If the kids were united. Zu „Ich möchte Teil einer Jugendbewegung sein“ von Tocotronic
20. Januar 2014 2 Kommentare
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Tocotronic Ich möchte Teil einer Jugendbewegung sein Ich möchte Teil einer Jugendbewegung sein Ich möchte Teil einer Jugendbewegung sein Ich möchte mich auf euch verlassen können Ich möchte mich auf euch verlassen können Jede unserer Handbewegungen Hat einen besonderen Sinn Weil wir eine Bewegung sind Ich möchte Teil einer Jugendbewegung sein Ich möchte Teil einer Jugendbewegung sein Ich möchte mich auf euch verlassen können Ich werd mit euch durch die Straßen rennen Jede unserer Handbewegungen Hat einen besonderen Sinn Weil wir eine Bewegung sind Jetzt müssen wir wieder in den Übungsraum Jetzt müssen wir wieder in den Übungsraum Oh Mann, ich hab überhaupt kein’ Bock Oh Mann, ich hab schon was Bess’res vor Und deshalb sage ich zu dir Darauf scheißen wir Ich möchte Teil einer Jugendbewegung sein Ich möchte Teil einer Jugendbewegung sein Ich möchte mich auf euch verlassen können Ich möchte mich auf euch verlassen können Jede unserer Handbewegungen Hat einen besonderen Sinn Weil wir eine Bewegung sind Ich möchte Teil einer Jugendbewegung sein Ich möchte Teil einer Jugendbewegung sein Ich möchte Teil einer Jugendbewegung sein Ich möchte Teil einer Jugendbewegung sein Ich möchte Teil einer Jugendbewegung sein Ich möchte Teil [Tocotronic: Digital ist besser. L'Age D'Or 1995.]
Monty Pythons Bibelfilmparodie Das Leben des Brian (die verschiedene religiöse Gruppen als Bibelparodie auffassten und entsprechend versuchten, ihre Aufführung zu verhindern, vgl. Wikipedia) lässt sich auch als Film über das Spannungsverhältnis von Individualität und Gruppenzugehörigkeit interpretieren. Eine der für diese Rezeption zentralen Szenen ist jene, in der Brian einer ihm als vermeintlichem Messias folgenden Menschenmenge versucht klarzumachen, dass sie niemandem folgen müssen, weil sie doch alle Individuen und untereinander verschieden seien, was die Menge im Chor wiederholt. Der darin liegende performative Widerspruch wird auf die Spitze getrieben, wenn ein Einzelner dem kollektiv nachgesprochenen „Ja, wir sind alle völlig verschieden“ mit einem „Ich nicht“ widerspricht und niedergezischt wird:
Der einzige Individualist ist hier derjenige, der seine Individualität abstreitet. Die in hier inszenierte Problematik betrifft fast alle Jugendbewegungen: Die Feier des rebellischen Andersseins geschieht in Form einer neuen Uniformierung, die Außenseiter formieren sich zu einer Gruppe, innerhalb derer selbst wieder Regeln, etwa eine Kleiderordnung, herrschen. Und so muss, hat sich eine Jugendbewegung erst einmal etabliert, gar nicht mehr zwingend Nonkonformität und das Gefühl des Nicht-Dazugehörens zur Umgebung den Anstoß dazu geben, sich als Rocker, Hippie, Metaller, Punk, HipHopper etc. zu entwerfen, sondern kommt, als Gegenstück dazu, auch der Wunsch nach Zugehörigkeit, danach, sich innerhalb einer Gruppe konform zu verhalten, als Motivation in Frage.
Diese zweite Motivation steht für das Sprecher-Ich in Ich möchte Teil einer Jugendbewegung sein im Vordergrund. Zunächst erscheint sein Wunsch noch psychologisch unmittelbar motiviert als Ausdruck des Bedürfnisses nach Freundschaft und Vertrauen; jedoch erweist er sich im weiteren Verlauf des Textes als durch den Mythos Rock vermittelt. Dieser lässt sich beschreiben als ein sekundäres Zeichensystem, das sich aus dem Bedeutungsvorrat bereits vorhandener Zeichensysteme speist und dabei neue Bedeutungen hervorbringt. Doch anders als bei primären Zeichensystemen wie der Sprache, bei denen die Willkür der Bedeutungszuweisung etwa einer Laut- und Buchstabenfolge zu einer Referenz offenkundig ist, entsteht beim sekundären Zeichensystem Mythos nach Roland Barthes der Eindruck, die Bedeutung ergebe sich unmittelbar aus dem Wahrgenommenen (vgl. Roland Barthes: Mythen des Alltags. Frankfurt a. M.: Suhrkamp 2001 [= edition suhrkamp 92]).
