Weicher Kern, Harte Schale, Teil V. Hoffen auf eine bessere Welt. Zu Sidos „Zu wahr“

 

Sido

Zu wahr

Kannst du mir sagen, dass das alles schon in Ordnung ist
Dass die Welt ok ist, so wie sie geworden ist?
Kannst du mir sagen, dass die Zeiten hier gerecht sind?
Wenn vor deinem Auge dein Zuhause einfach wegschwimmt?
Wenn man vor lauter Hunger lang schon nicht mehr Hunger sagt
Kein Tropfen Wasser und kein Schatten hat bei 100 Grad
Jeder Fanatiker und jedes Kind ne Waffe hat
Und das im Namen von dem, der uns alle erschaffen hat
Oder Flüchtlinge, die Kurs nehmen auf Garten Eden
Aber nie mehr in ihrem Leben einen Hafen sehen
Wenn in Indonesien über Tausenden das Dach brennt
Und du dich feierst, denn dein T-Shirt kostet 8 Cent
Vögel voll mit Öl oder Plastik im Bauch
Immer wenn ich diese Bilder sehe, raste ich aus
Ich mein, ich weiß, du kannst mich hören, aber kannst du mich verstehen?
Wo ist die Hoffnung hin? Ich hab sie lang nicht mehr gesehen

Es gibt immer einen Weg, daran glaub ich
Alle kehren's unter'n Teppich, doch ich trau mich
Es wird Zeit, dass es endlich jemand ausspricht
Es ist traurig, traurig aber wahr
Du da, alles läuft aus dem Ruder
Wir wollen immer mehr, doch da ist nirgendwo ein Ufer
Das ist alles leider zu wahr
Es ist zu wahr, zu wahr um schön zu sein

Kannst du mir sagen, dass das alles schon in Ordnung ist
Wenn man sich heute nicht mal sicher ist, was morgen ist
Wenn alle ihre Augen schließen und lieber alleine bleiben
Während sie auf Kinder schießen, nur weil sie mit Steinen schmeißen?
So viele Menschen, dass das Wasser nicht reicht
Doch sie machen diese Videos mit nem Bucket voll Ice
Die meisten treffen sich zur Weihnacht auf nen Abend zu viert
Während der Obdachlose leider auf der Straße erfriert
Mir stockt der Atem, wenn ich sehen muss, dass sie Menschen verkaufen
Auf Minen treten, statt problemlos über Grenzen zu laufen
Wenn die Medien ihre Spiele spielen mit unserem Herzen
Um unsere Angst zu schüren, um uns zu unterwerfen
Vorurteile, Missgunst, Ignoranz und Fremdenhass
Ist schon erstaunlich, was die Dummheit aus dem Menschen macht
Ich weiß, du kannst mich hören, aber kannst du mich verstehen?
Wo ist die Hoffnung hin? Ich hab sie lang nicht mehr gesehen

Es gibt immer einen Weg, daran glaub ich […]

Ich kann meine Hände auch nicht in Unschuld waschen
Wer kann das schon? Ich hoffe nur das der Song dich ein bisschen zum Nachdenken bringt
Ich weiß, es ist nicht immer einfach ein guter Mensch zu sein. 
Aber es kommt auf den Versuch an.
Lass es uns versuchen!

     [Sido: IV. Urban 2015.]

Ein Rapper will die Welt verbessern

An einem Lied, das konkret auf Missstände wie Kinderarbeit und Umweltverschmutzung aufmerksam macht, gibt es sicher in erster Linie inhaltlich wenig zu kritisieren. Ein solches ist Sidos Zu wahr, das in dieser Serie besprochen wird, weil es zwar nicht den Titel ‚zu wahr um schön zu sein‘ hat, diese Zeile aber im Liedtext genutzt wird und „zu wahr“ somit lediglich eine Abkürzung des für diese Serie herangezogenen ‚zu wahr um schön zu sein‘ darstellt. Der Berliner Rapper vollbringt darin einen Rundumschlag gegen die Übel dieser Welt. Er kritisiert die Wasserarmut, dass Menschen verhungern müssen oder Flüchtlinge sterben. Genauso werden Umweltverschmutzung („Vögel voll mit Öl oder Plastik im Bauch“) und die Arbeitsbedingungen in Billiglohnländern („Wenn in Indonesien über Tausenden das Dach brennt / Und du dich feierst denn dein T-Shirt kostet 8 Cent“) thematisiert. Daran, dass Sido diese Probleme so klar thematisiert, ist sicher nichts auszusetzen. Wie wir in Sondaschules Text gesehen haben (siehe Teil III), kann so eine Liste an Missständen auch ironisch gebrochen werden, wobei Sidos klare Stellungnahme den Vorteil hat, dass keine Ambiguitäten bleiben.

