Flucht auf die Enterprise, Teil I: Zu „Scotty“ von Dritte Wahl

 

Dritte Wahl

Scotty

Ich hab das irdische Geschehen
Mir nun schon länger angesehen
Und manchmal wünschte ich mir schon
Es gäbe noch 'ne andere Option
'nen andern Ort, wo man nicht alles selbst zerstört
Wo all der Reichtum nicht nur wenigen gehört
Wo man das Leben noch als wertvoll anerkennt
Wenn ich selbst wählen könnte, dies wär der Moment

Beam mich hoch, Scotty
Ich hab genug gesehen
Wir düsen besser weiter quer durchs All
Beam mich hoch, Scotty
Komm lass uns weiterziehen
Mit Warpgeschwindigkeit
Durch Raum und durch die Zeit geht das Signal

Es gibt hier Wasser, Luft und Licht
Zu kalt zum Leben ist es nicht
Doch macht der Mensch im Übermut
Hier alles nach und nach kaputt
Ich glaub auch wirklich der Trikorder ist defekt
Wann habt ihr den denn wohl zum letzten Mal gecheckt?
Der zeigt, dass er, wenn man hier den Planeten scannt,
eine intelligente Lebensform erkennt.

Beam mich hoch, Scotty [...]

Fertig zum Beamen
Na dann los, Scotty
Dann beamen Sie mal den Besuch an Board
Energie 

Die Menschen hauen hier einfach alles kurz und klein
Wenn ich mich umschau, fällt mir nichts mehr dazu ein
Ich bleib jetzt einfach stehen und rühr mich nicht vom Fleck
Ein letzter Funkspruch und dann bin ich endlich weg

Beam mich hoch Scotty [...]

     [Dritte Wahl: 10. Dritte Wahl Records 2017.]

Das Phantasieren und Ausmalen von anderen, besseren Welten lässt sich in vielen Liedtexten finden. Vom Schlager, in dem gerne weiße Strände und schöne Berge besungen werden, bis hin zu Popliedern, die sich mit einer nie erreichbaren potentiellen Partnerin beschäftigen, spielen solche Traumwelten in allen Genres eine wichtige Rolle. Abhängig vom konkreten Liedtext gibt es dabei selbstverständlich Unterschiede zwischen noch plausiblen Tagträumereien und phantastischen Gedanken, wobei diese beiden Kategorien auch, wie im hier vorgestellten Text, verschwimmen können. Besonders verständlich ist das Erschaffen solcher Wunschszenarien in einer Welt, in der zunehmend vormals feststehende Kategorien wie wahr und falsch ins Wanken geraten. Auch die großen Umbrüche und Probleme unserer Zeit verleiten zu einem Rückzug in solche Phantasien.

Gleich zwei Künstler haben sich dabei in jüngerer Zeit an den Ingenieur der USS Enterprise, Montgomery „Scotty“ Scott, gewandt um diesen zu bitten, sie „nach oben“ zu beamen. Die beiden Liedtexte, Scotty der Punkband Dritte Wahl und Scotty beam mich hoch des Rappers Marteria, sollen hier vergleichend betrachtet werden. Den Anfang macht das gesellschaftskritische Scotty.

Der Inhalt des Textes ist schnell erzählt: das Sprecher-Ich wendet sich frustriert von den Menschen ab und will nun lieber auf der Enterprise weiterziehen, schnell, weit weg von der Erde. Dabei vollzieht sich innerhalb des Textes ein Bruch zwischen den ersten beiden Strophen und den darauf folgenden Textteilen. In den ersten beiden Strophen befindet sich das Sprecher-Ich auf einer realen Erde. Somit benutzt es den Konjunktiv, wenn es darauf verweist, dass es sich „wünschte“, es „gäbe“ eine andere Option. Diese Option wird zunächst noch nicht konkretisiert.

In der zweiten Strophe wird dieser phantastische Ort dann ausgemalt. In den ersten beiden Zeilen beschreibt das Sprecher-Ich, was an diesem phantastischen Ort nicht passieren soll, nämlich Zerstörung, vermutlich von Ressourcen und Umwelt, und eine ungleichmäßige Aufteilung des Geldes. Die darauf folgende Zeile unterstreicht dann, dass es sich um einen Platz handeln soll, wo „das Leben noch als wertvoll“ anerkannt wird. Implizit wird also ausgedrückt, dass auf der Erde die Ressourcen und Umwelt zerstört wurden, der Reichtum ungleichmäßig verteilt ist und das Leben nicht (mehr) als wertvoll betrachtet wird. Nochmals wird aber deutlich, dass es sich hierbei um eine hypothetische Wunschvorstellung handelt, denn die Sprechinstanz betont, dass sie zu dieser neuen Welt ginge, wenn Sie könnte. Hier kann sie dies aber noch nicht.

Schlagartig ändert sich die Situation mit dem Refrain, in dem es nicht mehr um hypothetische Szenarien im Konjunktiv geht, sondern der kultige Imperativ „Beam mich hoch, Scotty“ verwendet wird (übrigens genau so bei Star Trek nie gesagt, vgl. Wikipedia). Von diesem Zeitpunkt an verwendet das Sprecher-Ich keinen Konjunktiv mehr und gibt sich ganz seiner Vorstellung hin, auf der Enterprise von der Erde abzuhauen. Das wird auch dadurch nochmal unterstrichen, dass sich das Sprecher-Ich bereits als Teil der Crew der Enterprise versteht und ausführt, „weiter“ durchs All fliegen zu wollen, dies also wohl zuvor schon einmal getan hat. Nun lautet die Devise nur noch: schnell weg. Mit Warpgeschwindigkeit, nicht nur durch den Weltraum, sondern gleich auch noch durch die Zeit, soll das Raumschiff „düsen“. Für die Erde und die Menschen, die nicht mit auf die Enterprise kommen, scheint es ohnehin zu spät zu sein.

Der sprachliche Wechsel vom Konjunktiv der ersten beiden Strophen zum Indikativ kann auch als ein psychologischer Bruch in der Gedankenwelt des Sprecher-Ichs verstanden werden. Während es in den ersten beiden Strophen noch wahrnimmt, dass Star Trek Fiktion ist, wird diese Aufteilung aus Gründen der Überforderung am Zustand der Welt schließlich zerstört und das Sprecher-Ich kann sich nur noch in seine eigene, bessere Welt zurückziehen. Fiktion und Wahrheit vermischen sich somit, weil das Sprecher-Ich an der Welt kaputt geht.

Diese Durchmischung wird dann in den weiteren Strophen nochmals verdeutlicht. Die Beschreibung, dass es auf der Erde „Wasser, Luft und Licht“ sowie eine angenehme Temperatur gibt, kann auch als Verweis auf die Abenteuer der Enterprise verstanden werden. Denn Kirk, Spock und Co geraten oft auf Planeten, die diese Charakteristiken eben nicht haben. In der für das Sprecher-Ich realen Welt der Enterprise hat die Erde also großes Potential, wäre da nicht die Zerstörungswut der Menschen.

In der Gedankenwelt des Sprecher-Ichs kommen nun auch weitere Elemente aus dem Star Trek Universum zur Verwendung. Als Erklärungsmuster dafür, dass der Mensch auf eine kurzsichtige Art und Weise die Erde zerstört, werden nicht etwa sozio-politische oder wirtschaftliche Gründe angeführt, sondern, dass der Trikorder defekt sein muss und die Intelligenz der Menschheit falsch angezeigt hat. Trikorder, die bei Star Trek diverse Funktionen des Analysierens und Messens erfüllen, sind ein realer Bestandteil der inzwischen in die Phantasie abgeglittenen Welt des Sprecher-Ichs.

