Lob der Faulheit. Zu Sportfreunde Stiller: „Wieder kein Hit“

Sportfreunde Stiller

Wieder kein Hit 

Ich hab' mich heut' erst nochmal umgedreht
Und mir 'ne feine Scheibe aufgelegt
Ich war Punk, Rapper und Kommunist
Wollt mal ausprobieren, wie das so ist

Ich war entzückt, verzaubert und berührt
Ich war betroffen, ich hab's gespürt
Hab' was gekauft, was ich nicht brauch'
Verschenken geht ja auch
Und alles, was ich dann noch tat, war keine Diät
Es wurde sehr spät
Kein Shades of Grey
But California, ey

Ich hab heut wieder keinen Hit geschrieben
Doch ich hab' damit mein' Frieden
Hab mal wieder nicht gemacht, was ich sollte
Sondern einfach nur, was ich wollte

Hab ihn gefragt, was das soll.
Hab ihr gesagt: „Du bist toll!“
Bin rausgefahren, hab angehalten,
Mich unterhalten mit Jungen und Alten
Bin mit schrillen Vögeln abgehoben
Hey ungelogen, 
ich schaute Moody und Runkle
Hörte Simon und Garfunkel
Kurz rief die Pflicht, 
doch ich hörte sie nicht

Ich hab' heut wieder keinen Hit geschrieben
Dafür schwob ich auf Wolke sieben
Hab' mal wieder nicht gemacht was ich sollte
Sondern einfach nur, was ich wollte

Soll ich dieben gehen, 
Melodien stehlen?
Für meinen Evergreen?
Ach was, ich leg' mich hin

Ich hab heut wieder keinen Hit geschrieben
Doch ich hab' damit meinen Frieden
Hab' mal wieder nicht gemacht was ich sollte
Sondern einfach nur, was ich wollte


     [Sportfreunde Stiller: New York, Rio, Rosenheim. Vertigo 2013.]

Einfach mal tun, was du willst. So oder so ähnlich ließe sich der hier vorgestellte Liedtext in einem Satz zusammenfassen. Das Sprecher-Ich erzählt von seinen Erlebnissen, während es das macht, was es will. Das resultiert letztlich in einem recht entspannt-unspektakulären Tag: Er beginnt mit dem Aufwachen, möglicherweise durch einen Wecker, doch anstatt aufzustehen, bleibt es einfach im Bett liegen, dreht sich nochmal um und legt eine Schallplatte auf.

Tagträumerisch stellt sie sich vor, Punk, Rapper oder Kommunist zu sein, wohl inspiriert durch die Musik, die die jeweiligen Assoziationen hervorruft. Vielleicht schwingt hier implizit eine Art kreativer Prozess mit, bei dem sich das Sprecher-Ich in andere Personen hineinversetzt und dadurch auch kreativ tätig ist. Doch vielleicht ist das schon einen Schritt zu weit gedacht, denn letztlich geht es in dem Text auch darum, dass eben nicht alles einen Zweck erfüllen muss und das Sprecher-Ich einfach in den Tag hineinträumt.

Dieser Gedanke wird noch fortgeführt, und wir bekommen einen kleinen Einblick in die Gefühlswelt des das Sprecher-Ichs, das „entzückt, verzaubert und berührt“ war, wohl nach wie vor von Musik, die es gerade hört. Die entspannte Situation und das Mantra des Textes, etwas zu tun, weil man Lust darauf hat, und nicht, weil man es muss, führt dann schließlich auch zum Kauf eines unnötigen Gegenstandes – verschenken kann man ihn ja immer noch später. Dieses Motiv wird dann auch auf den Konsum ausgedehnt, wenn das das Sprecher-Ich betont, dass es keine Diät macht, sondern im Umkehrschluss einfach das isst, worauf es Lust hat. Kapitalistischer Kaufrausch und Essen, wonach einem der Sinn steht.