Vor dem ersten Teil dieser Auflistung an Problemen wendet sich das Sprecher-Ich direkt an die Rezipienten („Kannst du mir sagen, dass das alles schon in Ordnung ist / Dass die Welt ok ist so wie sie geworden ist? / Kannst du mir sagen, dass die Zeiten hier gerecht sind?“). In erster Linie ist der Text deshalb ein Aufruf, etwas an der Welt zu verändern (siehe zu dieser Thematik auch wieder Teil III). Das direkte Ansprechen des Publikums wird im Text immer wieder angewandt, im Refrain („Du da, alles läuft aus dem Ruder“) und besonders am Ende der Strophen: „Ich mein, ich weiß, du kannst mich hören, aber kannst du mich verstehen? Wo ist die Hoffnung hin?“ Nun, so schwer ist Sidos message sicher nicht nachzuvollziehen. Theoretisch ist eine Abkehr von „Vorurteilen, Missgunst, Ignoranz und Fremdenhass“ nicht schwer zu verstehen.

Die konkreteren Ausführungen sind dabei mal mehr und mal weniger gelungen. Dass beispielsweise religiöser Fanatismus thematisiert wird („Jeder Fanatiker und jedes Kind ne Waffe hat / Und das im Namen von dem, der uns alle erschaffen hat“), dabei aber keine Klischees von radikalem Islamismus aufgerufen werden und sich das Sprecher-Ich stattdessen gegen Fanatismus im Allgemeinen wendet, ist für das Lied, das sich gegen Intoleranz wendet, sicher stimmig. Ähnlich stimmig ist die Kritik an Arbeitsbedingungen bei der Produktion billiger Kleidungsstücke ( „Wenn in Indonesien über Tausenden das Dach brennt / Und du dich feierst, denn dein T-Shirt kostet 8 Cent“), weil dieser sich auch an Hörer von Sidos Lied wendet und gleichzeitig einen ganz konkreten Weg aufzeigt, etwas für eine bessere Behandlung von andere zu tun, nämlich keine Billigkleidung zu kaufen.

Ein Beispiel für problematischere Verse ist: „So viele Menschen dass das Wasser nicht reicht / Doch sie machen diese Videos mit nem Bucket voll Ice“. Selbstverständlich war die Ice Bucket Challenge ein umstrittener Trend, doch die meisten Teilnehmer hatten sicher gute Absichten, und das eingeworbene Geld floss einem guten Zweck zu (siehe Wikipedia). Auch wenn die Verse sprachlich sinnvoll sind, weil sie das Verschwenden eines Eimers Wasser mit dem Verdursten von Menschen entgegenstellen, ist es schwierig nachzuvollziehen, warum eine Spendenaktion für einen guten Zweck mit erschossenen Kindern und erfrierenden Obdachlosen auf eine Ebene gestellt wird. Ähnlich problematisch ist die Rede davon, dass „die Medien ihre Spiele spielen mit unserem Herzen/ um unsere Angst zu schüren, um uns zu unterwerfen“. Besonders im aktuellen politischen Klima, in dem vom amerikanischen Präsidenten bis zur AfD gegen die Presse in ihrer gesamtheit gewettert wird, sind die Zeilen problematisch. Vermutlich zielt Sidos Kritik auf das rechte Spektrum der Medienlandschaft, das Ängste, beispielsweise gegen Flüchtlinge, schürt. Doch bedient er sich dabei einer ähnlichen Rhetorik (besonders „unterwerfen“) wie die, die er kritisieren will, was die Zeilen problematisch macht.

Aber das für mich größte Problem im Text ist, dass das Sprecher-Ich sich als Aufklärer mit überlegener Einsicht geriert. Der Vers „Ich mein, ich weiß, du kannst mich hören aber kannst du mich verstehen?“ suggeriert, dass das Sprecher-Ich selber ‚es‘, also vermutlich die Missstände und Probleme dieser Welt, versteht. Noch deutlicher wird dies im Refrain: „Alle kehren’s unter’n Teppich, doch ich trau mich / Es wird Zeit, dass es endlich jemand ausspricht“. Davon abgesehen, dass das nicht stimmt, weil es zumindest im Internet inzwischen zu jedem gesellschaftlichen und sozialem Missstand Materialen gibt, klingen solche Zeilen doch sehr stark nach Selbstbeweihräucherung (zu dieser Thematik, siehe auch meine Interpretation zu Sidos Augen auf).

Doch Sido scheint selbst zu wissen, dass er es mit seiner positiven Selbsteinschätzung etwas übertrieben hat, und gibt  im Outro zu „Ich kann meine Hände auch nicht in Unschuld waschen“. Doch auch diese selbstkritische Einschätzung kann er so stehen lassen und muss nachschieben „Wer kann das schon?“ (ganz anders als die Sprechinstanz in Teil II dieser Reihe). Aber Sido verbindet seine Selbstbewertung mit der Hoffnung, dass man noch etwas verändern kann. So konterkariert der Text auch den überheblichen Ton Sidos etwas, indem er dazu aufruft, gemeinsam etwas an der Welt, die „zu wahr um schön zu sein“ ist, zu ändern: „Lass es uns versuchen!“ Auch wenn Sido inhaltlich nicht immer ins Schwarze trifft und seine Selbstüberschätzung etwas viel wird, hat der Text durch seine Hoffnung auf eine bessere Welt besonders in der jetzigen Zeit durchaus Relevanz.

