Warum der Regenbogen ins Stadion gehört. Zu „Der Tag wird kommen“ von Marcus Wiebusch
30. Juni 2021 Hinterlasse einen Kommentar
Marcus Wiebusch Der Tag wird kommen Und der Tag wird kommen, an dem wir alle unsere Gläser heben Durch die Decke schweben, mit 'nem Toast den hochleben lassen Auf den ersten, der's packt, den Mutigsten von allen Der erste, der's schafft Es wird der Tag sein, an dem wir die Liebe, die Freiheit und das Leben feiern Jeder liebt den, den er will, und der Rest bleibt still Ein Tag, als hätte man gewonnen Dieser Tag wird kommen Dieser Tag wird kommen, jeder Fortschritt wurde immer erkämpft Ganz egal, wie lang' es dauert, was der Bauer nicht kennt nicht weiß, wird immer erstmal abgelehnt Und auf den Barrikaden die Gedanken und Ideen, dass das Nötige möglich ist, wie Freiheit und Gleichheit, Dass nichts wirklich unmöglich und in Stein gemeißelt ist Bis einer vortritt „Schluss jetzt mit Feigheit“ Geschichte ist Fortschritt im Bewusstsein der Freiheit Wir den aufrechten Gang haben, nicht mehr in Höhlen wohnen Nicht mehr die Keulen schwingen, Leute umbringen Nicht umherstreifen in kleinen Herden Weil Menschen nicht ewig homophobe Vollidioten bleiben werden Und der Tag wird kommen, an dem wir alle unsere Gläser heben [...] A-Jugend Leistungsklasse Wilhelmsburg-Süd Ein verschworener Haufen und einer machte den Unterschied Mit so viel mehr Talent und mit mehr Willen als alle "Oh, das wird mal ein Profi", stolz wussten wir das alle U17, U19, Hamburger Auswahl Bei fast jedem Heimspiel mehrere Scouts da Nur 'ne Frage der Zeit, bis das Angebot kam 1. Liga, drei Jahre und ein Traum wurde wahr Und am Abend des Deals, als wir es krachen lassen wollten Er sich uns anvertraute und sich nichts ändern sollte Denn die einen ahnten es, den anderen war es längst klar Manche wussten es schon, es war uns allen egal Es war uns vollkommen egal ob er straight oder schwul war Wir spielten zusammen seit der F-Jugend Fußball Eine Gang, ein Team, ein "You'll never walk alone" So wurde es beigebracht, so wird es jetzt gemacht, mein Sohn Dann besoffene Tränen und die große Erleichterung Oh, dieser Tag kommt aus genau dem gleichen Grund Weil wir Menschen nicht danach bewerten, wen sie lieben Ihr Sex ihre Sache ist und sie es nicht verdienen Von den Dümmsten der Dummen beurteilt zu werden Von den Dümmsten der Dummen beurteilt zu werden Um von ihnen dann verurteilt zu werden Und er nahm seinen Traum, zog in die fremde Stadt Und wir behielten sein Geheimnis, blieben zurück und in Kontakt Und der Tag wird kommen, an dem wir alle unsere Gläser heben [...] Nicht den Anschein erwecken in der großen Maskerade Agenturen stellen die Freundin und besorgen die Fassade Die gestellten Urlaubsfotos und den öffentlichen Auftritt Warten, bis die ganze Scheiße auffliegt Nicht den Anschein erwecken, auf dem Feld härter spielen Zehn gelbe, zwei rote Karten und die auch verdienen "Du kennst mich, ich war nie ein unfairer Spieler Und jetzt gelt' ich als Treter der Liga Du weißt nicht, wie das ist, wenn man immer eine Maske trägt Immer aufpassen muss, wer man ist, wie man lebt Permanent, eigentlich die ganze Zeit Angst Und du spielst in dem Mist dann so gut wie du kannst Und der sehnliche Wunsch und die Frage, wie es wäre Hier ein anderer zu sein, jetzt mit dieser Karriere Wenn ich es ändern könnte, dieses traurige Leben Für mein Fühlen nie entschieden und so ist es eben“ "Wir waren zusammen in Stadien, vor ca. 20 Jahren Als sie farbige Spieler mit Bananen beworfen haben Dann die Affenlaute, bei jeder Ballberührung Diese Zeiten vorbei und keine glückliche Fügung Sondern Fortschritt, Veränderung, wir sind auf dem Weg Außenminister, Popstars, Rugby-Spieler zeigen, dass es geht Früher undenkbar, heute normal, ich wette 90% ist es egal Und dann erinner' dich an die Erleichterung als es raus war Wie dein Herz