Plädoyer für den Frieden. Zu Tocotronics „Nie wieder Krieg“ (2022)

Tocotronic

Nie wieder Krieg

Nie wieder Krieg, nie wieder Krieg, nie wieder Krieg
Keine Verletzung mehr
Nie wieder Krieg, nie wieder Krieg, nie wieder Krieg
Das ist doch nicht so schwer

Er sieht an sich herab
Wirkt ziemlich abgeschabt
Ein Coupon von Sanifair
Gleitet in die Hand, als er
Durch das Drehkreuz geht
Sich gegenüber steht
Und in den Spiegel schreit:

Nie wieder Krieg, nie wieder Krieg, nie wieder Krieg [...]

Sie sieht vom Balkon herab
An diesem Neujahrstag
An dem das Alte stirbt
Noch nichts geboren wird
Gebete zynisch bleiben
Zieht es durch Kitt und Scheiben
Auf die sie haucht und schreibt:

Nie wieder Krieg, nie wieder Krieg, nie wieder Krieg [...]

Dann hat ein Feuerwerk
Sich in die Luft verirrt
Das in den Himmel schreibt
You might also like

Der Mond sieht auf dich herab
Du liest im Horoskop
Sie können erleichtert sein
Man wird ihnen bald verzeih'n
Als ein kleines Kind
Über die Hecke springt
Und an die Wände schreibt:

Nie wieder Krieg, nie wieder Krieg, nie wieder Krieg [...]

Nie wieder Krieg, nie wieder Krieg, nie wieder Krieg
Keine Verhetzung mehr
Nie wieder Krieg, nie wieder Krieg, nie wieder Krieg
Nie wieder Krieg in dir, in uns, in mir

     [Tocotronic: Nie wieder Krieg. Vertigo 2022.]

Vor kurzem hat sich der Beginn des russischen Angriffskriegs auf die Ukraine zum ersten Mal gejährt. Am 24. Februar 2022 griffen Putins Truppen das Nachbarland an. Wie viele Soldaten auf beiden Seiten jeweils gestorben sind, darüber gehen die Angaben weit auseinander und hängen vom jeweiligen Standpunkt ab: Die ukrainische Seite nennt mehr als 135.000 tote russische Soldaten (bis

Anfang Februar 2023), die russische Seite hingegen knapp 6.000 (bis September 2022). Nach russischen Angaben sind etwa 61.000 ukrainische Soldaten gestorben, nach ukrainischen Angaben 13.000 (bis Dezember 2022). Die Zahlen lassen sich aufgrund der aktuellen Situation von unabhängiger Stelle derzeit nicht überprüften, doch wird eines ganz klar: Der Krieg fordert auf beiden Seiten unzählige Opfer und kennt keine Gewinner.

Prophetische Warnung

Tocotronics 13. Studioalbum Nie wieder Krieg, auf dem sich das gleichnamige Lied befindet, wurde nur einen knappen Monat vor Beginn des russischen Überfalls auf die Ukraine Ende Januar 2022 veröffentlicht und wirkt vor diesem Hintergrund wie eine prophetische Warnung. Doch geht es der Band weniger um die großen, weltpolitischen Auseinandersetzungen, sondern vielmehr um die Konflikte, die jeder Mensch mit sich auszustehen hat. „Es ist das persönlichste Album, das wir gemacht haben“, so Dirk von Lowtzow. Er habe sich gefragt, „Was will ich eigentlich mitteilen? Was sind das für Stimmungen, Heimsuchung und Dämonen, denen man ausgesetzt ist“?

Nie wieder Krieg scheint somit an die autobiographische Thematik des Vorgängeralbums Die Unendlichkeit anzudocken (vgl. die Besprechung von Electric Guitar auf diesem Blog). Nie wieder Krieg beinhalte „Lieder über allgemeine Verwundbarkeit, seelische Zerrissenheit und existenzielles Ausgeliefertsein“, so die Band in einem Statement zum Album.

Krieg im Inneren

Der Krieg im Inneren kann sich sowohl auf schlechte Angewohnheiten beziehen – Dirk von Lowtzow bezeichnete sich als „sehr alkoholgefährdet“ in der Vergangenheit –, das eigene Älterwerden – als „juvenile Band“ werden Tocotonic mitunter bezeichnet, oft versehen mit dem Hinweis, die ehemaligen Studenten hätten mittlerweile graue Haare (welch eine Erkenntnis!) – unbedarfte Kindheitsträume, die im Kontrast zur Realität der Erwachsenen-Welt stehen oder die Unzulänglichkeit der eigenen Existenz. Auch ein Bezug zur Bedrohung durch die Pandemie drängt sich auf, allerdings wurden die meisten Lieder des Albums Nie wieder Krieg bereits vor dem Jahr 2020 geschrieben. Auf Einsamkeit, die nicht nur, aber auch durch die Lockdowns während der Pandemie bedingt wurde, lässt sich das Lied Hoffnung, ebenfalls veröffentlicht auf dem Album Nie wieder Krieg, beziehen (vgl. die Interpretation auf diesem Blog).

Eine weitere Deutungsmöglichkeit – nicht jedoch autobiographisch auf Tocotronic zu beziehen – bietet sich, betrachtet man das Geschlecht der im Liedtext besungenen Person/en. Zunächst ist von einer männlichen Person die Rede („er“), später von einer weiblichen („sie“). Es erscheint plausibel, dass damit zwei verschiedene Personen gemeint sind. Denkbar ist jedoch auch, dass damit eine einzige nicht-binäre Person beschrieben wird, d.h. ein Mensch, dessen Geschlechtsidentität weder immer weiblich noch ganz männlich ist. Dagegen spricht, dass nicht-binäre Menschen es häufig vorziehen, ohne ein Pronomen angesprochen zu werden (und man davon ausgehen kann, dass Tocotronic dies berücksichtigt hätten). Allerdings existiert im Deutschen (noch) kein etabliertes Pronomen der dritten Person für Menschen, die sich weder dem einen noch dem anderen Geschlecht eindeutig und immer zugehörig fühlen (vgl. für eine Übersicht bspw. die Webseite nonbinary.ch). Die Interpretation, wonach hier eine einzige, nicht-binäre Person gemeint sein könnte, unterstreicht wiederum das Video. Zu sehen ist eine durch die Nacht wandelnde Person (oder sind es zwei?), deren Äußeres den Schluss nahelegt, sie könne eine genderqueere Identität haben. Hat diese mit einem Krieg in ihrem Inneren zu kämpfen? Ist sie auf der Suche nach sich selbst? Die Person „sieht an sich herab“ und steht sich schließlich „gegenüber“, während sie „in den Spiegel schreit: Nie wieder Krieg. […] Keine Verletzung mehr“. Möchte sie mit ihrem Empfinden ins Reine kommen, sich selbst akzeptieren?