Noch mehr als zur Zeit, in der der Text geschrieben wurde, steht der Text damit heute im Gegensatz zu Forderungen nach Konsumverzicht, klimagerechter oder veganer Ernährung, die unsere Zeit prägen und die letztlich auch als eine Art Pflicht an der Gesellschaft, der Umwelt oder dem Planeten verstanden werden. Gleichzeitig wird auch jeglichem Wunsch nach Selbstoptimierung, sei sie nun körperlich oder geistig, eine Absage erteilt. Umso deutlicher tritt hervor, dass das Sprecher-Ich das tut, wonach ihm der Sinn steht, unabhängig von allen anderen.

Was es mit den Zeilen „Kein Shades of Grey / But California, ey“ auf sich hat, erschließt sich mir nicht ganz. Meine Vermutung wäre, dass das Sprecher-Ich keine Lust hat auf die BDSM-Spiele á la Fifty Shades of Grey und die damit einhergehenden Machtdynanmiken, sondern sich die Serie Californication anschaut, die auch in der zweiten Strophe (Moody und Runkle) zitiert wird, sich auf das Sofa fläzt, statt sich groß für Sex zu interessieren. Aber vielleicht will eine Leserin oder ein Leser in den Kommentaren zu dieser Interpretation eine andere Alternative vorschlagen?

Das das Sprecher-Ich sollte, so macht die Strophe klar, eigentlich den bereits im Titel erwähnten Hit schreiben; also nicht nur irgendein Lied, sondern gleich einen erfolgreichen Song. Dass das Sprecher-Ich ein Lied komponieren soll, legt nahe, dass es sich hier um eine Art Alter Ego des Sängers von Sportfreunde Stiller, Peter Brugger, handelt. Eine nicht genauer identifizierte weitere Person oder Institution, vielleicht das Plattenlabel, will, dass der Hit produziert wird. Aber wer diesen Druck aufbaut oder warum der Hit geschrieben werden soll, wird gar nicht erst erwähnt. Letztlich ist es für den Text auch egal, denn geradezu lapidar und noch unterstrichen durch die entspannte und einfach gehaltene Musik konstatiert das Sprecher-Ich „Hab‘ mal wieder nicht gemacht, was ich sollte, / sondern einfach nur, was ich wollte“.

In der zweiten Strophe wird beschrieben, wie sich das das Sprecher-Ich schließlich doch noch aus dem Bett bewegt und wohl eine Art Spazierfahrt macht, ohne dabei ein genaues Ziel zu verfolgen. So kann es sich mit Leuten unterhalten, wobei die Beschreibung dieser Gesprächspartner als „Junge und Alte“ nahelegt, dass es ihm nicht wichtig ist, wer die Gesprächspartner sind, und es lediglich einen Plausch führen will. Dass das Sprecher-Ich dazu anhalten muss, spielt sowieso keine Rolle, weil ja genug Zeit vorhanden ist und der Hit auch noch ein anderes Mal oder auch gar nicht geschrieben werden kann. Szenen dieser Art sind auch im Musikvideo zu sehen, in dem die Band ins Grüne fährt und Szenen aus der WM 2014 nachspielt, Bier trinkt, dabei Musik spielt und vor sich hin musiziert.

Wieder zu Hause: Fernsehen, Musik hören und getrost die Arbeit ignorieren. Das Hören von Simon and Garfunkel übertönt sozusagen die Pflicht, die das Sprecher-Ich ebenfalls rufen hört. Es kann sich nicht mal dazu aufraffen eine Melodie zu stehlen, die kreative Arbeit also jemand anderem zu überlassen. Aber auch das ist kein Problem, denn dann geht es eben zurück ins Bett. Übrigens wird hier auch performativ dargestellt, dass das Sprecher-Ich macht, was es will, indem es einfach neue Wörter erfindet („Soll ich dieben gehen“), ein Charakteristikum, dass sich auch in der falschen Verbform „schwob‘“ statt ’schwebte‘ finden lässt.

