Schlaf gleicht. Die Träume sind, passend zum „schaurig“ der Zeile zuvor, „schwer“ („schwer“ hat wie „Grau’n“ zwei Bedeutungen), bevor dann in der vierten Zeile der zuvor geschilderten Situation das ebenfalls doppeldeutige „Grau’n“ zugeschrieben wird.

In der zweiten Strophe wendet sich die Erzählinstanz direkt an ein Gegenüber und bleibt von nun bis zum Ende des Gedichts in diesem dialogischen Modus. Zugleich belebt sich die bis dahin als einsam beschriebene Szene durch verschiedene Figuren, die ins Bild treten bzw. hörbar werden, ein Reh erscheint und Jäger, die vor allem durch ihre akustische Präsenz für Unruhe sorgen, der Klang von Stimmen und Hörnern wandert „hin und wider“, diffus und schwer zuzuordnen wie die im schwachen Licht undeutlich erscheinenden Umrisse auf der visuellen Ebene, dabei ebenfalls, wie diese, latent bedrohlich.

In der dritten Strophe wird die unmittelbare Umgebung der Waldszene und der Jagd verlassen und die Unklarheit und Uneindeutigkeit auf eine moralische Ebene ausgeweitet: Nun erscheinen die Absichten eines Freundes zweifelhaft, der Frieden ist „tückisch“ und hinter dem freundlichen „Aug’ und Munde“ steht doch „Krieg“, bevor in der letzten Strophe die Bedrohung akuter und zugleich noch geheimnisvoller wird: Nicht alles bleibt dem zyklischen Auf und Ab des Wechsels von Tag zu Nacht erhalten, „manches geht in Nacht verloren“, und als Mittel dagegen wird mit einer gewissen Dringlichkeit zu erhöhter Wachsamkeit gerufen und zwar gerade jetzt, wo das Licht schwindet und die Wahrnehmung unzuverlässig wird, sich nicht der vertrauensseligen Selbstaufgabe des Schlafs zu überlassen, die Gefahr und Verlust bedeutet, sondern aufmerksam, ja misstrauisch zu bleiben.

Sofern der „Freund“ eine echte Gefahr darstellt, und das Zwielicht die Möglichkeit gibt, für vertraut gehaltene Dinge buchstäblich in einem anderen Licht, aus einer anderen Perspektive zu sehen, oder auch eben gerade einmal nicht sehen, nicht erkennen zu können, hat das Zwielicht als ein Bereich des Dazwischen und der flexiblen Grenzen durchaus einen positiven, zumindest nützlichen Aspekt. Vielleicht ist der Frieden tatsächlich trügerisch, und hier spricht nicht, wie Adorno urteilt, der „Wahnsinn der schizoiden Mahnung“, die „Verfolgungsphantasie des Abgeschiedenen“ (Adorno 80). Die Erfahrung, sich weder auf die Sinne noch auf den Verstand, wie man es sonst für möglich hielt, verlassen zu können, eröffnet zumindest die Möglichkeit, an bisher für sicher und verbürgt Gehaltenem auch andere Seiten zu sehen, die sich der gewohnten Zuordnung zu entweder eindeutig Hellem oder unzweifelhaft Dunklem entzogen. Ein Beispiel dafür kann die Bearbeitung eines weiteren Lied-Gedichts Eichendorffs durch Hanns Eisler bieten. Eisler vertonte 1943 im US-amerikanischen Exil Eichendorffs In der Fremde und fügte dabei seiner Heimat, jetzt Nazideutschland, aus der er gezwungen war zu fliehen, eine andere Bedeutung zu als „Heimat“ bei Eichendorff hat, wo sie noch Sehnsuchtsort ist. Dabei zitiert er Eichendorffs Volksliedsprache ebenso wie auf musikalischer Ebene Schumanns Mondnacht und damit sozusagen die deutsche Romantik insgesamt. Die romantische Heimat erscheint hier zerstört, vernichtet, die Spielanweisung lautet entsprechend „mit bitterem Ausdruck, scharf“. Die „Heimat hinter den Blitzen rot“, wie das Lied und Eichendorffs Gedicht beginnt, kann durch unterschiedlichen Lichteinfall, andere Schattierungen einmal so und einmal so aussehen. Was „in Nacht“ demnach verlorengehen kann, wie das Zwielicht andeutet, ist also die eindeutige Bedeutung, denn „Zwielicht“ steht für das Auflösen von Grenzen, die der Bestimmung von etwas dienen, der Unterscheidbarkeit.

