„Ich entgegnete: Wieso denn? Ist doch nur Fernsehen! Dann schauten wir aus dem Fenster.“ Zu „Balkonfrühstück“ (1981) von Heinz Rudolf Kunze
3. Februar 2014 2 Kommentare
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Heinz Rudolf Kunze Balkonfrühstück Ihr könnt uns kaum verfehlen auf dem Stadtplan liegt es unten rechts dort, wo der Autobahnzubringer mit dem Güterbahnhof beinah kollidiert ein Stückchen weiter liegt das Fitness-Center ein Stückchen näher die U-Bahn-Station und gleich zur Hand das Einkaufszentrum, alles äußerst praktisch konzipiert Ansonsten wohnen hier kaum Leute nur nebenan ein Malermeister samt Frau unten rechts der Malermeistersohn, der seine Kinder dauernd massakriert drüben links ein arbeitsloser Lehrer im Erdgeschoß ein Immobilienbüro schräg gegenüber der Besitzer von der Flaschnerei, der ständig prozessiert Wir laden ein zum Balkonfrühstück am Pfingstmontag im Gewerbegebiet Nürnberg-Süd wo sie leere Laster klauen, wenn volle danebenstehen ja ja Balkonfrühstück am Pfingstmontag im Gewerbegebiet Nürnberg-Süd wen du dich anstrengst, kannst du durch den Frankensmog ein bisschen Sonne sehn Gegenüber bei Nordmende ist Freitagsabends immer Fehlalarm wenn die Putzfrau leise niest und ein hochsensibler Sensor reagiert gegen sieben kommt dann meistens einer von der Bahnpolizei vorbei hört sich das Heulen an und geht dann wieder weg, weil das zu oft passiert Aber spätestens um null Uhr dreißig sind dann auf einen Schlag sechs Streifenwagen da mit gezogenen MPs umzingeln Grüne die Fernsehdeponie dann geht man besser mal kurz runter und sagt den Jungs Bescheid sonst gibt's die ganze Nacht nicht Ruhe, von allein kapieren die das nie Auf geht‘s zum Balkonfrühstück am Pfingstmontag im Gewerbegebiet Nürnberg-Süd der mit dem Preßlufthammer hat heute wohl was andres vor ja ja Balkonfrühstück am Pfingstmontag im Gewerbegebiet Nürnberg-Süd noch Milch? noch Zucker? weder – noch? wir sind ganz Ohr In den Parteitagsgeländeruinen spielt die deutsche Jugend Schaumgummisquash ab und zu spielt auch The Who, und das ganze heißt Zeppelinfeld jeden Sommer entbieten Volksgenossen von der Tribüne ihren deutschen Gruß wenn die Busse kommen mit den Touristen aus Israel In des Führers Kongresshalle sitzt jetzt eine Schallplattenfirma, und dazu ist dort das Polizeidepot für beschlagnahmte Autos zu sehn wenn ich richtig informiert bin soll in diesem Polizeidepot der gesamte Wagenpark der Wehrsportgruppe Hoffmann stehn Was gibt es Schön‘res als Balkonfrühstück am Pfingstmontag im Gewerbegebiet Nürnberg-Süd und die Autos rauschen zum Kaffee fast wie das Meer ja ja Balkonfrühstück am Pfingstmontag im Gewerbegebiet Nürnberg-Süd wo die Wachhunde bellen, als käme irgendjemand her Wenn ihr weg wollt, laßt euch raten: fahrt so früh es irgend geht wenn ihr zu lang zögert, merkt ihr auf der Autobahn: das war zu spät was mich stört in den letzten Wochen wenn ich am Schreibtisch aus dem Fenster schau ist, dass am Güterbahnhof immer ein Transport mit Panzern steht [Heinz Rudolf Kunze: Reine Nervensache. WEA/Oktave Musikverlag 1981.]
Wem das tagtäglich Nachrichtenangebot noch nicht ausreicht bzw. schlicht nicht interessant genug erscheint, kann seine Aufmerksamkeit (seit laut Wikipedia auch schon wieder zwanzig Jahren) – zusätzlich oder stattdessen – auf die in den dritten Programmen der ARD wiederholten Tagesschausendungen von vor 20, 25 oder 30 Jahren richten. Die zum jeweiligen Jahrestag neuaufgelegten Ausgaben sind nicht selten spannender als die der Gegenwart, gehen aber dennoch, da man ja nun weiß, dass zumindest manches Problem letztlich doch nicht ganz so schlimm war, insgesamt etwas weniger an die Nerven. Für entspannte Unterhaltung sorgen auch die Designs der Weltkarten und Sakkos sowie die Moderatoren- und Politikerfrisuren, die Erkennungsmelodie und der Morsecode vor dem Wetterbericht. Hinzu kommt die historische Bildung: In den kommenden Monaten bieten sich den Geschichtslehrern und den auch noch über den Schulunterricht hinaus Interessierten insbesondere die Sendungen der Tagesschau vor 25 Jahren aus dem Wendejahr 1989 an.
