Prophetische Landeshymne: Rainald Grebes „Thüringen“

Rainald Grebe

Thüringen

Zwischen Dänemark und Prag,
liegt ein Land, das ich sehr mag.
Zwischen Belgien und Budapest,
liegt 

Thüringen
Das Land ohne Prominente,
haja, gut, Heike Drechsler,
aber die könnte auch aus Weißrußland sein.

Thüringen, Thüringen, Thüringen,
ist eines von den schwierigen
Bundesländern.
Denn es kennt keiner außerhalb von Thüringen.

Im Thüringer Wald, 
da essen sie noch Hunde
nach altem Rezept, 
zur winterkalten Stunde.
Denn der Weg zum nächsten Konsum ist so weit,
zur Winterszeit, zur Winterszeit

Thüringen, Thüringen, Thüringen,
"Das grüne Herz Deutschlands",
Seit wann sind Herzen grün?
Grün vor Neid
aufgrund von Bedeutungslosigkeit.
Grün vor Hoffnung, dass es lange Zeit so bleibt.

Thüringen
Das Land ohne Prominente,
naja, gut, Dagmar Schipanski,
aber die könnte auch in Sofia Professorin für Hammerwurf sein.

Thüringen,
Männer in roten Wandersocken haben hier Lieder gesungen
Thüringen,
Heike Drechsler ist hier so oft über sieben Meter gesprungen.
Thüringen,Thüringen
Goethe ist extra aus dem Westen hergezogen.
Thüringen,
David Bowie ist auch schon einmal drübergeflogen.

Doch warum reduziert man unsere Größe,
auf Würste und Klöße?
Weil die Mamis hier so spitze sind
Weil die Mamis hier so spitze sind
wenn die einmal Kartoffeln reiben,
Möchte man gleich unterm Rock und für immer da bleiben.
Und die Männer wollen im Stillen,
Nur raus in den Garten und Grillen.

     [Rainald Grebe: Das Abschiedskonzert. Sony 2005.]

Dass Thüringen ein schwieriges Bundesland ist – wer wollte dem derzeit widersprechen? Aber was meint das Sprecher-Ich hier genau mit ’schwierig‘? Macht das Bundesland anderen (z.B. Bundesparteivorsitzenden) Schwierigkeiten? Ist es schwierig im Sinne von entbehrungsreich, dort zu leben? Die unmittelbar folgende Zeile eröffnet noch eine dritte Lesart: „Denn es kennt ja keiner außerhalb von Thüringen.“ – Ist es also für Nicht-Thüringer aufgrund eines Informationsdefizits besonders schwierig, Thüringen bzw. das Verhalten seiner Bevölkerung zu verstehen?

Der Mangel des Sprecher-Ichs an Wissen über Thüringen wird bereits bei den grotesk vagen geographischen Angaben „Zwischen Dänemark und Prag“ und „Zwischen Belgien und Budapest“ deutlich – hier spricht nicht der Sänger Rainald Grebe, der zwar in Westdeutschland geboren ist, aber in Jena am Theatherhaus gearbeitet hat und Thüringen entsprechend kennt; vielmehr inszeniert er hier komisch überzeichnet einen ignoranten westdeutschen Blick auf das Bundesland (wie auch in seinen Hymnen auf die übrigen „schwierigen“ neuen Bundesländer: Brandenburg, Sachsen, Sachsen-Anhalt, und Doreen aus Mecklenburg).

Bereits die erste Charakterisierung des Lands, das das Sprecher-Ich angeblich „sehr mag“, erfolgt über ein behauptetes Defizit: das Fehlen von prominenten Personen, die aus diesem Bundesland stammen. Dabei widerspricht das Sprecher-Ich sich an beiden Stellen, an denen es diese These vorbringt, gleich selbst, indem es prominente Thüringerinnen nennt, die ihm dann doch einfallen. Und zwar durchaus sogenannte A-Prominente: Heike Drechsler zählt mit olympische Medallien in drei verschiedenen Disziplinen, darunter zwei Goldmedallien im Weitsprung, sowie Welt- und Europameistertiteln zu den prominentesten Leichtathletinnen Deutschlands. Besonders ist ferner, dass Sie sowohl für die DDR als auch nach der Wiedervereinigung für die BRD olympische Medallien gewann und in beiden Staaten „Sportlerin des Jahres“ wurde (1986 und 2000) (vgl. Wikipedia). Diese Erfolge wurden zwar durch das Bekanntwerden des detailliert dokumentierten Dopings Drechslers in der DDR getrübt; dass das Sprecher-Ich im Lied Drechslers Bedeutung jedoch mit dem Hinweis wegwischt, sie könne ebensogut aus Weißrussland stammen, ist mehr als ein Verweis auf das (nicht nur) in den Staaten östlich des Eisernen Vorhangs Pakts staatlich organisierte Doping und damit eine punktuellen Gemeinsamkeit in typischen Sportlerbiografien aus totalitären Systemen zu verstehen. Die Abwertung ist umfassender, sie stellt Drechslers Rolle als gesamtdeutscher Sportstar aus den neuen Bundesländern in Frage und identifiziert sie ausschließlich mit dem politischen System, in dem sie sozialisiert worden ist. Übertragen auf alle Thüringer (oder Ostdeutsche) hieße dies, dass diese anderen Osteuropäern, mit denen sie die Erfahrung des Lebens im sozialistischen Totalitarismus teilen, näher stehen als z. B. Bayern, die nur wenige Kilometer entfernt aufgewachsen sind.

Wenn dann auch noch Dagmar Schipanski, die rennomierte Professorin für Festkörperelektronik und ehemalige Rektorin der TU Ilmenau, Vorsitzende des Wissenschaftsrates der BRD, Vorsitzende des Ausschusses für Kulturfragen im Bundesrat, Präsidentin der Kultusministerkonferenz und 1999 Kandidatin für das Amt der Bundespräsidentin, die nun rein gar nichts mit Sport zu tun hatte, mit dem Hinweis, sie könne „auch in Sofia Professorin für Hammerwurf sein“ abgewertet wird, wird endgültig klar, dass es dem Sprecher-Ich nicht um eine Kritik speziell am Sport- und Dopingsystem des sozialistischen Osteuropas geht.

Auch der weitere Text insistiert vor allem auf der Zugehörigkeit Thüringens zur DDR: Das Hinterwäldlerklischee (Hunde „nach altem Rezept“ zubereiten) wird über die Nennung des weit entfernten „Konsum“ ebenso mit der DDR in Bezug gesetzt wie der historisch gesehen wohl bekannteste Prominente des Landes, der gebürtige Frankfurter Johann Wolfgang von Goethe, über den es geographisch zutreffend, historisch jedoch irreführend heißt, er sei „extra aus dem Westen hergezogen“ – DDR-und Nachwende-Zeit werden hier sogar auf die noch weiter zurückliegende Vergangenheit projiziert.

