Klaustrophobie in der Kleinstadt: Zu Electric Guitar von Tocotronic
9. Februar 2018 1 Kommentar
Tocotronic Electric Guitar In meinem Zimmer Unter dem Garten Fühl ich mich sicher Ich kann‘s euch verraten Ich schnalle dich um Nehme dich in die Hände Und schicke den Sound Zwischen die Wände Ich zieh mir den Pulli vor dem Spiegel aus Teenage Riot im Reihenhaus Ich gebe dir alles und alles ist wahr Electric Guitar Ich erzähle dir alles und alles ist wahr Electric Guitar Am frühen Morgen In die Garage Die Dose Haarspray In meiner Tasche Auf dem Fahrrad zum Postamt Vorbei an Plakaten Ich schicke Briefe Und kann’s kaum erwarten Ich drücke Pickel vor dem Spiegel aus Manic Depression im Elternhaus Ich gebe dir alles und alles ist wahr Electric Guitar Ich erzähle dir alles und alles ist wahr Electric Guitar Die Treppe runter zur Hintertür raus Ich halte das alles hier nicht mehr aus Ein Tagtraum im Regen und Apfelkorn An der Bushaltestelle lungern wir rum Wir erfinden uns selbst als Anarchisten Als unscharfe Bilder auf Fahndungslisten Erkunden uns selbst und wollen es wissen Ich will es jetzt wissen Du ziehst mir den Pulli vor dem Spiegel aus Sex and Drugs im Reihenhaus Ich gebe dir alles, mein Rock’n‘Roll-Star Electric Guitar Du ziehst mir den Pulli vor dem Spiegel aus Manic Depression im Elternhaus Ich gebe dir alles und alles ist wahr Electric Guitar Ich erzähle dir alles und alles ist wahr Electric Guitar Electric Guitar Electric Guitar Electric Guitar Electric Guitar Electric Guitar [Tocotronic: Die Unendlichkeit. Vertigo 2018.]
Es ist Nacht. Mondlicht schimmert durch die Äste. Grillen zirpen. Ein Käuzchen ruft. Sonst ist es still.
Dann setzt die Musik ein. Ein Zimmer ist zu sehen, Plakate an der Wand, schummriges Licht, eine Gitarre. In der Garage ein Motorrad. Die Fahrerin nimmt den Helm ab, streicht sich die Haare aus dem Gesicht, offenbart einen mürrischen Blick. In der Küche ein Mann am Herd, er brät Spiegeleier, stellt Getränke auf den Tisch. Das Mädchen läuft die Treppe hoch, macht die Tür hinter sich zu, atmet tief durch. Ein Schrei aus der Küche, sie versteckt etwas im Schrank.
Daheim im elterlichen Reihenhaus ist das Abendessen fertig.
Mit dieser Szenerie beginnt das Video zu Electric Guitar von Tocotronic, dem dritten Kapitel der Videoreihe zum Album Die Unendlichkeit (2018). Es folgt auf das Video des ersten Kapitels Hey Du und das des zweiten Die Unendlichkeit und bildet mit diesen eine Art Miniserie. Visuell wie lyrisch steht Electric Guitar nicht für sich alleine, sondern bildet einen Puzzleteil eines Lebenszyklus – dem von Sänger und Texter Dirk von Lowtzow. Die zwölf Lieder des zwölften Albums beruhen auf biographischen Notizen, angefangen bei den Kindheitserinnerungen (Tapfer und grausam) und der Jugend (Hey du, Electric Guitar), gefolgt von Aufbruch und Bandgründung (1993), dem Tod eines Freundes (Unwiederbringlich), einem Umzug und einer neuen Liebe (Ausgerechnet du hast mich gerettet), bis in die Zukunft (Mein Morgen) und schließlich in die Unendlichkeit.
Zurück zu den Anfängen
„Ich hatte den Wunsch, im Songschreiben wieder persönlicher zu werden und weniger abstrakt und theorielastig“, erklärt Dirk Von Lowtzow im Interview. Diese Konzeption steht in Abgrenzung zu den letzten Alben der Band, die häufig dem sogenannten Diskurspop zugeordnet und von der Kritik auch schon mal als „Pop für das Universitäts-Seminar“ bezeichnet wurden. Die Liedtexte auf Die Unendlichkeit hingegen sind weniger geprägt von akademischem Schriftgut: „Ich wollte mich mit einfachen Worten, ohne Umwege und ungepanzert mitteilen“, so Dirk von Lowtzow.