Immer wieder betont das Sprecher-Ich, mit der „hit-losen“ Situation ihren Frieden gefunden zu haben. Kauft man ihm das ab? Schließlich wird immer wieder betont, wie entspannt es mit der Situation umgehen kann. Man könnte wohl auch argumentieren, dass das Sprecher-Ich eine Art Autosuggestion betreibt, indem es immer wieder betont, dass es völlig zufrieden ist, auch ohne Hit. Aber insgesamt, finde ich, scheint es plausibler, dass das Sprecher-Ich tatsächlich mit der Situation zufrieden ist und ohne einen Hit in seinem Repertoire ganz gut leben kann. Und weil es sympathisch darstellt, dass man am besten das machen soll, wonach einem der Sinn steht, ganz explizit auch faul sein und den Tag verschlafen, soll dies als Interpretation genügen – ich höre die Hängematte rufen…

Martin Christ, Erfurt

Von der Vergänglichkeit sportlicher Referenzen. Zu „Ich, Roque“ von Sportfreunde Stiller

Sportfreunde Stiller

Ich, Roque

Der Modefreak jubiliert, 
er hat den Anzug probiert
Und seine Freundin frohlockt, 
wie der Anzug rockt
Auf der Jeans da steht Punk, 
den Nietengürtel im Schrank
So schafft's heut jeder Pimp 
auf den Rock-Olymp
Der Unternehmer brilliert, 
er hat am Markt viel riskiert
Und man spendet Applaus, 
denn es rockt auch sein Haus

Doch nur einem gebühren diese Worte
Ein Privileg der ganz besonderen Sorte
Kein Wort zu niemandem wie ich zocke
Ich sag sag's nur meinem Fanblock
Ich, Roque!

Die coolen Kids reagieren, 
die fetten Beats explodieren
Wir brauchen mehr Distortion 
für die gesamte Nation
Denn es liegt wohl im Trend, 
dass jeder, der das Wort kennt
Nicht mehr ganz genau weiß, 
was „Rock“ eigentlich heißt

Doch nur einem gebühren diese Worte […]

Todo el mundo grita mi nombre
Es porque soy muy guapo, hombre
A lo mejor soy un goleador
¿O no tiene nada que ver, señor?
No sé porque mi nombre es tan relevante
En los estadios siempre doy el cante
Debería sentirme bien ahora
¿Ó no tiene nada que ver, señora?

     [Sportfreunde Stiller: Burli. Universal 2004.]

Kennen Sie Roque Santa Cruz? Mal gehört, so irgendwie dem Namen nach? Vielleicht wissen die Fußball-affinen Leserinnen und Leser, dass er mal bei Bayern war. Aber wann genau? Und für welche Nationalmannschaft hat er gespielt? Ich für meinen Teil kannte ihn überhaupt nicht. Santa Cruz spielte von 1999 bis 2007 bei Bayern München, ging danach nach England und spielt inzwischen wieder in seinem Heimatland Paraguay. Besonders mit München war Santa Cruz dabei durchaus erfolgreich, hat die Champions League und mehrfach den DFB Pokal und die Deutsche Meisterschaft gewonnen. Das letzte Mal, dass Santa Cruz in Deutschland spielte, war vor mehr als zehn Jahren, 2007. Man muss also entweder schon länger Fußballfan, besonders von Bayern München, sein, oder ein Unterstützter der Nationalmannschaft Paraguays, um Roque zu kennen.