Passend kommt dann zum Ende des Liedes hin auch ein Einspieler aus Star Trek („Fertig zum Beamen…“), der in der hier vorgeschlagenen Lesart auch als eine Art innerer Dialog verstanden werden kann, der nun im Kopf des Sprecher-Ichs vor sich geht und zeigt, dass es sich so sehr in das Star Trek-Universum eingegliedert hat, dass es die Stimmen der Protagonisten aus Star Trek hört.

Der psychologische Eskapismus des Sprecher-Ichs hat schließlich auch physische Auswirkungen. Das Sprecher-Ich macht sich in der letzten Strophe noch ein letztes Mal bewusst, dass die Menschen alles kurz und klein hauen; eine Eskalation zur ersten Strophe, in der noch alles „nach und nach“ kaputt gemacht wurde. Zuerst versagt dem Sprecher-Ich die Stimme und es verliert mit dieser Ausdrucksmöglichkeit auch eine zentrale Möglichkeit, an der Situation noch etwas zu ändern („Wenn ich mich umschau, fällt mir nichts mehr dazu ein“). Und schließlich kommt es dazu, dass sich das Sprecher-Ich gar nicht mehr bewegen kann oder will („Ich bleib jetzt einfach stehen und rühr mich nicht mehr vom Fleck“). Auf diese Weise an die kaputte Welt gefesselt, bleibt wiederum nur eine Option: die erneute und endgültige Flucht auf die imaginäre Enterprise.

Die hier vorgeschlagene Leseart des Textes von Dritte Wahl ist eine durchaus pessimistische. Sie schlägt vor, dass das Sprecher-Ich an der Welt zu Grunde geht und schließlich nicht mehr Realität und Phantasie unterscheiden kann. Letztlich entscheidet es sich dann für eine Phantasiewelt, in der ein Trikorder genauso realistisch ist wie die Zerstörung der Welt. Vielleicht ist diese Flucht in eine andere Realität tatsächlich die einzige Möglichkeit, mit der Verrücktheit der Welt umzugehen.

Ohnehin ist natürlich fraglich, ob die Menschen, die sinnlos die Erde zerstören, nicht verrückter sind als das insgesamt sympathische Sprecher-Ich auf seiner Enterprise. Wie schon Professor Dumbledore Harry Potter sagte, bedeutet die Tatsache, dass sich etwas nur im Kopf abspielt, noch lange nicht, dass es nicht real ist: „Of course it is happening inside your head […] but why on earth should that mean that it is not real?“.

Martin Christ, Erfurt

Weicher Kern, harte Schale, Teil IV. Gemäßigter Punk in Dritte Wahls „Zu wahr um schön zu sein“

Dritte Wahl

Zu wahr um schön zu sein 

Ich sitz' am Fenster müde von der langen Reise,
draußen ziehen Landschaften vorbei.
Mit vollem Tempo rollt der Zug über die Gleise,
ich fühl mich eingesperrt und irgendwie auch frei.
 
Und die Dämmerung lässt diesen Tag zu Ende gehen,
die grellen Lichter fangen mit der Arbeit an
da wo das Gold und das Gift so dicht beisammen stehen,
dass man sie kaum noch auseinanderhalten kann.
 
Ich denk, was könnte diese Welt doch für ein Ort sein?
Ein Paradies auf schneller Fahrt durch Zeit und Raum.
Würde hier Miteinander mehr als nur ein Wort sein
und wäre Gleichheit etwas mehr als nur ein Traum.
 
Doch während sich einige hier Prunk und Luxus geben,
ganz ohne Maß und völlig zu bis oben hin,
können die anderen sich noch so sehr bewegen,
was sie auch tun, die Luft bleibt unten immer dünn.
 
Und vielleicht wären wir zusammen in der Lage,
uns von diesen alten Zwängen zu befreien.
Oder ist die Welt für jetzt und alle Tage
viel zu wahr, viel zu wahr um schön zu sein,
viel zu wahr, viel zu wahr um schön zu sein?
 
Man sollte meinen, Wut und Zorn wär'n schier unendlich,
an so ein Unrecht da gewöhnen wir uns nie.
Die Apathie hier ist doch völlig unverständlich,
oder wollen im Grunde alle sein wie die?
 
Und in den Straßen füllen sich wieder mal die Kneipen,
wo man die Sehnsüchte und Hoffnungen ertränkt,
dort wo sie schwärmen von den guten alten Zeiten
und man die schlechten Dinge gerne mal verdrängt.
 
Und vielleicht wären wir zusammen in der Lage […]

     [Dritte Wahl. Geblitzdingst. Dritte Wahl Records 2015.]

Leise ins Paradies    

Der Text der Rostocker Punkrocker Dritte Wahl beginnt, wie dies in vielen literarischen Erzeugnissen der Fall ist, auf einer Reise des Protagonisten. Dieser (weil das Lied von einem Mann gesungen wird, nehmen wir an, dass auch der Protagonist männlich ist) sitzt in einem Zug, spätabends und denkt beim Anblick der vorbeirauschen Landschaft an die Probleme der Welt. Diesen entfliehend, träumt er von einer utopischen Welt, einem „Paradies“, das auf Gleichheit und Miteinander beruht. Schnell wird der Reisende aber von der Realität eingeholt und kritisiert in guter Punk-Manier die Reichen und deren luxuriösen Lebensstil. Im Refrain wird dann an eine imaginierte Gemeinschaft appelliert, etwas zu ändern, damit die Phantasie Realität wird und nicht viel zu schön wahr zu sein bleibt. In den letzten beiden Strophen wird dann dieser Wunsch nach Veränderung aufgegriffen indem Apathie und Verdrängung kritisiert werden. Passend zum schlaftrunkenen Reisenden ist der erste Teil des Liedes auch musikalisch ruhiger und langsamer gehalten, als der zweite Teil, in dem sich dder Sprecher in Rage geredet hat.

Im Fall von Dritte Wahl steht die Zeile „zu schön um wahr zu sein“ symptomatisch für eine gemäßigte Interpretation klassischer Punk-Topoi. Sie wird deshalb als Frage an die Rezipienten gestellt: „Oder ist die Welt für jetzt und alle Tage / viel zu wahr, viel zu wahr um schön zu sein?“ Davor wird im Refrain, ganz leise, die Hoffnung geäußert, dass Veränderungen möglich seien: „Und vielleicht wären wir zusammen in der Lage, / uns von diesen alten Zwängen zu befreien“. Doch, ganz untypisch für Punkrock, für den rotzig-selbstbewusste Texte durchaus üblich sind, wird hier durch die Verwendung eines „vielleicht“ deutlich, dass sich nicht einmal der Sprecher selbst sicher ist, ob Veränderungen möglich (oder wünschenswert) sind.

Passenderweise bemüht der Protagonist dann auch abstraktere Sprachbilder, die man vielleicht ebenfalls nicht in klassischen Punkliedern erwarten würde, beispielsweise die Personifikation der Lichter, die „mit der Arbeit“ anfangen oder die Beschreibung einer utpischen Welt als „ein Paradies auf schneller Fahrt durch Raum und Zeit“. Denkt man zum Vergleich an die Ursprünge des Punks mit Liedern wie London’s Burning oder Anarchy in the U.K. wirken solche Zeilen gänzlich atypisch.

Doch bei Dritte Wahl führt der Wunsch nach einer neuen Weltordnung noch zu ganz anderen, ebenso überraschenden Erkenntnissen: Der Alkoholkonsum der Menschen wird kritisiert. Für eine Punkrockband vermeintlich unvorstellbar! („Und in den Straßen füllen sich wieder mal die Kneipen / wo man die Sehnsüchte und Hoffnungen ertränkt“). Die betäubende Wirkung des Alkohols und das Schwärmen von alten Zeiten wird nicht als ein positives Beisammensein mit Freunden bei einem Bier gesehen, sondern als Flucht vor der Realität (zur Kneipe als Erinnerungsort, siehe auch Denise Dumschat-Rehfeldts Interpretation zu Eins kann uns keiner nehmen von Revolverheld). Es scheint als würde der müde Reisende im Zug beim Betrachten der vorbeiziehenden Landschaft auch den stereotypischen Lebensstil eines Punks hinterfragen und vermutlich damit auch sein eigenes Leben.