Verdoppelungen

Es stellt sich aber die Frage, warum das Aufheben der Grenzen zwischen Musik und Text wie hier im Kunstlied angestrebt, ja zelebriert wird, während die Ununterscheidbarkeit und Grenzenlosigkeit im Zwielicht Angstgefühle, ein „Grau’n“, „Schaudern“ usw. auslösen soll. Auch das romantische Kunstlied ist eine Interzone, wo Musik und Dichtung sich die Show teilen. In Zwielicht aber wird die fließende Grenze zwischen Tag und Nacht als etwas Bedrohliches erlebt, Hell und Dunkel vermischt sich nicht nur zu grau, sondern wird dadurch zum „Grau’n“, statt als als ein harmonisches Ineinander idealisiert zu werden. So wie das Zwielicht hier dargestellt wird, als ein form- und gestaltloser Raum voll wandernder Stimmen und Töne, die zur Orientierungslosigkeit führen, steht kaum eine harmonische Einheit wie die von Sprache und Musik im Lied dahinter, sondern im Gegenteil Diffusion, Verstreuung, Vereinzelung. Nicht nur Tag und Nacht, Musik und Text, Komponist und Dichter, auch Einheit und Diffusion sind Doppelgänger voneinander, die in diesem Lied/in diesem Licht gemeinsam vertreten sind und durcheinander durchscheinen. Schumann hat Zwielicht in seinem Liederkreis auch (mindestens) einen Doppelgänger an die Seite gestellt: Als dem drittletzten Lied des Liederkreis, komponiert in e-moll, korreliert ihm das dritterste, Waldesgespräch in E-Dur. Ähnlich wie ein Spiegelbild dem Original genau gleicht und doch anders ist,  seitenverkehrt, ist hier die Tonart identisch und das Tongeschlecht different (Wechsel von Dur zu moll), und auch die Geschwindigkeiten der beiden Stücke sind entgegengesetzt: Die Spielanweisung zu Zwielicht lautet langsam, Waldesgespräch hingegen soll ziemlich rasch gespielt werden. Auch in Waldesgespräch wird eine einsame Szene im Wald beschrieben, aber hier wird ausgesprochen, was in Zwielicht nur als vage Drohung im Raum steht: „kommst nimmermehr aus diesem Wald.“

 

In diesem Lied/ in diesem Wald wird das gejagte Reh zum Jäger und der eben noch Jäger findet sich in der Rolle des verfolgten Rehs, für das die Falle zuschnappt. Die Frage, ob das gruselig ist oder nicht, wird das Reh sicher anders als der Jäger beantworten. Und doch: auch wenn sich in diesem (immerhin Dur-) Stück die Rollen verkehren, die Positionen getauscht werden, so bleiben sie als solche doch bestehen. In Zwielicht dagegen ist alles offen, sind die Verhältnisse in der Schwebe; Krieg und Frieden sind ebenso wie Freundschaft und Tücke gleichermaßen eine Möglichkeit. Nur in der letzten Strophe wird mit „manches geht in Nacht verloren“ auf eine eindeutigere Veränderung der Verhältnisse hingewiesen, wie sie in Waldesgespräch erfolgt ist. Dabei hat sich auch dort eigentlich gar nicht soviel verändert, es fand nur ein Rollentausch statt. Im Zwielicht der offenen Möglichkeiten hingegen sind die Gegensätze und Dualitäten (für den Moment zumindest) aufgehoben – um den Preis der Orientierung, die diese boten, so dass der Raum des Zwielichts als auswegloses Labyrinth erscheinen kann, in dem Schatten oder Gespenster statt fester Begriffe zu Hause sind. Das Ende von Zwielicht bleibt, auch musikalisch, offen; die Warnung, „wach“ zu sein, bleibt somit bestehen, auch oder gerade wenn durch die zirkuläre Struktur, die der Liederkreis vorgibt, nun alles wieder von vorne beginnt.