Umso überraschender scheint es auf den ersten Blick, dass eine deutschsprachige Band wie die Sportfreunde Stiller auf ihrem 2004 erschienen Album Burli Roque Santa Cruz ein Lied widmeten. Denn der Band war sicherlich auch bewusst, dass Fußballspieler eine recht kurze Halbwertszeit haben. Mitte dreißig ist für die meisten Spielerinnen und Spieler im aktiven Fußball Schluss, und damit sinkt in den meisten Fällen auch das öffentliche Interesse. Bei den Sportfreunden Stiller ist dieser Bezug zu aktuellen, sportlichen Ereignissen aber keine Ausnahme. Bezeichnend ist in dieser Hinsicht das WM-Lied „54, 74, 90, 2006“. Als Deutschland 2006 eben nicht die WM gewann, wurde das Lied dann sogar als „54, 74, 90, 2010“ angepasst. Eine dritte Variante hat man sich für 2014 gespart und prompt klappte es mit dem Titel. Zumindest im Fall der WM-Lieder ist die Aktualität aber wohl ganz bewusst eingesetzt und hat insgesamt dem kommerziellen und kulturellen Erfolg der Lieder nicht geschadet. Die Verwendung von konkreten sportlichen Ereignissen oder Personen macht dabei einen wesentlichen Bestandteil der Lieder der Sportfreunde Stiller aus, die sich dadurch auch von viel allgemeiner gehaltenen WM-Liedern abgrenzen, wie beispielsweise Zeit, dass sich was dreht, das kaum einen Aktualitätsbezug erkennen lässt.

Noch offensichtlicher ist die Verankerung im Hier und Jetzt aber bei dem Lied Ich, Roque, wo es nicht um ein kollektives Ereignis wie eine WM geht, sondern nur um einen einzigen Spieler. Während ein Lied zur WM weiterhin gehört wird, vielleicht um die Emotionen und Erinnerungen wiederzubeleben, ist dies bei einem Lied, das ganz speziell auf einen Spieler rekurriert, schwieriger vorstellbar. Doch auch dieser Fokus auf einen einzelnen Spieler ist für die Sportfreunde Stiller kein Unikum. Auf dem gleichen Album wie Ich, Roque befindet sich der Song Lauth anhören, der auf Benjamin Lauth, Profi bei 1860 München, anspielt. Lauth ist wohl noch unbekannter als Roque Santa Cruz und dennoch wurde ihm auf diese Weise eine Art musikalisches Denkmal gesetzt.

In beiden Fällen sind phonetische Wortspiele wohl der ausschlaggebende Grund für die Verwendung der Sportler. Gleichzeitig funktioniert der Text durch den Einbezug der Fußballer aber auf mehreren Ebenen und kann auch als Verbeugung vor deren sportlichen Leistungen verstanden werden. Übrigens wurde das Lied von den Trainern von Santa Cruz‘ englischem Verein, den Blackburn Rovers, immer wieder vor Spielbeginn in der Kabine gespielt (vgl. sportbild).

Nicht zuletzt werden die Sportfreunde Stiller durch solche Lieder natürlich auch ihrem Bandnamen gerecht. Gleichzeitig kreiert die Band aber auch eine Gemeinschaft von Personen, die sich in der Fußballgeschichte gut auskennen. Wer den Liedtext verstehen kann, ist ein wahrer Sportfan, ein echter Sportfreund. Deswegen ist es auch nicht verwunderlich, dass das Lied keine informative Ebene hat und beispielsweise die Errungenschaften oder Biographie von Santa Cruz referiert. Stattdessen werden einfache Wortspiele angewandt, die aber mit der Sportlerkarriere von Santa Cruz wenig zu tun haben. Denn: Wahre Sportfans kennen ihn ohnehin.

Der Liedtext spielt mit der Aussprache von Santa Cruzs Vornamen als „Rocke“. Dabei thematisiert die erste Strophe die inflationäre Verwendung der Beschreibung „es rockt“. Anzüge und Häuser rocken und sogar (Pseudo-)Punks mit Nietengürteln kommen auf den Rockolymp. Doch letztlich steht, allein auf Grund seines Namens, das Privileg zu rocken eben nur Roque Santa Cruz zu. Im Refrain wird dann der beschreibende Erzählton des restlichen Liedes durch einen Einwurf in der ersten Person gebrochen. „Ich sag’s nur meinem Fanblock“, bis schließlich Santa Cruz selber „Ich, Roque“ singt. Denn folgerichtig steht nur ihm das Privileg zu, diese Worte zu sagen und wenn die Sportfreunde Stiller die Worte sagten, würden sie in der ersten Strophe ausgeführten Darstellungen selber untergraben. Die Sportfreunde Stiller umgehen damit aber auch ein sprachliches Spiel, denn letztlich funktioniert das Wortspiel aus Roque/rocke nur in der ersten Person Singular, würde man Du rockst verwenden, würde Roques Name eben nicht mehr passen.

