Plädoyer für den Frieden. Zu Tocotronics „Nie wieder Krieg“ (2022)

Tocotronic

Nie wieder Krieg

Nie wieder Krieg, nie wieder Krieg, nie wieder Krieg
Keine Verletzung mehr
Nie wieder Krieg, nie wieder Krieg, nie wieder Krieg
Das ist doch nicht so schwer

Er sieht an sich herab
Wirkt ziemlich abgeschabt
Ein Coupon von Sanifair
Gleitet in die Hand, als er
Durch das Drehkreuz geht
Sich gegenüber steht
Und in den Spiegel schreit:

Nie wieder Krieg, nie wieder Krieg, nie wieder Krieg [...]

Sie sieht vom Balkon herab
An diesem Neujahrstag
An dem das Alte stirbt
Noch nichts geboren wird
Gebete zynisch bleiben
Zieht es durch Kitt und Scheiben
Auf die sie haucht und schreibt:

Nie wieder Krieg, nie wieder Krieg, nie wieder Krieg [...]

Dann hat ein Feuerwerk
Sich in die Luft verirrt
Das in den Himmel schreibt
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Der Mond sieht auf dich herab
Du liest im Horoskop
Sie können erleichtert sein
Man wird ihnen bald verzeih'n
Als ein kleines Kind
Über die Hecke springt
Und an die Wände schreibt:

Nie wieder Krieg, nie wieder Krieg, nie wieder Krieg [...]

Nie wieder Krieg, nie wieder Krieg, nie wieder Krieg
Keine Verhetzung mehr
Nie wieder Krieg, nie wieder Krieg, nie wieder Krieg
Nie wieder Krieg in dir, in uns, in mir

     [Tocotronic: Nie wieder Krieg. Vertigo 2022.]

Vor kurzem hat sich der Beginn des russischen Angriffskriegs auf die Ukraine zum ersten Mal gejährt. Am 24. Februar 2022 griffen Putins Truppen das Nachbarland an. Wie viele Soldaten auf beiden Seiten jeweils gestorben sind, darüber gehen die Angaben weit auseinander und hängen vom jeweiligen Standpunkt ab: Die ukrainische Seite nennt mehr als 135.000 tote russische Soldaten (bis

Anfang Februar 2023), die russische Seite hingegen knapp 6.000 (bis September 2022). Nach russischen Angaben sind etwa 61.000 ukrainische Soldaten gestorben, nach ukrainischen Angaben 13.000 (bis Dezember 2022). Die Zahlen lassen sich aufgrund der aktuellen Situation von unabhängiger Stelle derzeit nicht überprüften, doch wird eines ganz klar: Der Krieg fordert auf beiden Seiten unzählige Opfer und kennt keine Gewinner.

Prophetische Warnung

Tocotronics 13. Studioalbum Nie wieder Krieg, auf dem sich das gleichnamige Lied befindet, wurde nur einen knappen Monat vor Beginn des russischen Überfalls auf die Ukraine Ende Januar 2022 veröffentlicht und wirkt vor diesem Hintergrund wie eine prophetische Warnung. Doch geht es der Band weniger um die großen, weltpolitischen Auseinandersetzungen, sondern vielmehr um die Konflikte, die jeder Mensch mit sich auszustehen hat. „Es ist das persönlichste Album, das wir gemacht haben“, so Dirk von Lowtzow. Er habe sich gefragt, „Was will ich eigentlich mitteilen? Was sind das für Stimmungen, Heimsuchung und Dämonen, denen man ausgesetzt ist“?

Nie wieder Krieg scheint somit an die autobiographische Thematik des Vorgängeralbums Die Unendlichkeit anzudocken (vgl. die Besprechung von Electric Guitar auf diesem Blog). Nie wieder Krieg beinhalte „Lieder über allgemeine Verwundbarkeit, seelische Zerrissenheit und existenzielles Ausgeliefertsein“, so die Band in einem Statement zum Album.