Epilog

Abschließend lassen sich einige Zusammenfassungen zu der untersuchten Reihe  von Liedern, die die Wendung „zu wahr um schön zu sein“ ganz oder teilweise im Titel tragen, machen: fünf unterschiedliche Künstler aus diversen Genres haben ihre ganz eigene Interpretation von „zu schön um wahr zu sein“ gefunden. Namentlich: melancholisch-depressiv (Hämatom), selbstkritisch reflektiert (Onkel Tom), nachdenklich (Dritte Wahl), ironisch verwirrt (Sondaschule) und selbstbewusst-hoffnungsvoll (Sido). Somit ist ein breites Spektrum an Emotionen abgedeckt, die auch von Resignation (Hämatom) und Unsicherheit (Onkel Tom) bis hin zu einem hoffnungsvollen Aufruf etwas zu ändern reichen (Sido).

Es gibt aber auch auffallende Parallelen. Mit der überraschenden Ausnahme Onkel Toms, der die Formulierung Zeilen auf das Sprecher-Ich selbst bezieht, wird ‚die Welt‘ als zu wahr um schön zu sein angesehen. Vier der fünf Lieder ist deshalb auch gemein, dass soziale oder politische Missstände thematisiert werden. Die genaue Ausführung variiert dabei freilich, in Hämatoms Lied führt die Erkenntnis beispielsweise zu einer sehr düsteren Stimmung, während sie bei Sido ins Hoffen auf eine bessere Welt mündet. Ähnlich variabel ist, ob die Texte im Allgemeinen verharren (wie bei Hämatom und Onkel Tom) oder genauere Details angeben, wer die Welt unschön macht (wie bei Dritte Wahl das Streben nach Reichtum oder bei Sondaschule die Umweltverschmutzung).

Kaum ein Lied enthält konkrete Hinweise, wie man die hässliche Welt verändern kann. Am ehesten tut dies Sido noch, wenn er z.B. den Kauf von billigen Kleidungsstücken verurteilt. In der Tat lässt sich in einer gespaltenen Welt, in der eines der wichtigsten Länder der Welt von einem Donald Trump regiert wird und in der die UNO vor einer Hungersnot, die 20 Millionen Menschen betrifft, warnt (vgl. zeit.de), der Feststellung , dass die Welt tatsächlich zu wahr um schön zu sein ist, wenig entgegenhalten. Doch, und hier wird der Text Onkel Toms wieder wichtig, sollte dies auch zur Selbstreflexion führen. Und die Unsicherheiten, die dadurch entstehen, teilen wir alle. Im Zweifel würde ich deshalb für Sidos „Lass es uns versuchen!“ gegenüber Hämatoms „Allein, allein“ plädieren.

Martin Christ, Oxford

Schuld sind immer die Eltern: Erziehungstips von unerwarteter Seite in Sidos „Augen Auf“ und Knorkators „Kinderlied“

Sido

Augen auf

Hey, hallo Kinder! (Hallo Sido!)
Hi Anna, Hi Thorsten und die andern.
Levent, leg das Handy weg!
OK, soll ich euch mal 'ne Geschichte erzählen? (Ja!)
Dann hört zu jetzt!

Die kleine Jenny war so niedlich, als sie sechs war
Doch dann bekam Mama ihre kleine Schwester
Jetzt war sie nicht mehr der Mittelpunkt, sie stand hinten an
Und dann mit zwölf fing sie hemmungslos zu trinken an
Das war sowas wie ein Hilfeschrei, den keiner hört
Bei jedem Schluck hat sie gedacht: „Bitte, Mama, sei empört!"
Doch Mama war nur selten da, keiner hat aufgepasst
Papa hat lieber mit Kollegen einen drauf gemacht
Jenny war draußen mit der Clique, hier war sie beliebt
Hier wird man verstanden, wenn man oft zu Hause Krise schiebt
Sie ging mit 13 auf Partys ab 18
Schminken wie 'ne Nutte und dann rein in das Nachtleben
Ecstasy, Kokain, ficken auf'm Weiberklo
Flatrate saufen, 56 Tequila Shots einfach so
Wieviel mehr kann dieses Mädchen vertragen?
Und ich sag: Kinder kommt, wir müssen den Eltern was sagen
Und das geht (Hey)

Mama, mach die Augen auf! (Aha)
Treib mir meine Flausen aus!
Ich will so gern erwachsen werden
Und nicht schon mit 18 sterben
(Hey) Papa, mach die Augen auf (Aha)
Noch bin ich nicht aus'm Haus
Du musst trotz all der Schwierigkeiten
Zuneigung und Liebe zeigen

(Yeah) Der kleine Justin war nicht gerade ein Wunschkind
Doch seine Mama ist der Meinung abtreiben gleich umbringen
Das Problem war nur, dass Papa was dagegen hatte
Deshalb fand man Justin nachts in der Babyklappe (Oh Scheiße!)
Er wuchs von klein auf im Heim auf
Doch wenn der Betreuer was sagte, gab er ein' Scheiß drauf
Er hat schnell gemerkt, dass das nicht sein Zuhause ist
Hier gibt man dir das Gefühl, dass du nicht zu gebrauchen bist
Dass er jemals 18 wird, kann man nur wenig hoffen
Denn er raucht mit sechs, kifft mit acht und ist mit zehn besoffen
Sag, wieviel mehr kann dieser Junge vertragen?
Und ich sag: Kinder kommt, wir müssen den Eltern was sagen
Und das geht (Hey)

Mama mach die Augen auf! (Aha) [...]