Karoline Baumann, Berlin

Literatur:

Adorno, Theodor: „Zum Gedächtnis Eichendorffs. Coda: Schumann“. In: ders. Noten zur Literatur, hg. von Rolf Tiedemann. Gesammelte Schriften II. Frankfurt a.M. 1974, S. 69-94.

Andraschke, Peter: „Schumann und Eichendorff. Zur Rezeption von Schumanns Liederkreis op. 39“ In: Wendt (Hg.) 1993, S. 159-172.

Cone, Edward T., The Composer’s Voice, Berkeley 1974.

Ferris, David: Schumann’s Eichendorff Liederkreis and the Genre of the Romantic Cycle. Oxford 2000.

–: „‚Was will dieses Grau’n bedeuten?’ Schumann’s ‚Zwielicht’ and Daverio’s ‚Incomprehensibility Topos’“, in: The Journal of Musicology 22:1, Winter 2005, S. 131-153.

Kaiser, Gerhard: Geschichte der deutschen Lyrik von Goethe bis zur Gegenwart. Band 1: Geschichte der deutschen Lyrik von Goethe bis Heine. Ein Grundriß in Interpretationen, Teil 1. Frankfurt a.M. 1988.

Höckner, Berthold: „Spricht der Dichter oder der Tondichter? Die multiple persona und Robert Schumanns Liederkreis op. 24“. In: Wendt (Hg.) 1993, S. 18-32.

Schanze, Helmut: „Die Gattung ‚Lied’ im Spannungsfeld von Dichtung und Musik“. In: Wendt (Hg.) 1993, S. 9-17.

Tewinkel, Christiane: „Lieder“. In: Ulrich Tadday (Hg.): Schumann-Handbuch. Stuttgart, Weimar: 2006, S. 400-457.

Wendt, Matthias (Hg.): Schumann und seine Dichter. Bericht über das 4. Internationale Schumann-Symposion am 13. und 14. Juni 1991 im Rahmen des 4. Schumann-Festes, Düsseldorf. Schumann Forschungen Band 4. Mainz 1993.

Wißkirchen, Hubert: „Zwielicht. Schumanns Vertonung des Eichendorffschen Gedichtes “, in: Musik im Unterricht 11, November 1967, S. 370-376.

Sonne, Strand und Glück? Lyrische Klischees in großartigem musikalischem Gewand: Richard Strauss, „Morgen!“ op. 27 Nr. 4 (Text: John Henry Mackay)

Richard Strauss (Text: John Henry Mackay)

Morgen!

Und morgen wird die Sonne wieder scheinen,
und auf dem Wege, den ich gehen werde,
wird uns, die Glücklichen, sie wieder einen
inmitten dieser sonnenatmenden Erde. . .

Und zu dem Strand, dem weiten, wogenblauen,
werden wir still und langsam niedersteigen,
stumm werden wir uns in die Augen schauen,
und auf uns sinkt des Glückes stummes Schweigen. . .

Für Robin Phillips, den künstlerischen Leiter der „Liederabende in der Montagehalle“ am Nationaltheater Mannheim

Obwohl sich Richard Strauss (1864-1949) primär als Opernkomponist verstand, soll er einmal zu dem berühmten Sänger Hans Hotter gesagt haben, „Eigentlich sind meine Lieder mir mit das Liebste, was ich geschrieben habe.“ Fast 200 Liedkompositionen sind von ihm überliefert, doch zu den heute bekannten gehören nur ungefähr 20 davon, darunter auch Morgen! – ein Beispiel dafür, dass Strauss auf literarische Qualitäten seiner vertonten Texte wohl mitunter wenig Wert legte. Ihm kam es auf andere Merkmale an – und diese inspirierten ihn zu großer Kunst.

