Kölsche Elegie: „Verdamp lang her“ von BAP (1981)
10. Februar 2016 1 Kommentar
BAP Verdamp lang her 1) Verdamp lang her, dat ich fast alles ähnz nohm. Verdamp lang her, dat ich ahn jet jejläuv, un dann dä Schock, wie et anders op mich zokohm, merkwürdich, wo su manche Haas langläuf. Nit resigniert, nur reichlich desillusioniert. E bessje jet hann ich kapiert. [Verdammt lange her, daß ich fast alles ernst nahm. Verdammt lange her, daß ich an etwas geglaubt. Und dann der Schock, wie es anders auf mich zukam. Merkwürdig, wo so mancher Hase langläuft. Nicht resigniert, nur reichlich desillusioniert – ein bißchen was habe ich kapiert.] 2) Wer alles, wenn dir et klapp, hinger dir herrennt, ding Schulder klopp, wer dich nit all hofiert, sich ohne ruut ze weede dinge Fründ nennt un dich daachs drop janz einfach ignoriert. Et ess lang her, dat ich vüür sujet ratlos stund un vüür Enttäuschung echt nit mieh kunnt. [Wer alles, wenn es dir klappt (gelingt), hinter dir herrennt, deine Schulter klopft, wer dich nicht alles hofiert, sich, ohne rot zu werden, dein Freund nennt und dich tags drauf ganz einfach ignoriert. Es ist lange her, daß ich vor so etwas ratlos stand und vor Enttäuschung echt nicht mehr konnte.] 3) Ich weiß noch, wie ich nur dovun gedräump hann, wovunn ich nit woss, wie ich et sööke sollt, vüür lauter Söökerei et Finge jlatt versäump hann un övverhaup, wat ich wo finge wollt. Ne Kopp voll nix, nur die paar instinktive Tricks. Et duhrt lang, besste dich durchblicks. [Ich weiß noch, wie ich nur davon geträumt habe, wovon ich nicht wußte, wie ich es suchen sollte. Vor lauter Sucherei das Finden glatt versäumt habe und überhaupt, was ich wo finden wollte. Ein Kopf voll Nichts, nur die paar instinktiven Tricks – es dauert lange, bis du dich durchblickst.] 4) Dat woor die Zick, wo ich noch nit ens Pech hat. Noch nit ens dat, ich hatt se nit ens satt. He woor John Steinbeck, do stund Joseph Conrad, dozwesche ich, nur relativ schachmatt. Et ess paar Johr her, doch die Erinnerung fällt nit schwer. Hück kütt mer vüür, als wenn et jestern wöör. [Das war die Zeit, wo ich noch nicht einmal Pech hatte, noch nicht einmal das, ich hatte sie nicht einmal satt. Hier war John Steinbeck, da stand Joseph Conrad, dazwischen ich – nur relativ schachmatt. Es ist ein paar Jahre her, doch die Erinnerung fällt nicht schwer. Heute kommt es mir vor, als wenn es gestern wäre.] Verdamp lang her, verdamp lang. Verdamp lang her. [Verdammt lange her, verdammt lange. Verdammt lange her.] 5) Frööchs mich, wann ich zoletz e Bild jemohlt hann, ob mir e Leed tatsächlich jetz jenüsch, ob ich jetz do benn, wo ich hinjewollt hann, ob mir ming Färv op die Tour nit verdrüsch. Ich jläuv, ich weiß, ob du nu laut mohls oder leis, et kütt drop ahn, dat du et deiß. [Fragst mich, wann ich zuletzt ein Bild gemalt habe, ob mir ein Lied tatsächlich jetzt genügt, ob ich jetzt da bin, wo ich hingewollt habe, ob mir meine Farbe auf dieser Tour nicht vertrocknet. Ich glaube, ich weiß, ob du nun laut malst oder leise: Es kommt nur drauf an, daß du es tust.] Verdamp lang her, verdamp lang. Verdamp lang her. 6) Verdamp lang her, dat ich bei dir ahm Jraav woor Verdamp lang her, dat mir jesprochen hann, un dat vum eine och jet beim andere ahnkohm, su lang, dat ich mich kaum erinnre kann. Häss fess jejläuv, dat wer em Himmel op dich waat, "Ich jönn et dir", hann ich jesaat. [Verdammt lange her, daß ich bei dir am Grab war. Verdammt lange her, daß wir gesprochen haben und daß vom einen auch etwas beim anderen ankam, so lange, daß ich mich kaum erinnern kann. Hast fest geglaubt, daß wer im Himmel auf dich wartet. „Ich gönne es dir“, habe ich gesagt.] [BAP: Für Usszeschnigge! Musikant 1981. Quelle für Text und Übersetzung: www.bap.de, kleinere Korrekturen von mir.]