Ein Album wie ein Roman

Tocotronic selbst sind der Auffassung, dass ihr neues Album Nie wieder Krieg auch als Roman oder als Film verstanden werden könne. Dies verwundert nicht, werden die Lieder der Band doch seit Jahren gerne im Rahmen des geisteswissenschaftlichen Diskurses besprochen. Das Album ließe sich als „Desillusionsroman“ verstehen, so Dirk von Lowtzow im Interview. „Weil alle Protagonist*innen auf dem Album mit ihrem eigenen Leben nicht so richtig fertig werden und vielleicht in existenziellen Notlagen oder mindestens einer existenziellen Verwundbarkeit stecken. Viele der Protagonist*innen in den Songs haben Träume gehabt, und diese Träume sind nach und nach zerronnen.“ Nie wieder Krieg sei daher weniger zu verstehen als „pazifistische Botschaft [denn] als eine Art Mantra, mit dem die Protagonistinnen und Protagonisten um Barmherzigkeit flehen“, so von Lowtzow im Gespräch. Nicht umsonst heißt es am Liedende: „Nie wieder Krieg in dir, in uns, in mir“.

Die geplatzten Träume und die Verwundbarkeit werden im Lied deutlich anhand von Gebeten, die nicht etwa Erlösung versprechen, sondern„zynisch bleiben“. Und auch der Ort, an dem sie gesprochen werden, bietet keine Geborgenheit, stattdessen „zieht es durch Kitt und Scheiben“. Überhaupt wohnt den im Lied erwähnten Orten und Zeiten ein Moment des Übergangs inne, der keinen Halt gewährt: Die besungene Person schreitet „durch das Drehkreuz“. Es ist „Neujahrstag“, an dem zwar „das Alte stirbt“, gleichzeitig aber „noch nichts geboren wird“, das Hoffnung und eine Perspektive spenden könnte. Ein Feuerwerk, sonst Symbol freudigen Neubeginns, wird nicht etwa bewusst abgeschossen, sondern hat „sich in die Luft verirrt“.

Gleichzeitig kommt die Ironie nicht zu kurz: Die besungene Person erhält Gesellschaft nur durch den „Mond“, während Erleichterung und Verzeihung lediglich das „Horoskop“ verspricht. Sie hat einen Coupon von Sanifair in der Hand, der Firma, die man von den Toilettenanlagen deutscher Autobahnraststätten kennt. Autobahnraststätten – sie stellen ebenfalls einen Ort des Übergangs und der Reise dar.

Zurück zum Parolen-Pop?

In den 1990er Jahren waren Tocotronic bekannt dafür, mit den Titeln ihrer Lieder gleichsam Parolen oder Slogans zu liefern, die sich auch als T-Shirt-Aufdruck gut machten (vgl. die Besprechung von Über Sex kann man nur auf Englisch singen oder Ich möchte Teil einer Jugendbewegung sein auf diesem Blog). Hieran scheint Nie wieder Krieg anzuknüpfen. Auf dem Album finden sich noch weitere politisch-klare Ansagen, die in den Namen von Liedern wie Jugend ohne Gott gegen Faschismus oder Komm mit in meine freie Welt zum Ausdruck kommen.

Forderung aus dem Jahr 1924

Nie wieder Krieg – diese Forderung prangte bereits auf einem Plakat aus dem Jahr 1924, das Käthe Kollwitz (1867-1945) entworfen hat. Die sozial und politisch engagierte Künstlerin hatte das Plakat für den Mitteldeutschen Jugendtag der Sozialistischen Arbeiterbewegung angefertigt. Hintergrund war das Gedenken an den 10. Jahrestag des Beginns des Ersten Weltkriegs, zu dem 1924 überall in Deutschland Massendemonstrationen stattfanden. Als historisches Vorbild mag der berühmte Plakataufdruck Tocotronic kaum gedient haben – schließlich ist von Seiten der Band, wie bereits erläutert, der Krieg im Inneren gemeint –, dennoch erweist sich ein Vergleich der historischen Situationen als interessant:

In der Weimarer Republik war die pazifistische Forderung Nie wieder Krieg keine Mehrheitsmeinung. Nur eine Minderheit der Deutschen engagierte sich aktiv dafür, auch die wenigsten ehemaligen Frontsoldaten. Vielmehr verzeichneten kriegsverherrlichende, paramilitärische Wehrverbände wie der „Stahlhelm: Bund der Frontsoldaten“ oder der „Deutsche Reichskriegerbund Kyffhäuser“ regen Zulauf. Dies ist heute nicht mehr der Fall, die Gesamtsituation auch kaum auf die deutsche Gegenwart übertragbar; schließlich leidet man nicht an der Schmach eines verlorenen Krieges, sondern überlegt, wie man einen Staat, der völkerrechtswidrig überfallen wurde, unterstützen kann. Es gibt somit ausreichend gute Gründe für Waffenlieferungen an die Ukraine – zu konstatieren ist, dass eine Mehrheit der Deutschen diese Unterstützung für angemessen oder sogar für noch nicht ausreichend hält. Dies belegen aktuelle Umfragen.

1924 Plakat vs. 2022 Musikvideo

Auch ein Vergleich des Plakates von 1924 und des Musikvideos von 2022 erscheint reizvoll:

Auf Käthe Kollwitz’ Plakat ist Dynamik erkennbar: Zu sehen ist eine Person (welchen Geschlechts sie ist, bleibt übrigens unklar), die entschlossen den Arm empor streckt. Die Finger sind zum Schwur geformt, die andere Hand liegt auf dem Herz, die Haare wehen nach hinten, der Gesichtsausdruck ist angespannt, der Mund geöffnet zum Eid: Nie wieder Krieg. Entschlossenheit und Leidenschaft werden deutlich.

Im Video zu Tocotronics Lied Nie wieder Krieg hingegen sieht man die oben bereits erwähnte Person scheinbar verloren durch die verschiedene Transiträume einer nächtlichen Großstadt irren. Sowohl die U-Bahn-Station als auch die mehrspurigen Straßen wirken ausgestorben, was die Einsamkeit der/des nächtlich Wandelnden unterstreicht. Diese/r knackt Nüsse mit der bloßen Hand, verletzt sich selbst, Blut fließt. Im Liedtext heißt es über die besungene Figur, sie „wirkt ziemlich abgeschabt“. Die Ästhetik des Videos unterstreicht den durch den Liedtext gewonnenen Eindruck, hier sei ein Mensch gänzlich unbehaust. Von der Entschiedenheit und Dynamik der Figur auf Käthe Kollwitz’ Plakat ist in Tocotronics Video wenig zu spüren. Schließlich ist der Gegner kein Fremder, sondern wohnt im eigenen Inneren.

Nie wieder Krieg – in seiner Klarheit und Kürze hat der Slogan an Aktualität nicht verloren und könnte auch heute noch, knapp hundert Jahre nach der Entstehung von Käthe Kollwitz’ Plakat, auf Transparenten bei Antikriegsdemonstrationen stehen. Auch wenn sich Tocotronics Nie wieder Krieg nicht auf den Krieg in der Ukraine bezieht, das Lied hören und von Frieden in Europa träumen, darf man freilich allemal.