Flankiert wird diese Festlegung der Regionalidentität auf das sozialistisch-totalitäre Erbe von Verweisen auf die angebliche Provinzialität und Bedeutungslosigkeit des besungenen Bundeslands: David Bowie, der phasenweise in Berlin gelebt und gearbeitet hat, habe Thüringen lediglich überflogen – die Bezeichnung „fly over states“ für das amerikanische Kernland zwischen Ost- und Westküste drückt dieselbe Geringschätzung aus. Die  Metaphorik des Touristikslogans „Das grüne Herz Deutschlands“, der für die dichte Bewaldung Thüringens werben soll, wird zunächst wörtlich genommen („Seit wann sind Herzen grün?“) und dann farbsymbolisch (Neid, Hoffnung) gegen den Strich interpretiert – einerseits dahingehend, dass das Bewusstsein der eigenen Bedeutungslosigkeit Neid auf bedeutsamere Bundesländer erzeuge, andererseits dahingehend, dass die Hoffnung bestehe, weiterhin unbeachtet zu bleiben. Dieser scheinbare Widerspruch erscheint bei genauerer Betrachtung psychologisch gar nicht so unvereinbar: Denn jemanden um etwas, das man nicht hat, zu beneiden ist durchaus auch dann möglich, wenn man tatsächlich Angst davor hätte, in der Position des anderen zu sein – man kann ein Model um sein Aussehen beneiden und zugleich bei der Vorstellung erschauern, sich voyeuristisch beobachten zu lassen. Ebenso können Provinzbewohner einerseits ihre Provinzialität als Defizit an Weltläufigkeit empfinden und sich andererseits in der Provinz geborgen fühlen. Dieser Aspekt des Aufgehobenseins im  Provinziellen wird im letzten Versblock deutlich: Hinter den bekannten kulinarischen Spezialitäten stehen gegendert identitätsstiftende soziale Praktiken: Die Mütter vermitteln Geborgenheit im Häuslichen, wohingegen die Männer im – frelich bereits kultivierten und wenig feindlichen – Draußen ihrerseits Essen zubereiten – Fleisch natürlich, soviel Jäger muss bleiben.

Was sagt uns das alles nun? Zunächst, dass Rainald Grebe ein genauer Beobachter ist – sowohl des Beobachtungsobjekts Thüringens und seiner Bewohner als auch der (westlichen, urbanen) Beobachter desselben. Was er hier inszeniert, ist die Konstruktion einer trotzigen Regionalidentität zwischen dem abwertenden Othering von außen (bzw. drüben), eigenen Minderwertigkeitsgefühlen und im familiären Umfeld wurzelner Zugehörigkeit, derer man sich in Alltagsritualen vergewissert. Leistet das auch einen Beitrag zur Erklärung regional abweichenden Wahlverhaltens? Zur Beantwortung dieser Frage bedürfte es einer anderen Datengrundlage als eines Songtextes. Denn aus der Interpretation kultureller Artefakte können wohl Hypothesen über gesellschaftliche Verhältnisse gewonnen werden; ihre Überprüfung muss aber immer an der Realität stattfinden. Also auf ins grüne Herz Deutschlands!

Martin Rehfeldt, Bamberg

Vom Hetero- zum Autostereotyp: Die „Tramps vun de Palz“ von Willi Görsch und Egon Häusler (1977)

Tramps vun de Palz [Stimmungslied-Variante]

Es gibt die Berliner, natürlich auch die Wiener,
Athener und Römer auch,
es gibt auch Exoten, Teutonen und Goten,
die Namen sind Schall und Rauch.
Denn richtige Männer, das wissen die Kenner, 
kommen, das ist alter Brauch,
aus dem wunderschönen Land, die Pfalz genannt, 
die ganze Welt weiss das bald auch:

Wir sind die Tramps, Tramps, Tramps vun de Palz,
uns steht des Wasser immer bis zum Hals,
mir schaffe nix, nix, nix werd gedoh'
krie mer a nix abgezo.

Und wenn wir mal verreisen, nach Bayern 
nach Preussen, freut sich jeder Wirt am Ort,
wir trinken die Fässer, wir sind starke Esser
und über Nacht wieder fort.
Die Mädchen, sie wissen,
wenn wir sie mal küssen, Pälzer Buwe die sind treu,
ja für viereinhalb Stunden sind die Mädchen gebunden 
und dann sind sie wieder frei.

Wir sind die Tramps, Tramps, Tramps vun de Palz [...]

Das Sparen und Schaffen, das Zusammenraffen
bringt doch nur böses Blut,
mit viel guter Laune, man höre und staune,
geht es noch mal so gut.
Wir müssen verduften, wenn andere schuften,
auf uns wartet immer ein Glas Wein,
ja mit Lachen und Singen, die Zeit zu verbringen, 
was kann denn schöner sein.

Wir sind die Tramps, Tramps, Tramps vun de Palz [...]

Kenner wissen, dass der Pfälzer ,soi goldisch Ländsche‘ und vor allem auch ,sisch selwer‘ gerne besingt, möglichst oft und möglichst laut. Seit einigen Jahrzehnten dürfte das Lieblingslied seiner Selbstdarstellung, also gewissermaßen seine Nationalhymne, auf die Refrainzeile Wir sind die Tramps vun de Palz erschallen, die paradoxerweise in den späten siebziger Jahren des letzten Jahrhunderts von gemeinen Nachbarn, nämlich den Rheinhessen Willi Görsch und Egon Häusler, zur Verulkung der Pfälzer ersonnen und mit durchschlagendem Erfolg bei verschiedenen karnevalistischen Auftritten, u.a. im Rahmen der Fernsehsendung Mainz bleibt Mainz, wie es singt und lacht, zum Besten gegeben wurde.

Dass die Pfälzer sich dieses Spottlied schnell zu eigen machten, spricht m.E. ebenso für deren souveränen Humor wie für die Qualität des satirischen Angriffs von Görsch & Häusler, die in vielen – hier nicht abgedruckten – Liedstrophen Provinzialität, Naivität, Bauernschläue und, sagen wir mal vorsichtig: Neigung zu einem guten Leben des rheinaufwärts angesiedelten Nachbarvolks thematisierten. Als förderlich für beides – satirische Präzision wie souveräne Aneignung des Fremdstereotyps – mag sich der Umstand erwiesen haben, dass zwar Wormser, Frankenthaler und hochspezialisierte Sprachhistoriker ganz genau wissen, dass die einen Rheinhessen und die anderen Pfälzer sind, sich aber die meisten anderen Menschen (z.B. der gemeine Bamberger ohne nordpfälzischen Migrationshintergrund) extrem schwer damit tun dürften, entsprechende Sprach- und Mentalitätsgrenzen zu ziehen.