Ein Kind zu erziehen ist nicht einfach, ich weiß das
So hast du immer was zu tun, auch wenn du frei hast
Pass immer auf, du musst ein Auge auf dein Balg haben
Am besten lässt du's eine Glocke um den Hals tragen
Kinder sind teuer, also musst du Geld machen
Du musst Probleme erkennen und sie aus der Welt schaffen
Du musst zuhören, in guten und in miesen Zeiten
Du musst da sein, und du musst Liebe zeigen
Wer Kinder macht, der hat das so gewollt
Doch sobald es ernst wird mit der Erziehung, habt ihr die Hosen voll
Wie viel mehr kann die Jugend in Deutschland vertragen? (Wie viel?)
Hört hin, wenn eure Kinder euch jetzt was sagen
Und das geht (Hey)

Mama, mach die Augen auf! (Aha) [...]
(Hey)
Mama, mach die Augen auf! (Aha) [...]

     [Sido: Augen auf / Halt dein Maul. Aggro Berlin 2008.]

Knorkator

Kinderlied

Unsere Väter sind Versager,
haben's nie zu was gebracht,
träumten stets vom großen Durchbruch,
doch das ist nicht so einfach.
 
Heute steh'n sie vor den Trümmern
ihrer schnöden Existenz,
machen immer noch den Affen
für ein paar hundert Fans.
 
Mittlerweile über vierzig,
alle Skrupel abgelegt,
wird jetzt schon der eigene Nachwuchs
mit ins Rennen geschickt.
 
"Komm, wir machen euch zum Popstar",
haben sie vergnügt gesagt.
Doch ob wir das wirklich wollen,
hat uns niemand gefragt.
 
Nun stehn wir da
im Rampenlicht,
werden vorgeführt.
Man starrt uns an.
Wir können uns nicht wehren.
Sind viel zu klein
fürs Business,
für den Rock'n'Roll,
fühl'n uns verheizt
für eure Gier und Eitelkeit.
 
Schon allein die schräge Wortwahl,
die mir fast die Zunge bricht
und meiner kindlichen Rhetorik
überhaupt nicht entspricht.
 
Außerdem kann ich nicht singen,
doch die Technik macht das schon.
Editiert ist am Computer
jeder einzelne Ton.
 
Nun stehn wir da [...]

     [Knorkator: Kinderlied. Tubareckorz 2008.]

Wem würde man wohl weniger zutrauen, hilfreiche Erziehungstips zu geben, einem Berliner Gangsta-Rapper oder einem fäkal-humoristischen Metalsänger? Überaschenderweise geben ausgerechnet zwei solche Künstler ihrem Publikum Ratschläge zum richtigen Umgang mit ihren Sprösslingen. Beiden Liedern ist gemein, dass eine falsche Behandlung der Nachkommen moniert wird – im Falle Knorkators das Ausnutzen der Kinder aus finanziellen Gründen und bei Sido die Vernachlässigung der elterlichen Fürsorge mit drastischen Folgen.

Beide Songs werden zum Teil (Augen auf) bzw. komplett (Kinderlied) von Jungspunden gesungen. Bei Knorkator bilden im gesamten Lied die Kinder der Bandmitglieder, die ihre Väter kritisieren, die Sprecher. Bei Sido hingegen rappt der Künstler die Strophen und Teile des Refrains selbst. Sido besingt in den Strophen in der Dritten Person vernachlässigte Kinder, um dann aus Rolle der Kinder Eltern im Refrain Ratschläge zu erteilen. Dabei verlässt er im gesamten Lied nie die Rolle des moralisch-erzieherisch Überlegenen. Sido gibt anderen Eltern Empfehlungen und kritisiert sie mit einer Bestimmtheit, die suggeriert, dass er selber genau weiß, wie gute Erziehung auszusehen hat. Allerdings sind dann dafür, dass er eine derartige Besserwisserei an den Tag legt („wir müssen den Eltern was sagen“) die Ratschläge doch sehr allgemein gehalten („Zuneigung und Liebe zeigen“). Sozialkritisch wird dabei hingegen kaum argumentiert. Eine detaillierte Problematisierung politischer Versäumnisse im Heimwesen unterbleibt ebenso wie der Hinweis auf mögliche soziale Ursachen für das Versagen der Eltern. Seine moralische Autorität zieht der sich als Opa Besserwisser gerierende Sprecher dabei anscheinend – wie auch in Erziehungsratgebern üblich – aus eigener Erfahrung: „Ein Kind zu erziehen ist nicht einfach, ich weiß das“.

