Weicher Kern, Harte Schale, Teil V. Hoffen auf eine bessere Welt. Zu Sidos „Zu wahr“
21. August 2017 Hinterlasse einen Kommentar
Sido Zu wahr Kannst du mir sagen, dass das alles schon in Ordnung ist Dass die Welt ok ist, so wie sie geworden ist? Kannst du mir sagen, dass die Zeiten hier gerecht sind? Wenn vor deinem Auge dein Zuhause einfach wegschwimmt? Wenn man vor lauter Hunger lang schon nicht mehr Hunger sagt Kein Tropfen Wasser und kein Schatten hat bei 100 Grad Jeder Fanatiker und jedes Kind ne Waffe hat Und das im Namen von dem, der uns alle erschaffen hat Oder Flüchtlinge, die Kurs nehmen auf Garten Eden Aber nie mehr in ihrem Leben einen Hafen sehen Wenn in Indonesien über Tausenden das Dach brennt Und du dich feierst, denn dein T-Shirt kostet 8 Cent Vögel voll mit Öl oder Plastik im Bauch Immer wenn ich diese Bilder sehe, raste ich aus Ich mein, ich weiß, du kannst mich hören, aber kannst du mich verstehen? Wo ist die Hoffnung hin? Ich hab sie lang nicht mehr gesehen Es gibt immer einen Weg, daran glaub ich Alle kehren's unter'n Teppich, doch ich trau mich Es wird Zeit, dass es endlich jemand ausspricht Es ist traurig, traurig aber wahr Du da, alles läuft aus dem Ruder Wir wollen immer mehr, doch da ist nirgendwo ein Ufer Das ist alles leider zu wahr Es ist zu wahr, zu wahr um schön zu sein Kannst du mir sagen, dass das alles schon in Ordnung ist Wenn man sich heute nicht mal sicher ist, was morgen ist Wenn alle ihre Augen schließen und lieber alleine bleiben Während sie auf Kinder schießen, nur weil sie mit Steinen schmeißen? So viele Menschen, dass das Wasser nicht reicht Doch sie machen diese Videos mit nem Bucket voll Ice Die meisten treffen sich zur Weihnacht auf nen Abend zu viert Während der Obdachlose leider auf der Straße erfriert Mir stockt der Atem, wenn ich sehen muss, dass sie Menschen verkaufen Auf Minen treten, statt problemlos über Grenzen zu laufen Wenn die Medien ihre Spiele spielen mit unserem Herzen Um unsere Angst zu schüren, um uns zu unterwerfen Vorurteile, Missgunst, Ignoranz und Fremdenhass Ist schon erstaunlich, was die Dummheit aus dem Menschen macht Ich weiß, du kannst mich hören, aber kannst du mich verstehen? Wo ist die Hoffnung hin? Ich hab sie lang nicht mehr gesehen Es gibt immer einen Weg, daran glaub ich […] Ich kann meine Hände auch nicht in Unschuld waschen Wer kann das schon? Ich hoffe nur das der Song dich ein bisschen zum Nachdenken bringt Ich weiß, es ist nicht immer einfach ein guter Mensch zu sein. Aber es kommt auf den Versuch an. Lass es uns versuchen! [Sido: IV. Urban 2015.]
Ein Rapper will die Welt verbessern
An einem Lied, das konkret auf Missstände wie Kinderarbeit und Umweltverschmutzung aufmerksam macht, gibt es sicher in erster Linie inhaltlich wenig zu kritisieren. Ein solches ist Sidos Zu wahr, das in dieser Serie besprochen wird, weil es zwar nicht den Titel ‚zu wahr um schön zu sein‘ hat, diese Zeile aber im Liedtext genutzt wird und „zu wahr“ somit lediglich eine Abkürzung des für diese Serie herangezogenen ‚zu wahr um schön zu sein‘ darstellt. Der Berliner Rapper vollbringt darin einen Rundumschlag gegen die Übel dieser Welt. Er kritisiert die Wasserarmut, dass Menschen verhungern müssen oder Flüchtlinge sterben. Genauso werden Umweltverschmutzung („Vögel voll mit Öl oder Plastik im Bauch“) und die Arbeitsbedingungen in Billiglohnländern („Wenn in Indonesien über Tausenden das Dach brennt / Und du dich feierst denn dein T-Shirt kostet 8 Cent“) thematisiert. Daran, dass Sido diese Probleme so klar thematisiert, ist sicher nichts auszusetzen. Wie wir in Sondaschules Text gesehen haben (siehe Teil III), kann so eine Liste an Missständen auch ironisch gebrochen werden, wobei Sidos klare Stellungnahme den Vorteil hat, dass keine Ambiguitäten bleiben.