Isabel Stanoschek, Bamberg

Abstraktion als Kunstprinzip: „Hoffnung“ von Tocotronic als poetologischer Kommentar zur Corona-Pandemie

Tocotronic

Hoffnung

Hier ist ein Lied 
Das uns verbindet 
Und verkündet: 
Bleibt nicht stumm 

Ein kleines Stück 
Lyrics and Music 
Gegen die 
Vereinzelung 

In jedem Ton 
Liegt eine Hoffnung 
Eine Aktion 
In jedem Klang 

In jedem Ton 
Liegt eine Hoffnung 
Auf einen neuen 
Zusammenhang 

Hier ist ein Lied 
Das uns verbindet 
Und es fliegt 
Durchs Treppenhaus 

Ich hab den Boden 
Schwarz gestrichen 
Wie komm ich aus 
Der Ecke raus? 

Aus jedem Ton 
Spricht eine Hoffnung 
Transformation 
Aus jedem Klang 

Aus jedem Ton 
Spricht eine Hoffnung 
Auf einen 
Neuanfang 

Und wenn ich dann 
Schweigen müsste 
Bei der Gefahr 
Die mich umgibt 

Und wenn ich dann 
Schweigen müsste 
Dann hätte ich 
Umsonst gelebt 

Und wenn ich dann 
Schweigen müsste 
Bei all der Angst 
Die mich umgibt 

Und wenn ich dann 
Schweigen müsste 
Hätte ich 
Umsonst gelebt 

Wenn ich dich nicht 
Bei mir wüsste 
Hätte ich 
Umsonst gelebt 

Wenn ich dich nicht 
Bei mir wüsste 
Hätte ich 
Unsonst gelebt 

Wenn Künstlerinnen und Künstler unmittelbar auf politische und gesellschaftliche Ereignisse regaieren, birgt das i.d.R. zwei Gefahren: Sie können wie jede Person, die sich politisch äußert, falsch liegen, was sich schon zeitnah zeigen kann. Das mussten Frei.Wild erfahren, die – als Südtiroler früh von den Auswirkunden der Corona-Pandemie betroffen – bereits Anfang März mit Corona Weltuntergang ein Lied veröffentlichten, das zwar keinewsegs, wie ihnen vom rbb unterstellt, verschwörungstheoretisch grundiert war, aber die Dimension der Bedrohung falsch einschätzte und die ihnen im Lichte dieser Fehleinschätzung übertrieben erscheinende gesellschaftliche und mediale Reaktion auf das Auftreten des Virus kritisierte, auch in Relation zur Ignoranz gegenüber anderen humanitären Katastrophen wie der Situation von Geflüchteten; als sich Ende März zeigte, wie ernst die Situation war, korrigierte sich die Band mit Corona Weltuntergang v2, worin sie einräumte, das Virus unterschätzt zu haben. Das zweite Risiko von Songs mit tagespolitischem Bezug besteht darin, dass das behandelte Thema schnell wieder von der Agenda verschwindet und der Song danach höchstens noch als historisches Dokument taugt. Dieses Schicksal steht voraussichtlich Bernice Ehrlichs zuletzt an dieser Stelle besprochenem Corona-Song bevor.

Ungeachtet der eventuellen Kurzlebigkeit tagespolitischer Lieder können diese natürlich nichtsdestotrotz diverse positive Forgen für ihre Interpretinnen und Interpreten haben: Beginnend bei der evtl. durch die Brisanz des Themas beförderten hohen Aufmerksamkeit (beide Frei.Wild-Videos zusammen kommen auf gut 7 Millionen Aufrufe, Ehrlichs Song kam schnell über eine Million, was sämtliche ihrer anderen Videos bei weitem übertrifft) können politische Positionierungen auch zum Image beitragen – Frei.Wild stärken ihr Image, keine Kontroverse zu scheuen, und Ehrlich wirkt dem oft mit dem Genre Schlager verbundenen Attribut ’seicht‘ entgegen. Der Preis dafür ist aber eben, dass es derart explizit anlassbezogene Lieder nur selten auf Best-of-Alben schaffen werden.

Tocotronic haben es hingegen immer vermieden, in ihren Lieder ausdrücklich politisch zu werden, auch wenn sie mit Auftritten bei einschlägigen Solidaritätsveranstaltungen ihre Verwurzelung in der linken Szene immer wieder gezeigt haben. Und wo ihnen eine Positionierung auf der Bühne doch geboten erschien wie beim Einsatz gegen Rassismus, haben sie den Umweg des Covers gewählt und eine Version von Racist Friend, im Original von The Special AKA, gespielt. Diesem ästhetischen Grundsatz sind sie auch in ihrem Lied Hoffnung, dass sie anlässlich des Lockdowns in vielen Ländern Anfang April diesen Jahres veröffentlich haben, treu geblieben. Geschrieben wurde der Song bereits vor ca. einem Jahr, also noch vor Ausbruch der Corona-Pandemie (vgl. das Interview mit Dirk von Lowtzow auf br.de), zu der ein Bezug über das Video hergestellt wird, in dem ehemals vielbesuchte Plätze fast menschenleer gezeigt werden.

Der Liedtext selbst hingegen reflektiert die Bedeutung von Musik in Situationen der Einsamkeit allgemein. Damit ist der Text übertragbar auf alle Formen der „Vereinzelung“ – das typische Heranwachsendengfühl, von seiner Umwelt nicht verstanden zu werden, ebenso wie das lokale Alleinsein mit einer von der Norm abweichenden sexuellen Identität, mit im persönlichen Umfeld ungewöhnlichem ästhetischen Vorlieben etc. Speziell Vokalmusik kann in diesen Situationen Hoffnung geben und das Gefühl der Einsamkeit mindern, weil, unabhängig von der zeitlichen und räumlichen Distanz zwischen hörender und singender Person, eine Form der Intimität, der Sich-verstanden-Fühlens entstehen kann. Schritt für Schritt ins Paradies von Ton Steine Scherben beginnt mit den Versen „Du hörst mich singen, / aber du kennst mich nicht / Du weißt nicht, für wen ich singe, / aber ich sing für dich“. Damit beschreibt Scherben-Texter Rio Reiser die Kommunikationssituation zwischen Sänger und Rezipierendem: Wer ein Lied im Radio oder von einem Tonträger hört, kann scheinbar direkt vom Sänger (z.B. mit „du“) angesprochen werden, auch wenn die beiden sich persönlich nicht kennen und der Sänger nicht weiß, wer wann wo seinen Lied hört. Dabei spielen die potentiell emotional ansprechende Musik und die sprachliche Kommunikation („Lyrics and Music“) zusammen.

Dieses Sich-individuell-angesprochen-Fühlen kann aber nur den ersten Schritt zum Weg aus der Vereinzelung darstellen: Folgen können Aktion und Transfornation sowie die Herstellung neuer Zusammenhänge – mit diesen sehr weit interpretierbaren Begriffen wir das Abstraktionsniveau hoch gehalten. Und auch wenn es zunächst paradox klingen mag, ist gerade diese Abstraktion die Voraussetzung dafür, dass die Rezipierenden in ihren je unterschiedlichen, individuellen Lebenssituationen das Lied für sich konkretisieren und auf sich beziehen können. Wer auch immer dieses Lied wann auch immer hört, kann sich in seiner ganz persönlichen Vereinzelung angesprochen un zu einem Umgang damit ermutigt fühlen, der ihn aus der Einsamkeit herausführt.

