Flucht auf die Enterprise, Teil I: Zu „Scotty“ von Dritte Wahl
17. September 2018 1 Kommentar
Dritte Wahl Scotty Ich hab das irdische Geschehen Mir nun schon länger angesehen Und manchmal wünschte ich mir schon Es gäbe noch 'ne andere Option 'nen andern Ort, wo man nicht alles selbst zerstört Wo all der Reichtum nicht nur wenigen gehört Wo man das Leben noch als wertvoll anerkennt Wenn ich selbst wählen könnte, dies wär der Moment Beam mich hoch, Scotty Ich hab genug gesehen Wir düsen besser weiter quer durchs All Beam mich hoch, Scotty Komm lass uns weiterziehen Mit Warpgeschwindigkeit Durch Raum und durch die Zeit geht das Signal Es gibt hier Wasser, Luft und Licht Zu kalt zum Leben ist es nicht Doch macht der Mensch im Übermut Hier alles nach und nach kaputt Ich glaub auch wirklich der Trikorder ist defekt Wann habt ihr den denn wohl zum letzten Mal gecheckt? Der zeigt, dass er, wenn man hier den Planeten scannt, eine intelligente Lebensform erkennt. Beam mich hoch, Scotty [...] Fertig zum Beamen Na dann los, Scotty Dann beamen Sie mal den Besuch an Board Energie Die Menschen hauen hier einfach alles kurz und klein Wenn ich mich umschau, fällt mir nichts mehr dazu ein Ich bleib jetzt einfach stehen und rühr mich nicht vom Fleck Ein letzter Funkspruch und dann bin ich endlich weg Beam mich hoch Scotty [...] [Dritte Wahl: 10. Dritte Wahl Records 2017.]
Das Phantasieren und Ausmalen von anderen, besseren Welten lässt sich in vielen Liedtexten finden. Vom Schlager, in dem gerne weiße Strände und schöne Berge besungen werden, bis hin zu Popliedern, die sich mit einer nie erreichbaren potentiellen Partnerin beschäftigen, spielen solche Traumwelten in allen Genres eine wichtige Rolle. Abhängig vom konkreten Liedtext gibt es dabei selbstverständlich Unterschiede zwischen noch plausiblen Tagträumereien und phantastischen Gedanken, wobei diese beiden Kategorien auch, wie im hier vorgestellten Text, verschwimmen können. Besonders verständlich ist das Erschaffen solcher Wunschszenarien in einer Welt, in der zunehmend vormals feststehende Kategorien wie wahr und falsch ins Wanken geraten. Auch die großen Umbrüche und Probleme unserer Zeit verleiten zu einem Rückzug in solche Phantasien.
Gleich zwei Künstler haben sich dabei in jüngerer Zeit an den Ingenieur der USS Enterprise, Montgomery „Scotty“ Scott, gewandt um diesen zu bitten, sie „nach oben“ zu beamen. Die beiden Liedtexte, Scotty der Punkband Dritte Wahl und Scotty beam mich hoch des Rappers Marteria, sollen hier vergleichend betrachtet werden. Den Anfang macht das gesellschaftskritische Scotty.
Der Inhalt des Textes ist schnell erzählt: das Sprecher-Ich wendet sich frustriert von den Menschen ab und will nun lieber auf der Enterprise weiterziehen, schnell, weit weg von der Erde. Dabei vollzieht sich innerhalb des Textes ein Bruch zwischen den ersten beiden Strophen und den darauf folgenden Textteilen. In den ersten beiden Strophen befindet sich das Sprecher-Ich auf einer realen Erde. Somit benutzt es den Konjunktiv, wenn es darauf verweist, dass es sich „wünschte“, es „gäbe“ eine andere Option. Diese Option wird zunächst noch nicht konkretisiert.
In der zweiten Strophe wird dieser phantastische Ort dann ausgemalt. In den ersten beiden Zeilen beschreibt das Sprecher-Ich, was an diesem phantastischen Ort nicht passieren soll, nämlich Zerstörung, vermutlich von Ressourcen und Umwelt, und eine ungleichmäßige Aufteilung des Geldes. Die darauf folgende Zeile unterstreicht dann, dass es sich um einen Platz handeln soll, wo „das Leben noch als wertvoll“ anerkannt wird. Implizit wird also ausgedrückt, dass auf der Erde die Ressourcen und Umwelt zerstört wurden, der Reichtum ungleichmäßig verteilt ist und das Leben nicht (mehr) als wertvoll betrachtet wird. Nochmals wird aber deutlich, dass es sich hierbei um eine hypothetische Wunschvorstellung handelt, denn die Sprechinstanz betont, dass sie zu dieser neuen Welt ginge, wenn Sie könnte. Hier kann sie dies aber noch nicht.