Krieg im Inneren

Der Krieg im Inneren kann sich sowohl auf schlechte Angewohnheiten beziehen – Dirk von Lowtzow bezeichnete sich als „sehr alkoholgefährdet“ in der Vergangenheit –, das eigene Älterwerden – als „juvenile Band“ werden Tocotonic mitunter bezeichnet, oft versehen mit dem Hinweis, die ehemaligen Studenten hätten mittlerweile graue Haare (welch eine Erkenntnis!) – unbedarfte Kindheitsträume, die im Kontrast zur Realität der Erwachsenen-Welt stehen oder die Unzulänglichkeit der eigenen Existenz. Auch ein Bezug zur Bedrohung durch die Pandemie drängt sich auf, allerdings wurden die meisten Lieder des Albums Nie wieder Krieg bereits vor dem Jahr 2020 geschrieben. Auf Einsamkeit, die nicht nur, aber auch durch die Lockdowns während der Pandemie bedingt wurde, lässt sich das Lied Hoffnung, ebenfalls veröffentlicht auf dem Album Nie wieder Krieg, beziehen (vgl. die Interpretation auf diesem Blog).

Eine weitere Deutungsmöglichkeit – nicht jedoch autobiographisch auf Tocotronic zu beziehen – bietet sich, betrachtet man das Geschlecht der im Liedtext besungenen Person/en. Zunächst ist von einer männlichen Person die Rede („er“), später von einer weiblichen („sie“). Es erscheint plausibel, dass damit zwei verschiedene Personen gemeint sind. Denkbar ist jedoch auch, dass damit eine einzige nicht-binäre Person beschrieben wird, d.h. ein Mensch, dessen Geschlechtsidentität weder immer weiblich noch ganz männlich ist. Dagegen spricht, dass nicht-binäre Menschen es häufig vorziehen, ohne ein Pronomen angesprochen zu werden (und man davon ausgehen kann, dass Tocotronic dies berücksichtigt hätten). Allerdings existiert im Deutschen (noch) kein etabliertes Pronomen der dritten Person für Menschen, die sich weder dem einen noch dem anderen Geschlecht eindeutig und immer zugehörig fühlen (vgl. für eine Übersicht bspw. die Webseite nonbinary.ch). Die Interpretation, wonach hier eine einzige, nicht-binäre Person gemeint sein könnte, unterstreicht wiederum das Video. Zu sehen ist eine durch die Nacht wandelnde Person (oder sind es zwei?), deren Äußeres den Schluss nahelegt, sie könne eine genderqueere Identität haben. Hat diese mit einem Krieg in ihrem Inneren zu kämpfen? Ist sie auf der Suche nach sich selbst? Die Person „sieht an sich herab“ und steht sich schließlich „gegenüber“, während sie „in den Spiegel schreit: Nie wieder Krieg. […] Keine Verletzung mehr“. Möchte sie mit ihrem Empfinden ins Reine kommen, sich selbst akzeptieren?

Ein Album wie ein Roman

Tocotronic selbst sind der Auffassung, dass ihr neues Album Nie wieder Krieg auch als Roman oder als Film verstanden werden könne. Dies verwundert nicht, werden die Lieder der Band doch seit Jahren gerne im Rahmen des geisteswissenschaftlichen Diskurses besprochen. Das Album ließe sich als „Desillusionsroman“ verstehen, so Dirk von Lowtzow im Interview. „Weil alle Protagonist*innen auf dem Album mit ihrem eigenen Leben nicht so richtig fertig werden und vielleicht in existenziellen Notlagen oder mindestens einer existenziellen Verwundbarkeit stecken. Viele der Protagonist*innen in den Songs haben Träume gehabt, und diese Träume sind nach und nach zerronnen.“ Nie wieder Krieg sei daher weniger zu verstehen als „pazifistische Botschaft [denn] als eine Art Mantra, mit dem die Protagonistinnen und Protagonisten um Barmherzigkeit flehen“, so von Lowtzow im Gespräch. Nicht umsonst heißt es am Liedende: „Nie wieder Krieg in dir, in uns, in mir“.

Die geplatzten Träume und die Verwundbarkeit werden im Lied deutlich anhand von Gebeten, die nicht etwa Erlösung versprechen, sondern„zynisch bleiben“. Und auch der Ort, an dem sie gesprochen werden, bietet keine Geborgenheit, stattdessen „zieht es durch Kitt und Scheiben“. Überhaupt wohnt den im Lied erwähnten Orten und Zeiten ein Moment des Übergangs inne, der keinen Halt gewährt: Die besungene Person schreitet „durch das Drehkreuz“. Es ist „Neujahrstag“, an dem zwar „das Alte stirbt“, gleichzeitig aber „noch nichts geboren wird“, das Hoffnung und eine Perspektive spenden könnte. Ein Feuerwerk, sonst Symbol freudigen Neubeginns, wird nicht etwa bewusst abgeschossen, sondern hat „sich in die Luft verirrt“.