Verdamp lang her ist ein Herzblut-Lied – der Kölschrock-Band BAP, ihres Frontmanns Wolfgang Niedecken im Speziellen und auch vieler Fans, die in Internetkommentaren davon sprechen, wie sie die emotionale Wucht dieses Songs erfahren haben und seitdem nie mehr vergessen konnten. Selbstverständlich ist das Lied kein typisches Karnevalslied, obwohl es zur Karnevalszeit – allerdings weitab von den närrischen Zentren in einem fränkischen Dorf – entstanden ist und man es im Karneval permanent hört. Wolfgang Niedecken hat sich zur Entstehungssituation des Liedes selbst geäußert. So weiß man, dass es für ihn ganz wesentlich ein innerer Dialog mit seinem ein paar Monate zuvor verstorbenen Vater war, eine Aufarbeitung nie wirklich ausdiskutierter Konflikte und Standpunkte, in zweiter Linie auch eine Selbstbesinnung hinsichtlich seiner sich gerade abzeichnenden Karriere als Pop-Star (vgl. Wolfgang Niedecken: Verdamp lang her. Die Stories hinter den BAP-Songs. Köln 1999, S. 44-49). In seinem Bericht äußert Niedecken die Vermutung, dass nur die wenigsten seiner Fans diese Bezüge realisieren und stattdessen ihre eigenen Lebensgeschichten auf den Refrain projizieren würden: „[J]eder hat etwas, was er erinnert, was er bereut. ,Verdamp lang her‘ ist total katholisch, komplett lila, ein Reue-Stück. ,Oh Gott, wir haben etwas falsch gemacht, und das bereuen wir jetzt.‘ Es gibt Stücke, die vermitteln sich, ohne sich zu definieren, ganz instiktiv.“ Damit ist der Song für mich ein prima Aschermittwochslied.
Ich denke, dass Niedecken im obigen Zitat den Erfolg dieses BAP-Titels im Großen und Ganzen richtig erfasst. Indem er den Fans beim Verstehen subjektive Freiheit zugesteht, akzeptiert er kluger Weise zugleich ein grundlegendes Prinzip von Literatur bzw. konservierter Zeichen überhaupt: Ist ein Text, Song, Film oder Gemälde erst einmal in der Welt, führt er/es fortan ein gewisses (aber nicht totales!) Eigenleben, das weder von der Intention des Urhebers noch von seiner eigenen sprachlichen, musikalischen, visuellen Gestalt streng determiniert wird. Bei jedem Rezeptionsakt spielen die sich permanent verändernden gesellschaftlichen, semiotischen und subjektiven Erfahrungen der Leser oder Hörer eine neue Rolle. Schon für Niedecken selbst wird sich der Sinn seines Liedes heute, im Jahr 2016, mit Sicherheit anders darstellen als 1981, als er es für das BAP-Album Für Usszeschnigge! mit seiner Band einspielte. Für literaturwissenschaftliche Kommentare bieten sich damit mehrere ,Felder‘ an, zu denen etwas gesagt werden kann: der Entstehungs- bzw. Produktionszusammenhang, der Text an sich mit seinen Bezügen zum allgemeinen ,kollektiven Wissen‘ einer bestimmten Zeit bzw. eines bestimmten Milieus sowie die Rezeptionsgeschichte.