Der Eindruck der moralisierenden Besserwisserei verstärkt sich noch, wenn man einzelne Verse aus dem Text greift. Passagen wie „Schminken wie ’ne Nutte und dann rein in das Nachtleben / Ecstasy, Kokain, ficken auf’m Weiberklo“ illustrieren das generell probelmatische Verhältnis von Rap zu Frauen. Aufgrund als übertrieben empfundener Schminke eine Person (wohlgemerkt eine 13-jährige) in die Nähe einer Nutte zu stellen, stellt eine Spielart von ‚slut shaming‘ dar, bei dem der Kleidungsstil oder das Auftreten einer Frau als ‚Einladung‘ verstanden wird. Dass dies auch noch von einem (inzwischen) wohlhabenden Mann getan wird, ist zwar leider typisch, macht die Aussage aber nur noch verstörender. Interessant ist hier auch, dass Drogenkonsum und sexuelle Aktivität als Zeichen sozialen Abstiegs ausgelegt werden, wohingegen sie in ähnlichen Raptexten, auch solchen Sidos, stolz zur Schau getragen werden. Bei solchen Aussagen fragt man sich, woher Sido seine Kompetenzen auf dem Feld der Erziehung zieht. Der Rapper feiert andernorts seine eigenen Jugensünden (vgl. die Interpretation von Bilder im Kopf) gesteht solche aber, so suggeriert die extreme Sprache, nicht den Mädchen zu.

Doch die moralischen Wertungen enden hier noch nicht: Sido hat offensichtlich auch eine klare Meinung über Abtreibungen: „Doch seine Mama ist der Meinung abtreiben gleich umbringen / […] Deshalb fand man Justin nachts in der Babyklappe.“ Die weitere Beschreibung von Justins Leben scheint nahe zu legen, dass die Mutter das Kind hätte abtreiben sollen. Im Gegenzug zur wertliberalen impliziten Empfehlung einer Abtreibung zeichnet Sido dann aber wiederum ein eher konservatives Familienbild: Im Refrain und in den ersten beiden Strophen werden beide Elternteile angesprochen, was nahelegt, dass für Sido eine gelungene Erziehung nur durch Vater und Mutter vorstellbar ist. Auch die erteilten Erziehungsratschläge selbst erscheinen widersprüchlich: Einerseits wird Zuwendung empfohlen, andererseits gehören die von den Kindern selbst eingeforderten und vom Sprecher propagierten Erziehungsmethoden Strafe („Treib mir meine Flausen aus!“) und Kontrolle („Pass immer auf, du musst ein Auge auf dein Balg haben / Am besten lässt du’s eine Glocke um den Hals tragen“) ins klassische Repertoire autoritärer Erziehung.

Noch pathetischer wird es, wenn sich Sido im Refrain zum Sprecher für die Jugend Deutschlands stilisiert: „Wie viel mehr kann die Jugend in Deutschland vertragen?“ Dieser Vers wird nicht von einem kindlichen Sprecher-Ich gesungen, sondern Sido muss den Kindern (im Gegensatz zur Sprechsituation in Knorkators Lied) die Worte aus dem Mund nehmen und als starker (männlicher) Beschützer der Kinder, ja ganz Deutschlands auftreten. Dementsprechend ist es auch Sido selber, der im zum Song gehörenden Video in Kinderkleidern auftritt. Im Prolog zum Lied („Hey, hallo Kinder! […]“) wendet sich Sido erzieherisch an die Kinder. Im Verlauf des Liedes tut er dies aber auch gegenüber jeglichen Rezipienten. Sido will die Kinder Deutschlands beschützen. Nur, dass ihn keiner darum gebeten hat.

Erfrischend sind dagegen die humoristisch-selbstironischen Erziehungsweisheiten Knorkators, die sich selber und ihre Empfehlungen nicht so ernst nehmen wie Sido dies tut. Knorkator gehen von ihrem eigenen Erfahrhungshorizont aus und verstehen sich nicht als Repräsentanten der Kinder Deutschlands. In erster Linie handelt es sich hier zwar um einen Kommentar zum Showbusiness, aber in einer anderen Lesart kann sich das Lied auch auf Erziehung allgemein beziehen. In für sie typischer Manier nimmt sich die Band zunächst einmal selber auf die Schippe und vermeidet dadurch die bei Sido so stark ausgeprägte Besserwisserei. Schon in der ersten Strophe werden die Väter als „Versager“ bezeichnet und monieren die Kinder deren verpassten Durchbruch. Hier belehren die Kinder ihre Eltern („doch das ist nicht so einfach“), sie selbst singen das ganze Lied und benötigen kein Sprachrohr, wie das bei Sido der Fall ist. Auch wenn sie sich „nicht wehren“ können und für ihre Väter auf die Bühne geschickt werden, melden sie sich doch zumindest im Lied autonom zu Wort.

Im Gegensatz zu der radikalen Sichtweise Sidos, bei dem die Vernachlässigung zum Tod der Kinder zu führen droht („Ich will so gern erwachsen werden / Und nicht schon mit 18 sterben“), beschweren sich Knorkators Sprösslinge lediglich darüber, dass ihre Väter sie auf Grund des mangelnden Erfolges auf die Bühne schicken und sie ungefragt zu Popstars machen wollten. Es geht hier also um das Mitspracherecht von Kindern und Jugendlichen bei Entscheidungen, die über sie getroffen werden. Knorkator treten hier selbstkritisch auf, aber ermöglichen dennoch eine breitere Identifikation mit anderen Eltern, die ihre Kinder in ihre eigenen Vorstellungen zwängen, sei dies nun im Sportverein, beim Instrumentlernen, in der Schule oder eben auf der Bühne. Im Gegensatz zu Sido sehen sich Knorkator aber selbst dieser Kritik ausgesetzt und stellen sich damit auf die selbe Ebene wie die in dieser abstrahierenden Lesart mitkritisierten Eltern. In Knorkators Kinderlied werden, und hierin besteht ein weiterer Unterschied zu Sido, ausschließlich die Väter angesprochen, da die Kinder sich an die männlichen Bandmitglieder richten. Dass der starke pater familias dabei ausgerechnet von seinen eigenen Kindern kritisert wird, kann auch als Dekonstruktion einer hierarchischen Familienstruktur verstanden werden.