Enttäuscht von der Welt kritisiert der Sprecher die Apathie und das Unrecht, das ihm in den Sinn zu kommen scheint. Und hier bleibt er sich, folgt man der Lesart, dass es sich bei ihr um einen moderaten Punk handelt, trotz allen Einschränkungen treu. Der Grund für die Probleme der Welt liegen im Luxus und der Prunksucht der wenigen, die diese auf Kosten derer, die sich ‚unten‘ befinden, ausleben. Somit wird das Gold der Wenigen zum Gift für die Vielen und die maßlose Verschwendung von denen, die ‚oben‘ sind, zeigt die bestehende Ungleichheit. Das, so scheint es, führt zu den im Refrain angesprochenen „Zwängen“, die es zu durchbrechen gilt.

An dem Punkt, wo der Sprecher über diese Ungleichheiten nachzudenken beginnt, gibt es auch die am deutlichsten ausgeprägten sozialkritischen Einschätzungen, die sich gegen Apathie und Unrecht wenden. Verbunden wird dies mit einer, und auch dies kann wieder als typisch für den Punk gelten, Schwarz/weiß-Sicht von ‚wir gegen die‘. So fragt die vorletzte Strophe ob „im Grunde alle sein wollen, wie die“  (Hervorhebung M.C.) Mit emotionalen Worten wie Wut und Zorn kommt diese Strophe auch der ansonsten so typischen, Anti-establishment-Attitüde des Punkrock am nächsten. Schließlich folgt die bereits besprochene Strophe, die sich gegen den Alkoholkonsum in der Kneipe ausspricht. Doch wo man dann eine klare Aufforderung an die Kneipengänger erwarten würde, auf die Straße zu gehen und etwas zu verändern, folgt lediglich wieder der betont unsichere Refrain.

Es scheint, der Sprecher ist sich selber nicht sicher, wohin er gehört, fühlt er sich doch „eingesperrt und irgendwie auch frei“, kritisiert Apathie und soziale Ungerechtigkeit, greift aber auf keine Topoi zu einem Umsturz der Weltordnung zurück auf und hat zwar mit den Reichen klare Feindbilder identifiziert, ist sich aber nicht sicher, ob sich die vorgefundene Ungleichheit überhaupt ändern lässt. Wie auch bei Onkel Tom (siehe Teil II) verweist deshalb die Zeile „zu wahr um schön zu sein“ zum Teil auch auf die Unsicherheit des Sprechers. Unser Zugreisender glaubt wohl selbst, dass sein Wunsch nach einer anderen Welt nur ein Traum bleiben wird.

Martin Christ, Oxford

„Sag mir wo du stehst“? Über die Verortung des Selbst und der Anderen in „030, gleiches Ambiente“ von Die Goldenen Zitronen

 

Die Goldenen Zitronen

030, gleiches Ambiente

Hey, kühles Hemd!
Ah, du kennst die?
Ja irgendwie, der Sänger geht immer in denselben Lebensmittelladen wie ich.
Echt, das ist kühl!
Du magst also auch Musik, was?
Ja, ich liebe Musik!
Auf was für Musik stehst du?
Alle Sorten.
Also ich mag Easy Listening.
Ja, ich auch, Easy Listening ist echt geil!
Wohnst du hier in der Gegend?
Ja, praktisch um die Ecke, ist ne gute Gegend zu wohnen.
Ich mag es.
Ich auch.
Apropos, ich heiße Thomas.
Hallo Thomas, ich bin Stefan. Nett dich kennen zu lernen.
Auch nett dich kennen zu lernen!
Weißt du was komisch ist? Hier ist dienstags immer ziemlich leer!
Echt?
Diese Kneipe erinnert mich an eine Kneipe in meiner Heimatstadt.
Echt? Das ist interessant!
Ja, echt verrückt!
Was machst du so?
Ich bin in der Werbung.
Oh wow, das ist stark!
Ja, ich mag Menschen
Ich auch! Ich liebe Menschen!
Kommst du oft hierher?
Ja ja...
Ich dachte, ich hab' dein Gesicht schon mal gesehen hier. Kennst du vielleicht Katrin?
Kann sein...
Wow, das ist super, ich liebe dieses Lied! Moby hat echt eine tolle Stimme.
 
Hast du den neuen Quentin Tarantino schon gesehen?
Ja, ich mag Filme.
Ernsthaft? Ich auch, ich leihe mir oft Filme aus.
Wow, ich auch!
Hör mal, ich muss jetzt los. Es war toll, sich mit dir zu unterhalten.
Ja, es war nett dich kennengelernt zu haben.
Nimm's locker, Mann!

     [Die Goldenen Zitronen: Economy Class. Sub-Up-Records 1996.]

Keine Popmusik ohne Identität, keine Identität ohne Popmusik! Simon Frith erklärte bereits 1987: „We use pop songs to create for ourselves a particular sort of self-definition, a particular place in society. The pleasure that pop music produces is a pleasure of identification – with the music we like, with the performers of that music, with the other people who like it.“ (Simon Frith: Towards an aesthetic of popular music. In: Ders.: [Hg.]: Taking popular music seriously. Selected essays. Reprinted. Aldershot: Ashgate 2008 [Ashgate contemporary thinkers on critical musicology series], S. 258–273, hier S. 264)

Identität ist – eine kulturwissenschaftliche Binsenweisheit – immer nur möglich in der Abgrenzung gegen ein anderes. Prozesse der Identitätsbildung und -sicherung stehen schon früh im Fokus der Goldenen Zitronen, etwa die Abgrenzung gegen Hardrock (Das ist Rock! – Live in Japan, Maxi Weser Label 1988) oder auch gegen Teile ihrer Fans (Schmeiß es weg auf Fuck You, Vielklang  1990). Diese Versuche der Bewahrung der eigenen Identität gegen vermeintliche oder tatsächliche Annäherungsversuche sind in den Jahren um 1990 häufig (Mutter: Du bist nicht mein Bruder auf Mutter, What’s So Funny About 1993, Tocotronic: Freiburg auf Digital ist besser, L’age d’or 1995). Im vorliegenden Stück soll ebenfalls die eigene Identität gesichert werden. Doch wovor?

Das Stück ist mit Schlagzeug, Gitarren und Orgel eigentlich klassisch instrumentiert, folgt aber keinem bekannten Lied-Schema. Strophen, Versmaß oder Refrain gibt es nicht. Der Text wird gesprochen über zwei Bassfiguren, die im Stück hindurch mit der Ausnahme eines dissonanten Gitarrensolos (01:40-02:00) alternieren. Das Stück ist eigentlich kein ‚Lied‘, weil der Text nicht auf das musikalische Arrangement bezogen ist. Text und Musik erscheinen unabhängig voneinander und im Studio nur zufällig zusammengemischt. Der Text besteht ausschließlich aus rezitiertem Dialog:

Zwei junge Männer – Stefan und Thomas – begegnen sich an einem nicht näher spezifizierten Dienstag in einer Kneipe, es läuft Musik, die Tageszeit bleibt unklar. Stefan spricht Thomas wegen seines Band-T-Shirts an, und so entspinnt sich ein Gespräch, in dem sich die beiden kennen lernen (wollen). Allerdings legt das Stück im weiteren Verlauf keinen Wert darauf, die Sprecher identifizierbar zu halten; die höchstens aus einem halben oder ganzen Satz bestehenden Dialogbeiträge sind nicht immer klar zuzuordnen.