Im Hinblick auf den Produktionszusammenhang habe ich schon auf das wichtige Vater-Thema, die Selbstreflexion und die Haltung der ,Reue‘ hingewiesen; im oben zitierten Bericht geht Niedecken auch auf musikalische Inspirationen („Karikatur eines Police-Gitarrenlicks in Moll“, S. 48) und die frühe Rezeption des Songs im WDR ein, die aus „Verdamp lang her“ schnell einen Super-Hit machte. Ich muss diese Dinge hier nicht wiederholen. Stattdessen gehe ich nachfolgend ein wenig genauer auf die einzelnen Strophen ein. Am Anfang meiner Beschäftigung mit diesem Song stand ein kleines Grinsen darüber, dass ein Mensch, der noch keine 30 Jahre alt ist, sich überhaupt traut, „Verdamp lang her“ zu sagen. Beim zweiten Nachdenken nahm ich diese Reaktion zurück; denn ich – schon deutlich über 60 – würde beim Rückblick auf meine jungen Jahre nicht „Verdamp lang her“ sagen, sondern „Grad wie gestern“; womöglich gehört es typischer Weise zum Lebensgefühl junger Menschen, Brüche, Entwicklungsschübe der eigenen Identität so intensiv zu empfinden, dass man Vergangenes, Verlorenes, Überwundenes als zeitlich weit entrückt empfindet? Dann hatte ich noch einen dritten Einfall: Geht es in dem Lied nicht (auch) um die subjektive und damit höchst relative Empfindung von Zeit, die mit Erfahrungen und Erlebnissen korreliert?
Man weiß aus Interviews, dass Niedecken mit dem in der letzten Strophe genannten „Grab“ auf seinen verstorbenen Vater Bezug nimmt, mit den folgenden Versen auf die – zumindest teilweise – missglückte bzw. offene Enden hinterlassen habende Kommunikation zwischen Sohn und Vater, die jenem Schuldgefühle bereitet. Im Song stellt sich der Sohn diesen Emotionen und zeigt sich am Ende ,erwachsen‘, gereift:
Häss fess jejläuv, dat wer em Himmel op dich waat,
„Ich jönn et dir“, hann ich jesaat.[Hast fest geglaubt, daß wer im Himmel auf dich wartet.
„Ich gönne es dir“, habe ich gesagt.]
Diese Schlussverse explizieren ihren Sinn nicht, sondern deuten ihn nur an; dessen ungeachtet sind sie entscheidend für das Verständnis des gesamten Songs. Ich lese sie, auch mit Hilfe von Paratexten über die Entstehung des Liedes, so, dass sie als Teil eines ,stillen Dialogs‘ aufzufassen sind, die der Sohn am Grab seines Vaters (oder in der Imagination einer solchen Situation, was für die Deutung keinen Unterschied macht) mit diesem und gewissermaßen auch sich selber führt. Der Vater war offenbar ein religiöser Mensch, dem sein Glaube den nahen Tod leichter gemacht hat. Dem Sohn scheint dieser Glaube fern gelegen zu haben und auch immer noch zu liegen, aber er respektiert und toleriert ihn jetzt – am Grabe – als zwischenzeitlich im tieferen Sinne erwachsen gewordener, gereifter Mensch und nach all den Veränderungen, wovon der Song handelt. Er ,gönnt‘ seinem Vater die mit dem Glauben verbundene Erleichterung seines Schicksals, obwohl er selber eine andere Weltanschauung hat. Das ist eine humane Haltung, die er als Jugendlicher bzw. jüngerer Mann, der gegen seinen Vater revoltierte, nicht hatte aufbringen können.
Schon die erste Strophe berichtet von den bestürzenden Erfahrungen, die aus der Sprecherinstanz einen, dem eigenen Empfinden nach, anderen Menschen gemacht haben. Das Abstraktum ,Desillusionierung‘ fasst diesen Entwicklungsschub, der der Sache nach recht gut mit der Schillerschen Formel vom ,naiven‘ und ,sentimentalischen‘ Künstler erfasst wird, zusammen. Der alte, ,naive‘ – und als solcher glücklich-heile – Zustand erscheint dem seine Situation reflektierenden Ich als ,verdammt‘ weit zurückliegend, womit aber wenig über den realen zeitlichen Abstand ausgesagt wird, umso mehr über den ,gefühlten‘. Die Situation des Sprechers ist damit, noch einmal mit Schiller, aber auch zeitgenössischen Gattungstheoretikern gedacht, als „elegisch“ zu klassifizieren.