Das Lied entstand im Mai 1894 als vierte und letzte Nummer eines Zyklus, op. 27, den Strauss seiner Braut, der Sängerin Pauline de Ahna, zur Hochzeit schenkte. Dabei folgte er einer Tradition des Brautgeschenks, die Robert Schumann 54 Jahre früher begründet hatte, als er Clara Wieck seinen Liederzyklus Myrthen op. 25 am Hochzeitstag überreichte.

Von Hochzeitsgeschenken erwartet man nichts anderes, als dass sie sich affirmativ zum gegenwärtigen und künftigen Glück verhalten. Und so scheint denn auch Morgen! das op. 27 nach Ruhe, meine Seele (von den Stürmen des Junggesellentums), Cäcilie (Liebeserklärung und Antrag) und Heimliche Aufforderung (Verführungsversuch) mit einer Prophezeiung glücklicher Vereinigung zu schließen.

Die Wortwiederholungen in dem kurzen Gedicht stammen übrigens teilweise nicht vom deutschen Textdichter John Henry Mackay (1864-1933), sondern sind vom Komponisten selbst eingefügt: So war in Z. 3 ursprünglich von „Seligen“, nicht „Glücklichen“, die Rede, und die Tautologie des „stummen Schweigens“ in Z. 8 lautete im Original „großes Schweigen“.

Wer war dieser Mackay? Er gehört zu den Strauss-Zeitgenossen, deren Gedichte der Komponist in den Jahren 1894-1906, seinem sehr fruchtbaren so genannten „Liederfrühling“, mit Vorliebe in Musik setzte, und von denen viele (Karl Friedrich Henkell, Heinrich Hart, Otto Julius Bierbaum etc.) heute fast vergessen wären, wenn Strauss sie nicht vertont hätte. Dabei zeigt Mackays Biographie Aspekte einer ungewöhnlichen Persönlichkeit: Der in Schottland geborene Sohn einer Deutschen, der in Saarbrücken aufwuchs und nach Studiensemestern in Kiel und Leipzig in Berlin dem Friedrichshagener Dichterkreis nahestand, war Anarchist oder zumindest radikaler Liberaler, eine Zeit lang enger Freund Rudolf Steiners, außerdem Homosexueller, der unter Pseudonym Schriften über die „griechische“ (Knaben-)Liebe veröffentlichte. Die Mackay-Gesellschaft bemüht sich bis heute um das Fortleben seines Werks.

Morgen! ist vielleicht nicht einer seiner besten Texte. Hier reiht sich Klischee an Klischee, vom Sonnenschein als Metapher eines schönen Lebenstages zum „wogenblauen Strand“ als atmosphärische Foto-Folie des Liebesglückes – man könnte von einer Mallorca-Symptomatik sprechen, wäre nicht diese Begrifflichkeit zu sehr vom späten 20. Jahrhundert geprägt. Das Paar, das hier harmonisch schweigend den Weg zum Meer hinunter nehmen soll, scheint einen antizipierten Moment der vollkommenen Glückseligkeit zu genießen. Aber ist das tatsächlich so? Der Gedichttext bettet die an sich banalen Bilder in einen Rahmen des Vagen, Unbestimmten ein, der die Affirmation etwas zurücknimmt. Er verlegt die Aussage in ein geheimnisvolles „Morgen“ im natürlich niemals garantierbaren Futur und lässt den Verweis auf dieses Morgen im Nichts schweben, ohne klaren Anfang und Schluss. So beginnt die Prophezeiung („morgen wird die Sonne wieder scheinen“) mit der unvermittelten Konjunktion „Und“, die Fragen aufwirft. Was wird hier verbunden oder angeschlossen? Hat „heute“ die Sonne nicht geschienen, war es ein trauriger Tag für die Liebe? Ist der erste Vers ein Trostversuch wie das „Nubicula est, transibit“(„Es ist nur ein Wölkchen, es wird vorübergehen“) des Kirchenvaters Athanasius? So wie der Gedichtanfang aus dem Vagen kommt, gehen die Strophenenden jeweils mit Auslassungen wieder ins Vage über. Hier nach Widersprüchen zu forschen, ginge jedoch zu weit. Das Vage, Schwebende ist vielmehr typisches Merkmal einer Fin-de-siècle-Atmosphäre. Das Nicht-Sagen bzw. Schweigen als Attribut des Glücks (vgl. Z. 8) korrespondiert mit dieser Idee. Richard Strauss hat sie in seiner Vertonung aufgegriffen.