zersprang, als die Wörter rauskamen Die finden das zwei Wochen spannend und der Spuk ist verschwunden Und du hättest deinen Frieden gefunden" „Kein Verein will den Rummel, kein Team den Alarm Und der Vertrag, den ich hab', geht so schnell wie er kam Dass kann keiner absehen, wenn der Sturm losbricht Und der Sturm wird kommen, ob man will oder nicht Du bist dann der Erste, der Homo, der Freak Es gibt dann keinen, der in dir nur noch den Fußballer sieht Aber ja, es wird besser und der Tag ist in Sicht Einer wird es schaffen, aber ich bin es nicht" „Es ist deine Entscheidung, ganz egal wer was sagt“ Beim Abschied geflüstert „With hope in your heart“ Noch Einigkeit erzielt, dass der Tag kommen wird Und das nächste Heimspiel wohl gewonnen wird Auf dem Nachhauseweg, dieser eine Gedanke Und fasst schon ein Lächeln All ihr homophoben Vollidioten, all ihr dummen Hater All ihr Forums-Vollschreiber, all ihr Schreibtischtäter All ihr miesen Kleingeister mit Wachstumsschmerzen All ihr Bibel-Zitierer mit euer'm Hass im Herzen All ihr Funktionäre mit dem gemeinsamen Nenner All ihr harten Herdentiere, all ihr echten Männer Kommt zusammen und bildet eine Front Und dann seht zu was kommt Und der Tag wird kommen an dem wir alle unsere Gläser heben [...] Dieser Tag wird kommen Dieser Tag wird kommen [Marcus Wiebusch: Konfetti. Grand Hotel Van Cleef 2014.]
Für die Niederlage der deutschen Nationalmannschaft gegen die englische werden in den professionellen Kommentaren verschiedene Ursachen diskutiert: die zu lange Amtszeit des Trainers, eine zu defensive Taktik, zu späte Einwechslungen; in den Leserkommentaren darunter erfreute sich eine weitere Erklärung großer Beliebtheit: Es war die Regenbogenarmbinde Manuel Neuers! Diese These mutet nicht nur deshalb seltsam an, weil der englische Kapitän Harry Kane ebenfalls eine solche trug; sie impliziert außerdem, dass Fußballer sich nicht mit Unwichtigem (Menschenrechte) vom Wichtigen (Fußball) ablenken lassen sollten.
Doch dass diejenigen, die im Stadion Regenbogenfarben tragen, auf dem Platz oder auf den Rängen, die Politik in den Fußball brächten, ist falsch. Denn sie war schon vorher dort, getarnt als angeblich „normale“ Fankultur. Wenn in politischen Debatten von Normalität geredet wird, wird damit die eigene Position für sakrosankt erklärt und wird alles vom „gesunden Empfinden“ Abweichende als abnormal denunziert. Indem so politische Gegenpositionen zu sittlichen Defiziten erklärt werden, wird nicht nur der politische Gegner auch menschlich abgewertet, sondern zugleich auch die eigene Haltung aus dem Bereich des Politischen und damit Verhandelbaren herausgenommen. Zu beobachten ist dieses Muster etwa auch bei vielen „unpolitischen“ Skinhead-Bands, die darauf insistieren, dass etwa die Ablehnung von Migranten oder die ausgestellte Abscheu vor Homosexuellen unpolitisch seien, gleichsam ein natürlicher Reflex; politisch und damit die Szene spaltend seien hingegen diejenigen, die dies als Rassismus und Homophobie kritisierten.
Ganz ähnlich verläuft die Argumentation bei manchen Fußballfans. Nicht diejenigen, die dunkelhäutige Spieler mit Affenlauten beleidigen oder Spieler der gegnerischen Mannschaft, um sie herabzuwürdigen, als schwul bezeichnen, sind politisch, sondern diejenigen, die dagegen protestieren. Politik ist aber bereits mit jedem Affenlaut, jedem „XY ist homosexuell, homosexuell, homosexuell“-Sprechchor, mit jedem Absingen des U-Bahn-Lieds („Eine U-Bahn, eine U-Bahn, eine U-Bahn bauen wir, von [Heimatstadt der Gegenmannschaft] bis nach Auschwitz, eine U-Bahn bauen wir!“) im Stadion. Es geht denjenigen, die im Namen der Einheit der Fangemeinschaft gegen antirassistische und antihomophobe Faninitiativen angehen, keineswegs um den Erhalt eines politikfreien Raums, sondern um die Aufrechterhaltung ihrer eigenen politischen Lufthoheit.
