„Es ist auch mein Land“. Zu Die Toten Hosen: „Willkommen in Deutschland“
26. Oktober 2015 Hinterlasse einen Kommentar
Die Toten Hosen Willkommen in Deutschland Dies ist das Land, in dem man nicht versteht, daß "fremd" kein Wort für 'feindlich' ist, in dem Besucher nur geduldet sind, wenn sie versprechen, daß sie bald wieder gehen. Es ist auch mein Zuhaus, selbst wenn's ein Zufall ist und irgendwann fällt es auch auf mich zurück, wenn ein Mensch aus einem anderen Land ohne Angst hier nicht mehr leben kann. Weil täglich immer mehr passiert, weil der Haß auf Fremde eskaliert und keiner weiß, wie und wann man diesen Schwachsinn stoppen wird. Es ist auch mein Land, und ich kann nicht so tun, als ob es mich nichts angeht. Es ist auch dein Land, und du bist schuldig, wenn du deine Augen davor schließt. Dies ist das Land, in dem so viele schweigen, wenn Verrückte auf die Straße gehen, um der ganzen Welt und sich selbst zu beweisen, daß die Deutschen wieder die Deutschen sind. Diese Provokation, sie gilt mir und dir, denn auch du und ich, wir kommen von hier. Kein Ausländer, der uns dabei helfen kann, dieses Problem geht nur uns allein was an. Ich hab keine Lust, noch länger zuzusehn, ich hab's satt, nur zu reden und rumzustehn, vor diesem Feind werde ich mich nicht umdrehn. Es ist auch mein Land, und ich will nicht, dass ein viertes Reich draus wird. Es ist auch dein Land, steh auf und hilf, dass blinder Hass es nicht zerstört. Es ist auch mein Land, und sein Ruf ist sowieso schon ruiniert. Es ist auch dein Land, komm wir zeigen, es leben auch andere Menschen hier. [Die Toten Hosen: Kauf Mich! Totenkopf 1993.]
Als in den frühen 1990er Jahren schon einmal Asylantenheime angezündet wurden, rechte Parteien ihre Wahlkämpfe mit „Das Boot ist voll“-Kampagnen führten und CDU und SPD gemeinsam das Asylrecht verschärften, reagierten viele deutschsprachige Bands und Sänger mit Liedern darauf. Die bekanntesten stammen dabei wenig überraschend von (ehemaligen) Punk-Bands, für die Antifaschmus allein schon, weil sie durch ihr Äußeres selbst potentielle Neonazi-Opfer waren, schon länger ein Thema war: Die Ärzte veröffentlichten 1993 Schrei nach Liebe als erste Single ihres Comeback-Albums Die Bestie in Menschengestalt – gegen den Willen ihrer Plattenfirma, die dem Politsong das Liebeslied Mach die Augen zu vorgezogen hätte – und erreichten damit ihre bis dahin beste Charts-Platzierung (Platz 9) (vgl. Wikipedia). Das Lied landete unlängst durch die „Aktion Arschloch“ sogar auf Platz eins der deutschen Charts (vgl. Wikipedia). Die Toten Hosen hatten schon ein Jahr zuvor mit Sascha…ein aufrechter Deutscher Platz vier der Charts erreicht. Doch auch Bands/Sänger aus dem Genre ‚Deutschrock‘, das seinerzeit noch nicht textlich reaktionären Punkrock à la Frei.Wild, sondern eine eigenwillige Verbindung von Rockmusik und Schlager bezeichnete, positionierten sich in Liedtexten, so etwa PUR (Neue Brücken) und Herbert Grönemeyer (Die Härte). Selbst eine ehemals rechtsradikale Band wie die Böhsen Onkelz (Deutschland im Herbst) oder groteskerweise sogar die noch bis zu diesem Zeitpunkt rechtsradikale Band Störkraft (Mörder ohne Reue, erschienen auf einer EP mit dem ebenfalls programmatischen Titel Mordbrenner, ihr gehört nicht zu uns) – genau jene beiden Bands werden übrigens im Text von Schrei nach Liebe als partes pro toto für Rechtsrock genannt – veröffentlichten entsprechende Lieder.
In der Mehrzahl der Liedtexte geht es um die Täter und Befürworter neonazistischer Verbrechen, die meistens als geistig limitiert und von Angst oder Komplexen getrieben dargestellt werden, wobei der Übergang von ernstgemeinter Analyse zur Karikatur, die darauf zielt, die Dargestellten lächerlich zu machen, oft fließend ist:
Du bist wirklich saudumm, darum geht’s dir gut.
Haß ist deine Attitüde, ständig kocht dein Blut.
Alles muß man dir erklären, weil du wirklich gar nichts weißt,
höchstwahrscheinlich nicht einmal, was Attitüde heißt.(Die Ärzte: Schrei nach Liebe)
Es ist hart, allein beschränkt zu sein.