So versteht auch das Sprecher- bzw. Sänger-Ich seine Rolle: „Wenn ich dich nicht / Bei mir wüsste / Hätte ich / Unsonst gelebt“ kann nicht nur auf eine konkrete, ihm bekannte Person bezogen werden, sondern auch in dem Sinne interpretiert werden, dass er seine Rolle als Sänger verfehlen würde, wenn es ihm nicht gelänge, die beschriebene Nähe zu den Rezipierenden herzustellen – und damit vielleicht auch selbst aus seiner Ecke im Zimmer mit dem schwarz gestrichenen Boden herauszukommen. So kann das Lied im besten Fall allen damit Befassten vermitteln, was Julia Lorenz dazu in der taz formulierte: „Trost durch Empathie“.

Martin Rehfeldt, Bamberg

Der beste Sommer von allen: Zu „French Disko“ von den Beatsteaks und Dirk von Lowtzow (2016)

Beatsteaks und Dirk von Lowtzow 
 
French Disko
 
Es ist sicherlich absurd, in dieser Welt zu leben
Sie erscheint dir sinnentleert
doch zieh dich nicht zurück

Spontane Rebellion und Solidarität
sind Akte, die jetzt wertvoll sind
Es ist nie zu spät

La Résistance
Das Leben ist hart
La Résistance
Der Widerstand

     [V.A.: Tschick. Original Motion Picture Soundtrack. Warner 2016.]

Erst sind nur die Schnallenturnschuhe zu sehen. Dann wandert die Kamera an der Jogginghose hoch, zeigt die Plastiktüte eines Discounters, die der Junge in der Hand hält. Unter dem bunt gemusterten Hemd trägt er eine lange Silberkette, die Basecap verkehrt herum auf dem Kopf. Er tippt auf seinem Handy, setzt sich die Kopfhörer auf, die Musik startet. Lächelnd und mit halb geschlossenen Augen tanzt er den Gehsteig entlang, die Tüte wippt, er stolpert und taumelt gegen einen Zaun. Unbeirrt setzt er seinen Weg fort, bis sein Blick an einem himmelblauen Lada hängenbleibt.

Der Name des Jungen ist Andrej Tschichatschow, genannt Tschick. Der Lada wird ihm in den kommenden Tagen ein treuer Begleiter sein, ihn quer durch das sommerliche Ostdeutschland bringen. Nachzulesen ist das in Wolfgang Herrndorfs Roman Tschick aus dem Jahr 2010. Anzusehen in Fatih Akins gleichnamigem Film aus dem Jahr 2016. Und anzuhören – oder vielmehr klanglich nachzuvollziehen – im dazugehörigen Soundtrack French Disko von den Beatsteaks und Dirk von Lowtzow, deren Musikvideo die eingangs geschilderte Szene entstammt.

Pop und Philosophie

Wem Titel und Melodie merkwürdig bekannt vorkommen, der irrt nicht. Dirk von Lowtzow hat die Lyrics von French Disko der britischen Band Sterolab aus dem Jahr 1993 ins Deutsche übersetzt. Deren Lieder erfreuten sich insbesondere Mitte der Neunzigerjahre großer Beliebtheit und „durften auf keiner geisteswissenschaftlichen Institutsparty fehlen“. Schließlich war die Beschäftigung mit französischer Philosophie – gesellschafts- und kapitalismuskritischen Situationisten und Poststrukturalisten – gerade in Mode. Und so kam es zum Zusammentreffen von Pop und Philosophie, „um in der French Disko gemeinsam zu tanzen“. Den Liedtext jedoch habe „damals wahrscheinlich niemand so recht verstanden. Man war nicht mal sicher, ob Frontfrau Laetitia Sadier hier englisch oder französisch sang“. Verständlich sei nur der Aufruf zum Widerstand, „La Résistance“, gewesen, der Assoziationen zur französischen Widerstandsbewegung gegen den Faschismus weckt (Deutschlandfunk Kultur).

Auch Tocotronic werden gerne dem Genre des akademisch-intellektuellen Diskurspops zugeordnet (eine leichte Kursänderung stellt das derzeit jüngste Album Die Unendlichkeit dar), Unzufriedenheit mit den Gegebenheiten und die Frage des Umgangs damit sind immer wiederkehrende Themen in ihren Liedern (vgl. die Interpretationen auf diesem Blog) und bilden sich auch im politischen Engagement der Bandmitglieder ab. Und so erstaunt es nicht, wenn Dirk von Lowtzow erzählt, dass er zustimmte, als Arnim Teutoburg-Weiß, der Sänger der Beatsteaks, ihn fragte, ob er den Liedtext von French Disko übersetzen wolle.

Aufruf zum Widerstand

Das Ergebnis fällt ebenso knapp – der Liedtext umfasst nur zwei Strophen und den Refrain – wie prägnant aus und besticht durch seine Unmittelbarkeit. Das lyrische Ich bedient sich einer direktiven Ansprache und hält sich nicht mit Umwichtigem auf: Einem Zugeständnis – „Es ist sicherlich absurd, in dieser Welt zu leben / Sie erscheint dir sinnentleert“ – schließt sich ein Appell – „doch zieh dich nicht zurück“ – an. Dem folgt eine Art Handlungsempfehlung zu „spontane[r] Rebellion und Solidarität“. Schließlich bestehe Hoffnung – „es ist nie zu spät“ – auch wenn das Leben „hart“ sei.

Tocotronic-Sänger und -Texter Dirk von Lowtzow spricht dem Text „einen imperativen Charakter“ zu. Damit stehe dieser in einem gewissen Gegensatz zu den sonst von ihm verfassten Liedtexten, seien diese doch „verschrobener, nicht so autoritär. Meine Manifeste haben dann Titel wie Kapitulation oder Sag alles ab, sie rufen dazu auf, Dinge nicht zu tun“ (Interview im Südkurier). Die Original-Lyrics von Stereolab hingegen würden sich „fast wie eine marxistische Theorie“ lesen (Interview in der Intro):

Though this world’s essentially an absurd place to be living in
It doesn’t call for total withdrawal
I’ve been told it’s a fact of life, men have to kill one another
Well I say there are still things worth fighting for

La Résistance!

Though this world’s essentially an absurd place to be living in
It doesn’t call for total withdrawal
It’s said human existence is pointless
As acts of rebellious solidarity can bring sense in this world

La Résistance!

Tatsächlich erscheint der Liedtext des Covers im Vergleich mit dem Original milder, beinahe geglättet: So fehlt bspw. die Passage „I’ve been told it’s a fact of life, men have to kill one another“ und aus „As acts of rebellious solidarity can bring sense in this world“ sind „Akte, die jetzt wertvoll sind“, geworden.