Gleichzeitig kommt die Ironie nicht zu kurz: Die besungene Person erhält Gesellschaft nur durch den „Mond“, während Erleichterung und Verzeihung lediglich das „Horoskop“ verspricht. Sie hat einen Coupon von Sanifair in der Hand, der Firma, die man von den Toilettenanlagen deutscher Autobahnraststätten kennt. Autobahnraststätten – sie stellen ebenfalls einen Ort des Übergangs und der Reise dar.

Zurück zum Parolen-Pop?

In den 1990er Jahren waren Tocotronic bekannt dafür, mit den Titeln ihrer Lieder gleichsam Parolen oder Slogans zu liefern, die sich auch als T-Shirt-Aufdruck gut machten (vgl. die Besprechung von Über Sex kann man nur auf Englisch singen oder Ich möchte Teil einer Jugendbewegung sein auf diesem Blog). Hieran scheint Nie wieder Krieg anzuknüpfen. Auf dem Album finden sich noch weitere politisch-klare Ansagen, die in den Namen von Liedern wie Jugend ohne Gott gegen Faschismus oder Komm mit in meine freie Welt zum Ausdruck kommen.

Forderung aus dem Jahr 1924

Nie wieder Krieg – diese Forderung prangte bereits auf einem Plakat aus dem Jahr 1924, das Käthe Kollwitz (1867-1945) entworfen hat. Die sozial und politisch engagierte Künstlerin hatte das Plakat für den Mitteldeutschen Jugendtag der Sozialistischen Arbeiterbewegung angefertigt. Hintergrund war das Gedenken an den 10. Jahrestag des Beginns des Ersten Weltkriegs, zu dem 1924 überall in Deutschland Massendemonstrationen stattfanden. Als historisches Vorbild mag der berühmte Plakataufdruck Tocotronic kaum gedient haben – schließlich ist von Seiten der Band, wie bereits erläutert, der Krieg im Inneren gemeint –, dennoch erweist sich ein Vergleich der historischen Situationen als interessant:

In der Weimarer Republik war die pazifistische Forderung Nie wieder Krieg keine Mehrheitsmeinung. Nur eine Minderheit der Deutschen engagierte sich aktiv dafür, auch die wenigsten ehemaligen Frontsoldaten. Vielmehr verzeichneten kriegsverherrlichende, paramilitärische Wehrverbände wie der „Stahlhelm: Bund der Frontsoldaten“ oder der „Deutsche Reichskriegerbund Kyffhäuser“ regen Zulauf. Dies ist heute nicht mehr der Fall, die Gesamtsituation auch kaum auf die deutsche Gegenwart übertragbar; schließlich leidet man nicht an der Schmach eines verlorenen Krieges, sondern überlegt, wie man einen Staat, der völkerrechtswidrig überfallen wurde, unterstützen kann. Es gibt somit ausreichend gute Gründe für Waffenlieferungen an die Ukraine – zu konstatieren ist, dass eine Mehrheit der Deutschen diese Unterstützung für angemessen oder sogar für noch nicht ausreichend hält. Dies belegen aktuelle Umfragen.

1924 Plakat vs. 2022 Musikvideo

Auch ein Vergleich des Plakates von 1924 und des Musikvideos von 2022 erscheint reizvoll:

Auf Käthe Kollwitz’ Plakat ist Dynamik erkennbar: Zu sehen ist eine Person (welchen Geschlechts sie ist, bleibt übrigens unklar), die entschlossen den Arm empor streckt. Die Finger sind zum Schwur geformt, die andere Hand liegt auf dem Herz, die Haare wehen nach hinten, der Gesichtsausdruck ist angespannt, der Mund geöffnet zum Eid: Nie wieder Krieg. Entschlossenheit und Leidenschaft werden deutlich.