Morgen! entstand zunächst als Klavierlied und wurde etwas später auch für Orchester gesetzt. In dieser Fassung wird die Gesangsstimme gleichsam „liebend“ von einer Sologeige umspielt, zu den Klängen einer aus dem Orchester hervortretenden Harfe. Harfenklänge waren in der Klavierfassung des Liedes bereits vorgegeben: Die Klavierstimme besteht hauptsächlich aus Arpeggien (ital. für „harfenartige“ Klänge), träumerisch gebrochenen Akkorden. Mit dieser Entscheidung stellt Strauss sein Lied in die Tradition der Harfner-Gesänge. Nicht zufällig ist die Urfassung von Morgen! auch schon mit Harfe aufgeführt worden. Die seit der Troubadour-Zeit und spätestens wieder seit dem Harfner in Goethes Wilhelm Meister bekannten Liederdichter trugen ihre Gesänge vor, indem sie sich selbst an der Harfe begleiteten. In der Romantik war dieser Topos sehr beliebt und doch auch schon wieder „überstanden“, wie man bei Ludwig Uhland, einem ebenfalls von Strauss mehrfach vertonten Dichter, sieht:

Ludwig Uhland

Die Harfe. (1815)

In Wälder floh mit seinem Grame
Ein Ritter, den verschmäht die Dame.
Ihm kommt auf ungebahnten Wegen
Ein traut umfangen Paar entgegen.

Er kann ihr Kosen ganz verstehen,
Da sie auf sich nur hören, sehen:
Sie sind sich kaum zurückgegeben
Zu neuer Liebe, neuem Leben.

Muß Alles seinen Schmerz erfrischen!
Er fliehet zu den dunklern Büschen.
Da steht in schwarzer Tannen Mitte,
Verlassen, eine Bruderhütte.

Hier liegt die Eremitenhülle,
Dort hängt die Harfe, traurig stille;
Gewiß! den er gesehn im Glücke,
Der ließ sein Trauren hier zurücke.

Er eilt, die Kutte anzulegen,
Er prüft das Spiel mit dumpfen Schlägen:
„Wie lange werd’ ich, fern der Süßen,
Auf dieser Harfe spielen müssen?“

Indem er Harfenklänge in Klavier- und Orchesterfassung von Morgen! verwendet, verweist Richard Strauss dezent auf sich selbst, den Komponisten und virtuellen „Sänger“ dieses Liebesliedes an seine Frau.

Harfe als „romantisches Instrument“ (Zingel 1976) bedeutet aber auch „Sehnsucht“. Selbsternannte „Traumdeuter“ schreiben der Harfensymbolik heute „ein erhöhtes Bedürfnis nach Schönheit und innerem Gleichklang mit einem geliebten (und möglicherweise idealisierten) Menschen“ zu, sie gehen sogar noch weiter und wagen sich auf eine „spirituelle Ebene“, in der „die Harfe im Traum das Symbol der Leiter“ sei, „welche in die kommende Welt führt“. Bei Freud findet man solche Hinweise allerdings nicht. Dennoch hat die Harfe, die heute als Klangfarbe zahlreicher Entspannungs-CDs fungiert, als Instrument der Engel und König Davids ihre semantische Geschichte, deren Tradition sich Strauss auch bediente.