Die Unbeschwertheit des Sommers…

In Tschick geht es um jugendliches Aufbegehren: Der vierzehnjährige Maik wird zu Beginn der Sommerferien alleine im seelenlosen Neubau der Familie zurückgelassen – seine alkoholabhängige Mutter fährt in eine Entzugsklinik, sein Vater verbringt den Sommer lieber mit seiner jungen Assistentin. Maik scheinen einsame Wochen voller Liebeskummer – er ist unglücklich in eine Mitschülerin verliebt – bevorzustehen. Dann taucht sein Klassenkamerad Andrej, genannt Tschick, mit besagtem Lada auf. Er will in die Walachei, seinen Opa besuchen – Maik steigt ein und es beginnt eine wilde Fahrt kreuz und quer durch das sommerliche Ostdeutschland. Die beiden übernachten unter den riesigen Rotorblättern eines Windrads, spielen Fußball mit Tiefkühlpizzen, gabeln auf einer Müllkippe ein junges Mädchen auf und lassen sich weder von Maiskolben vor der Windschutzscheibe, Konserven ohne Dosenöffner, noch vom Spritmangel oder der Polizei aufhalten. Erst als sie mit einem Viehtransporter zusammenstoßen, endet ihre Reise. Zurück in der Schule ist Maik die Aufmerksamkeit seiner Mitschülerin gewiss, doch es interessiert ihn nicht mehr. Die durchstandenen Abenteuer haben ihn selbstbewusster gemacht und er resümiert: Es war „der beste Sommer von allen“.

Das Musikvideo erzählt eine eigene kleine Geschichte und ergänzt somit den Film: Zu sehen ist, wie Tschick an den Lada gelangt. Bei seinem Versuch, sich des Autos zu bemächtigen, wird er von einem herbeieilenden Mann – Beatsteaks-Sänger Arnim Teutoburg-Weiß – ertappt. Tschick gelingt es jedoch schnell, ihn zu besänftigen – mit Hilfe einer Flasche Schnaps, die er aus seiner Plastiktüte zieht. Gemeinsam schlendern sie in die angrenzende Autowerkstatt, wo sie auf einen weiteren Mann – Dirk von Lowtzow – treffen. Tschick schenkt ein, sie stoßen an. Während die Erwachsenen zunehmend betrunkener werden und dabei „La Résistance“ grölen, kippt Tschick sein Glas ungesehen aus und besorgt sich einen Schraubendreher. Mit ihm startet er schließlich den Lada und fährt zu Maik – die Reise kann beginnen.

Geeint wird das jugendliche Duo von seinem Dasein als Außenseiter: „Psycho“ wird Maik von seinen Mitschülern genannt, während der Russlanddeutsche Tschick sich auch schon mal im Klassenzimmer übergibt. Anderssein und deshalb gehänselt werden – eine Erfahrung, die auch Fatih Akin und Dirk von Lowtzow gemacht haben und die sie dazu bewogen haben mag, sich der Romanvorlage anzunehmen. „Ich war Außenseiter, weil ich auch so ein bisschen Psycho war“, erzählt der Regisseur (Deutschlandfunk). Und der Tocotronic-Sänger bekennt im Interview: „Ich habe versucht zu provozieren, vor allem durch Kleidung“. Außerdem sei Rockmusik „wie eine Endlospubertät, also kann man sich mit Teenagern immer gut identifizieren“ (Intro). Das sorgt bei manchem Hörer für Erheiterung: „Ich möchte Teil einer Altherrenbewegung sein“, hat jemand in Anspielung auf Dirk von Lowtzows Alter und einen seiner bekanntesten Hits unter das Video zu French Disko geschrieben.

….gegen die Enge im Elternhaus

Dass sich Tocotronic immer noch mit Jugendlichen identifizieren können bzw. wollen, beweisen sie auch in ihrem Song Electric Guitar (Januar 2018), der auf biographischen Notizen beruht und einen „Teenage Riot“ schildert. Jedoch ist dieser räumlich auf das „Reihenhaus“ begrenzt, die „Manic Depression im Elternhaus“ erscheint unausweichlich (vgl. die Besprechung auf diesem Blog). In Tschick dagegen gelingt, was dem lyrischen Ich in Electric Guitar verwehrt bleibt: der Ausbruch aus dem elterlichen Haus. Statt im „Zimmer unter dem Garten“ Zuflucht zu suchen, verspricht die Fahrt in die Weite des Sommers Erlösung. Der Aufruf zur Rebellion in French Disko bietet den dazu passenden musikalischen Rahmen, den es für ein erfolgreiches Aufbegehren in Electric Guitar vielleicht auch gebraucht hätte. Und so erscheinen „spontane Rebellion und Solidarität“ als zeitlos wertvolle „Akte“, die jede Generation für sich neu entdecken und keinesfalls mit dem Älterwerden aufgeben muss.

Isabel Stanoschek, Bamberg

Klaustrophobie in der Kleinstadt: Zu Electric Guitar von Tocotronic

Tocotronic

Electric Guitar 

In meinem Zimmer
Unter dem Garten
Fühl ich mich sicher
Ich kann‘s euch verraten
Ich schnalle dich um
Nehme dich in die Hände
Und schicke den Sound
Zwischen die Wände

Ich zieh mir den Pulli vor dem Spiegel aus
Teenage Riot im Reihenhaus
Ich gebe dir alles und alles ist wahr
Electric Guitar
Ich erzähle dir alles und alles ist wahr
Electric Guitar

Am frühen Morgen
In die Garage
Die Dose Haarspray
In meiner Tasche
Auf dem Fahrrad zum Postamt
Vorbei an Plakaten
Ich schicke Briefe
Und kann’s kaum erwarten

Ich drücke Pickel vor dem Spiegel aus
Manic Depression im Elternhaus
Ich gebe dir alles und alles ist wahr
Electric Guitar
Ich erzähle dir alles und alles ist wahr
Electric Guitar

Die Treppe runter zur Hintertür raus
Ich halte das alles hier nicht mehr aus
Ein Tagtraum im Regen und Apfelkorn
An der Bushaltestelle lungern wir rum
Wir erfinden uns selbst als Anarchisten
Als unscharfe Bilder auf Fahndungslisten
Erkunden uns selbst und wollen es wissen
Ich will es jetzt wissen

Du ziehst mir den Pulli vor dem Spiegel aus
Sex and Drugs im Reihenhaus
Ich gebe dir alles, mein Rock’n‘Roll-Star
Electric Guitar
Du ziehst mir den Pulli vor dem Spiegel aus
Manic Depression im Elternhaus
Ich gebe dir alles und alles ist wahr
Electric Guitar
Ich erzähle dir alles und alles ist wahr
Electric Guitar
Electric Guitar
Electric Guitar
Electric Guitar
Electric Guitar
Electric Guitar

     [Tocotronic: Die Unendlichkeit. Vertigo 2018.]

Es ist Nacht. Mondlicht schimmert durch die Äste. Grillen zirpen. Ein Käuzchen ruft. Sonst ist es still.