Im Video zu Tocotronics Lied Nie wieder Krieg hingegen sieht man die oben bereits erwähnte Person scheinbar verloren durch die verschiedene Transiträume einer nächtlichen Großstadt irren. Sowohl die U-Bahn-Station als auch die mehrspurigen Straßen wirken ausgestorben, was die Einsamkeit der/des nächtlich Wandelnden unterstreicht. Diese/r knackt Nüsse mit der bloßen Hand, verletzt sich selbst, Blut fließt. Im Liedtext heißt es über die besungene Figur, sie „wirkt ziemlich abgeschabt“. Die Ästhetik des Videos unterstreicht den durch den Liedtext gewonnenen Eindruck, hier sei ein Mensch gänzlich unbehaust. Von der Entschiedenheit und Dynamik der Figur auf Käthe Kollwitz’ Plakat ist in Tocotronics Video wenig zu spüren. Schließlich ist der Gegner kein Fremder, sondern wohnt im eigenen Inneren.

Nie wieder Krieg – in seiner Klarheit und Kürze hat der Slogan an Aktualität nicht verloren und könnte auch heute noch, knapp hundert Jahre nach der Entstehung von Käthe Kollwitz’ Plakat, auf Transparenten bei Antikriegsdemonstrationen stehen. Auch wenn sich Tocotronics Nie wieder Krieg nicht auf den Krieg in der Ukraine bezieht, das Lied hören und von Frieden in Europa träumen, darf man freilich allemal.

Isabel Stanoschek, Bamberg

Über deutschelieder
“Deutsche Lieder” ist eine Online-Anthologie von Liedtextinterpretationen. Liedtexte sind die heute wohl meistrezipierte Form von Lyrik, aber zugleich eine in der Literaturwissenschaft vergleichsweise wenig beachtete. Die Gründe für dieses Missverhältnis reichen von Vorurteilen gegenüber vermeintlich nicht interpretationsbedürftiger Popkultur über grundsätzliche Bedenken, einen Songtext isoliert von der Musik zu untersuchen, die Schwierigkeit, eine editorischen Ansprüchen genügende Textfassung zu erstellen, bis zur Problematik, dass, anders als bei Gedichten, bislang kaum ein Korpus von Texten gebildet worden ist, deren Interpretation interessant erscheint. Solchen Einwänden und Schwierigkeiten soll auf diesem Blog praktisch begegnet werden: indem erprobt wird, was Interpretationen von Songtexten leisten können, ob sie auch ohne Einbeziehung der Musik möglich sind oder wie eine solche Einbeziehung stattfinden kann, indem Textfassungen zur Verfügung gestellt werden und im Laufe des Projekts ein Textkorpus entsteht, wenn viele verschiedene Beiträgerinnen und Beiträger ihnen interessant erscheinende Texte vorstellen. Ziel dieses Blogs ist es nicht nur, auf Songtexte als möglichen Forschungsgegenstand aufmerksam zu machen und exemplarisch Zugangsweisen zu erproben, sondern auch das umfangreiche Wissen von Fans zugänglich zu machen, das bislang häufig gar nicht oder nur in Fanforenbeiträgen publiziert wird und damit für die Forschungscommunity ebenso wie für eine breite Öffentlichkeit kaum auffindbar ist. Entsprechend sind nicht nur (angehende) Literaturwissenschaftler/-innen, sondern auch Fans, Sammler/-innen und alle anderen Interessierten eingeladen, Beiträge einzusenden. Dabei muss es sich nicht um Interpretationen im engeren Sinne handeln, willkommen sind beispielsweise ebenso Beiträge zur Rezeptions- oder Entstehungsgeschichte eines Songs. Denn gerade die Verschiedenheit der Beiträge kann den Reiz einer solchen Anthologie ausmachen. Bei den Interpretationen kann es schon angesichts ihrer relativen Kürze nicht darum gehen, einen Text ‘erschöpfend’ auszuinterpretieren; jede vorgestellte Lesart stellt nur einen möglichen Zugang zu einem Text dar und kann zur Weiterentwicklung der skizzierten Überlegungen ebenso anregen wie zum Widerspruch oder zu Ergänzungen. Entsprechend soll dieses Blog nicht zuletzt ein Ort sein, an dem über Liedtexte diskutiert wird – deshalb freuen wir uns über Kommentare ebenso wie über neue Beiträge.

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