Auch wenn Sido mit wesentlich drastischeren Bildern arbeitet, wirken seine Vorschläge für eine bessere Erziehung zugleich banal und arrogant. Knorkator hingegen finden ein adäquates Mittel, indem sie sich nicht anmaßen, mehr zu wissen als die Rezipienten ihres Songs und sich selber „zum Affen“ machen, wie ihre Kinder singen. Auch wenn es in Knorkators Lied primär um die Band selber geht, werden doch auch größere erzieherische Themen angeschnitten. Sido wirkt als Weltretter in einem sprachlich wie inhaltlich fragwürdigen Lied wenig überzeugend, wohingegen Knorkator, indem sie sich aus Kindersicht selbst kritisieren, auch anderen Eltern einen Anlass zur Selbstreflexion liefern, ohne dabei eine überlegene Stellung für sich zu reklamieren. Was würden die selbstbestimmten Jugendlichen in Konorkators Lied wohl sagen, wenn ihnen ein Mann mit silberner Maske vorschreiben würde, wie sie sich zu schminken haben?

Martin Christ, Oxford

Das fragmentierte Selbst: Sidos „Bilder im Kopf“

Der Science Academy Baden-Württemberg/ Junior Akademie Adelsheim, besonders den geisteswissenschaftlichen Kursen, gewidmet

Sido

Bilder im Kopf

In einem schwarzen Fotoalbum mit 'nem silbernen Knopf
Bewahr' ich alle diese Bilder im Kopf
Ich weiß noch damals, als ich jung und wild war im Block
Ich bewahr' mir diese Bilder im Kopf
In einem schwarzen Fotoalbum mit 'nem silbernen Knopf
Bewahr' ich alle diese Bilder im Kopf
Ich weiß noch, als wir das erste Mal gechillt haben im Loft
Ich bewahr' mir diese Bilder im Kopf

Es war einmal vor langer langer Zeit
Vor 32 Jahren, als Mama schwanger war, sie schreit 
Denn ich komme! Ich war so süß ohne die Haare am Sack
Aber die wachsen schon noch, warte mal ab
Ich bin im Osten aufgewachsen, bis ich neun war
Orangenes Licht und graue Häuser, dann der Aufbruch ins Neuland
An der Entscheidung kann ich nicht nur Gutes lassen
Denn es war nicht immer einfach für uns drei, hier Fuß zu fassen
Aber alles hat sich eben so ergeben und mein Vater 
Über den will ich nicht reden, ich erwarte nichts mehr
Ich wollte keinem glauben, traute nur ein paar Gesichtern
Nachts draußen, die Augen kannten nur Straßenlichter

Konserviert und archiviert, ich hab's gespeichert
Paraphiert und nummeriert, damit ich's leicht hab'
Wenn die Erinnerung auch langsam verschwindet
Weiß ich immerhin genau, wo man sie findet

In einem schwarzen Fotoalbum mit 'nem silbernen Knopf [...]

Damals auf'm Hof mit Bobby und so
Dieses Rap-Ding unser neues Hobby und so
Und dieses Gras-Ding zwei Gramm auf Kommi und so
Wir haben geträumt, wir wären ein Promi und so
Ich zog' die Jordans mit den Löchern an und dann 'ne Runde Basketball
In der Raucherecke stand Jamal am Marterpfahl
Ob wir Spaß hatten damals, rate mal
Aber die Schulwand haben wir nicht nur zum Spaß bemalt
Uni passte nicht in meine Welt, nicht mal ein halbes Semester
Wir brauchten Geld, wir waren Rebellen, wir wussten alles besser
Wir haben rumgehangen und Mucke gemacht
Das Mikrofon im Kleiderschrank, wir haben gewusst, dass es klappt

Und jetzt ist es konserviert und archiviert, ich hab's gespeichert
Paraphiert und nummeriert, damit ich's leicht hab'
Wenn die Erinnerung auch langsam verschwindet
Weiß ich immerhin genau, wo man sie findet

In einem schwarzen Fotoalbum mit 'nem silbernen Knopf [...]

In meinem schwarzen Fotoalbum mit dem silbernen Knopf
Sind viele Bilder von 'nem Typ mit 'nem silbernen Kopf
Und viele Bilder von guten Freunden und Freunden die Feinde wurden
Von Autos mit 1000 PS und Bräuten mit geilen Kurven
Von Partys, von Konzerten, von den Brüchen, von den Ärzten
Von den Zeugnissen, dem letzten bis zum ersten
Ich hab Bilder von den Feiertagen, Bilder von mei'm Opa
Ich war so verdammt traurig, als er tot war

Doch ich hab es konserviert und archiviert, ich hab's gespeichert
Paraphiert und nummeriert, damit ich's leicht hab'
Denn ich weiß genau, bei mir läuft's nicht für immer rund
Doch was mir bleibt, ist die Erinnerung

In einem schwarzen Fotoalbum mit 'nem silbernen Knopf [...]