Dann setzt die Musik ein. Ein Zimmer ist zu sehen, Plakate an der Wand, schummriges Licht, eine Gitarre. In der Garage ein Motorrad. Die Fahrerin nimmt den Helm ab, streicht sich die Haare aus dem Gesicht, offenbart einen mürrischen Blick. In der Küche ein Mann am Herd, er brät Spiegeleier, stellt Getränke auf den Tisch. Das Mädchen läuft die Treppe hoch, macht die Tür hinter sich zu, atmet tief durch. Ein Schrei aus der Küche, sie versteckt etwas im Schrank.

Daheim im elterlichen Reihenhaus ist das Abendessen fertig.

Mit dieser Szenerie beginnt das Video zu Electric Guitar von Tocotronic, dem dritten Kapitel der Videoreihe zum Album Die Unendlichkeit (2018). Es folgt auf das Video des ersten Kapitels Hey Du und das des zweiten Die Unendlichkeit und bildet mit diesen eine Art Miniserie. Visuell wie lyrisch steht Electric Guitar nicht für sich alleine, sondern bildet einen Puzzleteil eines Lebenszyklus – dem von Sänger und Texter Dirk von Lowtzow. Die zwölf Lieder des zwölften Albums beruhen auf biographischen Notizen, angefangen bei den Kindheitserinnerungen (Tapfer und grausam) und der Jugend (Hey du, Electric Guitar), gefolgt von Aufbruch und Bandgründung (1993), dem Tod eines Freundes (Unwiederbringlich), einem Umzug und einer neuen Liebe (Ausgerechnet du hast mich gerettet), bis in die Zukunft (Mein Morgen) und schließlich in die Unendlichkeit.

Zurück zu den Anfängen

„Ich hatte den Wunsch, im Songschreiben wieder persönlicher zu werden und weniger abstrakt und theorielastig“, erklärt Dirk Von Lowtzow im Interview. Diese Konzeption steht in Abgrenzung zu den letzten Alben der Band, die häufig dem sogenannten Diskurspop zugeordnet und von der Kritik auch schon mal als „Pop für das Universitäts-Seminar“ bezeichnet wurden. Die Liedtexte auf Die Unendlichkeit hingegen sind weniger geprägt von akademischem Schriftgut: „Ich wollte mich mit einfachen Worten, ohne Umwege und ungepanzert mitteilen“, so Dirk von Lowtzow.

Neu ist das nicht: „Die Lieblingsband der deutschen Feuilletons“ (Die Zeit), findet vielmehr zurück zu ihren ersten Alben, die von Prägnanz und Schlichtheit geprägt waren und deren eingängige, elegische Parolen das Publikum direkt ansprachen (vgl. die Besprechungen auf diesem Blog zu Ich möchte Teil einer Jugendbewegung sein und Über Sex kann man nur auf Englisch singen). Was ein Rezensent der Süddeutschen Zeitung über die Alben der 1990er-Jahre schreibt – diese hätten „ein großes Identifikationsangebot an die durch Überbehütung durchschnittlich verlorene junge deutsche Mittelschichtsseele“ geboten –, trifft auch auf Electric Guitar zu.

Begrenzte Freiheit

In Electric Guitar geht es um die Enge im Elternhaus. „Seine Freiburg Diaries finden im neuen Song wieder zu konkreteren Formen“, schreibt ein Kritiker auf laut.de und bezieht sich damit auf Dirk von Lowtzows Herkunft. In dem Lied tauchen Konstanten der Adoleszenz auf, die nicht nur den Bandmitgliedern bekannt sein dürften: Haarspray, Pickel, Apfelkorn, an der Bushaltestelle lungern und natürlich die Electric Guitar. „Mit der Gitarre konnte ich Krach machen, und das gab mir Selbstsicherheit und das Gefühl von Freiheit. Und das fiel genau in die Zeit von erwachender Sexualität“, berichtet der Sänger im Interview über seine Pubertät.

Denn die Freiheit im elterlichen Reihenhaus ist begrenzt: Steht das Abendessen auf dem Tisch, hat man zu erscheinen. Und dabei nicht nur physisch anwesend zu sein. Besucher anderen Geschlechts sind nicht gestattet. Hört der Vater verdächtige Geräusche im Jugendzimmer, steht er in der Tür. Das Video führt den Songtext hier noch weiter. „Man möchte in diesem Video dauernd auf Pause drücken, um sich die liebevoll detailliert ausgestattete Wohn-Höhle oder auch Hölle des Jugendzimmers ganz genau anzuschauen“, schreibt ein Kritiker in der Frankfurter Allgemeinen Zeitung.

Ist es leicht, jung zu sein?

„Ist es leicht, jung zu sein?“ steht auf einem Plakat im Jugendzimmer. Es ließe sich entgegnen: Es ist auch nicht leicht, älter zu werden. Tocotronic bestehen seit 25 Jahren, die Bandmitglieder sind weit jenseits ihrer Zwanziger, gehen auf die 50 zu. Zwar geht es damals wie heute in ihren Liedern um die Reibung mit der Welt und den Menschen, die dort wohnen. Doch die juvenile Auflehnung ist dem „milden Rückblick des gereiften Erwachsenen auf die eigene Jugend“ gewichen (Die Zeit).

Das Video zu Electric Guitar verdeutlicht dies: Das Zusammenleben mit einem Teenager strapaziert die Nerven des Vaters. Seine Versuche, mit dem aggressiven, ablehnenden Verhalten seiner Tochter umzugehen, sie zu kontrollieren, scheitern und demonstrieren nur seine Hilflosigkeit. Erschöpft schläft er im Wohnzimmersessel ein – das Fernsehprogramm, eine Unterwasserwelt mit Fischen, scheint beruhigend gewirkt zu haben.

Im Reihenhaus wirkt alles, mit Ausnahme des Smartphones – herrlich anzuschauen der Disput am Küchentisch – aus der Zeit gefallen: der beleuchtete Globus im Jugendzimmer, die Spitzengardinen, die Flasche Maggi auf dem Küchentisch. Schließlich behandelt Electric Guitar ein zeitloses Phänomen:

Was Weezer 1994 in In The Garage besangen, ist heute nicht weniger aktuell: „In the garage / I feel safe / No one cares about my ways.“ Aus der amerikanischen Garage wird bei Tocotronic ein deutsches Souterrain, das dem unsicheren Teenager als Zufluchtsort dient:

In meinem Zimmer
Unter dem Garten
Fühl ich mich sicher
Ich kann‘s euch verraten

Auch bei Weezer gibt es eine „electric guitar“ und „posters on the wall“. Und auch Sonic Youth besangen schon 1988 einen Teenage Riot.

Die Gitarre als Geliebte

Insbesondere die Electric Guitar ist mit Sehnsucht aufgeladen; der Text schildert ein intensives haptisches wie sinnliches Erleben und liest sich durchaus doppeldeutig:

Ich schnalle dich um
Nehme dich in die Hände
Und schicke den Sound
Zwischen die Wände

Neben der Möglichkeit, mit der Electric Guitar einen mehr oder weniger musikalischen, auf jeden Fall geräuschvollen Teenage Riot anzuzetteln, der garantiert auch die stumpf starrende Nachbarschaft aufschreckt (vgl. das Video zu Hey Du), versinnbildlicht sie ein Bedürfnis nach Liebe: Die Gitarre stelle „aufgrund ihrer Form seit jeher ein Symbol für den weiblichen Körper“ dar (n-tv).