Was den Liedtext angeht, ist hauptsächlich der Refrain von Belang. In ihm verdichtet sich das Fremd- und nun offensichtlich auch Eigenstereotyp vom Pfälzer als eines lebenslustigen Gesellen, der vom Arbeiten nichts hält, es deshalb auch zu nichts bringt, deswegen aber keineswegs unglücklich ist: Er tröstet sich mit der Gewissheit, dass ihm das Finanzamt, sofern er nichts leistet, auch nichts abziehen kann. Zumindest Pfälzer werden mir mehrheitlich zustimmen, wenn ich dies mit Matth. 6, 26 als eine grundfromme Einstellung werte: „Sehet die Vögel unter dem Himmel an: sie säen nicht, sie ernten nicht, sie sammeln nicht in die Scheunen; und euer himmlischer Vater nähret sie doch.“

Mit dem Refrain definierten die Karnevalisten Görsch & Häusler einerseits eine bestimmte Sprecherrolle, aus der heraus diverse komische Erlebnisse erzählt oder spezifische Charaktereigenschaften demonstriert werden konnten, andererseits animierten sie mit ihm das Publikum zum Mitklatschen und Mitsingen. Der ,Tramp‘-Begriff ist einigermaßen ambivalent: Ursprünglich referierte er auf amerikanische Wanderarbeiter (vgl. auch ,Hobo‘), die Gelegenheitsjobs suchten bzw. auf diese zur Fristung eines kümmerlichen Lebens angewiesen waren. Eine romantisierende Darstellung und Popularisierung erfuhr dieser Sozialtypus durch Charlie Chaplin. Ich vermute, dass zumindest einige Pfälzer auf dieses Rollenvorbild referieren, wenn sie sich selbst als ,Tramps vun de Palz‘ besingen, andere (die Mehrheit?) wird sich unter Tramp vielleicht auch nur einen lustigen Wandervogel vorstellen, der vielleicht im Pfälzer Waldverein organisiert ist. (Es gibt zum Lied entsprechende Zusatzverse!) Görsch & Häusler mögen anfangs vielleicht auch noch die kritischen sexuellen Konnotationen des Begriffs im Sinn gehabt haben (,Flittchen‘, ,Herumtreiber‘), doch dürften die mit der positiven Aufnahme des Songs ins Pfälzer Selbstbild weitgehend verdrängt worden sein, obwohl einige Verse im Stimmungsliedtext genau genommen noch in diese Richtung weisen.

Im Gegensatz zum Refrain des Karnevalslieds von Görsch & Häusler zeichneten sich die Strophen dort durch einen lakonischen Vortragsstil und – zumeist auch – eine spezielle situative Bindung aus, die in der Regel allerdings keinen Beitrag für ein Pfalz-Stereotyp leistete; z.B. war das lustige Duo in der Kampagne 1977 in Kostümen von Olympioniken aufgetreten:

Die Spiele ging‘ los
War famos
Dreisprung Kleinigkeit
Unzufrieden
Ausgeschieden
Weil wir nur zu zweit.

[Refrain]

Im Speerwurf ganz groß
Der Speer flog los
Übers Olympiafeuer
Kam unten an
Eine Taube dran
Das Grillfleisch war ungeheuer.

[Refrain]

Wenn man sich auf Youtube den Gesangsstil des Duos vergegenwärtigt, versteht man, dass sich im Laufe der Rezeption dieses Liedes nur die Refrainstrophe erhalten hat. Sie wurde in der Folge durch weitgehend belanglose, konventionelle Verse ergänzt, um den zündenden Refrain zu einem ,brauchbaren‘ Pfälzer Stimmungslied normaler Länge zu ergänzen, das bei Wein-, Volks- und Vereinsfesten, Geburtstagen, alternativen Weihnachtsfeiern, Kaffee-Fahrten und natürlich immer auch noch bei karnevalistischen Veranstaltungen sein Publikum findet. Unser Eingangsvideo, dort wird der Schlager von Emil, Gerhard und Gunnar: Die Pälzer zum Besten gegeben, illustriert eine solche Situation. Der Vollständigkeit halber erwähne ich noch den intertextuellen Bezug der Phrase ,Pälzer Buwe‘ zu einem in der Pfalz weithin bekannten traditionellen Mundart-Lied gleichen Titels, das seine Beliebtheit einer außergewöhnlichen Häufung dialektaler Schimpf- und Schmähwörter verdankt. Ob der Song von den Pfälzer Tramps, für dessen überregionale Popularisierung übrigens nicht zuletzt Tony Marshall nennenswerte Verdienste zukommen, inzwischen auch als Fan-Gesang des einen oder anderen Fußballclubs Karriere gemacht hat, entzieht sich meiner Kenntnis.

Hans-Peter Ecker, Bamberg

P.S. Auch der amerikanische Präsidentschaftskandidat Donald Trump scheint ein echter ,Tramp aus der Pfalz‘ zu sein. Seine Vorfahren stammen aus dem bekannten Weindorf Kallstadt (vgl. ,Kallstadter Saumagen‘ – eine der besten Weinlagen Deutschlands, Großlage ,Kallstadter Kobnert‘), ebenso wie die der Ketchup-Dynastie Heinz. Kallstadt gilt im nachbarschaftlichen Umfeld übrigens als ,Brulljesmacher-Metropole‘, d.h. als Zentrum der Sprücheklopfer und Angeber, was sich für einen Tramp vun de Palz prima schickt; zu diesen Zusammenhängen hat Hannelore Crolly in der Welt vom 24.8.2015 einen ebenso amüsanten wie informativen Zeitungsartikel verfasst.

Heimat-, Trink-, Jäger- und Liebeslied. Hermann Löns‘ „Auf der Lüneburger Heide“

Hermann Löns

Auf der Lüneburger Heide

1.
Auf der Lüneburger Heide, in dem wunderschönen Land,
ging ich auf und ging ich nieder, allerlei am Weg ich fand.
Valleri, vallera, (juchhe) und juchheirassa und juchheirassa!
Bester Schatz, bester Schatz, denn du weißt, du weißt es ja.

2.
Brüder, lasst die Gläser klingen, denn der Muskatellerwein
wird vom langen Stehen sauer, ausgetrunken muß er sein.
Valleri, vallera, (juchhe) und juchheirassa und juchheirassa!
Bester Schatz, bester Schatz, denn du weißt, du weißt es ja.