Ich weiß noch (Ich weiß noch, ich weiß noch, ich weiß noch)
Ich weiß noch (Ich weiß noch, ich weiß noch, ich weiß noch)

     [Sido: Bilder im Kopf. Universal 2013.]

Im Jahr 2004 veröffentlichte der Berliner Rapper Sido seinen Arschficksong. Der vulgäre Titel wird konsequent im Text fortgeführt. Die Zeilen „[wir] reden ständig über Scheiße / Egal ob flüssig, fest, braune oder weiße / Sie fragen, ob ich nur über Analsex reden kann / Doch es geht nicht anders, ich bin der Arschfickmann“ sollen als Illustration genügen. Auf dem jüngsten Album des Rappers, VI, hingegen finden sich Zeilen wie „Änder dich / Wenn du eine gelbe Blume siehst, die den Zement durchbricht / Dann denk an mich“ (Löwenzahn). Von fäkal-humoristischen Sprachspielen hat sich der Rapper nun zu einem Texter entwickelt, der lebensbejahende Unterstützung an seine Zuhörer vermittelt. In vielerlei Hinsicht gibt das Lied Bilder im Kopf, das zeitlich und inhaltlich zwischen den zwei Phasen steht, Aufschluss über diese mindestens zwei Abschnitte, in die sich das Werk des Künstlers Sido unterteilen lässt.

Am Anfang der Karriere des Rappers stehen bewusst provokante Songs. Dass dabei die Provokation Teil einer inzwischen schon recht viel praktizierten Marketingstrategie ist, ist durchaus möglich. Der mit einer Indizierung einhergehende Presserummel kann Künstlern natürlich durchaus helfen. So gilt das Plattenlabel Aggro Berlin, bei dem auch Sido unter Vertrag stand, als Wegbereiter des deutssprachigen Gangsta-Raps, der sich bewusst von deutsch-sprachigem HipHop à la Fettes Brot oder Die Fantastischen Vier absetzt (vergleiche dazu Spiegel online). Sido ist sich, wie er im Lied Verrückt wie krass beweist, dieser Marketingstrategie durchaus bewusst: „Hier und da mal ‚ficken‘ sagen, manchmal übertreiben / Du musst Grenzen überschreiten, mach, dass sie drüber schreiben.“ In dem Spiel mit dem Image des Bad Boys und dem damit bewusst provozierten Aufschrei allerdings den einzigen Grund für vulgäre Sprache zu sehen, wäre zu eindimensional. Die expliziten Zeilen können beispielsweise auch Ausdruck einer jugendlichen Grenzüberschreitung sein. Immerhin war Sido zu diesem Zeitpunkt ein junger Künstler der möglicherweise auch seine Grenzen und die des Genres austesten wollte.

In einer zweiten Phase als Künstlers wendete sich Sido von seinen Jugendsünden ab und rappte stattdessen Lieder, welche weniger kontrovers waren. Diese Einteilung in zwei klar zu trennende Phasen vereinfacht natürlich das Gesamtwerk Sidos. In der Frühphase gab es auch nicht-vulgäre Texte und umgekehrt. Dennoch hat sich Sido bereits 2005 etwas von seinem „Arschficksong“ distanziert (vgl. stern.de). Den vorläufigen Gipfel findet diese Wandlung in Kollaborationen mit massenverträglichen Pop-Sängern wie Adel Tawil (vgl. die Interpretation zu dessen Hit Lieder) oder Andreas Bourani. Diese zwei Schaffensphasen visualisierte Sido auch durch das Ablegen seiner silbernen Maske, welche er in seinen frühen Jahren bei Veranstaltungen und in Videos stets trug.

Das schwarze Fotoalbum mit dem silbernen Knopf, um das es in Bilder im Kopf geht, kann verschieden interpretiert werden. In dem Lied geht es um ein Fotoalbum, das der Rapper anschaut und dabei über seine Verganeheit nachdenkt. Das Fotoalbum, so wird suggeriert, enthält alle wichtigen Ereignisse aus seinem Leben, beginnend mit seiner Geburt. Im Fotoalbum findet der Künstler Erinnerungen an sein Leben, inklusive aller Höhen und Tiefen. Das Fotoalbum kann auch für Sido selber stehen. Dies wird deutlich, wenn man sich Sidos silberne Maske und seine oft dunkle Kleidung als Parallelen zum silbernen Knopf und dem schwarzen Einband des Buches vorstellt. Durch das Reimpaar „In meinem schwarzen Fotoalbum mit dem silbernen Knopf / Sind viele Bilder von ’nem Typ mit ’nem silbernen Kopf“ wird die Parallele eigens hervorgehoben. Folgt man dieser Interpretation, handelt es sich bei den Bildern in dem Fotoalbum um eine Visualisierung der Erinnerungen Sidos. Zweitens kann das Fotoalbum, auch auf Grund des im Musikvideo abgebildeten Formats, als eine Anspielung auf eine CD- oder Schallplattenhülle verstanden werden. Dass der zweite Bestandteil des Kompositumms ‚Fotoalbum‚ auch eine Langspielplatte bzw. eine entsprechende CD bezeichnet, ist in diesem Kontext stimmig. Wie eine CD-Hülle kann Sido das Fotoalbum öffnen und Erinnerungen mit den Inhalten asoziieren. Das Fotoalbum steht bei dieser Lesart für Sidos eigene Platten, möglicherweise auch die anderer Künstler, die ihn an seine Vergangenheit erinnern.