Noch expliziter werden die folgenden Zeilen, aus denen trotzige Entschlossenheit spricht:

Erkunden uns selbst und wollen es wissen
Ich will es jetzt wissen

Du ziehst mir den Pulli vor dem Spiegel aus
Sex and Drugs im Reihenhaus
Ich gebe dir alles, mein Rock’n‘Roll-Star
Electric Guitar

Doch das sexuelle Erwachen ist nur ein Teil des Erwachsenwerdens. „In Electric Guitar geht es um so eine Art musikalische Individualisierung oder Selbstwerdung durch Popmusik“, so Dirk von Lowtzow im Interview. Das Lied handele von einem „Gefühl, das jeder jugendliche Gitarren-Fan kennt: In den sechs Saiten und ihrer über Jahrzehnte aufgebauten Aura endlich die Entsprechung eines Selbst zu finden, das man cool finden kann“, schreibt ein Rezensent in der Spex.

Besungen wird eine intensive Beziehung, die sich durch Absolutheit auszeichnet:

Ich gebe dir alles und alles ist wahr
Electric Guitar
Ich erzähle dir alles und alles ist wahr
Electric Guitar

Der Kontrast zu der im Video aufgezeigten Beziehung des Teenagers zum Vater könnte nicht größer sein: Kommunikation findet nicht statt, man geht sich aus dem Weg.

Ausbruch aus der Provinz

Kontakt zur Außenwelt, zu Gleichgesinnten muss hergestellt werden. Ein klassisches Kommunikationsmittel verspricht Linderung – vor der Erfindung des Smartphones und der Verfügbarkeit des Internets im Jugendzimmer – und weckt Sehnsucht:

Ich schicke Briefe
Und kann’s kaum erwarten

Im Video findet die Teenager-Figur, gespielt von der Schauspielerin Jasna Fritzi Bauer, zudem einen Gefährten – ganz analog – im Wald. Halb ohnmächtig sitzt dort ein junger Mann, „dessen Erscheinung zwischen Jesus, Maria und Marilyn Manson changiert“ (FAZ), an einen Baum gelehnt. Sie nimmt ihn bei sich auf, nachdem die beiden bereits in den ersten beiden Videos gemeinsam zu sehen waren: In Hey Du (Kapitel 1) läuft dieser geheimnisvolle junge Mann, ein noch größerer Außenseiter, durch eine Siedlung, verfolgt von den Blicken sämtlicher Einwohner, am Ende trifft er auf eine Motorradfahrerin. In Die Unendlichkeit (Kapitel 2) stehen die beiden Rücken an Rücken, Hand in Hand im Nebel.

Besonders Hey Du unterstreicht noch einmal den Charakter der Kleinstadt als „Diaspora“, als „Schwarzwaldhölle“ – wie es wiederum in 1993 heißt und was man als Hommage an Thomas Bernhard, der einst Freiburg und den Schwarzwald beleidigte, lesen kann. Hier fühlt sich der Jugendliche zunehmend fremd, bis die Verzweiflung so groß ist, dass der Ausbruch geprobt wird:

Die Treppe runter zur Hintertür raus
Ich halte das alles hier nicht mehr aus

Doch weiter als zum Postamt und zur Bushaltestelle geht es nicht. Möglich ist nur die Flucht in einen Tagtraum und in die Phantasie, beflügelt von Plakaten:

Wir erfinden uns selbst als Anarchisten
Als unscharfe Bilder auf Fahndungslisten

Diese versprechen fernab der Provinz Abenteuer und lassen an RAF-Fahndungslisten denken. Welch ein Gegensatz zur braven, bürgerlichen Ordnung und Ruhe im Reihenhaus!

Isabel Stanoschek, Bamberg

If the kids were united. Zu „Ich möchte Teil einer Jugendbewegung sein“ von Tocotronic

Tocotronic

Ich möchte Teil einer Jugendbewegung sein


Ich möchte Teil einer Jugendbewegung sein
Ich möchte Teil einer Jugendbewegung sein
Ich möchte mich auf euch verlassen können
Ich möchte mich auf euch verlassen können

Jede unserer Handbewegungen
Hat einen besonderen Sinn
Weil wir eine Bewegung sind

Ich möchte Teil einer Jugendbewegung sein
Ich möchte Teil einer Jugendbewegung sein
Ich möchte mich auf euch verlassen können
Ich werd mit euch durch die Straßen rennen

Jede unserer Handbewegungen
Hat einen besonderen Sinn
Weil wir eine Bewegung sind

Jetzt müssen wir wieder in den Übungsraum
Jetzt müssen wir wieder in den Übungsraum
Oh Mann, ich hab überhaupt kein’ Bock
Oh Mann, ich hab schon was Bess’res vor
Und deshalb sage ich zu dir
Darauf scheißen wir

Ich möchte Teil einer Jugendbewegung sein
Ich möchte Teil einer Jugendbewegung sein
Ich möchte mich auf euch verlassen können
Ich möchte mich auf euch verlassen können

Jede unserer Handbewegungen
Hat einen besonderen Sinn
Weil wir eine Bewegung sind

Ich möchte Teil einer Jugendbewegung sein
Ich möchte Teil einer Jugendbewegung sein
Ich möchte Teil einer Jugendbewegung sein
Ich möchte Teil einer Jugendbewegung sein
Ich möchte Teil einer Jugendbewegung sein
Ich möchte Teil

     [Tocotronic: Digital ist besser. L'Age D'Or 1995.]

Monty Pythons Bibelfilmparodie Das Leben des Brian (die verschiedene religiöse Gruppen als Bibelparodie auffassten und entsprechend versuchten, ihre Aufführung zu verhindern, vgl. Wikipedia) lässt sich auch als Film über das Spannungsverhältnis von Individualität und Gruppenzugehörigkeit interpretieren. Eine der für diese Rezeption zentralen Szenen ist jene, in der Brian einer ihm als vermeintlichem Messias folgenden Menschenmenge versucht klarzumachen, dass sie niemandem folgen müssen, weil sie doch alle Individuen und untereinander verschieden seien, was die Menge im Chor wiederholt. Der darin liegende performative Widerspruch wird auf die Spitze getrieben, wenn ein Einzelner dem kollektiv nachgesprochenen „Ja, wir sind alle völlig verschieden“ mit einem „Ich nicht“ widerspricht und niedergezischt wird:

Der einzige Individualist ist hier derjenige, der seine Individualität abstreitet. Die in hier inszenierte Problematik betrifft fast alle Jugendbewegungen: Die Feier des rebellischen Andersseins geschieht in Form einer neuen Uniformierung, die Außenseiter formieren sich zu einer Gruppe, innerhalb derer selbst wieder Regeln, etwa eine Kleiderordnung, herrschen. Und so muss, hat sich eine Jugendbewegung erst einmal etabliert, gar nicht mehr zwingend Nonkonformität und das Gefühl des Nicht-Dazugehörens zur Umgebung den Anstoß dazu geben, sich als Rocker, Hippie, Metaller, Punk, HipHopper etc. zu entwerfen, sondern kommt, als Gegenstück dazu, auch der Wunsch nach Zugehörigkeit, danach, sich innerhalb einer Gruppe konform zu verhalten, als Motivation in Frage.