Neu ist das nicht: „Die Lieblingsband der deutschen Feuilletons“ (Die Zeit), findet vielmehr zurück zu ihren ersten Alben, die von Prägnanz und Schlichtheit geprägt waren und deren eingängige, elegische Parolen das Publikum direkt ansprachen (vgl. die Besprechungen auf diesem Blog zu Ich möchte Teil einer Jugendbewegung sein und Über Sex kann man nur auf Englisch singen). Was ein Rezensent der Süddeutschen Zeitung über die Alben der 1990er-Jahre schreibt – diese hätten „ein großes Identifikationsangebot an die durch Überbehütung durchschnittlich verlorene junge deutsche Mittelschichtsseele“ geboten –, trifft auch auf Electric Guitar zu.
Begrenzte Freiheit
In Electric Guitar geht es um die Enge im Elternhaus. „Seine Freiburg Diaries finden im neuen Song wieder zu konkreteren Formen“, schreibt ein Kritiker auf laut.de und bezieht sich damit auf Dirk von Lowtzows Herkunft. In dem Lied tauchen Konstanten der Adoleszenz auf, die nicht nur den Bandmitgliedern bekannt sein dürften: Haarspray, Pickel, Apfelkorn, an der Bushaltestelle lungern und natürlich die Electric Guitar. „Mit der Gitarre konnte ich Krach machen, und das gab mir Selbstsicherheit und das Gefühl von Freiheit. Und das fiel genau in die Zeit von erwachender Sexualität“, berichtet der Sänger im Interview über seine Pubertät.
Denn die Freiheit im elterlichen Reihenhaus ist begrenzt: Steht das Abendessen auf dem Tisch, hat man zu erscheinen. Und dabei nicht nur physisch anwesend zu sein. Besucher anderen Geschlechts sind nicht gestattet. Hört der Vater verdächtige Geräusche im Jugendzimmer, steht er in der Tür. Das Video führt den Songtext hier noch weiter. „Man möchte in diesem Video dauernd auf Pause drücken, um sich die liebevoll detailliert ausgestattete Wohn-Höhle oder auch Hölle des Jugendzimmers ganz genau anzuschauen“, schreibt ein Kritiker in der Frankfurter Allgemeinen Zeitung.
Ist es leicht, jung zu sein?
„Ist es leicht, jung zu sein?“ steht auf einem Plakat im Jugendzimmer. Es ließe sich entgegnen: Es ist auch nicht leicht, älter zu werden. Tocotronic bestehen seit 25 Jahren, die Bandmitglieder sind weit jenseits ihrer Zwanziger, gehen auf die 50 zu. Zwar geht es damals wie heute in ihren Liedern um die Reibung mit der Welt und den Menschen, die dort wohnen. Doch die juvenile Auflehnung ist dem „milden Rückblick des gereiften Erwachsenen auf die eigene Jugend“ gewichen (Die Zeit).
Das Video zu Electric Guitar verdeutlicht dies: Das Zusammenleben mit einem Teenager strapaziert die Nerven des Vaters. Seine Versuche, mit dem aggressiven, ablehnenden Verhalten seiner Tochter umzugehen, sie zu kontrollieren, scheitern und demonstrieren nur seine Hilflosigkeit. Erschöpft schläft er im Wohnzimmersessel ein – das Fernsehprogramm, eine Unterwasserwelt mit Fischen, scheint beruhigend gewirkt zu haben.
Im Reihenhaus wirkt alles, mit Ausnahme des Smartphones – herrlich anzuschauen der Disput am Küchentisch – aus der Zeit gefallen: der beleuchtete Globus im Jugendzimmer, die Spitzengardinen, die Flasche Maggi auf dem Küchentisch. Schließlich behandelt Electric Guitar ein zeitloses Phänomen:
Was Weezer 1994 in In The Garage besangen, ist heute nicht weniger aktuell: „In the garage / I feel safe / No one cares about my ways.“ Aus der amerikanischen Garage wird bei Tocotronic ein deutsches Souterrain, das dem unsicheren Teenager als Zufluchtsort dient:
In meinem Zimmer
Unter dem Garten
Fühl ich mich sicher
Ich kann‘s euch verraten
Auch bei Weezer gibt es eine „electric guitar“ und „posters on the wall“. Und auch Sonic Youth besangen schon 1988 einen Teenage Riot.