Die in der ersten Strophe angebrachte Kritik, dass inzwischen alle rocken, wird dann in der zweiten Strophe auf die Spitze getrieben, denn nicht mal die Leute, die angeblich „rocken“ wissen, was das Wort bedeutet. Das lässt sich zum einen im Sinne des Liedtextes als Verweis darauf verstehen, dass nur Roque Santa Cruz überhaupt rocken kann, aber auch als kleine Spitze gegen die Rockmusik, die „nicht mehr ganz genau weiß, was ‚Rock‘ eigentlich heißt“. Doch die Anspielungen von Fanblock und ähnlichem sind ohne ein grundsätzliches Wissen über Roque kaum zu verstehen.

Schließlich folgt ein spanischer Teil. In dem Text drückt das Alter Ego des Fußballers seine Verwunderung über die Beliebtheit seines Namens aus („Ich weiß nicht, warum mein Name so relevant ist“). Vielleicht, mutmaßt das Alter Ego von Santa Cruz, liegt es daran, dass er so gut aussieht oder so viele Tore schießt. Laut des vorhergehenden Textes ist die Antwort wohl einfacher, Santa Cruz roquet eben. Paradoxerweise wird dieser Liedteil im Musikvideo nicht von Santa Cruz, sondern von einer Art verkleidetem Chor gesungen, die wohl so etwas wie die innere Stimme von „Santa Cruz“ sind.

Der spanische Textteil fügt letztlich eine weitere Ebene der Verfremdung für das ansonsten deutschsprachige Leid hinzu. Nun benötigt man zum vollständigen Verständnis des Liedes nicht nur ein solides Fußballwissen, sondern auch rudimentäre Spanischkentnisse. Ich zumindest hatte weder das eine noch das andere und musste Wikipedia bzw. Google Translate bemühen, um den Liedtext verstehen zu können. Interessant ist ein solcher Liedtext besonders, weil er demonstriert, wie sehr Liedtexte von einer konkreten Situation geprägt sind, und das auch bei Liedtexten mit scheinbar leicht verständlichem Inhalt. „Ich, Roque“ verdeutlicht damit besonders eindrücklich, dass Liedtexte, genauso wie historische Quellen, in ihrem jeweiligen Entstehungskontext verstanden werden müssen.

Martin Christ, Tübingen

Kitsch für einen guten Zweck. Zur deutschen Version des Band Aid-Projektes „Do They Know It’s christmas?“ (2014)

Band Aid Thirty (Text: Campino, Marteria, Thees Uhlmann, Sebastian Wehlings)

Do They Know It’s Christmas? (Deutsche Version)

Endlich wieder Weihnachtszeit (Campino [Die Toten Hosen])
Die Nerven liegen so schön blank (Philipp Poisel)
Egal ob’s regnet oder schneit (Clueso)
Wir treffen uns am Glühweinstand (Seeed)
Wir vergessen unsere Nächsten nicht (Andreas Bourani) 
Kaufen all die Läden leer (Ina Müller) 
Die ganze Stadt versinkt heut‘ Nacht im Lichtermeer (Jan Delay) 
Und du fliegst nur 6 Stunden weiter: Ärzte, Schmerzen ohne Grenzen (Marteria)
Kleine Jungs im Barcelona-Shirt malen ihre Träume an die Wände (Marteria und Max Herre)
Es gibt so viel Zukunft, so viel Vielfalt (Max Herre) 
In all den 54 Ländern (Cro)
Doch immer nur dieselben Bilder (Cro und Michi Beck) 
Gelbe Schutzanzüge auf all den Sendern (Michi Beck)
Du gehst durch den Dezember (Peter [Sportfreunde Stiller])
Mit einem Lied im Ohr (Steffi [Silbermond])

Do they know it’s Christmas Time at all? (Clemens [Milky Chance])