Vor dem ersten Teil dieser Auflistung an Problemen wendet sich das Sprecher-Ich direkt an die Rezipienten („Kannst du mir sagen, dass das alles schon in Ordnung ist / Dass die Welt ok ist so wie sie geworden ist? / Kannst du mir sagen, dass die Zeiten hier gerecht sind?“). In erster Linie ist der Text deshalb ein Aufruf, etwas an der Welt zu verändern (siehe zu dieser Thematik auch wieder Teil III). Das direkte Ansprechen des Publikums wird im Text immer wieder angewandt, im Refrain („Du da, alles läuft aus dem Ruder“) und besonders am Ende der Strophen: „Ich mein, ich weiß, du kannst mich hören, aber kannst du mich verstehen? Wo ist die Hoffnung hin?“ Nun, so schwer ist Sidos message sicher nicht nachzuvollziehen. Theoretisch ist eine Abkehr von „Vorurteilen, Missgunst, Ignoranz und Fremdenhass“ nicht schwer zu verstehen.
Die konkreteren Ausführungen sind dabei mal mehr und mal weniger gelungen. Dass beispielsweise religiöser Fanatismus thematisiert wird („Jeder Fanatiker und jedes Kind ne Waffe hat / Und das im Namen von dem, der uns alle erschaffen hat“), dabei aber keine Klischees von radikalem Islamismus aufgerufen werden und sich das Sprecher-Ich stattdessen gegen Fanatismus im Allgemeinen wendet, ist für das Lied, das sich gegen Intoleranz wendet, sicher stimmig. Ähnlich stimmig ist die Kritik an Arbeitsbedingungen bei der Produktion billiger Kleidungsstücke ( „Wenn in Indonesien über Tausenden das Dach brennt / Und du dich feierst, denn dein T-Shirt kostet 8 Cent“), weil dieser sich auch an Hörer von Sidos Lied wendet und gleichzeitig einen ganz konkreten Weg aufzeigt, etwas für eine bessere Behandlung von andere zu tun, nämlich keine Billigkleidung zu kaufen.
Ein Beispiel für problematischere Verse ist: „So viele Menschen dass das Wasser nicht reicht / Doch sie machen diese Videos mit nem Bucket voll Ice“. Selbstverständlich war die Ice Bucket Challenge ein umstrittener Trend, doch die meisten Teilnehmer hatten sicher gute Absichten, und das eingeworbene Geld floss einem guten Zweck zu (siehe Wikipedia). Auch wenn die Verse sprachlich sinnvoll sind, weil sie das Verschwenden eines Eimers Wasser mit dem Verdursten von Menschen entgegenstellen, ist es schwierig nachzuvollziehen, warum eine Spendenaktion für einen guten Zweck mit erschossenen Kindern und erfrierenden Obdachlosen auf eine Ebene gestellt wird. Ähnlich problematisch ist die Rede davon, dass „die Medien ihre Spiele spielen mit unserem Herzen/ um unsere Angst zu schüren, um uns zu unterwerfen“. Besonders im aktuellen politischen Klima, in dem vom amerikanischen Präsidenten bis zur AfD gegen die Presse in ihrer gesamtheit gewettert wird, sind die Zeilen problematisch. Vermutlich zielt Sidos Kritik auf das rechte Spektrum der Medienlandschaft, das Ängste, beispielsweise gegen Flüchtlinge, schürt. Doch bedient er sich dabei einer ähnlichen Rhetorik (besonders „unterwerfen“) wie die, die er kritisieren will, was die Zeilen problematisch macht.