3.
Und die Bracken und die bellen, und die Büchse und die knallt,
rote Hirsche woll'n wir jagen in dem grünen, grünen Wald.
Valleri, vallera, (juchhe) und juchheirassa und juchheirassa!
Bester Schatz, bester Schatz, denn du weißt, du weißt es ja.

4.
Ei du Hübsche, ei du Feine, ei du Bild wie Milch und Blut,
unsre Herzen woll'n wir tauschen, denn du glaubst nicht, wie das tut.
Valleri, vallera, (juchhe) und juchheirassa und juchheirassa!
Bester Schatz, bester Schatz, denn du weißt, du weißt es ja.

 

Hermann Löns

Als jugendliche Sänger des wohl bekanntesten aller Heidelieder haben wir uns gefragt, was denn der „beste Schatz“ so wissen mochte. Die manchmal ins (Heide-)Kraut schießenden Fantasien will ich hier den Lesern ersparen. Sicherlich wusste es Hermann Löns (geboren am 26. August 1866), als er das Gedicht schrieb. Ich weiß es bis heute nicht. Anzunehmen ist, dass Löns, wo immer er die Heide bedichtete, voller Liebe zur Naturlandschaft der Heide war, sei es auf seinen Wanderungen „auf der Lüneburger Heide“ oder in Hannover, wo Löns Journalist und später zeitweise Chefredakteur war, oder schon in Walsrode im Wirtshaus seines Onkels. Jahre später (1901) gehörte er zu den zwölf Gründern des Heimatbundes Niedersachsen, 1906 wurde er Leiter der Staatlichen Stelle für Naturpflege in Preußen und 1911 war er Mitbegründer des „Heideschutzparks“ am Wilseder Berg, aus dem dann der Naturpark Lüneburger Heide hervorging, der ältesten Einrichtung dieser Art in Deutschland (ausführliche Löns-Biographie s. u. a. hier). Gleich zu Beginn des Ersten Weltkriegs meldete sich Löns, 46jährig, an die Front. Er starb bei einem Sturmangriff am 26. September 1914 in der Nähe von Reims.

Löns_Heide

Entstehung

Doch zurück zum Lied. Der Titel und die beiden ersten Zeilen stammen, wie Löns im Sammelband Mein braunes Buch schreibt, aus einem von ihm während seiner Göttinger Studentenzeit gehörten „frechen Strolchlied“, das ihm „nicht aus dem Kopf will“:

Auf der Lüneburger Heide
ging ich auf und ging ich unter.
Bruder, pump mir deine Kleine,
denn die meine ist nicht munter.

Löns selbst bezeichnete viele seiner Gedichte, die 1911 in Der kleine Rosengarten erschienen, als Lieder. Tatsächlich waren viele seiner „Rosengarten-Reime“ vertont worden – von dem Musikpädagogen Fritz Jöde (der auch den Kanon Abendstille überall komponierte), dem Operettenkomponisten Eduard Künneke u. a. Die heute noch gesungene Melodie unseres Heideliedes wurde 1912 von Ludwig Rahlfs (1863-1950) komponiert, zu jener Zeit Organist in Walsrode, dem Sitz des heutigen Löns Museums. Löns und Rahlfs sind sich dem Vernehmen nach nie begegnet.

Die Mehrheit der im Schendel-Archiv (www.deutscheslied.com) vorhandenen Liederbücher weist 1911 als Entstehungsjahr des Liedes aus. Dagegen kündigt Löns bereits in einem Brief von Mai 1910 an die Balladendichterin Lulu von Strauß und Torney das Erscheinen eines Gedichtbands mit bereits geschriebenen über 100 „Liedern“ an, des späteren Kleinen Rosengartens, in dem auch Auf der Lüneburger Heide enthalten ist.

Interpretation

Schaut man sich die vier Strophen dieses Heidelieds an, stellt man fest, dass drei Liedarten darin enthalten sind. Ein Liebeslied im ersten und letzten Vers, ein Trinklied im 2. und ein Jägerlied im 3. Vers. Es scheint, als hätte Löns dem Motto „Wer vieles bringt, wird manchem etwas bringen gefrönt. Wahrscheinlich sind ihm, als er in der „Lüneburger Heide auf und nieder“ ging, verschiedene Gedanken durch den Kopf gegangen, und er hat seine Liebe zur „wunderschönen“ Heide, zum Wein, zur Jagd, zu Frauen in diesem Lied zusammengefasst.

Was er bei seinen Spaziergängen „allerlei am Weg“ fand, erfahren wir nicht. Vielleicht fand er Tierspuren oder Vogelfedern; eventuell verweist „fand“ auch auf das, was er auf seine Wegen gesehen hat, z.B. Birken oder Birkhähne (vgl. sein Lied Alle Birken grünen in Moor und Heid‘, worin es heißt „jeder Birkhahn kollert und tollt“). Aber Löns ist sich gewiss, sein Schatz, der „weiß es ja“.

In Erinnerung an seine Studentenzeit als Mitglied in Studentenverbindungen in Greifswald und später in Göttingen fordert Löns in der zweiten Strophe seine Trinkkumpanen („Brüder“) auf, anzustoßen und ihre Gläser auszutrinken, weil der Wein sonst vom langen Stehen sauer werden könnte. Die Aussage, dass der Weißwein mit dem Muskatgeschmack („Muskateller“) vom „langen Stehen sauer“ werden kann, ist zwar grundsätzlich richtig, denn dies ist eine bekannte und einfache Methode, Essig herzustellen. Hier jedoch ist hier klar, die Begründung dient eher dem Verlangen, in fröhlicher Runde ordentlich zu picheln. Das erinnert an den in einigen Regionen Norddeutschlands bekannten, vielleicht auf einem Feuerwehrfest entstandenen, Saufspruch: „Hermann Löns, die Heide brennt – Was soll man da machen? – Löschen, löschen, löschen!“. Hermann Löns, die Heide, Heide brennt wird noch heute bei Festivitäten im westlichen Niedersachsen nach dem Refrain der Melodie Yellow Submarine gesungen (s. hier).

Auch in der zweiten Strophe wird nicht gesagt, was der Schatz weiß; eventuell wünscht sich der Sprecher Löns – oder sollte er es sogar wissen? -, dass sein Schatz Verständnis dafür haben soll, dass Löns gern dem Wein zuspricht und, wie man weiß, nicht nur in kleinen Mengen.