Wir feiern unsere Feste (Max Raabe)
Doch wir sehen nicht wie sie fallen (Wolfgang Niedecken)
Der Tod kennt keine Feiertage (Udo Lindenberg) 
Und schon ein Kuss kann tödlich sein (Sammy Amara [Broilers] und Anna Loos)
Kein Abschied und keine Umarmung (Peter Maffay)
Jeder stirbt für sich allein (Thees Uhlmann & Joy Denalane)

Do they know it’s Christmas Time at all? (Gentleman)
Do they know it's Christmas Time at all? (Patrice)
Do they know it's Christmas Time (Chor)

Und auf all den Feiern (Clemens [Milky Chance])
Von hier bis nach Monrovia (Jan-Josef Liefers)
Denken wir daran in dieser stillen Nacht (Adel Tawil)

Do they know it's Christmas Time at all? (Campino)
Do they know it's Christmas Time at all? (Inga Humpe [2Raumwohnung])
Do they know it's Christmas Time (Chor)
Heal the world (Chor) 
Heal the world (Donots)
Heal the world (Chor)
Let them know it’s Christmas Time. Heal the world (Gentleman und Patrice)
Let them know it’s Christmas Time (Jennifer Rostock)
Heal The World.

Do we know it's Christmas Time at all.

Heal The World.

Let them know it's Christmas Time again (Chor)

     [Band Aid 30: Do They Know It’s Christmas? (2014). Polydor 2014.]

 

Es ist so weit, der Advent ist wieder da und mit ihm auch die kopfschmerzbereitende Geschenkefrage, die Plätzchenbäckerei und die in Endlosschleife gespielten Weihnachtslieder im Radio. Ja, wir hassen den Hype manchmal, der mittlerweile um die Weihnachtsfeiertage zelebriert wird, aber entziehen können wir uns ihm nicht. Und ganz ehrlich – am Ende lässt sich doch jeder von der hektischen, aber trotz allem besinnlichen Stimmung mitreißen. Denn der Grundgedanke dieses Festes berührt letztendlich jeden von uns. Das hat sich in diesem Jahr auch Bob Geldof zum Ziel gesetzt, den vor einigen Wochen die UNO darum gebeten hat, zum Jubiläum seines Klassikers Do they know it’s christmas? von 1984 eine Neuauflage zugunsten der Ebola-Opfer in Westafrika zu produzieren. Der Sänger ließ sich nicht lange bitten, sondern trommelte im Handumdrehen eine Gruppe stimmgewaltiger Briten (u.a. Ed Sheeran, Sinead O’Connor und Chris Martin) zusammen, die den Song in unveränderter Form neu aufnahmen. Da dieses Projekt, das Band Aid genannt wird, in dieser Art schon des Öfteren organisiert wurde, zuletzt 2004, als das Geld zur Bekämpfung einer Hungersnot im afrikanischen Sudan verwendet wurde, ist es nicht unbedingt eine Überraschung, wenn der Weihnachtshit auch dieses Jahr wieder im Radio rauf und runter gespielt wird. Neue Töne werden diesmal allerdings aus den deutschen Lautsprechern schallen. Zum ersten Mal nämlich gibt es auch eine deutsche Version des Band Aid-Projektes, das von Campino, dem Frontsänger der Punkrockband Die Toten Hosen, auf Anfrage/Bitte/Auftrag von Bob Geldof in die Wege geleitet wurde. Der Rocksänger wurde Anfang November von seinem alten Bekannten angerufen, der ihm, wie Campino im ZEIT-Interview gestand (vgl. „Do they know it’s christmas?“: Heilt die Welt!), keine andere Wahl ließ als zuzusagen, den deutschen Beitrag zu organisieren. Kurz darauf, am 13. November, war Campino in der Lage, sein All-Star-Team vorzustellen, für das er fast die gesamte deutsche Pop-Elite gewinnen konnte. Rund dreißig Musiker haben Do they know it’s christmas? nun neu aufgenommen und jeder von ihnen singt i.d.R. eine Textzeile der Übersetzung, die Campino zusammen mit Thees Uhlmann, Sebastian Wehlings (u.a. Texter von Adel Tawil) und Marteria in mühevoller Kleinarbeit erarbeitete. Das allein sei laut dem Punksänger schon ein „Himmelfahrtskommando“ gewesen, wie er im Morgenmagazin von ARD/ZDF berichtete (vgl. Sendung vom 21.11.2014). Die Musiker hätten sich bemüht, den deutschen Text des Klassikers von all den Flachheiten zu reinigen, die, wie Bob Geldof selbst zugab, im Original steckten. Campino wollte mit seinem Team einen Song schaffen, hinter dem die deutschen Musiker stehen könnten und der frei von den Klischees und Undifferenziertheiten ist, die in der Gegenwart sowieso schon überhandgenommen haben. Natürlich ist der Song immer noch Kitsch – aber dafür Kitsch auf hohem Niveau.