Diese zweite Motivation steht für das Sprecher-Ich in Ich möchte Teil einer Jugendbewegung sein im Vordergrund. Zunächst erscheint sein Wunsch noch psychologisch unmittelbar motiviert als Ausdruck des Bedürfnisses nach Freundschaft und Vertrauen; jedoch erweist er sich im weiteren Verlauf des Textes als durch den Mythos Rock vermittelt. Dieser lässt sich beschreiben als ein sekundäres Zeichensystem, das sich aus dem Bedeutungsvorrat bereits vorhandener Zeichensysteme speist und dabei neue Bedeutungen hervorbringt. Doch anders als bei primären Zeichensystemen wie der Sprache, bei denen die Willkür der Bedeutungszuweisung etwa einer Laut- und Buchstabenfolge zu einer Referenz offenkundig ist, entsteht beim sekundären Zeichensystem Mythos nach Roland Barthes der Eindruck, die Bedeutung ergebe sich unmittelbar aus dem Wahrgenommenen (vgl. Roland Barthes: Mythen des Alltags. Frankfurt a. M.: Suhrkamp 2001 [= edition suhrkamp 92]).

Zum Mythos Rock gehört der Mythos der Jugendbewegung, des Teenage Rampage. Im Text ist dieser vermittelt durch das Bild junger Menschen, die durch Straßen rennen, was sich im bundesrepublikanischen Kontext vor allem auf die Bilder von Demonstrationen der späten 1960er Jahre beziehen lässt. Diese zeigen häufig laufende, sich unterhakende junge Menschen. Das Sich-Unterhaken hatte in der historischen Realität eine praktische Funktion: Es sollte verhindern, dass einzelne Demonstranten von der Polizei herausgegriffen werden. Als mythisches Bild vermittelt es aber den Eindruck von Geschlossenheit. Doch die Vorstellung, sich auf andere verlassen zu können, stammt vor allem aus einem anderen Bereich, aus dem sich der Mythos Rock speist: aus den Ehrenkodizes von Straßengangs oder gewalttätigen Szenen, etwa der der Hooligans. Der Aspekt nur Eingeweihten bekannter codierter Gesten schließlich könnte Musikszenen entnommen sein (vgl. Christian Schlösser: Neu in der Hamburger Schule? Schule, Archiv und Markt in der deutschsprachigen Popmusik der 1990er Jahre. In: Juni-Magazin für Literatur und Politik. H. 41/42 (2007): Deutsches Lied. Volume 2. S. 503-511. Hier: S. 508). So bezieht sich die Vorstellung, die das Sprecher-Ich von einer Jugendbewegung hat, auf ein nicht ohne weiteres an eine konkrete historische Rea­lität rückzubindendes, lediglich im Mythos Rock vermitteltes Bild, dessen Fiktionscharakter das Sprecher-Ich jedoch nicht zu erkennen scheint.

Dass dieses Bild die Vorstellungen des Sprecher-Ichs bestimmt, wird auch an der umgekehrten Kausalverknüpfung in den Zeilen „Jede unserer Handbewegungen / Hat einen besonderen Sinn / Weil wir eine Bewegung sind“ deutlich. ‚Jugendbewegung’ wird nicht als ein Begriff wahrgenommen, mit dem ein soziales Phänomen beschrieben werden kann, sondern zur Entität hypostasiert, erhält einen ontischen Status: So wird nicht aus der Codierung von Gesten abgeleitet, dass es sich um eine Jugendbewegung handelt, was hieße, dass gemäß den Sprachkonventionen dieser Begriff gebraucht werden könne: Es heißt nicht ‚Weil jede unserer Handbewegungen einen besonderen Sinn hat, sind wir eine Bewegung‘; vielmehr wird aus dem Postulat, eine Bewegung zu sein, abgeleitet, dass Gesten codiert seien. Welche Ziele diese Jugendbewegung verfolgt, scheint dem Sprecher-Ich gleichgültig, sein Bedürfnis zielt darauf, dem Mythos Rock zu entsprechen, zu dem eben auch gehört, Teil einer Jugendbewegung zu sein.

Bestandteil dieses Mythos ist es auch, eine Band zu gründen und mit dieser begeistert zu proben – man denke an Bryan Adams’ Summer of 69:

I got my first real six-string
Bougt it at the five-and-dime
Played it ’til my fingers bled
It was the summer of 69

Me and some guys from school
Had a band and we tried real hard
[…]

Jedoch kollidiert diese Vorstellung, anders als im Mythos Rock, mit den unmittelbaren Bedürfnissen des Sprecher-Ichs. Diesem Konflikt begegnet es, indem es auf einen anderen Bestandteil des Mythos Rock zurückgreift: Die hedonistisch motivierte Rebellion gegen gesellschaftliche Ansprüche – nur dass diese hier eben nicht von der spießigen Erwachsenenwelt mit ihrer Disziplinierungswut ausgehen (etwa in Form von Schulpflicht und Arbeitsaufforderungen), sondern vom Mythos Rock selbst. Die Reaktion des Sprecher-Ichs fällt, im Vergleich zum übrigen Text, umgangs- und jugendsprachlich aus, klingt wie aus einem Dialog zweier Schulschwänzer: „Oh Mann, ich hab überhaupt kein’ Bock / Oh Mann, ich hab schon was Bess’res vor“. Doch ist diese mündlich und authentisch wirkende Sprache selbst schon klischiert: Die ‚Null Bock-Generation‘ ist 1995 längst soziologisch beschrieben, das „Oh Mann“ gehört fest zur Darstellung genervter Pubertierender in Vorabendserien und Fernsehfilmen. Und so endet auch die Verweigerung gegenüber den stereotypen Verhaltensweisen, wie sie der Mythos Rock vorschreibt, in einer ebenso stereotypen Halbstarkenpose, deren Komik darin gipfelt, dass dem bedeutungsschwer proklamatorischen „Und deshalb sage ich zu dir“ das nach dieser Einleitung gewollt grob wirkende „Darauf scheißen wir“ folgt.

Originalität und Individualität sind im Rock nicht (mehr) möglich. Und so bleibt nur die Sehnsucht nach einem goldenen Zeitalter des authentischen Rock, nach einem unwiderruflich verlorenen Paradies der Unmittelbarkeit.

 Martin Rehfeldt, Bamberg

Eine frühere Fassung dieser Interpretation erschien zuerst als Teil folgenden Aufsatzes: Von Lyrics zu Lyrik. Möglichkeiten und Konsequenzen einer Gattungstransformation am Beispiel von Dirk von Lowzows Lyrikband “Dekade 1993-2007″. In: Transitträume. Beiträge zur deutschsprachigen Gegenwartsliteratur Hg. v. Andrea Bartl unter Mitarbeit v. Hanna Viktoria Becker. Augsburg: Weidler 2009 (Germanistik und Gegenwartsliteratur 4), S. 149-189.