Aber das für mich größte Problem im Text ist, dass das Sprecher-Ich sich als Aufklärer mit überlegener Einsicht geriert. Der Vers „Ich mein, ich weiß, du kannst mich hören aber kannst du mich verstehen?“ suggeriert, dass das Sprecher-Ich selber ‚es‘, also vermutlich die Missstände und Probleme dieser Welt, versteht. Noch deutlicher wird dies im Refrain: „Alle kehren’s unter’n Teppich, doch ich trau mich / Es wird Zeit, dass es endlich jemand ausspricht“. Davon abgesehen, dass das nicht stimmt, weil es zumindest im Internet inzwischen zu jedem gesellschaftlichen und sozialem Missstand Materialen gibt, klingen solche Zeilen doch sehr stark nach Selbstbeweihräucherung (zu dieser Thematik, siehe auch meine Interpretation zu Sidos Augen auf).
Doch Sido scheint selbst zu wissen, dass er es mit seiner positiven Selbsteinschätzung etwas übertrieben hat, und gibt im Outro zu „Ich kann meine Hände auch nicht in Unschuld waschen“. Doch auch diese selbstkritische Einschätzung kann er so stehen lassen und muss nachschieben „Wer kann das schon?“ (ganz anders als die Sprechinstanz in Teil II dieser Reihe). Aber Sido verbindet seine Selbstbewertung mit der Hoffnung, dass man noch etwas verändern kann. So konterkariert der Text auch den überheblichen Ton Sidos etwas, indem er dazu aufruft, gemeinsam etwas an der Welt, die „zu wahr um schön zu sein“ ist, zu ändern: „Lass es uns versuchen!“ Auch wenn Sido inhaltlich nicht immer ins Schwarze trifft und seine Selbstüberschätzung etwas viel wird, hat der Text durch seine Hoffnung auf eine bessere Welt besonders in der jetzigen Zeit durchaus Relevanz.
Epilog
Abschließend lassen sich einige Zusammenfassungen zu der untersuchten Reihe von Liedern, die die Wendung „zu wahr um schön zu sein“ ganz oder teilweise im Titel tragen, machen: fünf unterschiedliche Künstler aus diversen Genres haben ihre ganz eigene Interpretation von „zu schön um wahr zu sein“ gefunden. Namentlich: melancholisch-depressiv (Hämatom), selbstkritisch reflektiert (Onkel Tom), nachdenklich (Dritte Wahl), ironisch verwirrt (Sondaschule) und selbstbewusst-hoffnungsvoll (Sido). Somit ist ein breites Spektrum an Emotionen abgedeckt, die auch von Resignation (Hämatom) und Unsicherheit (Onkel Tom) bis hin zu einem hoffnungsvollen Aufruf etwas zu ändern reichen (Sido).
Es gibt aber auch auffallende Parallelen. Mit der überraschenden Ausnahme Onkel Toms, der die Formulierung Zeilen auf das Sprecher-Ich selbst bezieht, wird ‚die Welt‘ als zu wahr um schön zu sein angesehen. Vier der fünf Lieder ist deshalb auch gemein, dass soziale oder politische Missstände thematisiert werden. Die genaue Ausführung variiert dabei freilich, in Hämatoms Lied führt die Erkenntnis beispielsweise zu einer sehr düsteren Stimmung, während sie bei Sido ins Hoffen auf eine bessere Welt mündet. Ähnlich variabel ist, ob die Texte im Allgemeinen verharren (wie bei Hämatom und Onkel Tom) oder genauere Details angeben, wer die Welt unschön macht (wie bei Dritte Wahl das Streben nach Reichtum oder bei Sondaschule die Umweltverschmutzung).
Kaum ein Lied enthält konkrete Hinweise, wie man die hässliche Welt verändern kann. Am ehesten tut dies Sido noch, wenn er z.B. den Kauf von billigen Kleidungsstücken verurteilt. In der Tat lässt sich in einer gespaltenen Welt, in der eines der wichtigsten Länder der Welt von einem Donald Trump regiert wird und in der die UNO vor einer Hungersnot, die 20 Millionen Menschen betrifft, warnt (vgl. zeit.de), der Feststellung , dass die Welt tatsächlich zu wahr um schön zu sein ist, wenig entgegenhalten. Doch, und hier wird der Text Onkel Toms wieder wichtig, sollte dies auch zur Selbstreflexion führen. Und die Unsicherheiten, die dadurch entstehen, teilen wir alle. Im Zweifel würde ich deshalb für Sidos „Lass es uns versuchen!“ gegenüber Hämatoms „Allein, allein“ plädieren.
Martin Christ, Oxford