Löns Jagdleidenschaft wird in der dritten Strophe deutlich. Er erfreut sich am Bellen der Jagdhunde (Bracken sind Stöber- und Verfolgungshunde, die normalerweise „auf der Spur“ nicht bellen, sondern nur für die nachfolgenden Jäger Laut geben, (vgl. hier) und dem Knallen der Jagdflinten (der „Büchsen“). Er, der gern auch auf Niederwild „ging“, möchte hier „im grünen Wald“ mit seiner Jagdgesellschaft („wir“), vermutlich mit Hilfe von Treibern und den „Bracken“, Rotwild jagen und sogar Hirsche schießen. Auch hier bleibt dem Leser dieser Strophe bzw. dem Hörer des Liedes überlassen, den Sinn des Verses „ Bester Schatz, bester Schatz, denn du weißt, du weißt es ja“ zu ergründen.

In der vierten Strophe macht der Dichter seinem Schatz schöne Worte, umschmeichelt ihn mit „Ei du Hübsche, ei du Feine, ei du Bild wie Milch und Blut“. Vielleicht hat er dabei an seine damalige Ehefrau Elisabeth gedacht, von der allgemein als der „schönen Else“ gesprochen wurde. „Milch und Blut“ als Metapher für ein nicht sonnengebräuntes Gesicht mit roten Wangen und Lippen galten bereits in der höfischen Minnelyrik (beispielsweise bei Walther von der Vogelweide) als Zeichen der weiblichen Schönheit und Gesundheit. Auch der Komponist vieler Volkslieder, Friedrich Silcher, greift 1837 in Rosenstock, Holderblüt eines unbekannten Dichters das Bild auf: „Gsichterl wie Milch und Blut, s Dirndl ist gar so gut“.

Eventuell hat Löns eine andere junge Frau umworben, mit der er die „Herzen tauschen“ möchte. Zusätzlich versucht er, ihr das Angedeutete, das wohl mehr als eine Schmuserei ist, schmackhaft zu machen: „denn du glaubst nicht, wie das tut“; gemeint ist: wie gut das tut. Auch hier heißt es erneut: „Bester Schatz, du weißt es ja“. Der sprachliche Widerspruch zur werbenden Aussage „denn du glaubst nicht, wie das tut“ hebt sich auf, geht man davon aus, dass die junge Frau nicht ganz unerfahren war. Offen bleibt, ob das Bemühen Löns‘ – wie so manches Mal – auch hier erfolgreich war.

Rezeption bis 1945

Besonders nach der Vertonung durch Ludwig Rahlfs und durch die Veröffentlichung im Kleinen Rosengarten wurde die „Regionalhymne der Heide“ weiten Bevölkerungskreisen bekannt. Ab 1914 tauchte das Lied in den Kriegsliederheften und Tat-Feldpostheften des Diederichs Verlags mit Auflagen von bis zu 20.000 auf. Nach dem Soldatentod von Löns im September 1914 an der Westfront stiegen die Auflagen: Der Lieder-Gedichtband erreichte bereits 1917 eine Auflage von 23.000, die 1933 auf 105.000 anstieg.

Löns_Der kleine Rosengarten

Während das Lied im Standardwerk der Jugend- und Wandervogelbewegung, dem Zupfgeigenhansl, nicht vertreten war, erlebte es in einem der auflagenstärksten Liederbücher vor 1933, dem Jugend Lieder Buch des Arbeiterjugend-Verlags (500.000) weiterhin eine enorme Verbreitung. Von den anderen Liederbüchern aus dieser Zeit seien nur der Kuriosität halber Das Deutsche Marineliederbuch (1931) und das Liederbuch des Erzgebirgsvereins (1932) angeführt.

Bei den Nationalsozialisten, die Löns seit 1933 aufgrund seiner ihm nachgesagten völkischen Ansätze für ihre Ideologie vereinnahmten, stieg die Popularität des Heidelieds weiterhin an. Mehrere Liederbücher verschiedener NS-Organisationen, vom Reichsarbeitsdienst über die SA bis zur Hitlerjugend, nahmen das Lied ebenso auf wie viele Schulbücher. Bereits 1934 weist das Liederbuch für die Hitlerjugend Uns geht die Sonne nicht unter eine Auflage von 451.000 bis 500.000 aus (Dank an Hubertus Schendel, Archiv www.deutscheslied.com ).

Aber auch Der kleine Rosengarten führte mit einer Auflage von rund 200.000 zwischen 1934 bis 1939 nicht gerade ein Nischendasein; eine zusätzliche Feldpostausgabe erreichte 1943 170.000. Hinzu kamen seit 1939 zahlreiche Liederbücher für Soldaten, z. B. eines aus dem Jahr 1939 mit dem bezeichnenden Titel Morgen marschieren wir. Und dass sich nach dem 4/4 Takt des Liedes gut marschieren ließ, hatten schon 1925 die nationalen jungdeutschen Ordensleute (Liederbuch des jungdeutschen Ordens) festgestellt.

Rezeption nach 1945

Nach 1945 war die Beliebtheit des Heidelieds ungebrochen. Waren es in den ersten Jahren nur wenige Liederbücher – vermutlich wegen der Vereinnahmung durch die Nationalsozialisten -, die das Lied aufnahmen, so wurde das Lied geradezu (west-)deutschlandweit berühmt, nachdem es 1951 in einem der ersten und erfolgreichsten deutschen Heimatfilme, Grün ist die Heide, von Kurt Reimann, Hans Richter und Ludwig Schmitz gesungen wurde. In einem völlig anderen Film, aber mit dem gleichen Titel, sang 1972 Roy Black ebenfalls das Heidelied.

Die Filme trugen dazu bei, dass in vielen Regionen, von Schleswig-Holstein und Niedersachsen, vom Rheinland und Saarland bis hin nach Österreich Unmengen von Liederbüchern mit dem Lied Auf der Lüneburger Heide herauskamen. Abgesehen von zahlreichen allgemeinen Gebrauchsliederbüchern und Schulbüchern wurde das Lied auch von der Turnerjugend, der Jugend des Deutschen Fußballbundes und der Bergsteigerjugend (!), von Wanderern, Pfadfindern und Wandervögeln, in christlichen und parteipolitischen Kreisen (von Falken bis zur FDJ) gesungen.

Erstaunlich ist, dass es keine Aufnahme in der Mundorgel fand, dem Liederbuch mit der höchsten Auflage (bis 2013 Textauflage über 10 Millionen; Text und Noten 4 Millionen). Auch in bedeutenden Liedersammlungen, wie dem zweibändigen Werk mit fast 600 Liedern Deutsche Lieder des Musikwissenschaftlers und Volksliedforschers Hans Klusen oder dem Großen Buch der Volkslieder taucht es nicht auf.