Nun könnte man als Gegenstrategie dafür plädieren, entsprechendes Verhalten einfach zu ignorieren in der Hoffnung, die Provokationen würden damit ihren Reiz verlieren. Jedoch hat „Ignorier sie einfach“ schon auf dem Schulhof meistens nicht funktioniert. Und außerdem geht es denjenigen, die Rassismus und Homosexuellenfeindlichkeit als normale Teile einer rauen, „männlichen“ Fankultur begriffen wissen wollen, ja nicht primär um Provokation, sondern um die Etablierung bzw. demonstrative Aufrechterhaltung ihrer Auffassung von Normalität, weshalb der ausbleibende Widerspruch als stumme Zustimmung verstanden werden dürfte – auch z.B. von Jugendlichen, die in die Fanszenen hineinwachsen und sich an den Älteren orientieren. Doch auch über diesen immer noch recht überschaubaren Personenkreis hinaus hat die Frage, wie man mit zur Schau gestelltem Rassismus und Homosexuellenfeindlichkeit in Fußballstadien umgeht, Bedeutung, wird Fußball, zumal der von Nationalmannschaften, doch oft in Bezug zur Gesellschaft gesetzt: Man denke nur an die „deutschen Tugenden“ früher Nationalmannschaftsjahrgänge oder die Interpretation späterer, ethnisch vielfältiger Nationalmannschaften als Vorbilder gelungener Integration – worin vermutlich der Hauptgrund dafür zu sehen ist, dass gerade sich so bezeichnende „Patrioten“ in Kommentarspalten der deutschen Nationalmannschaft mit solchem Ingrimm begegnen.
Zu all diesen mittelbaren Folgen kommt hinzu, dass Homophobie in Fußballstadien ganz unmittelbar diejenigen trifft, wegen derer man in ein Fußballstadion geht: die Spieler, speziell wenn sie, was statistisch gesehen in jedem Spiel auf einen Spieler zutreffen müsste, nicht heterosexuell sind. Und davon handelt das Lied von Marcus Wiebusch, der sich schon mit …but alive, Rantanplan und Kettcar immer auch an politischen Debatten beteiligt hat.
Das Lied setzt ein mit dem Refrain, in dem antizipiert wird, dass es eines nicht mehr allzu fernen Tages Anlass zum Feiern geben wird – das erste Outing eines aktiven und erfolgreichen Profifußballers in der jüngeren Vergangenheit (Justin Fashanu unternahm diesen Schritt, nachdem seine Karriere de facto beendet und seine Homosexualität bereits gegen seinen Willen bekannt gemacht worden war). Dieses Ereignis wird vom Sprecher-Ich mit großer Bedeutung aufgeladen: „Es wird der Tag sein, an dem wir die Liebe, die Freiheit und das Leben feiern / Jeder liebt den, den er will, und der Rest bleibt still / Ein Tag, als hätte man gewonnen“ – es geht hier also um nicht weniger als um den Triumph liberaler humanistischer Werte. Das Wir, das diesen Moment zumindest kurz als Sieg empfindet – im Irrealis „als hätte man gewonnen“ klingt bereits die Skespis über dessen Dauerhaftigkeit an – kann als die Fußballclique, von der in den nachfolgenden Strophen die Rede ist, verstanden werden, aber auch als Gemeinschaft derjenigen, die diese Werte teilen – so können sich auch Rezipierende des Lieds mitgemeint fühlen bzw. laut oder leise mitsingend zum Teil dieses Wir werden.
Die folgende erste Strophe steht noch ganz in der Tradition des politischen Lieds, das mit Argumenten überzeugen und mit Pathos mitreißen will: Der Kampf um die Akzeptanz von Homosexualität (auch) im Fußball wird in die Reihe großer sozialer Bewegungen (im Video konkretisiert bezogen u.a. auf Sufragetten und die amerikanische Bürgerrechtsbewegung), ja sogar der Menschheitsentwicklung seit der Steinzeit, gestellt.
Die zweite Strophe wechselt ins Narrative: Erzählt wird die alte Geschichte von den elf Freunden – mit der neuen Wendung, dass das tradierte Ethos der verschworenen Gemeinschaft angewendet wird auf die Frage nach der sexuellen Präferenz („So wurde es beigebracht, so wird es jetzt gemacht, mein Sohn“): Das Outing des begabtesten Spielers, der eine Profikarriere vor sich hat, verläuft bestmöglich, nämlich unspektakulär: „Es war uns vollkommen egal ob er straight oder schwul war“. Er hat ein unterstützendes Umfeld – bessere Voraussetzungen also als viele.