Autoren nutzen direkte Rede und Dialoge, um ihre Figuren durch deren eigene Äußerungen zu charakterisieren. In einer so kompakten Form wie dem Songtext sind diese besonders mit Bedeutung aufgeladen. Welchen Eindruck vermittelt dieser Text von Stefan und Thomas? Was verraten ihre Gesprächsbeiträge über ihr Leben? Und was hat das eigentlich mit der Identität der Goldenen Zitronen zu tun?

Zunächst einmal handelt das Gespräch von alltäglichen Dingen – Musikgeschmack, abends Weggehen, Kneipen, mögliche gemeinsame Bekannte, Wohnen, Arbeit – das Standardrepertoire der Twentysomethings: Stefan und Thomas wohnen in der Innenstadt einer deutschen Großstadt, in der sie allerdings nicht geboren sind. Vielmehr sind sie Zugezogene und bezeichnen ihren Geburtsort immer noch als „Heimatstadt“. Zumindest Stefan arbeitet „in der Werbung“, denn er „mag Menschen“. Kulturkonsum spielt eine wichtige Rolle: Die beiden sind Musik-Fans, sie mögen „alle Sorten“ bzw. den damals neuesten Trend („Easy Listening“) und aktuelle Kinofilme. Sie sind informiert über die angesagten städtischen Viertel und machen sich Gedanken über Kneipendesign. Ihr Treffpunkt erinnert „an eine Kneipe in meiner Heimatstadt.“ Das ‚Kennen‘ spielt eine wichtige Rolle, egal ob es sich um Menschen („Katrin“) oder Kultur handelt.

Für sich genommen erscheinen die Einzeiler der jungen Menschen unauffällig, ihre Verdichtung erschafft jedoch ein Panorama der Belanglosigkeiten: Wir finden es nicht interessant, dass irgendeine Kneipe „dienstags immer ziemlich leer“ ist. Wir finden es auch nicht interessant, dass sie so ähnlich aussieht wie eine andere Kneipe – wo auch immer. Eigentlich ist es verdammt langweilig.

Diese Banalität der Informationen steht in Widerspruch zum Enthusiasmus der Dialogpartner. Diese finden alles „interessant“, „echt verrückt“ oder „stark“. Sogar Easy Listening – eine Musik, die gerade keine starken Reaktionen hervorrufen soll – wird als „echt geil“ bezeichnet. Nichts fällt ihnen leichter, als Dinge, von denen der andere erzählt, zu mögen oder sogar zu lieben. Stefan und Thomas betreiben eine gnadenlose gegenseitige Überaffirmation, die ihre Mittel laufend entwertet und daher immer noch stärkere Ausdrücke braucht. Eine Korrektur falscher Aussagen würde da nur stören, weswegen Thomas mit der Aussage durchkommt, dass Moby eine „super Stimme“ habe. Dabei übernahmen fast immer Gastsänger oder -sängerinnen die Gesangspassagen. Beide bemühen sich um die Demonstration ihres Dazugehörens, etwa durch die überkorrekte Aussprache US-amerikanischer Nachnamen („Hast Du den neuen TarantEIno schon gesehen?“) oder durch dezente Hinweise auf das Teilen der Umgebung mit Sängern von angesagten Bands.

Formal zeichnet den Dialog eine scheinbar unkonventionelle Form der Gesprächsführung aus, die mit der Tür ins Haus fällt („Du kennst die?“/„Ja irgendwie!“) und so klassische Regeln aushebelt (erst Kennenlernen, dann über T-Shirts reden!). Gleichzeitig möchten Stefan und Thomas unverbindlich bleiben („irgendwie“, „kann sein“). Solche Floskeln werden verwendet, um sich gegen Kritik abzusichern, machen aber die Verständigung über Inhalte letztlich unmöglich: „Irgendwie“ ist alles immer richtig. Die gegenseitige Bestätigung soll soziale Nähe herstellen. Räumliches Pendant dieser sozialen Nähe ist die kleinräumige Umgebung des Kiezes, wo man sich kennt (der „Lebensmittelladen“!), wo man es mag und wo die eigenen Regeln gelten.

Der fehlende Zusammenhang von Textdarbietung und musikalischem Arrangement ermöglicht den Goldenen Zitronen, die Musik als Reaktion auf den Text zu arrangieren. Diese Reaktion ist durchaus feindlich: Die zerhackten Gitarren- und Orgelfiguren sind gerade keine Zustimmung, gerade keine Affirmation; sie bilden vielmehr das musikalische Äquivalent zu Entsetzen und Hilflosigkeit angesichts der Inhaltsleere des Dialogs. Die Dissonanz des Solos macht es zum Gegenteil eines ‚Hörerlebnisses‘ und genau dies sollen wir auch vom Dialog zwischen Thomas und Stefan denken.

Wir ahnen es längst: Es geht den Goldenen Zitronen hier natürlich nicht um einen bestimmten Thomas oder Stefan. Die Goldenen Zitronen konstruieren die beiden als Prototypen der jungen Menschen, die Anfang der 1990er in Großstädte wie Hamburg oder Berlin ziehen und in den dortigen Innenstadtvierteln hoffen, Anschluss an die ‚Szene‘ zu finden, was auch immer sie darunter verstehen mögen. Die Ankunft dieses studentischen Milieus stellt eine mittlere Phase im Gentrifizierungsprozess dar. Dieses Milieu richtet seinen Geschmack nach (tatsächlichen oder imaginierten) Subkulturen und Künstlern, die in diesem Prozess als Pioniere fungieren, indem sie das symbolische Kapital und die Ästhetik bestimmter Viertel erhöhen. Ihnen folgen die besagten Studenten nach. Ihren Endpunkt findet die Gentrifizierung dann in der Aneignung des Stadtteils durch neue Mittelschichten, die oft in so genannten Kreativberufen (‚irgendwas mit Medien‘) arbeiten. Dieses Muster einer dreiphasigen Gentrifizierung ist natürlich holzschnittartig vereinfacht. Die Phasen gehen auf vielfältige Weise ineinander über, die Akteure sind nicht einfach einer Phase zuzuordnen, sondern gehören im Laufe ihrer Biografie möglicherweise diesen drei Phasen nacheinander an. So haben Thomas und Stefan ihren studentischen Habitus (noch?) nicht abgelegt, arbeiten aber bereits („in der Werbung“!); sie werden also von den Goldenen Zitronen genutzt, um den Übergang von Phase 2 zu Phase 3, den Anfang vom Ende im Gentrifizierungsprozess zu markieren.

In diesem Prozess ist nicht einfach zu bewerten, wer ‚noch gut‘ und wer ‚schon böse‘ ist. Aber gerade weil die Grenzen realiter so unklar sind, ist das Bedürfnis nach symbolischer Abgrenzung so hoch. Indem sich die Goldenen Zitronen über Thomas und Stefan lustig machen, grenzen sie sich von diesen ab und gelangen so auf die ‚gute Seite‘ des Prozesses. Dies ist umso leichter, als sie die Protagonisten zu Otto Normalverbrauchern, zu deutschen Michels, zum 08/15 jener Jahrgänge machen, also zu etwas ganz Gewöhnlichem degradieren: Bei ‚Thomas‘ und ‚Stefan‘ handelt es sich um die beiden häufigsten männlichen Vornamen der zwischen 1965 und 1975 Geborenen (vgl. www.beliebte-vornamen.de). Auch im weiteren Verlauf der Unterhaltung haben es die beiden nicht leicht: Das Gespräch zerfleddert in ein Nichts aus Leuten, die man vielleicht kennt, vielleicht auch nicht, und banalen Informationen, bevor es abrupt endet, weil einer der beiden „jetzt los“ muss. Ein Grund wird bezeichnenderweise nicht gegeben. Beide versichern nochmals, wie „toll“ und „nett“ das Gespräch war. Die Parodie eines bestimmten Milieus weitet sich hier zur Kritik an oberflächlicher Kommunikation allgemein.