Beginn und Ende des Textes sind im vertonten Lied stets wichtige Momente. Im Regelfall hat das Klavierlied ein Vorspiel, das unter anderem dazu dient, dem Sänger den richtigen Ton anzugeben, eventuell die erste Phrase vorwegzunehmen, die er dann noch einmal singt. Häufig kommentiert das Klavier im Nachspiel – nach dem bedeutsamen Schlusston des Sängers – noch einmal das Erlebte oder lässt es ausklingen, um das Lied nicht abrupt enden zu lassen. Strauss geht hier anders vor. Er ‚übersetzt‘ die sprachlichen Mittel Mackays in musikalische und macht das Vor- und Nachspiel zur Repräsentation des Unausgesprochenen. Das Klaviervorspiel ist, nicht zuletzt durch das gedehnte Tempo („Langsam, sehr getragen“), extrem lang. Die Oberstimme der gebrochenen Akkorde bildet eine Melodie, die in gemessenen halben Noten voranschreitet und zunächst eine achttaktige Phrase, quasi einen Vordersatz bildet, der auf der Dominante endet. Nun könnte der Gesangseinsatz folgen, doch es geht instrumental weiter. Der Nachsatz ist auf sieben Takte verkürzt, und mittendrin, auf eine unbetonte Taktzeit und wie beiläufig, tritt im sechsten Takt die Stimme dazu: Der ungesagte erste Teil des Satzes, das Geheimnis, wird dadurch hervorgehoben, die affirmative Glücksprophezeiung abgeschwächt. Auch der Sängerschluss endet nicht „bestätigend“ auf der Tonika, sondern quasi zu früh, auf der Dominante mit Quartsextvorhalt. Die Auflösung und tonale Bestätigung folgt in den wenigen Schlusstakten des Klaviers, das diese jedoch äußerst behutsam andeutet, im Pianissimo und in hoher Lage: Glücksversprechungen sind eben doch etwas Heikles, zart zu Behandelndes.

Angesichts des tautologisch „stumme[n] Schweigen[s]“ (des Glückes), auf das Strauss offenbar Wert legte, muss man sich fragen, wie man „Schweigen“ komponiert? Bis zu John Cages auskomponierter Stille in 4’33’’ dauert die Musikgeschichte noch Jahrzehnte.

Strauss gelingt es mit Mitteln der Reduktion, das Schweigen darzustellen: Während der letzten beiden Verse entfallen die triolischen Arpeggien im Klavier, es bleiben wenige liegende Klänge. Die Gesangsstimme hält in Tonrepetitionen quasi inne („Stumm werden wir uns in die Augen schauen“), um im letzten Vers nach einer kleinen Wendung zu As-Dur wie nachsinnend in wenigen Schritten abzusteigen und ohne weiteres, d.h. ohne dezidierten Abschluss, ganz zu verstummen. Das As-Dur erklingt auf das wichtigste Wort im Vers, „Glückes“, und ist im Quintenzirkel weit entfernt von der Ausgangstonart des Liedes, G-Dur. Diese Entfernung unterstreicht das schwer Erreichbare, wenn nicht Irreale des Glücks. Glück ist unsagbar und manchmal vielleicht nur für die Dauer eines Liedes erlebbar. Glücksgefühle lassen sich jedoch suggerieren und mit Musik besonders gut vermitteln. Eine gewisse Ruhe und Ent-Spannung gehört dazu. Strauss legt sie im extrem langsamen Tempo des Liedes an, das den Sänger vor hohe Ansprüche stellt und die namhaften Interpreten von heute zu Wettbewerben der Langsamkeit anspornt. Doch trotz dieser Langsamkeit ist das Lied in keinem Moment spannungslos: Harmonisch stellt es eine Kadenz dar, eine Aneinanderreihung von Akkorden, die sich schrittweise ineinander verwandeln. Obwohl hier niemals Brüche oder aggressive Wendungen erklingen, sondern Strauss mit wenigen Akzidentien (Vorzeichen), relativ schlichten Mitteln, arbeitet, gelingt es ihm doch immer wieder zu überraschen. Kein Schritt ist vorhersehbar. Indem die Bewegung des Klaviers in jeder zweiten Takthälfte scheinbar sinnend innehält, verstärkt sich dieser Überraschungseffekt leicht – und bleibt doch dezent und elegant.

So ist die literarische Qualität der Lyrik am Ende nicht von Bedeutung: Der Musik genügen wenige Ideen als Ausgangspunkt, um das jeweils Eigentliche zu sagen und zur Essenz des Textes zu machen.

Dorothea Krimm, Mannheim