So gern wie „unser“ Heidelied neben Auf der Heide blüht ein kleines Blümelein, und das heißt Erika (Text und Melodie: Herm Niel) gesungen wurde und wird, so weisen die zahlreichen Veröffentlichungen von Tonträgern im Deutschen Musikarchiv – rund 150 Schallplatten und CDs in den vergangenen 50 Jahren – darauf hin, dass es in allen Bevölkerungskreisen auch immer wieder gern gehört wurde und wird. Zu den bekannten Interpreten gehören Roy Black (dem 1980 die Hermann Löns Medaille verliehen wurde) Heino, Tony Marshall, Vico Torriani, Rudi Schuricke und Willy Schneider sowie die Opernsänger Rudolf Schock und Hermann Prey und viele Chöre wie der Kölner Kinderchor oder der Montanara Chor. Instrumental wurde es häufig intoniert von Musikkorps der Bundeswehr, aber auch von den Orchestern Max Gregor und James Last.

Eine originelle Version, nicht für jeden Geschmack, brachte die slowenische Post-Industrial-Band Laibach 1988 mit einer verfremdeten ersten und dritten Strophe heraus (Ausschnitt hier).

Detlef Kasten, von der Sondersammlung Löns der Stadtbibliothek Hannover verdanke ich den Hinweis auf Band 1 der von Friedrich Castelle (1879–1954) 1923 herausgegebenen acht Bände: Hermann Löns, Sämtliche Werke. Das folgende Gedicht, gereimt wie die Version von Mai 1910, ist zum ersten Mal 1911 im Roman Das zweite Gesicht veröffentlicht worden.

 Auf der Lüneburger Heide geht der Wind die kreuz und quer
auf der Lüneburger Heide jag ich hin und jag ich her

An die hundert grüne Jünger werden nicht des Lebens froh
denn Passup so heißt mein Leithund und mein Schweißhund heißt Wahrtoo.

Wenn die lauten Hunde jagen, fährt der Fuchs zum Baue ein
und in jedem dritten Dorfe ist ein wacker Mädchen mein.

Heute die und morgen jene heut ein Rehbock, dann ein Hirsch
Rosen blühn in jedem Garten überall ist frei die Pirsch.

 Georg Nagel, Hamburg

Lokalposse im Appelwoi-Milieu: „Die Fraa Rauscher aus de Klappergass“ von Kurt Eugen Strouhs (Text, 1929) und Norbert Bruchhäuser (Vertonung)

Kurt Eugen Strouhs

Die Fraa Rauscher aus de Klappergass

Die Fraa Rauscher aus de Klappergass, die hat e Beul am Ei,
ob des vom Rauscher, ob‘s vom Alte kimmt, des klärt die Bolizei.

Am Sonndag warn mer dribb de Bach, was hammer do gelacht,
so warn zwaa Eheleut beschleucht unn hawe Krach gemacht.
Uff aamal duds en dumpfe Schlag, die Fraa lieht uff de Gass
unn alle Kinner singe laut, des mecht en Heidespass:

Die Fraa Rauscher aus de Klappergass, die hat e Beul am Ei […]

En Griene hot den Fall geseh' un kimmt im Laafschritt aa.
Der Ehemann ruft ganz erschreckt, ich hab er nix gedaa!
Mei Alt, die kennt kaa Maß un Ziel, die hot zuviel gebaaft,
drumm hot der liewe Herrgott sie mit aaner Beul gestraft.

Die Fraa Rauscher aus de Klappergass, die hat e Beul am Ei […]

Jetzt gehts uffs Bolizeirevier, die Buwe hinerdrei.
Des is en intressanter Fall, des leucht doch jedem ei.
De Kommissar is ganz empeert un segt, des is doch doll.
Der Griene, wie sich des geheert, der gibt zu Protokoll:

Die Fraa Rauscher aus de Klappergass, die hat e Beul am Ei […] 

Jetzt wärs genug, die Rauschern hat sich mit ihrm Mann versöhnt,
des kennt mer schon un is mer aach in solche Fäll gewöhnt,
doch so en beeser Zeitungskerl dut mehr als wie seine Pflicht,
am annern Dag stehts dick un braat im Bolizeibericht:

Die Fraa Rauscher aus de Klappergass, die hat e Beul am Ei […]

     [Rohtext: frankfurt-interaktiv.de,kleine Veränderungen der Schreibweise
     und Interpunktion von mir.]

 

Das sog. ,Apfelweinlied‘, das bei Frankfurtern und Äppelwoi-Fans einen gewissen Kultstatus genießt, nimmt Bezug auf einen possenhaften Vorfall, der sich im 19. Jahrhundert zugetragen haben soll. Die Heldin mit dem sprechenden Namen „Rauscher“ (= regionale Bezeichnung für den halbvergorenen, ein bis zwei Wochen alten Apfelmost, der bei übermäßigem Genuss in mehrerer Hinsicht ,durchschlagende‘ Wirkungen erzielt) wurde mit einer Beule am Kopf auf der Straße aufgefunden. Zuvor hatten die Eheleute Rauscher „Krach gemacht“, wobei das Lied offen lässt, ob als Ursache des Lärms ein Ehe-,Krach‘ anzusehen ist oder man nur im Suff herumkrakeelt hat. Die eilige Unschuldsbeteuerung des Mannes beim Auftauchen des Polizisten in der zweiten Lied-Strophe deutet darauf hin, dass wahrscheinlich beides der Fall gewesen ist. Jedenfalls endet das Ganze mit einem „dumpfe Schlag“, einem Sturz und einer Beule.

Schnell findet sich eine Horde Gassenjungs ein, denen der Vorfall einen Heidenspaß bereitet. Wer den Schaden hat, braucht für den Spott nicht zu sorgen. Die Kinder erfassen in ihrem ,Gesang‘ (= Refrain) nicht nur den Sachverhalt, sie erkennen auch sein kriminalistisches Potential: Stammt die Beule von einem Hieb des Ehemanns oder vom Sturz infolge übermäßigen Rauscher-Konsums? Ein ,Grüner‘, d.h. ein Polizist, kommt – vom Lärm und Menschenauflauf alarmiert – angetrabt und macht die Sache amtlich. Obwohl Frau Rauscher der beschwichtigenden Falldarstellung ihres Mannes nicht widerspricht (vielleicht auch zustandsbedingt nicht widersprechen kann), setzt der diensteifrige Polizist das Räderwerk des Staatsapparats in Gang, indem er Opfer und Verdächtigen aufs Polizeirevier verbringt. Die Kinder folgen, das Spektakel lässt sich immer besser an. Sein Vorgesetzter, der „Kommissar“ zeigt sich empört, wobei nicht genau spezifiziert wird, weshalb und worüber. Ich tendiere aber zu der Interpretation, dass er sich darüber aufregt, mit einer Lappalie behelligt zu werden, weil sich der ,Griene‘ daraufhin mit seinem „Protokoll“ des Vorgangs zu rechtfertigen scheint. Sein Protokolltext entspricht dann haargenau dem Gesang der Gassenjungs.