Die Goldenen Zitronen artikulieren die Abneigung derjenigen, die bereits vor den Studenten in Stadtvierteln wie Hamburg-St. Pauli, St. Georg, oder auch Prenzlauer Berg und Kreuzberg (Stadtviertel in 030-Berlin mit dem ‚gleichen Ambiente‘ wie St. Pauli) gelebt haben oder die diesen Prozess mit Unbehagen verfolgen. Wie schon Schmeiß es weg richtet 030, Gleiches Ambiente eine Grenze zu denen auf, die einem ähnlich scheinen oder es vielleicht auch tatsächlich sind. Diesen werden dann die negativen Aspekte der eigenen Existenz wie ein Schwarzer Peter zugeschoben, die Identität als ‚Guter‘ so gesichert. Der Nachvollzug der Distinktion im Prozess des Hörens ermöglicht Konsumenten des Stückes eine symbolische Absetzung von den im Lied Karikierten. So kann er im Gentrifizierungsprozess ebenfalls auf der ‚guten Seite‘ stehen.

So einfach, mit scheinbar klaren Grenzziehungen die eigene Identität als ‚die Guten‘ zu sichern, machen es sich die Goldenen Zitronen aber nicht, wie der Blick aufs Video verrä: Die Rollen von Thomas und Stefan werden von Mitgliedern der Band (oder ihren Bekannten) selbst gespielt. Das besagte Band-T-Shirt ist sichtbar ein Goldene Zitronen-T-Shirt (Fuck You). Wenn sie sich also mit dem Stück selbst aus dem Prozess der Stadtviertel-Hipsterisierung herausgezogen haben, werfen sie sich mit dem dazugehörigen Video wieder mitten hinein. Das Stück interpretiert also die eigene Position in der Hamburger Stadtgesellschaft, lässt aber diese Position und damit auch ihre Beurteilung letztlich offen. Somit erscheint es auch als eine Vorwegnahme der Distanzierung von der Hamburger Schule – einem, nun ja, musikalischen Stil, dem die Goldenen Zitronen nicht (oder doch?) angehören sollen (Die Goldenen Zitronen: Dead School Hamburg, Cooking Vinyl 1998).

Georg Götz, Vechta

Grenzen der Hufeisentheorie. Zur Verwendung der Marionetten-Metapher in „Marionetten“ von Söhne Mannheims und „Geld regiert die Welt“ von Targets

 

Söhne Mannheims 

Marionetten 

Wie lange wollt ihr noch Marionetten sein?
Seht ihr nicht? Ihr seid nur Steigbügelhalter
Merkt ihr nicht? Ihr steht bald ganz allein
Für eure Puppenspieler seid ihr nur Sachverwalter
Wie lange wollt ihr noch Marionetten sein?
Seht ihr nicht? Ihr seid nur Steigbügelhalter
Merkt ihr nicht? Ihr steht bald ganz allein
Für eure Puppenspieler seid ihr nur Sachverwalter

Und weil ihr die Tatsachen schon wieder verdreht
Werden wir einschreiten
Und weil ihr euch an Unschuldigen vergeht
Werden wir unsere Schutzschirme ausbreiten
Denn weil ihr die Tatsachen schon wieder verdreht
Müssen wir einschreiten
Und weil ihr euch an Unschuldigen vergeht
Müssen wir unsere Schutzschilde ausbreiten

Wie lange wollt ihr noch Marionetten sein? [...]

Aufgereiht zum Scheitern wie Perlen an einer Perlenkette
Seid ihr nicht eine Matroschka weiter im Kampf um eure Ehrenrettung?
Ihr seid blind für Nylonfäden an euren Glieden und hackt
man euch im Bundestags-WC, twittert ihr eure Gliedmaßen
Alles nur peinlich und sowas nennt sich dann Volksvertreter
Teile eures Volkes nennen euch schon Hoch- beziehungsweise Volksverräter
Alles wird vergeben, wenn ihr einsichtig seid
Sonst sorgt der wütende Bauer mit der Forke dafür, dass ihr einsichtig seid

Mit dem zweiten sieht man …

Wir steigen euch aufs Dach und verändern Radiowellen
Wenn ihr die Tür’n nicht aufmacht, öffnet sich plötzlich ein Warnhinweisfenster
Vom Stadium zum Zentrum einer Wahrheitsbewegung
Der Name des Zepters erstrahlt die Neonreklame im Regen
Zusamm’n mit den Söhnen werde ich Farbe bekennen
Eure Parlamente erinnern mich stark an Puppentheaterkästen
Ihr wandelt an den Fäden wie Marionetten
Bis sie euch mit scharfer Schere von der Nabelschnur Babylons trennen

Ihr seid so langsam und träge, es ist entsetzlich
Denkt, ihr wisst alles besser, und besser geht’s nicht, schätz’ ich
Doch wir denken für euch mit und lieben euch als Menschen
Als Volks-in-die-Fresse-Treter stoßt ihr an eure Grenzen
Und etwas namens Pizzagate steht auch noch auf der Rechnung
Und bei näherer Betrachtung steigert sich doch das Entsetzen
Wenn ich so ein’n in die Finger krieg’, dann reiß’ ich ihn in Fetzen
Und da hilft auch kein Verstecken hinter Paragraphen und Gesetzen

Wie lange wollt ihr noch Marionetten sein? [...] 

     [Söhne Mannheims: MannHeim. Söhne Mannheims 2017.]

Aus dem Duellwesen ist das Konzept der Satisfaktionsfähigkeit bekannt. Es besagt, dass, auch wenn eigentlich ein Grund für eine ritualisierte bewaffnete Auseinandersetzung vorliegt, diese dennoch nicht mit jeden beliebigen Gegner stattfinden kann. Vielmehr muss der Gegner nach bestimmten – historisch: ständischen – Kriterien dieser Form der Konfliktbeilegung würdig sein. So treibt es Arthur Schnitzlers Leutnant Gustl bekanntlich beinahe in den Selbstmord, dass er einen Bäckermeister, der ihn im Theater öffentlich gedemütigt hat, aufgrund von dessen ‚niederem‘ Stand nicht zum Duell fordern kann, um seine Ehre wieder herzustellen. Überträgt man die Idee der Satisfaktionsfähigkeit auf die Literaturkritik, so stellt sich die Frage, ob es legitim ist, Xavier Naidoos Texte zu verreißen. Denn während seine Stimme weitgehend einhellig als außergewöhnlich angesehen wird, so waren seine von schiefen Formulierungen, unreinen Reimen, falschen Betonungen und Stilbrüchen geprägten Texte schon von seinen frühen Veröffentlichungen an prädestiniert dazu, sich darüber lustig zu machen. Und Naidoos begriffliches Irrlichtern auch neben der Bühne (er bezeichnete sich schon 1999 als „Rassist, aber ohne Ansehen der Hautfarbe“, vgl. Rolling Stone) machte es, zusammen mit seinem zumindest in der europäischen Popmusik ungewohnten inbrünstigen religiösen Sendungsbewusstsein, nicht besser.