Die Gitarre als Geliebte
Insbesondere die Electric Guitar ist mit Sehnsucht aufgeladen; der Text schildert ein intensives haptisches wie sinnliches Erleben und liest sich durchaus doppeldeutig:
Ich schnalle dich um
Nehme dich in die Hände
Und schicke den Sound
Zwischen die Wände
Neben der Möglichkeit, mit der Electric Guitar einen mehr oder weniger musikalischen, auf jeden Fall geräuschvollen Teenage Riot anzuzetteln, der garantiert auch die stumpf starrende Nachbarschaft aufschreckt (vgl. das Video zu Hey Du), versinnbildlicht sie ein Bedürfnis nach Liebe: Die Gitarre stelle „aufgrund ihrer Form seit jeher ein Symbol für den weiblichen Körper“ dar (n-tv).
Noch expliziter werden die folgenden Zeilen, aus denen trotzige Entschlossenheit spricht:
Erkunden uns selbst und wollen es wissen
Ich will es jetzt wissenDu ziehst mir den Pulli vor dem Spiegel aus
Sex and Drugs im Reihenhaus
Ich gebe dir alles, mein Rock’n‘Roll-Star
Electric Guitar
Doch das sexuelle Erwachen ist nur ein Teil des Erwachsenwerdens. „In Electric Guitar geht es um so eine Art musikalische Individualisierung oder Selbstwerdung durch Popmusik“, so Dirk von Lowtzow im Interview. Das Lied handele von einem „Gefühl, das jeder jugendliche Gitarren-Fan kennt: In den sechs Saiten und ihrer über Jahrzehnte aufgebauten Aura endlich die Entsprechung eines Selbst zu finden, das man cool finden kann“, schreibt ein Rezensent in der Spex.
Besungen wird eine intensive Beziehung, die sich durch Absolutheit auszeichnet:
Ich gebe dir alles und alles ist wahr
Electric Guitar
Ich erzähle dir alles und alles ist wahr
Electric Guitar
Der Kontrast zu der im Video aufgezeigten Beziehung des Teenagers zum Vater könnte nicht größer sein: Kommunikation findet nicht statt, man geht sich aus dem Weg.
Ausbruch aus der Provinz
Kontakt zur Außenwelt, zu Gleichgesinnten muss hergestellt werden. Ein klassisches Kommunikationsmittel verspricht Linderung – vor der Erfindung des Smartphones und der Verfügbarkeit des Internets im Jugendzimmer – und weckt Sehnsucht:
Ich schicke Briefe
Und kann’s kaum erwarten
Im Video findet die Teenager-Figur, gespielt von der Schauspielerin Jasna Fritzi Bauer, zudem einen Gefährten – ganz analog – im Wald. Halb ohnmächtig sitzt dort ein junger Mann, „dessen Erscheinung zwischen Jesus, Maria und Marilyn Manson changiert“ (FAZ), an einen Baum gelehnt. Sie nimmt ihn bei sich auf, nachdem die beiden bereits in den ersten beiden Videos gemeinsam zu sehen waren: In Hey Du (Kapitel 1) läuft dieser geheimnisvolle junge Mann, ein noch größerer Außenseiter, durch eine Siedlung, verfolgt von den Blicken sämtlicher Einwohner, am Ende trifft er auf eine Motorradfahrerin. In Die Unendlichkeit (Kapitel 2) stehen die beiden Rücken an Rücken, Hand in Hand im Nebel.
Besonders Hey Du unterstreicht noch einmal den Charakter der Kleinstadt als „Diaspora“, als „Schwarzwaldhölle“ – wie es wiederum in 1993 heißt und was man als Hommage an Thomas Bernhard, der einst Freiburg und den Schwarzwald beleidigte, lesen kann. Hier fühlt sich der Jugendliche zunehmend fremd, bis die Verzweiflung so groß ist, dass der Ausbruch geprobt wird:
Die Treppe runter zur Hintertür raus
Ich halte das alles hier nicht mehr aus
Doch weiter als zum Postamt und zur Bushaltestelle geht es nicht. Möglich ist nur die Flucht in einen Tagtraum und in die Phantasie, beflügelt von Plakaten:
Wir erfinden uns selbst als Anarchisten
Als unscharfe Bilder auf Fahndungslisten
Diese versprechen fernab der Provinz Abenteuer und lassen an RAF-Fahndungslisten denken. Welch ein Gegensatz zur braven, bürgerlichen Ordnung und Ruhe im Reihenhaus!
Isabel Stanoschek, Bamberg
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