Nun aber scheint sich die Vernunft durchzusetzen. Das Ehepaar Rauscher versöhnt sich, was die Sprechinstanz auch schon erwartet hat. Man kennt das ja: Pack schlägt sich, Pack verträgt sich. Die höheren Vertreter der Staatsmacht im Kommissariat scheinen auch kein Interesse an weiterer Aufklärung des Kriminalfalls zu haben, womit eigentlich alle Voraussetzungen gegeben sind, dass in Sachsenhausen (Frankfurter Stadtteil, berühmt für seine vielen Traditionswirtschaften) wieder Frieden und Routine einziehen. Doch dann kommen die ,bösen‘ Medien dazwischen, wieder einmal in Person eines übereifrigen Menschen, der die Posse in den Polizeibericht schreibt und damit stadtbekannt macht. Der Witz der Anekdote richtete sich nur vordergründig gegen die Rauschers, die bald den Status von sog. Alt-Frankfurter Originalen erlangten, in Wirklichkeit aber gegen den bürokratischen Geist der Ordnungsmacht. Obwohl die Frau-Rauscher-Episode selbstverständlich viel weniger dramatisch-tragisches Potenzial bietet als die Hauptmann-von-Köpenick-Geschichte, dürfte sie als Beamten- und Staats-Satire auf einer vergleichbaren Ebene zu verstehen sein.

So genüsslich der Text bei seiner Schilderung des Vorfalls über den diensteifrigen Polizisten, den bösen Mann von der schreibenden Zunft und die unmittelbar Betroffenen herzieht, so erkennbar wird ein weiterer Akteur aus der Schusslinie genommen: das müßige voyeuristische Publikum, das sofort zur Stelle ist, sobald es von einem ,Krach‘ hört, schadenfroh gafft und – weit davon entfernt, helfend oder schlichtend einzugreifen – über den Hergang Spekulationen anstellt. Genau genommen sind es die Gaffer, die durch ihren Tratsch die Bagatelle zum Kriminalfall aufblasen: Noch bevor der Polizist überhaupt am Tatort aufgetaucht ist, wird ihm von der Menge seine Aufgabe zugewiesen: „ob des vom Rauscher, ob‘s vom Alte kimmt, des klärt die Bolizei.“ Die ,Abschattung‘ dieses Aspekts des Geschehens gelingt, weil die sensationsgeile Meute von der Erzählinstanz als Kinderbande deklariert wird, der man ein entsprechendes Verhalten moralisch durchgehen lässt. Mehr noch, als begeisterter (Mit-)Sänger des Schlagers reiht man sich quasi in den Chor der Gassenjungen ein und partizipiert vergnügt am Schauwert des – wie wir gesehen haben – in mehrfacher Hinsicht peinlichen Geschehens. M. E. ist es ziemlich unwahrscheinlich, dass bei einem entsprechenden Fall überwiegend oder sogar nur Kinder zugeschaut haben sollen; für mich liegt ein bewusster Eingriff des Lieddichters vor, um den kritischen Impetus des Liedes in die gewünschte Richtung zu lenken. (Meinen Beobachtungen nach findet sich dieser Kunstgriff der ,Verschiebung‘ bestimmter Verhaltensweisen oder Aussagen auf Kinder gerade bei Karnevalsliedern übrigens häufiger; einen Parallelfall werde ich demnächst bei der Besprechung von Margit Sponheimers „Gell ich hab dich gelle gern“ zur Sprache bringen.)

Aus der lustigen Lokalsage um Frau Rauscher machte der Graphiker Kurt Eugen Strouhs einen Karnevalsschlager, der sich schnell zum Gassenhauer entwickelte. Eine Frankfurter Website datiert die Entstehung des Textes ganz genau auf den 12.11.1929. Die Vertonung habe später der Redakteur Norbert Bruchhäuser besorgt. Wie unser Video zeigt, hat sich das Apfelweinlied längst von seinem karnevalistischen Anlass emanzipiert und funktioniert auch prächtig bei Weihnachtsfeiern. Es eignet sich sogar als Hymne, wahlweise für Frankfurt-Sachsenhausener Bürger, Bembel-Schwinger oder Fußballfans. So berichtet der einschlägige Wikipedia-Artikel von einem rituellen Auftritt der Frau Rauscher bei Heimspielen der Frankfurter Eintracht, bei dem jeweils der ,Fanclub des Tages‘ ausgelost wird: „Dieser Fanclub erhält 50 Liter Äppelwoi und einen Bembel mit dem Fanclubnamen. Die Figur ,Frau Rauscher‘ wird verkörpert von Marianne Boss, die wiederum zum Carnevalsclub Laternche […] gehört und dort traditionell an sieben Sitzungen im Saalbau Titus-Forum während der Fastnachtssaison mit einem Büttenvortrag auftritt“.

Die ,Fraa Rauscher aus de Klappergass‘ und ihr Lied besitzen für Frankfurter und vermutlich auch viele Südhessen eine identitätsstiftende Bedeutung. Sie haben ihr – selbstverständlich in der Klappergasse – mit dem Fraa-Rauscher-Brunnen des Bildhauers Georg Krämer 1961 ein witziges Denkmal gestiftet, das unvorsichtige Touristen anspuckt. (Auf diese Weise kann es die Frau Rauscher der schadenfrohen Gaffer-Meute endlich doch noch ein wenig heimzahlen …) Die Rodgau Monotones bauten in ihre Hessen-Hymne Erbarme, die Hesse komme eine Referenz an Frau Rauscher und die Klappergass ein. Auch in der Äppelwoi-Branche und Gastronomie hat sich der Name inzwischen als Label für Produkte und Gasthäuser durchgesetzt.

Nachtrag: Bei eventuellen Problemen mit dem einen oder anderen Dialektwort hilft das „Südhessische Wörterbuch“ weiter, wobei man bei der Schreibweise manchmal Varianten durchspielen muss (etwa zum Stichwort „bafen“ = „tüchtig trinken“ ).

Hans-Peter Ecker, Bamberg

Ausgerechnet die Jecken wollen die Kirche im Dorf lassen: „Mer losse d’r Dom en Kölle“ von den Bläck Fööss (Text: Hans Knipp)

Bläck Fööss (Text: Hans Knipp)

Mer losse d'r Dom en Kölle

Mer losse d'r Dom en Kölle,
denn do jehöt hä hin.
Wat soll dä dann woanders,
dat hät doch keine Senn.