In Marionetten bleibt Naidoo nicht nur seinen zuletzt immer deutlicher geäußerten politischen Überzeugungen, sondern auch seinem sprachlichen Stil treu: Im Refrain wird die popmusikalisch weidlich plattgeprügelte Marionetten-Metapher (Metallica widmete ihr bereits 1986 ein gesamtes Album – Master of Puppets) konkretisiert durch zwei sich eigentlich ausschließende Metaphern: Das ehemals in politischen Debatten gebräuchliche, mittlerweile aber doch antiquiert wirkende Bild des Steigbügelhalters besagt ja, dass jemand einem anderen erst zur Macht verhilft; das juristischer Terminologie entlehnte Bild des Sachverwalters hingegen setzt voraus, dass diese Herrschaft bereits besteht, denn der Sachverwalter übt ja bestimmte Rechte für jemanden anderen aus. In den Strophen setzt sich dann das Stil- und Metaphernchaos fort: Aus den Nylonfäden, an denen die Puppen hängen und die zu deren Steuerung dienen, wird auf einmal eine Nabelschnur, die der Ernährung dient. Hinzu kommen noch die (etwa auch von Frei.Wild bekannten) Stilwechsel zwischen archaisierender („Zepter“), förmlicher („beziehungsweise“) und Umggangssprache („reiß ich euch in Fetzen“, „Volks-in-die-Fresse-Treter“).

Wenn es also in ästhetischer Hinsicht nicht reizvoll ist, sich kritisch mit Marionetten auseinanderzusetzen, warum sollte man es dann tun? Nahe läge die Antwort: aus politischen Gründen. Doch auch diskursiv bietet der Songtext nichts Neues, sondern bedient die gängigen Vorstellungen der neuen rechten Bewegungen – von der abstrakten (Marionetten-Metapher) bis zur konkreten („Pizzagate“) Verschwörungstheorie, von der Verachtung der ersten („Eure Parlamente erinnern mich stark an Puppentheaterkästen“), der zweiten („Marionetten“, „Hoch- beziehungsweise Volksverräter“), der dritten („da hilft auch kein Verstecken hinter Paragraphen und Gesetzen“) sowie der vierten Gewalt („weil ihr die Tatsachen schon wieder verdreht“).

Wenn nun der Text sprachlich wie inhaltlich nur das bietet, was erwartbar war – warum sich dann näher mit ihm beschäftigen? Liest man sich durch die Kommentarspalten, in denen Naidoo verteidigt wird, so findet sich zuweilen neben dem üblichen Beschimpfungen und Gewaltfantasien gegen die ‚links-grün-versifften‘ Politiker der ‚Systemparteien‘, die als ‚Klaschhasen‘ der ‚Kanzlerdiktatorin‘ Merkel zujubelten, Andersdenkende von der ‚roten SA‘ der Antifa verfolgen ließen und, unterstützt von der ‚Lügenpresse‘ bzw. den ‚Mainstreammedien‘ im Auftrag fremder Mächte einen ‚Bevölkerungsaustausch‘ vorantrieben, tatsächlich auch so etwas wie ein Argument: Warum man sich denn bei Musik mit linksradikalen Texten nicht aufrege? Dass das Social-Media-Team des Justizministers Heiko Maas der antifaschistischen Ska-Punk-Band Feine Sahne Fischfilet, die in einige Jahre lang in Verfassungsschutzberichten des Landes Mecklenburg-Vorpommern aufgetaucht ist, auf Twitter für die Organisation eines Konzerts gegen Rechtsextremismus gedankt hat, wir hier immer wieder gern als Beleg für vermeintliche Doppelmoral angeführt, ebenso wie Claudia Roths frühere Tätigkeit als Managerin von Ton Steine Scherben. Nun ist das natürlich ein Musterbeispiel für Whataboutism und wurden außerdem viele linke Bands durchaus, wie ja auch Feine Sahne Fischfilet, Ziel stattlicher Überwachungs- und Repressionsmaßnahmen, aber dennoch: War die in Texten deutscher Politpunkbands insbesondere in den 1980er Jahren transportierte Weltsicht hinsichtlich der Ablehnung des ‚Systems‘ so anders? War ihre Sprache gemäßigter, die propagierten Mittel zur Veränderung zivilgesellschaftlich akzeptabler? Beispielhaft soll hier ein Text der Targets, die der Slime-Gitarrist Elf nach der ersten Slime-Auflösung gründete, betrachtet werden:

Targets

Geld regiert die Welt

Schon Hitler gaben sie ihr Geld
Damit das Schwein die Macht behält
Bestechung war schon immer normal
Sie gehen über Leichen, egal

Das einzige, was zählt, ist der Gewinn
Menschlichkeit ergibt für sie keinen Sinn

Die Multinationalen erpressen und bezahlen
Die Multinationalen erpressen und bezahlen

Sie reden von Freiheit und Demokratie
Doch Bosse wählen konnte man noch nie
Sie herrschen durch Mord und Korruption
Der Tod durch Konsum ist unser Lohn

Das einzige, was zählt, ist der Gewinn […]

Die Multinationalen erpressen und bezahlen […]

Politiker sind ihre Marionetten
Wer nicht mitmacht, wird sofort zertreten
Gefühle und Skrupel sind ihnen unbekannt
Das Kapital herrscht über jedes Land

Das einzige, was zählt, ist der Gewinn […]

Die Multinationalen erpressen und bezahlen […]

     [Targets: Schneller, lauter, härter. Aggressive Rockproduktionen 1984.]

Der Text ist zwar in seinen politischen Aussagen konkreter und sprachlich homogener als der der Söhne Mannheims, teilt aber diverse Motive mit ihm: Politiker werden nicht als selbstbestimmte Akteure gesehen, sondern als Marionetten international agierender Mächte – bei den Targets direkt benannt: internationaler Konzerne. Der Verweis auf Hitler zitiert dabei John Heartfields berühmte Collage Der Sinn des Hitlegrusses:

Und das Versprechen von Freiheit und Demokratie wird auch bei den Targets als Propaganda, die über die wahren Machtverhältnisse hinwegtäuschen soll, ‚entlarvt‘ – ganz im Sinne von Frank Zappas Diktum „Politics is the Entertainment Branch of Industry.“ Zwar finden sich in Geld regiert die Welt keine Gewaltphantasien, aber dies ist keineswegs auf eine gewaltablehnende Haltung zurückzuführen, sondern liegt lediglich daran, dass der Text sich konsequent auf die Analyse der Zustände beschränkt. In anderen Politpunktexten der Zeit finden sich durchaus Umsturzvorstellungen (z.B. „Schickischweine, Bonzen / wir zerschlagen euren Staat / Schickischweine, Bonzen / dann wird es für euch hart“, Klischee: Schickischweine, Bonzen, 1981) sowie konkrete Gewaltaufrufe („Dies ist ein Aufruf zur Revolte / Dies ist ein Aufruf zur Gewalt / Bomben bauen, Waffen klauen / Den Bullen auf die Fresse hauen“ – Slime: Wir wollen keine Bullenschweine, 1980); was aber in linken Punktexten weitgehend fehlt, sind die sadistischen Volksgerichts- und Vergeltungsfantasien nach einem erfolgreichen Umsturz, in denen Naidoo in seinen Texten schwelgt. Während diese in Marionetten noch vage gehalten werden zwischen dem salbungsvollen In-Aussicht-Stellen von Vergebung („Euch wird vergeben, wenn ihr einsichtig seid“) und Gewaltandrohung („sonst sorgt der Bauer mit der Forke dafür, dass ihr einsichtig seid“), so hat sie Naidoo mit Xavas, seinem gemeinsamen Projekt mit Kool Savas, im Song Wo sind sie jetzt? ausgeschmückt:

Ich schneid euch jetzt mal die Arme und die Beine ab
Und dann fick ich euch in den Arsch, so wie ihr’s mit den Klein‘ macht
Ich bin nur traurig und nicht wütend, trotzdem will ich euch töten
Ihr tötet Kinder und Föten und dir zerquetsch ich die Klöten