(Herbert Grönemeyer: Die Härte)
Er kennt sogar das Alphabet,
weiß, wo der Führerbunker steht.
Nein, dieser Mann, das ist kein Depp,
der Sascha ist ein deutscher REP.(Die Toten Hosen: Sascha…ein aufrechter Deutscher)
In Willkommen in Deutschland hingegen nehmen Die Toten Hosen die weder an der neonazistischen Gewalt beteiligten noch unmittelbar von ihr betroffenen Deutschen in den Blick. Stellvertretend für diese spricht das Ich im Lied zunächst von seinen eigenen Empfindungen angesichts des zu Tage tretenden Rechtsradiklalismus. Dabei offenbart es in der ersten Strophe ein pragmatisches Verhältnis zu seiner Nationalität, was bereits im Vokabular deutlich wird: Statt des emotional aufgeladenen Worts „Heimat“, einem zentralen Kampfbegriff in der Blut- und Boden-Ideologie, spricht es schlicht vom persönlicheren Zuhause, sogar in der umgangssprachlich verkürzten Form „Zuhaus“. Und anstelle des Wortes „Ausländer“, wie es im in den frühen 1990ern verbreiteten rechtsradikalen Schlachtruf „Ausländer raus!“ benutzt wurde, verwendet das Ich die semantisch identische Formulierung „ein Mensch aus einem anderen Land“, die eine Unterscheidung, die durch den Zufall des Herkunftslandes – der ja auch eigens betont wird – und den rechtlichen sowie diskursiven Umgang damit entstanden ist, nicht zu einem grundsätzlichen Unterschied hypostasiert. Aus einem bestimmten Land zu stammen, bedeutet für das Sprecher-Ich eben nicht, einer völkischen ‚Schicksalsgemeinschaft‘ anzugehören, was Tote-Hosen-Sänger Campino, der diesem Ich seine Stimme leiht, auch deshalb persönlich glaubhaft vermitteln kann, weil seine Mutter gebürtige Engländerin war.
Doch leitet das Sprecher-Ich aus dieser Auffassung keine kämpferisch-antinationale Position ab: Der Nationalität wird zwar der ontologische Status abgesprochen, die praktische Alltagsrelevanz aber, die sie als verbreitete Vorstellung und juristisches Konstrukt hat, wird pragmatisch hingenommen. Und gerade mit dieser Relevanz auch für den nicht aggressiv „patriotischen“ Angehörigen einer Nation argumentiert es für einen aktiven Antifaschismus: Denn das negative Deutschenbild („daß die Deutschen wieder die Deutschen sind“), das Neonazis durch ihr Verhalten international reaktivieren, beeinflusst, wie Ausländer auch jene Deutschen, die nicht nationalistisch gesinnt sind, sehen – was aktuell etwa der Wissenschaftsstandort Dresden erfahren muss, der auf internationale Fachkräfte angewiesen ist (vgl. Die Zeit). Auch wenn man sich nicht selbst mit seiner Nation identifiziert, so wird man doch von Anderen über sie identifiziert.
In diesem Sinne ist auch der zunächst irritierende Vers „Diese Provokation, sie gilt mir und dir“ zu verstehen. Hier geht es nicht um die Anmaßung einer Opferrolle, die – wie Die Toten Hosen schon 1990 in 5 vor 12 herausgestellt haben – denjenigen zukommt, die von Neonazis angegriffen werden, sondern um den Anspruch auf die Deutungshoheit nicht nur darüber, wer, sondern auch was ‚deutsch‘ sei, die aktuell auch Pegida-Demonstranten wieder für sich beanspruchen, wenn sie „Wir sind das Volk“ skandieren, obwohl sie selbst zur Jahrestag-Demonstration gerade einmal zwischen 15.000 und 20.000 Teilnehmer bei einer Bevölkerung von 82 Millionen mobilisieren konnten (vgl. Süddeutsche Zeitung), wohingegen diejenigen, die in der Wendezeit diese Parole prägten, bis zu 500.000 von 16 Millionen auf die Straße brachten (vgl. Wikipedia). Es geht dem Sprecher-Ich darum, die Deutungshoheit darüber zurückzugewinnen, was jene Gruppe auszeichnet, der es, ohne sich dafür entschieden zu haben, zugerechnet wird. Deshalb fordert es das angesprochene Du auf, zu zeigen, dass auch andere Menschen in dem Land mit dem historisch ruinierten Ruf, das nunmal durch Zufall ihr Zuhause ist, leben – auf Gegendemonstationen, beim Schutz von Flüchtlingsunterkünften oder durch Hilfe für diejenigen, die durch Zufall in einem anderen Land geboren worden sind und denen „Asylkritiker“ verweigern wollen, ebenfalls hier zu leben.
Martin Rehfeldt, Bamberg