„Sein Name wird den Krieg überleben…“ Hugo Zuckermanns „Österreichisches Reiterlied“ als paradigmatischer Zyklus populärer Kriegslyrik
27. Juli 2015 Hinterlasse einen Kommentar
(Vertonung von Max Petzold)
Hugo Zuckermann Österreichisches Reiterlied Drüben am Wiesenrand hocken zwei Dohlen, fall’ ich am Donaustrand? Sterb’ ich in Polen? Was liegt daran? Was liegt daran? Eh’ sie meine Seele holen, kämpf’ ich als Reitersmann. Drüben am Ackerrain schreien zwei Raben, werd’ ich der Erste sein, den sie begraben? Was ist dabei? Was ist dabei? Viel Hunderttausend traben in uns’rer Reiterei! Drüben im Abendrot fliegen zwei Krähen, wann kommt der Schnitter Tod, um uns zu mähen? Es ist nicht schad! Es ist nicht schad! Seh’ ich nur uns’re Fahnen wehen auf Belgerad. Drüben am Wiesenrand hocken zwei Dohlen, fall’ ich am Donaustrand? Sterb’ ich in Polen? Was liegt daran? Was liegt daran? Eh’ sie meine Seele holen kämpf’ ich als Reitersmann.
Am Vorabend des Weihnachtstags 1914 verstirbt Dr. Hugo Zuckermann an den Folgen seiner Kriegsverwundung (Bauchtyphus) im Spital Eger (Cheb, Böhmen). Der Leutnant, der am 15. Mai 1881 in ebendieser Gemeinde geboren wurde, führte als Kommandant die 3. Kompanie des k.u.k. Landwehr-Infanterie-Regminets Nr.11 an, als er Ende November in einer Kampfhandlung am Duklapass angeschossen wurde. Am 25. Dezember wird er in einem Ehrengrab am israelitischen Friedhof in Eger begraben.
Doch, „[d]er Name Hugo Zuckermanns, der als Leutnant den Heldentod vor dem Feinde gefunden hat“, schreibt die Neue Freie Presse, „wird den großen Krieg überleben.“ (Neue Freie Presse, Nr. 18222, S. 15) Der Name werde nämlich deshalb überleben, weil das von ihm gedichtete und von Franz Lehár vertonte Österreichische Reiterlied (auch Reiterlied 1914 oder Drüben am Wiesenrand), zu „dem deutschen Volkslied“ des Ersten Weltkriegs werden sollte. (Jüdische Front, Jg. 2, Nr. 2: 1).
Das irrtümlicherweise vielfach auf das Jahr 1914 datierte Werk wurde von Hugo Zuckermann bereits 1913 geschrieben. (vgl. etwa Dr. Bloch’s Österreichische Wochenschrift, Jg. 32, Nr. 1, S. 6; mit Wagner Hans: Jung Österreich Lieder. Wien 1915, S. 21) Beim Schreiben nicht im Wissen um die Geschehnisse des folgenden Jahres seiend, fand er dennoch Worte, mit denen er zyklische Szenarien imaginiert, die die Stimmung des Krieges „wie keine zweite Dichtung jener Zeit“ (Franz Lehár) spiegeln. Diese sollten es dem Lied erlauben zu einem der ‚populärsten‘ Kriegsgesichte zu werden und somit auch seinem Verfasser das Überdauern der Zeit in den Erinnerungen zu sichern.
Doch was machte dieses (vermeintliche) Kriegslied derart ‚populär‘? Welche Worte sind es, die einer „kriegslüsternen“ Nation aus der Seele sprechen sollten, ohne eine bewusste, kriegspropagandistische Ausrichtung zu haben? Gleichzeitig war in dem ‚populären‘ Diskurs um die Rezeption des Liedes bekannt, dass sein Verfasser Jude war, was nach und nach aus der Rezeption zu verdrängen versucht wurde. Deshalb soll additiv anhand der Rezeptionsgeschichte kritisch analysiert werden, warum die Kategorisierung als ‚jüdisch‘ das Lied von seinem Verfasser trennen und die Erinnerung an ihn zu einer umkämpften machen sollte.