Ebenso wie laut der von Naidoo zustimmend zitierte „Pizzagate“-Verschwörungstheorie wird in diesem Text angenommen, dass die Mächtigen in Politik, Justiz und Medien nicht nur geheimbündlerisch (als Illuminaten, Freimaurer, Bilderberger etc.) die Etablierung einer neuen Weltordnung vorantrieben, sondern dass auch satanistische Ritualmorde und sexueller Missbrauch von Kindern ein integraler Bestandteil ihrer Zusammenkünfte seien:

Okkulte Rituale besiegeln den Pakt der Macht
Mit unfassbarer Perversion werden Kinder und Babies abgeschlachtet
Teil einer Loge, getarnt unter Anzug und Robe
Sie schreiben ihre eigenen Gebote, Bruderschaften erricht‘ aus Leid
Sie fühl’n sich sicher und überlegen, posieren vor uns und lächeln ins Blitzlicht

Naidoo, der sich in Raus aus dem Reichstag auch schon ganz offen antisemitisch geäußert hat („Baron Totschild gibt den Ton an, und er scheißt auf euch Gockel / Der Schmock ist’n Fuchs und ihr seid nur Trottel“), nutzt hier Motive des strukturellen Antisemitismus, indem er die traditionelle antisemitische Behauptung, dass Juden christliche Kinder schächteten, abgewandelt auf andere angebliche geheime Herrschaftseliten überträgt. Dieser Vorwurf erfüllt mehrere Funktionen: Zum einen desavouiert er den politischen Gegner (und die Strafverfolgungsbehörden, die solche Taten im verschwörungstheoretischen Narrativ dulden) moralisch vollkommen, zum anderen legitimiert er sadistische Marter- und Mordphantasien am politischen Gegner ebenso wie den Ruf nach einem starken Mann/Rächer/Führer (im Refrain von Wo sind sie jetzt? heißt es dann auch „Wo sind unsere Helfer, unsere starken Männer? / Wo sind unsere Führer, wo sind sie jetzt?“). Dass das vermeintliche Interesse am Wohl missbrauchter Kinder dabei lediglich Mittel zum Zweck der Durchsetzung einer politischen Agenda ist (wie auch bei der rechtsradikalen Forderung ‚Todesstrafe für Kinderschänder‘), zeigt sich daran, dass hier keineswegs der typische Fall des Kindesmissbrauchs durch dem Opfer bekannte Täter (93 % der Fälle, vgl. Wikipedia), darunter insbesondere Verwandte (zwei Drittel der Fälle) geschildert wird, und dass nicht das Opfer sich als Ermächtigungs-role model letztlich erfolgreich zur Wehr setzt (beide Momente sind typisch für Punksongs über das Thema, vgl. etwa Hass: Sag du liebst mich, 1990, und Abstürzende Brieftauben: Allein, 1993), sondern dass die Figur, deren Sicht eingenommen wird, der (männliche) gewalttätige Rächer ist.

Dass der politische Gegner auch moralisch abgewertet wird und ihn betreffende Vernichtungsphantasien entworfen werden, stellt ein Muster dar, dass sich etwa auch in Internetforen und andernorts bei AfD-Anhängern und anderen Vertretern der neuen rechten Bewegungen beobachten lässt – von der noch eher harmlosen Variante, sich vorzustellen, wer nach der nächsten Wahl alles arbeitslos sei, über die Wünsche, politische Gegner und ihre Familien sollten Opfer von Migranten begangener Verbrechen werden bis hin zu ganz offenen Lynchjustizszenarien sowie der unverhohlenen Freude daran, wenn politische Gegner Opfer politisch motivierter verbaler (Morddrohungen) oder realer Gewalt werden. Dies lässt sich als Ausdruck eines grundsätzlichen Unterschieds zwischen einem rechten völkischen Weltbild einerseits und der linken Idee verschiedener gesellschaftlicher Klassen mit verschiedenen Interessen andererseits interpretieren: Im Klassenkampf hat, im Sinne des historischen Materialismus gedacht, die Arbeiterklasse zwar den Lauf der Geschichte auf ihrer Seite; dass die Bourgeoisie, die mit der Emanzipation vom Adel einst selbst die Geschichte vorangebracht hat, aber ihre Privilegien verteidigt, wird ebenso als selbstverständlich angesehen, wie dass die Unterprivilegierten gegen die Verhältnisse aufbegehren. Moral spielt in diesem Modell keine Rolle, der (auch gewalttätige) Klassenkampf ist gleichsam der natürliche Weg, auf dem Konflikte ausgetragen werden. In einem völkischen Modell hingegen ist es natürliche, quasi-religiöse und moralische Pflicht jedes Mitglieds des Volks, alles zu dessen Erhalt beizutragen und eigene Bedürfnisse diesem unterzuordnen – man denke an die NS-Losung „Du bist nichts, dein Volk ist alles“ oder die Inschrift auf einem Hamburger Kriegerdenkmal „Deutschland muß leben und wenn wir sterben müssen“ (auf die die Hamburger Punkband Slime in ihrem wohl bekanntesten Lied reagierte: „Deutschland muß sterben, damit wir leben können“). Wer das nicht tut, muss entweder manipuliert worden sein (durch die Mainstreammedien etc.) und deshalb früher oder später ‚aufwachen‘ und sich der „Wahrheitsbewegung“ anschließen, oder ein durch und durch verworfenes Subjekt, dem auch ansonsten alles zuzutrauen ist. So wird aus jedem politischen Gegner, der eine nach eigener Meinung falsche Position vertritt, ein amoralischer und krimineller Feind, ein Volkverräter, den es mit allen Mitteln zu vernichten gilt. Hier ergänzen sich die religiöse Rhetorik und die rechtsradikale Ideologie von Naidoos Texten, hier wird, wie in der neurechten Rede vom drohenden Volkstod, aus einer Auseinandersetzung zwischen Anhängern verschiedener Positionen ein apokalytischer Endkampf zwischen Gut und Böse, in dem eine kleine Gruppe von Gerechten (schon in Dieser Weg sang Naidoo: „Nicht mit vielen wirst du dir einig sein“) mutig gegen die Mächte der Finsternis antritt. In diesem Weltbild erscheint dann selbst die Veröffentlichung eines auf eine große Zielgruppe zugeschnittenen Popsongs als Heldentat.

Martin Rehfeldt, Bamberg

 

 

Weicher Kern, harte Schale, Teil II. Selbstzweifel von unerwarteter Seite. Zu Onkel Toms „Zu wahr um schön zu sein“

Onkel Tom

Zu wahr um schön zu sein

Man kann es tun, man kann es lassen
Man kann es drehen, wie man will
Die einen lieben, was andere hassen
Ob man laut ist oder still
Soll man das Leid der anderen kennen
Oder ist man besser Schwein
Soll man alles niederbrennen
Nur um König der Asche zu sein

Zu alt um jung zu sterben
Zu krass um Held zu werden
Ein Schatten im Heiligenschein
Zu wahr um schön zu sein

Da bewegt man sich am Abgrund
Und ist für manche noch zu brav
Für die einen wie ein Bluthund
Für die anderen wie ein Schaf
Soll man denn wirklich etwas ändern
Andere verlieren, was ich gewinne
In einer Welt aus Blendern
Raubt es einem schnell die Sinne

Zu alt um jung zu sterben […]

Soll man die ganze Welt erneuern
Oder nur die Augen drehen
Soll man die ganze Ladung feuern
Oder auf Knien flehen
Man glaubt, man hat den Funken
Der das Feuer entfacht
Doch schnell ist der gesunken
Der aus Gold nur Scheiße macht

Zu alt um jung zu sterben […]

     [Onkel Tom: H.E.L.D. Steamhammer 2014.]