Auf einer dritten Ebene kann das Fotoalbum auch wörtlicher als ein memento vitae verstanden werden, in dem Sido seine Vergangenheit dokumentiert und aufarbeitet. In diesem Sinne ist es auch verständlich, dass in diesem Fotoalbum alles zu finden ist und auch weiterhin zu finden sein wird: „Wenn die Erinnerung auch langsam verschwindet / Weiß ich immerhin genau, wo man sie findet“. Fest steht, und hier schließt sich der Kreis zu den beiden Schaffensphasen Sidos, dass Sido mit diesem Lied klar stellt, dass er sich durchaus an seine Vergangenheit als „echter Rapper“ erinnert. So rappt der Berliner in Bilder im Kopf von „Autos mit 1000 PS und Bräuten mit geilen Kurven“, die sinnbildlich für seine frühere Schaffensphase stehen. In der gleichen Strophe aber illustriert Sido auch seine spätere, emotional-verletzlichere Schaffensphase, indem er über den Tod seines Großvaters rappt. Am Ende des Liedes betont er dann auch immer wieder, vielleicht auch an seine Kritiker gerichtet: „Ich weiß noch“.

Mit dem Stilwechsel von kontroversem Aggro-Rap zu radiotauglicher Musik stieß Sido auf ein Problem, welches genreübergreifend zu beobachten ist: Ändert ein Künstler seinen Stil zu drastisch, wird ihm vorgeworfen, er sei ein „Verräter“ seines Genres (vgl. meinrap.de). Das inwzischen wohl bekannteste Beispiel für solch einen Imagewechsel – hier in umgekehrter Richtung – ist Miley Cyrus, der vorgeworfen wurde, sie provoziere bewusst um mehr Geld zu verdienen und ihr Image als Disney-Star zu revidieren. Auch in anderen Sub-Genres ist dieses Phänomen zu beobachten: Bereits in den 1980er Jahren wurde Metallica nach vier bahnbrechenden, aber komerziell nur bedingt erfolgreichen Alben, attestiert, sie würden versuchen ihren Sound auf den Mainstream trimmen, um so mehr Geld zu verdienen.

Obwohl in den bildenden Künsten ganz selbstverständlich von verschiedenen Phasen eines Künstlers gesprochen wird, beispielsweise einem frühen oder späten Picasso, wird komerziell erfolgreichen Musikern dieses Recht nicht immer eingeräumt. Die Eindimensionalität, mit der Medien und Rezipienten somit operieren, stellt die Musiker durchaus vor große Probleme. Will sich ein Künstler neu erfinden, und sei es um kommerziell erfolgreicher zu sein, stößt dies oft auf erheblichen Widerstand von jenen Stamm-Fans, die den Künstler schon kannten, „bevor er berühmt war“. Die Rezipienten stellen sich somit eine bessere, goldene Vergangenheit vor – bei Sido eben jene Zeit, in der er noch ein „echter Rapper“ war. Vielleicht ist auch so das Schlussbild des Musikvideos zu Bilder im Kopf zu verstehen, in dem Sido von einer Trophäe erschlagen wird, die aus seiner Vergangenheit in die Gegenwart katapultiert wird. Der Künstler wird von seiner eigenen Vergangenheit erschlagen.

Die Möglichkeit, dass Sido sich tatsächlich geändert hat, manche Dinge nun anders sieht und nun eben andere Musik machen will, wird dabei selten in Erwägung gezogen. Zunächst wurde Sido attestiert, er sei brav (sprich: langweilig) geworden (vgl. morgenpost.de). Nun gehen Journalisten noch weiter und beschreiben seine Musik abschätzig als „Christenpop“ (welt.de). Dabei sind das Hinterfragen der eigenen Person und des eigenen Charakters im Zentrum für jedes Individuums von zentraler Bedeutung, zumindest für jedes reflektierte. Sogar wenn eine solche Selbstreflexion ergibt, dass ein Künstler versuchen will, mainstream-taugliche Musik zu machen, sollten Fans dafür Verständnis haben. Anders verhält es sich natürlich, wenn beispielsweise eine Plattenfirma einen anderen Sound fordert, der dem Künstler selber widerstrebt. Ansonsten aber gilt: Man sollte allen Menschen die Möglichkeit lassen, sich selber zu finden, auch sich neu zu erfinden, umzuinterpretieren oder 180°-Wendungen zu vollziehen. Insbesondere Künstlern muss es der Spielraum gegeben werden, Aspekte des eigenen Images wie Mosaiksteine zu handhaben und neu und ungewohnt zu kombinieren. Und wem der neue Sound Sidos nicht gefällt, der hört eben weiterhin den Arschficksong.

Martin Christ, Oxford