Rabenvögel, Belgerad und die Reiterei
Hugo Zuckermann lässt sein Gedicht mit landschaftlichen Versatzstücken beginnen: einen vorerst harmlos erscheinenden Wiesenrand an welchem zwei Dohlen – singende Mitglieder der Familie der Rabenvögel – „hocken“. Das beinahe idyllisch anmutende Bild wird sogleich mit – vorerst rhetorisch erscheinenden – Fragen gebrochen, die ein Nachdenken über Vergänglichkeit evozieren. Inneres Monologisieren in dieser Form findet sich auch in den beiden anderen Versen und wird immer von dem Motiv des Mitmachens respektive Mitkämpfens in der Reiterei abgelöst.
Dieser in gewisser Weise einer rhythmischen Logik folgende Aufbau macht jede Strophe für sich sowie das Gedicht als Ganzes als Zyklus beschreibbar. Zyklische Verlaufsformen von Geschehen stehen grundsätzlich in einem naturnahen Rhythmusempfinden (Tages- und Jahreslauf), das eine natürliche Abfolge von gut und schlecht suggeriert und stark an der Wiederkehr von Gleichem partizipiert.
In den Strophen wird ein ‚Ich-Erzähler‘ (auf den ich noch genauer eingehen möchte, da dieser selbst Teil eines Zyklus ist) durch eine animalische Erscheinung in der Landschaft, in allen drei Strophen in Form eines Rabenvogels (einmal eine Dohle, dann eine Krähe und zuletzt ein Rabe), in (Selbst-)Reflexion versetzt, aus der sich gewissermaßen als Katharsis das Kämpfen – nämlich ein gemeinsames Kämpfen – in der Kavallerie anbietet. In dem Gedicht erinnern die reihende Anordnung von Abfolgen und der Übergang in die Wiederholung der ersten Strophe an den zyklischen Tageslauf: Der „Wiesenrand“, der „Ackerrain“ (Rand- bzw. Übergangsstreifen zwischen zwei Äckern; ein ‚Dazwischen’ ähnlich der Position, die der Mittag zwischen Morgen/Vormittag und Nachmittag/Abend einnimmt) und das „Abendrot“, das – bedingt von der Wiederholung der ersten Strophe – abermals vom „Wiesenrand“ abgelöst wird. Ebenso folgt die Steigerung von der Dohle, dem kleinsten Rabenvogel, über den Raben zur Krähe, der größten Vertreterin der Familie, einem gewissen Schema. Aus der Dohle, die vergleichsweise wenig negative Betrachtung fand, wird die Krähe; ein Größenwachstum, welches auch eine Steigerung des Unglückspotentials mit dem Fortschreiten der Strophen mutmaßen lässt.
Die vom Text evozierte Reflexion ist aber auch als ein in den Dialog mit Anderen – zum ‚Wir’ Gehörenden – interpretierbar: Die Fragen könnten sodann kritisch gegenüber einer zu egozentrischen Einstellung aufgefasst werden, die den Einzelnen zum Kollektiv Gehörenden auffordert, der ‚Gemeinschaft’ den höchsten Stellenwert einzuräumen. Das führt in allen drei Strophen zu dem Schluss, dass das Mitkämpfen, das Traben in „uns’rer“ Reiterei und schließlich das Wehen „uns’rer Fahne auf Belgerad“ über dem Ich und letztlich über dem Tod des Einzelnen stehen sollen.
Durch die Vertonung wird das Gedicht zu einem (Gemeinschafts-)Lied: In der Performativität der Aufführungspraxis wird aus dem Ich ein Wir. Als Lied, das zumeist von einer Gruppe gesungen wird, spricht ein Kollektiv in der ersten Person: Auf den jeweiligen Singenden bezogen ist dieses Wir jedoch auch ein über die eigene Position reflektierendes Ich und durchläuft gewissermaßen einen wechselseitigen Zyklus vom Ich zum Wir.
Während in vielen Kriegs- bzw. Soldatenliedern, die unmittelbar 1914 und im Kontext des Kriegsbeginns zu propagandistischen Zwecken geschrieben wurden, das direkte Ansprechen konkreter Feinde üblich ist, fehlt ein solches beim Reiterlied. „Belgerad“ ist in diesem vermeintlichen Kriegslied auch das tatsächlich einzige ‚Feindbild‘, das direkt benannt wird. Im Diskurs der sogenannten Balkankrise, die gerade 1912/13 einen neuen Höhepunkt erreichte und tagespolitisches Thema war, kann der Verweis auf die Wichtigkeit des Haltens von Belgrad als klares Bekenntnis zur Balkanpolitik Österreich-Ungarns – der nationalen Unterdrückung – gelesen werden. Diese Politik gewinnt mit dem Beginn des Ersten Weltkriegs natürlich enorm an Aktualität und trägt sicherlich zum Bedeutungsgewinn von Zuckermanns Werk bei.