Ein Rocker reflektiert

Sänger aus Genres wie dem Punk oder Metal gelten nicht unbedingt als selbstkritisch. Schließlich gehört es zum Stereotyp des Rockers, sich völlig der Musik verschrieben zu haben und auch, wenn der Weg schwierig und lang ist, sich mit der Vorstellung der eigenen, originären Musik durchzusetzen. Typisch für diesen selbstbewussten Weg ist beispielswiese der AC/DC Klassiker It’s a long way to the top (if you want to rock’n roll), in dem der harte aber letzendlich erfolgreiche Weg in den Rockolymp glorifiziert wird. Umso überraschender präsentiert sich im hier vorgestellten Lied Onkel Tom, der sich gerne als rotziger Ruhrpottrocker stilisiert, beispielsweise im Lied Prolligkeit ist keine Schande.

Ganz reflektiert beginnt der Text mit der Feststellung von subjektiven Einschätzungen nicht näher definierter Leistungen. Zugespitzt wird in der ersten Strophe ausgedrückt, dass man es nie allen Recht machen kann. Der zunächst einmal offensichtlichen Feststellung, dass die „einen lieben, was andere hassen“, folgt dann ein breiter Fragenkatalog zum richtigen Verhalten. Dabei geht es um die Frage, ob man sich mit dem Leid der anderen beschäftigen soll oder dieses lieber ignoriert, in den letzten beiden Versen dann darum, ob sich ein radikaler Umbruch („alles niederbrennen“) letzten Endes lohnt. Schließlich wird gefragt ob ein Bruch mit Zwängen und Systemen wirklich zielführend ist („König der Asche“).

Schließlich wagt die Sprechinstanz den Blick in den Spiegel und auch wenn die erste Person nie verwendet wird, bezieht sich der Refrain in der hier vorgeschlagenen Lesart auf die Sprechinstanz, einen gealterten Rocker und damit ein Alter Ego Onkel Toms, selber. Also könnte man statt: ‚zu alt, um jung zu sterben…‘ auch sagen ‚ich bin zu alt um jung zu sterben…‘. Hier wird die Unsicherheit der Sprechinstanz besonders deutlich: Das Alter schreitet unaufhörlich voran (vgl. dazu auch den Vers „Ich glaub’s ja selbst kaum, ich bin noch am Leben“ des Liedes Ich bin noch am Leben auf dem gleichen Album), das Leben wurde „krass“ geführt und die Sprechinstanz befindet sich irgendwo zwischen Schatten und Licht. In den ersten Refrainzeilen gibt es noch keine Indikation, ob die Sprechinstanz es als gut oder schlecht empfindet „krass“ gelebt zu haben. Besonders die Tatsache, dass sie kein „Held“ ist, kann im Rockgenre auch positive Konnotationen haben, wo ein Anti-Held, der sich gegen Konventionen und Normen stellt, als positiv wahrgenommen werden kann.

Nicht so hier. Klar wird nämlich schließlich im Schlussvers, dass es sich bei dieser selbst-reflektiven Sprechinstanz um eine Person handelt, die es zumindest nicht ausschließlich als positiv empfindet, ein Anti-Held zu sein. „Zu wahr, um schön zu sein“, gibt klar zu erkennen, dass der Sprecher sich selber als ‚un-schön‘ sieht. Ganz im Gegensatz zu den anderen Texten in dieser Serie wird hier das „zu wahr um schön zu sein“ nicht auf die Welt an sich, sondern den Sprecher selber angewandt. Er scheint vom Leben enttäuscht.

Warum dies so ist, wird bereits in den ersten Strophen angedeutet, besonders in der zweiten. Die ersten zwei Verse dieser Strophe vermitteln den Eindruck, dass der Sprecher sein Bestes versucht, es allen Recht zu machen, und doch nie gut genug ist. Noch weiter geht es in den folgenden Versen, in denen durch Tiermetaphorik („Bluthund“ und „Schaf“) ausgedrückt wird, dass der Sprecher für die einen zu brav und für die anderen zu „krass“ ist und sich somit in einer Lage befindet, in der nichts gut genug ist. Versteht man die Sprechinstanz als einen gealterten Rocker, möglicherweise ein Alter Ego Onkel Toms, lässt sich noch weiter konkretisieren, dass dieses versucht Fans und Kritikern zu gefallen, aber damit nur bedingt Erfolg hat. Dieses Bild eines von externen Kritikern verunsicherten Rockers ist ein Gegenpol zum in schwarz gekleideten Rockstar, der umgeben von E-Gitarren, Bier und Zigarettenrauch von einer Frau zur nächsten hüpft. Unsicherheiten, so könnte man verallgemeinern, haben alle, nur manche sind besser darin sie zu verstecken.

Doch, und auch das zieht sich durch das ganze Lied, was der Befund aus dieser Verunsicherung ist, darüber ist sich die Sprechinstanz nicht sicher. So lautet die fragende Überleitung „Soll man wirklich etwas ändern“, um dann festzustellen, dass das, was die Sprechinstanz gewinnt, andere verlieren und es ohnehin nur Blender in der Welt gibt. Die Welt aus Blendern hat dem Sprecher ohnehin schon die Sinne geraubt, was wohl darauf hindeutet dass er deshalb selber nicht weiß, wie er sich verhalten, ob er „Bluthund“ oder „Schaf“ sein soll.

Auf ähnliche Weise wird in der letzten Strophe gefragt, ob man die Welt erneuern oder sich von ihr abwenden soll. Hierbei handelt es sich um eine Variation des Themas, das in der ersten Strophe durch die Verse „Soll man das Leid der anderen kennen / Oder ist man besser Schwein“ bereits eingeführt worden ist. Die gleiche Frage wird auch in den Versen drei und vier der letzten Strophe gestellt, wo gefragt wird, ob man einen radikalen Umbruch herbeisehnt („alles niederbrennen“ bzw. „die ganze Ladung feuern“). Als weitere Option, die nicht in der ersten Strophe vorkommt beinhaltet die letzte Strophe auch die Frage, ob man sich unterwerfen solle („auf Knien flehen“). Durch das Aufgreifen bereits eingeführter Themen erhält der Text auch eine gewisse Kohärenz, die sich durch den zentralen Fokus auf den Selbstzweifels noch verstärkt. So entgeht Onkel Tom der Auflistung von Klischees, die im Text von Hämatom (siehe Teil I) so ausgeprägt ist – auch wenn im hier besprochenen Text natürlich ebenfalls mit konventionellen Topoi wie Schatten/Licht gearbeitet wird. Der Kreis zwischen erster und letzter Strophe schließt sich mit der erneuten Verwendung von Feuermetaphern, doch endet die letzte Strophe auf eine pessimistische Weise, denn „Man glaubt, man hat den Funken“, macht dann aber doch nur aus Gold Scheiße. Blinder Aktionismus, so scheint hier nahegelegt zu werden, führt nicht immer ans Ziel.

Wie Onkel Tom an anderer Stelle ein überraschend positives Bild von Gott zeichnet (siehe Interpretation hier), überrascht er auch hier mit einem Liedtext, der voller Fragen und Unsicherheiten ist. Die Sprechinstanz wird sich ihrer eigenen Unzulänglichkeiten im Liedtext bewusst und bittet auf gewisse Weise den Hörer um Nachsicht, indem sie betont, dass sie versucht ihr Bestes zu geben. Die Sprechinstanz, die mit sich selber und der Welt hadert, hat auch eine repräsentative Funktion für Menschen, die an sich zweifeln. Dass dies so offen von einem Künstler dargestellt wird, der auch davon lebt, ein Image als saufender Trunkenbold zu zelebrieren, verdient Respekt.

Martin Christ, Oxford