Als Beispiel für eine solche Flachheit des Originals kann die Textzeile „And there won’t be snow in Africa this Christmas Time“ dienen. So hat man sich schließlich für einen komplett neuen Text entschieden, der nicht wie die Originalversion auf Hungersnöte eingeht, sondern spezifisch auf die Ebola-Epidemie verweist: „Gelbe Schutzanzüge auf all den Sendern“. Daher haben Campino und Co. auch den Refrain-Zusatz „Feed the world“ in „Heal the world“ verwandelt (und dabei Michael Jacksons Metapher wörtlich genommen). Manchmal sind Neuerungen einfach unumgänglich. Der Text überzeugt zwar nicht von tiefsinnigen Betrachtungen über das Elend in Afrika und er stellt auch nicht mit erhobenem Zeigefinger Moralvorstellungen in den Mittelpunkt. „Natürlich ist es ein Kitschlied“, meinte selbst Campino dazu. Aber es ist schon eine Leistung, dass der Text nicht in den Ohren weh tut, sondern man sich trotzdem noch an ihm erfreuen kann.

Do they know it’s christmas? wird mit seinem Bezug zur deutschen Alltagssprache zu einer Weihnachtshymne, in der Campino und Co. unter anderem auch deutsche Sprichwörter miteinbezogen haben: „Wir feiern unsere Feste / doch wir sehen nicht wie sie fallen“. Diese Redewendung verwendete in jüngster Vergangenheit schon die Newcomerin Julia Engelmann, die Anfang des Jahres mit ihrem Beitrag One Day/Reckoning Text beim Bielefelder Campus TV Hörsaalslam, einem Poetry-Slam-Wettbewerb, für Furore sorgte: „Lasst uns Feste wie Konfetti schmeißen, sehen, wie sie zu Boden reißen und die gefallenen Feste feiern, bis die Wolken wieder lila sind“. Man sieht, die junge Slammerin und auch die deutsche Band Aid-Gruppe haben mit der Botschaft, die sie in ihren Werken vertreten, irgendwie den Nerv der Zeit getroffen: Müssen die Deutschen mittlerweile daran erinnert werden, die Feste dann zu feiern, wann sie sind, anstatt sie aufzuschieben, obwohl der übervolle Terminkalender sowieso keinen Platz für sie lässt? Der Text appelliert also nicht nur an unsere Hilfsbereitschaft, sondern auch an unser Unvermögen, unseren Wohlstand so zu genießen, wie es ihm gebührt. Eine recht philosophische Botschaft für solch eine leichte Lektüre, wenn man es sich recht überlegt.