Mer losse d'r Dom en Kölle,
denn do es hä zo Hus
un op singem ahle Platz
bliev hä och jot en Schoss,
un op singem ahle Platz
bliev hä och jot en Schoss.

Stell d'r für d'r Kreml stünd am Ebertplatz,
stell d'r für d'r Louvre stünd am Rhing,
do wör für die zwei doch vell zo winnich Platz,
dat wör doch e unvührstellbar Ding.

Am Jürzenich, do wör villeich et Pentajon,
am Rothus stünd dann die Akropolis,
do wöss mer övverhaup nit wo mer hinjon sollt,
un doröm es dat eine janz jewess:

Mer losse d'r Dom en Kölle,
denn do jehöt hä hin.
Wat soll dä dann woanders,
dat hät doch keine Senn.
Die Ihrestross die hiess villeich Sixth Avenue,
oder die Nord-Süd-Fahrt Brennerpass.
D'r Mont Klamott dä heiss op eimol Zuckerhot.
Do köm dat Panorama schwer en Brass.

Jet froch ich üch, wem domet jeholfe es,
wat nötz die janze Stadtsanierung schon,
do soll doch leever alles blieve wie et es
un mir behalde uns're schöne Dom.

Mer losse d'r Dom en Kölle,
denn do jehöt hä hin.
Wat soll dä dann woanders,
dat hät doch keine Senn.

     [De Bläck Fööss. Op Bläcke Fööss Noh Kölle. Cornet 1974.
     Textquelle: Kölsch-Wörterbuch.]

Hans Knipp (1946-2011) war einer der Superstars der Kölner Liedermacherszene; seine Lebensleistung umfasst knapp 900 Lieder, wovon sich die meisten mit dem kölschen Milieu bzw. mit niederrheinischer Mentalität befassen. Kölns Oberbürgermeister Jürgen Roters sah in ihnen die Verkörperung der „Kölschen Siel“ (vgl. http://www.stadt-koeln.de/1/presseservice/mitteilungen/2011/06467/, siehe auch http://de.wikipedia.org/wiki/Hans_Knipp). Knipp schrieb viele seiner Lieder speziell für Karnevals-Kampagnen, so auch diesen Superhit, der durch die Interpretation der Bläck Fööss unsterblich wurde (soweit sich ein so weitreichendes Urteil aus heutiger Perspektive fällen lässt). Die Zusammenarbeit mit der damals noch weitgehend unbekannten Mundartgruppe Bläck Fööss datiert in die frühen Siebziger Jahre des letzten Jahrhunderts; Mer losse d‘r Dom en Kölle war eine der ersten Koproduktionen. Viele weitere sollten folgen und am Ende konnte man auf ein höchst beachtliches gemeinsames Repertoire von ca. 100 Titeln zurückblicken.

Dass unser Lied zu einer der größten Karnevalshymnen überhaupt avancieren sollte, war ihm nicht in die Wiege gelegt, war es doch zunächst lediglich als satirische Spitze gegen die damalige Sanierungspolitik der Stadt intendiert. Doch seine Rezeptionsgeschichte zeigte bald, dass in ihm weitaus mehr Potential steckte, als in einer x-beliebigen Satire auf ein kommunalpolitisch brisantes Thema. Aus heutiger Perspektive lässt sich der Erfolg dieses Liedes über den tagespolitischen Bezug hinaus m.E. auch ganz gut erklären. Indem Knipps Karnevalsschlager hinter seiner Titel- und Refrainzeile das bekannte Sprichwort von der Kirche, die man doch bitte im Dorf lassen sollte, aufscheinen lässt, stellt er am Beispiel des Vorgehens der damaligen Kölner Stadtbehörden eine Frage von grundsätzlicher ethischer Relevanz, die Frage nach den humanen Wertmaßstäben bei der Ausübung von politischer und technokratischer Macht.

In diesem Artikel muss nicht diskutiert werden, ob die Kölner Stadterneuerungspolitik der 1970er insgesamt eher positive Lösungen für die anstehenden Probleme gefunden hat oder doch eher Beispiel für unsensible Eingriffe in gewachsene Strukturen liefert. Bei zugegebener Weise sehr flüchtiger Beschäftigung mit dieser reichlich komplexen Materie habe ich den Eindruck, dass die Wahrheit irgendwo in der Mitte liegt (einen Einstieg in die Problematik verschaffen Gerhard Curdes und Markus Ulrich: Die Entwicklung des Kölner Stadtraumes. Der Einfluss von Leitbildern und Innovationen auf die Form der Stadt, Dortmund 1997). Die Sprecherinstanz des Liedes formuliert jedenfalls Gefühle eines einheimischen Bürgers, der sich durch die Baupolitik zunehmend seines vertrauten Lebensraums beraubt sieht. Die Stadtplaner scheinen mit ihren Maßnahmen ans ,Eingemachte‘ seines Heimatgefühls zu gehen, indem sie durch maßlose Eingriffe alles verändern, ja, im eigentlichen Sinne des Wortes ,verkehren‘.

In dieser Situation bietet aus Sicht des traditionalistisch fühlenden Sängers nur noch der Dom Stabilität, Identität, Orientierung und Verlässlichkeit. Dass dieses Bauwerk nicht nur von jeher das bedeutendste Wahrzeichen Kölns war, sondern sich den Eingriffen der Modernisierer auch kraft seiner Spiritualität entgegenstemmen kann, scheint mir hier nicht ganz nebensächlich. Die Titelzeile „Mer losse d’r Dom in Kölle“ ist vermutlich eher als Appell an die Solidarität der Kölner zu lesen, denn als Faktizität. In meiner Wahrnehmung schimmert durch diese trotzig vorgebrachte Behauptung die Sorge durch, dass die Technokratie am Ende auch vor diesem Symbol nicht Halt machen würde, wenn der Widerstand der Bürgerschaft erlahmte.

Widerstand gegen kulturelle Modernitätsschübe, Globalisierungseffekte, Klagen über verlorene Werte einer ,guten alten Zeit‘ (Orientierung, Identität, Symbole eines ,guten Lebens‘) sind für viele populäre Lieder typisch. Wir finden diese Haltung im klassischen Volkslied und Vagantenlied ebenso wie im Wiener Lied, im Chanson, bei den neueren Liedermachen, im Schlager und natürlich auch im Karnevalslied: „do soll doch leever alles blieve wie et es“.

Hans-Peter Ecker, Bamberg