Dennoch wagt er das öffentliche Outing als Profi nicht und beginnt ein professionell inszeniertes Scheinleben mit einer angeblichen Freundin; das Doppelleben hat nicht nur negative psychische Folgen für ihn, sondern wirkt sich auch auf sein Spiel aus, insofern er versucht, besonders mann-männlich aufzutreten und mehr foult, als er es bisher getan hat – was wiederum sein öffentliches Bild negativ beeinflusst.
Über diese Situation spricht er mit einem oder mehreren seiner alten Freunde. Sein Gegenüber versucht ihn unter Verweis auf die Erfolge im Kampf gegen offenen Rassismus in Fußballstadien sowie mit weiteren Argumenten zu ermuntern, sich zu outen. Damit steuert die Geschichte auf ihren Höhepunkt zu – man erwartet, dass der Protagonist der im Refrain besungene erste offen homosexuelle Fußballprofi wird, dass es eine „Gemeinsam sind wir stark“-Geschichte mit Happy End wird. Stattdessen bekräftigt er zwar, dass die allgemeine Situation bald das Outing eines Fußballprofis zulassen werde, konstatiert aber angesichts der immer noch erwartbaren Belastung durch die mediale Aufmerksamkeit, dass er selbst diesen Schritt nicht gehen wird. Sein zugleich hoffnungsvolles und resigniertes „Einer wird es schaffen, aber ich bin es nicht“, hervorgehoben durch das vorübergehende Aussetzen der instrumentellen Begleitung, bildet den emotionalen Höhepunkt des Lieds – aber noch nicht den Endpunkt der erzählten Geschichte.
Denn das Lied endet nicht mit dem Eingeständnis, dass die eigene Kraft nicht ausreicht, diesen Kampf für alle Nachfolgenden, die es ungleich leichter haben werden, zu führen, sondern mit der Reaktion des solidarischen Gegenübers: Dieses nimmt den homosexuellen Profi nicht in die Pflicht, sich für die gemeinsame politische Sache zu opfern, sondern praktiziert stattdessen die zutiefst humane Haltung, die überhaupt erst die Grundlage dafür ist, als Heterosexuelller für die Akzeptanz Homosexueller zu kämpfen: Er stellt das Individuum und dessen Recht auf persönliches Glück über die politische Agenda. Und wenn es seinem Freund zum Schluss mit „With hope in your heart“ einen Vers aus You’ll never walk alone zuflüstert, so nimmt das nicht nur das Pathos der verschworenen Gemeinschaft, in deren Kontext das Lied in der zweiten Strophe zitiert wurde, auf, evoziert nicht nur Szenen von singenden Fans in Anfield und anderswo, sondern ruft auch eine intertextuelle Folie auf: You’ll never walk alone, in der Coverversion von Gary & the Pacemakers zur Stadionhymne des FC Liverpool geworden, wurde für das 1945 uraufgeführte Musical Carousel (von Benjamin Glazer, Richard Rodgers und Oscar Hammerstein II nach einen Stück von Ferenc Molnár) geschrieben, worin es einer armen jungen schwangeren Frau, die ihren kriminellen Mann durch Suizid verloren hat, Mut machen soll. Zwar sind verschiedene Diskriminierungen nicht in eins zu setzen, aber die Situation einer alleinerziehenden Mutter mit dieser Vorgeschichte in den 1940er Jahren dürfte ebenfalls keine erfreuliche Perspektive gewesen sein. In der Parallelisierung dieses Schicksals mit dem des homosexuellen Profis wird zugleich die eingangs allgemein geschilderte mögliche progressive Entwicklung von gesellschaftlichen Verhältnissen aufgenommen: Wie heute der Status als Alleinerziehende gemeinhin nicht mehr als Makel angesehen wird, so steht zu hoffen, dass dies bald auch für Homosexuelle (im Fußball und anderswo) gelten wird. So werden die Themen Fußballfankultur und gesellschaftlicher Fortschritt mit diesem Liedzitat noch einmal zusammengeführt.
Nicht zuletzt kann der Bezug zu You’ll never walk alone auch autoreflexiv auf die mögliche Funktion von Liedern als Ermutigung gelesen werden, als Bestätigung nicht allein zu sein. Und genau darauf zielte ja auch die Regenbogenarmbinde. Und sollte Manuel Neuers und Harry Kanes Geste auch nur einem einzigen homosexuellen Jugendlichen, der die Übertragung des Spiels gesehen hat, dieses Gefühl gegeben haben und ihn dadurch möglicherweise vom Suizid (das Suizidrisiko für homosexuelle Jugendliche liegt ca. vier mal höher als für gleichaltrige Heterosexuelle) abgehalten haben, so wäre das allemal die Niederlage gegen England wert gewesen.
Martin Rehfeldt, Bamberg