In diesem Sinne ist es wohl auch ein großer Pluspunkt des Projektes, dass sich Musiker aus so vielen unterschiedlichen Genres an der Spendenaktion beteiligen, die dem Song alle individuelle Stimmungen und Schattierungen geben, kurz, die dem Text, so verschieden wie diese Sänger sind, ihren Stempel aufdrücken. Es finden sich hier etablierte Interpreten aus Pop und Rock, aber auch unbekanntere Musiker aus dem Soul wie Joy Denalane oder dem Reggae wie Patrice. Abwechslung bieten insbesondere die Textzeilen der Rapper Marteria und Max Herre, die genau wie Cro und Michi Beck (Fanta 4) die idyllische Stimmung gesanglich wie textlich wieder auf den Boden holen: „Und du fliegst nur sechs Stunden weiter: Ärzte, Schmerzen ohne Grenzen“. Natürlich könnte man sich nun fragen, weshalb Herbert Grönemeyer und Schlagerstars wie Helene Fischer oder Andrea Berg nicht bei dem Projekt mitgewirkt haben. Auch eine deutsche Diskursband wie Tocotronic hätte sich in der bunten Vielfalt an Musikercharakteren sicher gut gemacht. Letztendlich spielt es aber keine Rolle, wer dabei war und wer nicht. Und Campino stellte außerdem ganz schnell klar, dass er „über die reden möchte, die mitgemacht haben und nicht über die, die nicht mitgemacht haben.“ (vgl. „Do they know it’s christmas?“: Heilt die Welt!)

Der Kampf gegen Ebola hat also dazu geführt, dass Musiker wie sie unterschiedlicher nicht sein könnten (und von denen sich mit Sicherheit einige bei der ECHO-Verleihung lieber aus dem Weg gehen), ein Lied produziert haben, das wider aller Erwartungen sogar richtig gut geworden ist. Der Band Aid Trust entscheidet schließlich, wem die Einnahmen aus dem Verkauf der Singles und Downloads zugespielt werden. Die Entwicklung eines neuen Impfstoffes ist neben der Bekämpfung des akuten Ausbruchs der Krankheit das Hauptanliegen der Bemühungen. Aber trotz des guten Zwecks wurden schon vor Veröffentlichung des Videos des deutschen Band Aid-Beitrags am Freitag, dem 21.11.14, kurz vor den Tagesthemen um 20.00 Uhr, kritische Stimmen laut. „Schlimmer als Ebola“ sei diese Version, die nur eine „neue Eskalationsstufe von Scheiße“ erreichen würde, wertete das Vice-Magazin den Beitrag ab. Harte Worte in Anbetracht der noch härteren Lage in Afrika. Natürlich könnte man die Künstler, die sich daran beteiligten, bezichtigen, dies nur wegen des Imagegewinns zu tun und auch für die Plattenfirmen bietet sich hier ein kostenloses globales Marketingmittel. Der Appell¸ der mit dem Lied aus dem Radio in unsere Ohren transportiert wird, grenze an zwischenmenschlichen Druck, der auf uns aufgebaut werden würde, sodass man gar keine andere Möglichkeit habe, als die Single zu kaufen. Das könnten schon alles wahre Worte sein. Aber muss man bei einem einfachen Popsong, dessen Gewinne lediglich an eine Hilfsorganisation gehen, gleich von modernem Ablasshandel sprechen, der uns wie eine Drohung mit dem Fegefeuer einschüchtert? Nun, diese Ansicht ist mit Sicherheit leicht übertrieben. Campino hält das alles jedenfalls für „beispiellosen Zynismus“. Und wenn man folgende Zeilen auf dem Internetauftritt des Vice-Magazins liest, dann stimmt man ihm auch schon mal zu: „2014 hat soeben offiziell seine Bewerbung für das beschissenste Jahr der Weltgeschichte eingereicht, 1939 kriegt schon kalte Füße.“ (Nicht mal Ebola rechtfertigt die deutsche Version von „Do They Know It’s Christmas“, 18.11.14). Soll man da lachen oder weinen? Man weiß es einfach nicht.

Die Ambivalenz eines solchen Projekts zeigt sich darin, dass zwar ungewiss ist, in welchem Umfang der die Veröffentlichung dieses Songs den Ebola-Opfern hilft, dass er jedoch uns  in jedem Fall hilft, uns in Weihnachtsstimmung zu versetzen. Denn das ist heutzutage ja auch, um Campino zu zitieren, „ein Himmelfahrtskommando“.

 Marina Willinger, Bamberg