Die zweite Strophe thematisiert das Phänomen falscher Freunde, das zwei Jahre später von den Höhnern mit ihrem Hit Echte Fründe noch einmal ausführlich aufgegriffen werden sollte. Hier geht es um menschliche Enttäuschungen, die junge Popstars, deren Karrieren auf und ab gehen, anscheinend häufiger machen müssen als normale Sterbliche. Die nächste Strophe handelt von der Suche junger Leute nach Sinn und sich selbst und der dabei nicht seltenen Verfehlung des Wesentlichen. Der letzte Vers dieser Strophe deutet die Zuversicht des Ich an, sich inzwischen endlich gefunden, d.h. verstanden zu haben. Strophe vier ist die für mich kryptischste im gesamten Song. Dass es darin um eine Phase der künstlerischen (zwischen „John Steinbeck“ und „Joseph Conrad“) Stagnation bzw. Blockade geht („relativ schachmatt“) scheint mir klar, aber wie dieser Zustand des ,zwischen-den-Stühlen-Sitzens‘ zu konkretisieren wäre, sehe ich momentan nicht. Die literarischen Erfolgswerke dieser Autoren erscheinen mir zu unterschiedlich, als dass ich sie mit gutem Gewissen auf Formeln bringen könnte, zwischen denen man die Sprecherinstanz platzieren könnte. Hier fehlt mir Spezialwissen: Welche Texte von Steinbeck und Conrad hatte Niedecken beispielsweise vor Augen, als er diese Zeilen schrieb? Welche künstlerischen Pole verkörperten für ihn diese, für mich in ihren gesellschaftskritischen Bestrebungen gar nicht so unterschiedlichen Autoren? Weshalb fühlte er sich – als Musiker – ausgerechnet durch Schriftsteller blockiert usw.?
Niedecken hatte Malerei studiert und arbeitete seitdem auch als bildender Künstler. Der Eingangsvers zur fünften Strophe „Fröchs mich …“ lässt offen, ob das Du auf den – damals noch lebenden – Vater referiert oder ob die Sprecherinstanz eine solche Frage nachträglich imaginiert und an sich selbst richtet. Im ersten Fall würde die Erinnerung zu Tage bringen, dass sich der Vater auch zu Zeiten scheinbarer Funkstille immer noch für seinen Sohn interessiert hat; im anderen Fall würde sich der Sprecher eigene Gedanken zum Umgang mit seinen verschiedenen Talenten machen und schließlich zu der Antwort kommen, dass es letztlich nur auf eine produktive Existenz ankomme, nicht aber auf das spezielle Ausdrucksmedium.
Das Du in den zwei letzten Versen dieser Strophe changiert zwischen einer Anrede an sich selbst und einer Anrede an die Hörer des Songs, die sich womöglich noch im ,naiven, unaufgeklärten‘ Lebensmodus bewegen und hier Tipps zur Lebensbewältigung bekommen sollen. Der gesamte Song besitzt einen didaktischen Zug, der mir nicht wirklich richtig schmecken will. Am Beispiel der geschilderten Entwicklung des Sprechers wird den Hörern/Lesern/Fans ein Rollenvorbild angeboten, das ihnen das Erwachsen- bzw. Reifwerden erleichtern soll: nicht alles ernst nehmen (1. Strophe), falschen Freunden nicht auf den Leim gehen (2.), sich selber erkennen (3.), sich nicht von übermächtigen Vorbildern blockieren lassen (4.), einfach sein Ding machen (5.), Vater und Mutter ehren und tolerieren (6.).
Aus diesen ,Lehren‘, die der Sprecher „Schock“-artig (vgl. Strophe 1) anerkennen musste, sind deutlich die kaum modifizierten Ratschläge des verstorbenen Vaters herauszuhören, die das jüngere Ich vor ,verdamp‘ langen Zeiten offenbar nicht zu schätzen wusste, deren Evidenz dem gereiften Sprecher dafür umso mehr einleuchtet. Die Kommunikationssituation des Songs drängt seine Hörer in die Rolle eines noch ziemlich unerfahrenen, naiven Bewusstseinsträgers, vermutlich in der guten Absicht, diesem bei der Bewältigung des Lebens und der Absolvierung seines Reifungsprozesses beizustehen. Das erinnert mich sehr an Hermann Hesse, von dem ich in der zehnten oder elften Klasse auch einmal mächtig beeindruckt war. Das ist nun aber wirklich schon verdammt lange her.
Hans-Peter Ecker, Bamberg
Sehr schöne Interpretation, vielen Dank!