Zum Mythos Rock gehört der Mythos der Jugendbewegung, des Teenage Rampage. Im Text ist dieser vermittelt durch das Bild junger Menschen, die durch Straßen rennen, was sich im bundesrepublikanischen Kontext vor allem auf die Bilder von Demonstrationen der späten 1960er Jahre beziehen lässt. Diese zeigen häufig laufende, sich unterhakende junge Menschen. Das Sich-Unterhaken hatte in der historischen Realität eine praktische Funktion: Es sollte verhindern, dass einzelne Demonstranten von der Polizei herausgegriffen werden. Als mythisches Bild vermittelt es aber den Eindruck von Geschlossenheit. Doch die Vorstellung, sich auf andere verlassen zu können, stammt vor allem aus einem anderen Bereich, aus dem sich der Mythos Rock speist: aus den Ehrenkodizes von Straßengangs oder gewalttätigen Szenen, etwa der der Hooligans. Der Aspekt nur Eingeweihten bekannter codierter Gesten schließlich könnte Musikszenen entnommen sein (vgl. Christian Schlösser: Neu in der Hamburger Schule? Schule, Archiv und Markt in der deutschsprachigen Popmusik der 1990er Jahre. In: Juni-Magazin für Literatur und Politik. H. 41/42 (2007): Deutsches Lied. Volume 2. S. 503-511. Hier: S. 508). So bezieht sich die Vorstellung, die das Sprecher-Ich von einer Jugendbewegung hat, auf ein nicht ohne weiteres an eine konkrete historische Realität rückzubindendes, lediglich im Mythos Rock vermitteltes Bild, dessen Fiktionscharakter das Sprecher-Ich jedoch nicht zu erkennen scheint.
Dass dieses Bild die Vorstellungen des Sprecher-Ichs bestimmt, wird auch an der umgekehrten Kausalverknüpfung in den Zeilen „Jede unserer Handbewegungen / Hat einen besonderen Sinn / Weil wir eine Bewegung sind“ deutlich. ‚Jugendbewegung’ wird nicht als ein Begriff wahrgenommen, mit dem ein soziales Phänomen beschrieben werden kann, sondern zur Entität hypostasiert, erhält einen ontischen Status: So wird nicht aus der Codierung von Gesten abgeleitet, dass es sich um eine Jugendbewegung handelt, was hieße, dass gemäß den Sprachkonventionen dieser Begriff gebraucht werden könne: Es heißt nicht ‚Weil jede unserer Handbewegungen einen besonderen Sinn hat, sind wir eine Bewegung‘; vielmehr wird aus dem Postulat, eine Bewegung zu sein, abgeleitet, dass Gesten codiert seien. Welche Ziele diese Jugendbewegung verfolgt, scheint dem Sprecher-Ich gleichgültig, sein Bedürfnis zielt darauf, dem Mythos Rock zu entsprechen, zu dem eben auch gehört, Teil einer Jugendbewegung zu sein.
Bestandteil dieses Mythos ist es auch, eine Band zu gründen und mit dieser begeistert zu proben – man denke an Bryan Adams’ Summer of 69:
I got my first real six-string
Bougt it at the five-and-dime
Played it ’til my fingers bled
It was the summer of 69Me and some guys from school
Had a band and we tried real hard
[…]
Jedoch kollidiert diese Vorstellung, anders als im Mythos Rock, mit den unmittelbaren Bedürfnissen des Sprecher-Ichs. Diesem Konflikt begegnet es, indem es auf einen anderen Bestandteil des Mythos Rock zurückgreift: Die hedonistisch motivierte Rebellion gegen gesellschaftliche Ansprüche – nur dass diese hier eben nicht von der spießigen Erwachsenenwelt mit ihrer Disziplinierungswut ausgehen (etwa in Form von Schulpflicht und Arbeitsaufforderungen), sondern vom Mythos Rock selbst. Die Reaktion des Sprecher-Ichs fällt, im Vergleich zum übrigen Text, umgangs- und jugendsprachlich aus, klingt wie aus einem Dialog zweier Schulschwänzer: „Oh Mann, ich hab überhaupt kein’ Bock / Oh Mann, ich hab schon was Bess’res vor“. Doch ist diese mündlich und authentisch wirkende Sprache selbst schon klischiert: Die ‚Null Bock-Generation‘ ist 1995 längst soziologisch beschrieben, das „Oh Mann“ gehört fest zur Darstellung genervter Pubertierender in Vorabendserien und Fernsehfilmen. Und so endet auch die Verweigerung gegenüber den stereotypen Verhaltensweisen, wie sie der Mythos Rock vorschreibt, in einer ebenso stereotypen Halbstarkenpose, deren Komik darin gipfelt, dass dem bedeutungsschwer proklamatorischen „Und deshalb sage ich zu dir“ das nach dieser Einleitung gewollt grob wirkende „Darauf scheißen wir“ folgt.
Originalität und Individualität sind im Rock nicht (mehr) möglich. Und so bleibt nur die Sehnsucht nach einem goldenen Zeitalter des authentischen Rock, nach einem unwiderruflich verlorenen Paradies der Unmittelbarkeit.
Martin Rehfeldt, Bamberg
Eine frühere Fassung dieser Interpretation erschien zuerst als Teil folgenden Aufsatzes: Von Lyrics zu Lyrik. Möglichkeiten und Konsequenzen einer Gattungstransformation am Beispiel von Dirk von Lowzows Lyrikband “Dekade 1993-2007″. In: Transitträume. Beiträge zur deutschsprachigen Gegenwartsliteratur Hg. v. Andrea Bartl unter Mitarbeit v. Hanna Viktoria Becker. Augsburg: Weidler 2009 (Germanistik und Gegenwartsliteratur 4), S. 149-189.
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