Zur Unmöglichkeit deutschsprachiger Rockmusik oder warum es dieses Blog eigentlich nicht geben dürfte – Tocotronic: „Über Sex kann man nur auf Englisch singen“
17. Oktober 2011 2 Kommentare
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Tocotronic Über Sex kann man nur auf Englisch singen Über Sex kann man nur auf Englisch singen Allzu leicht kann’s im Deutschen peinlich klingen Und doch gibt’s ein Verlangen zu beschreiben Den Teufel mit dem Beelzebub vertreiben Und ihr wißt, ich rede von bestimmten Dingen Über Sex kann man nur auf Englisch singen Über Frauen kann man schlecht im Deutschen fluchen Man sollte es nicht versuchen Und doch, wenn man sucht, was man begehrt Dann wird das Suchen fluchenswert Und ihr wißt, ich rede von bestimmten Dingen Über Sex kann man nur auf Englisch singen Über Sehnsucht kann man nur schlechte Lieder schreiben Man neigt doch sehr dazu zu übertreiben Und doch, man tut es ungefähr Mit jedem Lied ein bißchen mehr Und ihr wißt, ich rede von bestimmten Dingen Über Sex kann man nur auf Englisch singen Und ihr wißt, ich rede von bestimmten Dingen Über Sex kann man nur auf Englisch singen [Tocotronic: Digital ist besser. L'Age d'Or 1995.]
Dass über Sex im Deutschen nicht gesungen werden kann, bedeutet mehr als den Wegfall eines Themas neben anderen, denn Sex ist das zentrale Thema des Rock, mit dem er von Beginn an bereits über seinen Namen verbunden ist (umgangssprachlich bezeichnete „to rock“ einerseits tanzen, andererseits den Vollzug des Geschlechtsakts). Zur Zeit der Etablierung von Rock’n’Roll war dieser als Tanzmusik sexuell aufgeladen und damit im sexualmoralisch restriktiven Milieu der USA der 1950er Jahre schon materialästhetisch rebellisch. Die in dieser historischen Situation entstandene Vorstellung einer Verbindung der Elemente Musik, Sex und Rebellion bildet bis heute einen zentralen Bestandteil des modernen Mythos Rock’n’Roll. Nachdem die Musik als solche nicht mehr massiv anstößig wirkte, verlagerte sich die sexuelle Provokation noch stärker als zu Beginn auf den textlichen Bereich – man denke etwa an „I can’t get no Satisfaction„, das natürlich auch als Kampfansage an eine lustfeindliche Gesellschaft verstanden wurde.
Über Sex nicht auf deutsch singen zu können, heißt also, dass deutschsprachiger Rock nicht möglich ist. Dies illustriert auch gleich die vierte Zeile des Textes. In der deutschen Redensart „Den Teufel mit Beelzebub vertreiben“, die die Bekämpfung eines Übels mit einem anderen beschreibt, ist der Teufel negativ konnotiert, wogegen er im Rock als Urrebell eine affirmierte Figur ist, auch außerhalb dezidiert mit satanistischer Symbolik spielender oder diese ernsthaft verwendender Szenen wie der Black Metal-Szene, – man denke an Sympathy for the Devil, an „I am the God of Hell Fire“ oder an das auf Rockkonzerten häufig gezeigte Zeichen des gestreckten Zeige- und kleinen Fingers als Darstellung der Teufelshörner. Es ist die deutsche Sprache, die für das, was das Sprecher-Ich ausdrücken möchte, ein rockinkompatibles Bild liefert.
Das mit dieser Redewendung beschriebene Dilemma ergibt sich aus der vorangegangenen Zeile: „Und doch gibt’s ein Verlangen zu beschreiben“. Diese Formulierung kann sowohl bedeuten, dass es ein Verlangen gibt, das beschrieben werden soll, als auch, dass ein Verlangen existiert, das sich darauf richtet zu beschreiben. Diese Mehrdeutigkeit kann als Hinweis darauf interpretiert werden, dass das Sprecher-Ich zwischen Unmittelbarkeit und Mittelbarkeit nicht unterscheiden kann: Ihm ist unklar, ob zuerst das (erotische) Verlangen da ist, das es dann beschreiben möchte, oder der Wunsch, etwas zu beschreiben, wofür ein zu beschreibendes Objekt vonnöten ist. Darin kommt die Unsicherheit des Sprecher-Ichs darüber zum Ausdruck, ob die eigenen Empfindungen, die immer schon vor der Folie ihrer Beschreibung im Rock’n’Roll erlebt werden, authentisch sind oder dem Bedürfnis geschuldet, Rocksongs zu schreiben, wozu eben jene Empfindungen nötig sind.
Der Refrain nimmt dann zunächst mit der Ansprache mehrerer Adressaten die Kommunikationssituation des Rocksängers auf der Bühne auf. Dass das Sprecher-Ich annimmt, das Publikum wisse, wovon die Rede sei, kann darauf bezogen werden, dass es mit der Rocktradition vertraut ist und weiß, von welchen Dingen im Rock auch gesprochen wird, wenn über Sex gesungen wird: „Talking ’bout my generation“, „Talking ’bout a revolution“.
Auch die zweite Strophe lässt sich auf die Problematik des Erwachsenwerdens und Lebens vor der Folie von Rock’n’Roll beziehen und schließt an das „Und doch gibt’s ein Verlangen zu beschreiben“ der ersten Strophe an. Die Formulierung „wenn man sucht, was man begehrt“ lässt offen, ob bereits bewusst ist, was man begehrt und dieses nun gesucht wird, oder ob erst herausgefunden werden muss, was man überhaupt begehrt, weil eben das Begehren als solches – vermittelt durch den Mythos Rock’n’Roll – vorgegeben ist.
Dass es unmöglich ist, sich solchen Vorgaben des Mythos Rock’n’Roll zu entziehen, zumindest als Rocksongtextautor, zeigt dann die Beobachtung des Sprecher-Ichs in der dritten Strophe: Ungeachtet seines Wissens, dass sich Sehnsucht nicht als Thema für Songtexte eignet, erweisen sich die internalisierten Gattungskonventionen als stärker und es kann nicht umhin, dem Genre Rocksongtext gemäß über seine Gefühle zu schreiben. Auch hier ist die Problematik mit der deutschen Sprache verbunden, handelt es sich doch bei „Sehnsucht“ um einen nicht adäquat übersetzbaren Begriff, gewissermaßen um ein spezifisch deutsches Gefühlskonzept, über das sich romantische Kunstlieder, aber eben keine Rocksongs schreiben lassen.–
Martin Rehfeldt, Bamberg
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Diese Interpretation erschien zuerst als Teil folgenden Aufsatzes: Von Lyrics zu Lyrik. Möglichkeiten und Konsequenzen einer Gattungstransformation am Beispiel von Dirk von Lowzows Lyrikband „Dekade 1993-2007“. In: Transitträume. Beiträge zur deutschsprachigen Gegenwartsliteratur Hg. v. Andrea Bartl unter Mitarbeit v. Hanna Viktoria Becker. Augsburg: Weidler 2009 (Germanistik und Gegenwartsliteratur 4), S. 149-189.
Lieber Martin,
gut, dass es den Blog trotzdem gibt;) Ich bin erst ganz kürzlich drauf gestoßen und hatte noch nicht die Muße, mich wirklich damit zu beschäftigen. Aber bald ist ja Weihnachten…
Herzlichen Gruß!
Michael
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