Schlagartig ändert sich die Situation mit dem Refrain, in dem es nicht mehr um hypothetische Szenarien im Konjunktiv geht, sondern der kultige Imperativ „Beam mich hoch, Scotty“ verwendet wird (übrigens genau so bei Star Trek nie gesagt, vgl. Wikipedia). Von diesem Zeitpunkt an verwendet das Sprecher-Ich keinen Konjunktiv mehr und gibt sich ganz seiner Vorstellung hin, auf der Enterprise von der Erde abzuhauen. Das wird auch dadurch nochmal unterstrichen, dass sich das Sprecher-Ich bereits als Teil der Crew der Enterprise versteht und ausführt, „weiter“ durchs All fliegen zu wollen, dies also wohl zuvor schon einmal getan hat. Nun lautet die Devise nur noch: schnell weg. Mit Warpgeschwindigkeit, nicht nur durch den Weltraum, sondern gleich auch noch durch die Zeit, soll das Raumschiff „düsen“. Für die Erde und die Menschen, die nicht mit auf die Enterprise kommen, scheint es ohnehin zu spät zu sein.
Der sprachliche Wechsel vom Konjunktiv der ersten beiden Strophen zum Indikativ kann auch als ein psychologischer Bruch in der Gedankenwelt des Sprecher-Ichs verstanden werden. Während es in den ersten beiden Strophen noch wahrnimmt, dass Star Trek Fiktion ist, wird diese Aufteilung aus Gründen der Überforderung am Zustand der Welt schließlich zerstört und das Sprecher-Ich kann sich nur noch in seine eigene, bessere Welt zurückziehen. Fiktion und Wahrheit vermischen sich somit, weil das Sprecher-Ich an der Welt kaputt geht.
Diese Durchmischung wird dann in den weiteren Strophen nochmals verdeutlicht. Die Beschreibung, dass es auf der Erde „Wasser, Luft und Licht“ sowie eine angenehme Temperatur gibt, kann auch als Verweis auf die Abenteuer der Enterprise verstanden werden. Denn Kirk, Spock und Co geraten oft auf Planeten, die diese Charakteristiken eben nicht haben. In der für das Sprecher-Ich realen Welt der Enterprise hat die Erde also großes Potential, wäre da nicht die Zerstörungswut der Menschen.
In der Gedankenwelt des Sprecher-Ichs kommen nun auch weitere Elemente aus dem Star Trek Universum zur Verwendung. Als Erklärungsmuster dafür, dass der Mensch auf eine kurzsichtige Art und Weise die Erde zerstört, werden nicht etwa sozio-politische oder wirtschaftliche Gründe angeführt, sondern, dass der Trikorder defekt sein muss und die Intelligenz der Menschheit falsch angezeigt hat. Trikorder, die bei Star Trek diverse Funktionen des Analysierens und Messens erfüllen, sind ein realer Bestandteil der inzwischen in die Phantasie abgeglittenen Welt des Sprecher-Ichs.
Passend kommt dann zum Ende des Liedes hin auch ein Einspieler aus Star Trek („Fertig zum Beamen…“), der in der hier vorgeschlagenen Lesart auch als eine Art innerer Dialog verstanden werden kann, der nun im Kopf des Sprecher-Ichs vor sich geht und zeigt, dass es sich so sehr in das Star Trek-Universum eingegliedert hat, dass es die Stimmen der Protagonisten aus Star Trek hört.
Der psychologische Eskapismus des Sprecher-Ichs hat schließlich auch physische Auswirkungen. Das Sprecher-Ich macht sich in der letzten Strophe noch ein letztes Mal bewusst, dass die Menschen alles kurz und klein hauen; eine Eskalation zur ersten Strophe, in der noch alles „nach und nach“ kaputt gemacht wurde. Zuerst versagt dem Sprecher-Ich die Stimme und es verliert mit dieser Ausdrucksmöglichkeit auch eine zentrale Möglichkeit, an der Situation noch etwas zu ändern („Wenn ich mich umschau, fällt mir nichts mehr dazu ein“). Und schließlich kommt es dazu, dass sich das Sprecher-Ich gar nicht mehr bewegen kann oder will („Ich bleib jetzt einfach stehen und rühr mich nicht mehr vom Fleck“). Auf diese Weise an die kaputte Welt gefesselt, bleibt wiederum nur eine Option: die erneute und endgültige Flucht auf die imaginäre Enterprise.
Die hier vorgeschlagene Leseart des Textes von Dritte Wahl ist eine durchaus pessimistische. Sie schlägt vor, dass das Sprecher-Ich an der Welt zu Grunde geht und schließlich nicht mehr Realität und Phantasie unterscheiden kann. Letztlich entscheidet es sich dann für eine Phantasiewelt, in der ein Trikorder genauso realistisch ist wie die Zerstörung der Welt. Vielleicht ist diese Flucht in eine andere Realität tatsächlich die einzige Möglichkeit, mit der Verrücktheit der Welt umzugehen.
Ohnehin ist natürlich fraglich, ob die Menschen, die sinnlos die Erde zerstören, nicht verrückter sind als das insgesamt sympathische Sprecher-Ich auf seiner Enterprise. Wie schon Professor Dumbledore Harry Potter sagte, bedeutet die Tatsache, dass sich etwas nur im Kopf abspielt, noch lange nicht, dass es nicht real ist: „Of course it is happening inside your head […] but why on earth should that mean that it is not real?“.
Martin Christ, Erfurt