Heinz Rudolfs Kunzes 1981 auf der LP Reine Nervensache erschienenes Lied über ein Balkonfrühstück kann von seinen Fans als besonders hörenswerter Auftakt seiner ja immer noch anhaltenden Gesangskarriere hochgehalten werden, kann nostalgische Empfindungen wecken. Die Nachgeborenen bzw. die Leute, die sich weniger für Kunzes Musik begeistern, können dieses Lied zumindest als eine Art Tagesschau vom „Pfingstmontag“ vor 34 Jahren konsumieren. Ein Sprecher-Ich gibt uns von seinem Frühstückstisch Auskünfte über verschiedene Geschehnisse seiner Zeit.
Die geographischen Angaben, die von „Autobahnzubringer“, „Güterbahnhof“, „Fitness-Center“ „U-Bahn-Station“ und „Einkaufszentrum“ berichten, träfen freilich ebenso auf die Ausläufer von z.B. Dortmund, Stuttgart, Hannover etc. zu. Derlei Gegenden fanden und finden sich in diesem Land (wie entsprechend in seinen Liedern) allerorten. Den „Malermeistersohn, der seine Kinder dauernd massakriert“ gibt es ebenfalls überall, genauso den „Besitzer von der Flaschnerei, der ständig prozessiert“, die Sache mit „den arbeitslose[n] Lehrer [n]“ war Ende der siebziger, Anfang der achtziger Jahre im Gegensatz zu heute zumindest medial ein größeres Problem. Alltag mit einigem Zeitkolorit also, ein wenig angereichert durch die Anekdote mit dem „Fehlalarm“ bei der „Fernsehdeponie“ des mittlerweile längst vergessenen Elektronikunternehmens „Nordmende“. Aber selbst dieses Geschehnis wird hier als etwas präsentiert, das „zu oft passiert“.
Konkrete Bedeutung gewinnt das Lied durch seinen lokale Zuordnung: Es geht eben nicht um Dortmund, Stuttgart oder Hannover „unten rechts“, sondern um das „Gewerbegebiet Nürnberg-Süd“, also um eine Gegend, in der sich überdurchschnittlich viel deutsche Geschichte des zwanzigsten Jahrhunderts abspielte, was freilich vor allem an den nationalsozialistischen Reichsparteitagsinszenierungen festgemacht werden muss. Am Umgang der Nürnberger mit ihrem klotzigen Erbe lassen sich exemplarisch die Entwicklungslinien und Schwierigkeiten der Deutschen im Umgang mit ihrer nationalsozialistischen Vergangenheit ablesen. Anfang der 1980er spielte „die deutsche Jugend“ an den Wänden der alten Haupttribüne nicht zu Zwecken des militärischen Drills „Schaumgummisquash“ (bzw. nach Beckers Wimbledon-Sieg Mitte der 1980er vermehrt Tennis), sondern weil es trendy war; bei Konzerten auf dem „Zeppelinfeld“ wie etwa von Bob Dylan 1978 oder hier erwähnt von The Who 1979 wurde statt eisernem Willen der Triumph des Pops gefeiert. Allerdings muss das Sprecher-Ich auch „Volkgenossen“ gegenüber „Touristen aus Israel“ mit dem „deutschen Gruß“ auftreten sehen. So wirft es seine Blicke vom heimischen Balkon auf die „Parteitagsgeländeruinen“ mit jener – für die Generation Kunzes nicht untypischen – Mischung aus ironischer Distanzierung und ausdrücklicher Besorgnis.
Zu den Neonazi-Umtrieben passt die Nennung der „Wehrsportgruppe Hoffmann“, die in den 1970er Jahren mit kruden Manifesten und paramilitärischen Aktivitäten auf sich aufmerksam machte. Damals gruppierten sich um den gebürtigen Nürnberger Karl-Heinz Hoffmann Rechtsextreme zu Schießübungen, Gedenkfeiern, Demonstrationen etc. Aktuell wurde man daran erinnert, weil bislang unklar geblieben ist, inwiefern die Vereinigung für das Oktoberfestattentat 1980 (mit-)verantwortlich war (vgl. Artikel der Süddeutschen Zeitung). Im selben Jahr war sie als verfassungsfeindlich eingestuft und verboten worden. Das Sprecher-Ich stellt die Pointe der Geschichte heraus: „wenn ich richtig informiert bin“ landete der „gesamte Wagenpark“ der Organisation im „Polizeidepot“ in des „Führers Kongresshalle“. In diesen Zusammenhang fügt sich schließlich eine Beobachtung zu Deutschlands Rolle als (damals wie heute) großer Waffenexporteur: Es nervt, dass „am Güterbahnhof immer ein Transport mit Panzern steht“.
In einem sanften Kontrast zu den kritischen Anmerkungen steht die Feiertags- und Frühlingstimmung mit den allzu heiteren Gitarrenklängen, mit Autos, die „wie das Meer rauschen“ und dem beschwingten „Was gibt es Schön‘res“ – ganz normaler deutscher Wahnsinn, subjektiv und doch recht amüsiert präsentiert, was den bemühten Tagesschau-Vergleich dann auch an seine Grenzen stoßen lässt.
Martin Kraus, Bamberg
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