Auch wenn das Reiterlied auf den ersten Blick nicht kommensurabel mit einer Vielzahl der Soldatenlieder des Ersten Weltkriegs zu sein scheint, möchte ich argumentieren, dass es Zuckermann gelang, gerade die Stimmung des Vorabends des Weltkriegs einzufangen, was nicht zuletzt den Charme der Dichtung ausmachte. Zwischen Euphorie, romantisch verklärter Abenteuerlust (Reiterei) und Patriotismus spielen Imaginationen und das Vorhandensein von Phrasen, die Kollektivierungsprozesse stark unterstützen, der Kriegspropaganda geradezu in die Hände. Aus dem volkstümlich-politischen Gedicht von 1913 wird mit dem Kriegsbeginn ein Kriegslied, das propagandistisch auf den Weltkrieg ausgerichtet nicht treffender verfasst werden hätte können. Vielfach wurde bereits zeitnah nach seiner Entstehung diese zurückhaltende Unaufdringlichkeit des Reiterliedes für seine enorme Popularität verantwortlich gemacht, was mich zu der Rezeptionsgeschichte kommen lässt.
Rezeption
Dr. Bloch’s Österreichische Wochenschrift schreibt im Jänner 1915, dass das Reiterlied, „[…] das in seiner Einfachheit, in seiner todbereiten Ruhe, in seinem schlichten, tiefen vaterländischen Gefühl wert ist, von vielen gesungen zu werden“ (Dr. Bloch’s Österreichische Wochenschrift, Jg. 32 Nr. 1, S. 6), nach seinem neuerlichen Auftauchen 1914 innerhalb weniger Tage durch die gesamte deutsche Presse gegangen sei. In 20 von 84 während der ersten beiden Kriegsjahre (1914/15) erschienenen Anthologien kam es vor und wurde damit nur einmal weniger anthologisch rezipiert als der Ernst Lissauers Haßgesang gegen England (vgl. Detering 2013, S. 140).
Zwei Aspekte werden bei der Rezeption immer wieder betont: Einerseits der Patriotismus stiftende Charakter des Liedes, andererseits seine Unvergesslichkeit. 1915 fand das Lied Einzug in die akademischen Kreise, die betonten, dass Zuckermann in „unübertroffener Art den Kriegslied- und Volksliedton getroffen“ habe und das Reiterlied „unvergeßlich bleiben“ werde (Akademische Monatsblätter 1915, Jg. 27, S. 145). In einem Lazarett sei es von „engagierten Katholiken“ vorgetragen worden und habe für „helle Begeisterung, Mut und Tapferkeit“ gesorgt: „Aus ihren Blicken blitzte es wie Siegesfreude, wie ein Ahnen der Gewißheit, die wir heute haben.“ (Sozialstudentische Zentrale Bonn SSb, Jg. 7, Nr. 3, S. 98)
Mit dem zunehmenden Antisemitismus in den letzten Kriegsjahren („Judenzählung“ in der deutschen Armee) und der Manifestation des Antisemitismus in der Zwischenkriegszeit bleibt der Verfasser des Liedes in der Rezeption immer häufiger unerwähnt. Der Erinnerungsdiskurs um das Reiterlied und Hugo Zuckermann wird ein zunehmend umkämpfter. In Österreich greift 1933 eine paramilitärische Organisation (Bund jüdischer Frontsoldaten), deren Ziel es war, das Gedenken an die jüdischen Soldaten des Ersten Weltkrieges zu wahren, das Lied auf und weist auf seine Einzigartigkeit hin. Nicht weniger als sieben Komponisten hätten sich an der Vertonung dieser „kraftvollen Verse“ versucht – die berühmteste Version sei jedoch die von Franz Lehár geworden, „[…]welche im Weltkrieg von tausenden und abertausenden Soldaten gesungen und so recht Gemeingut aller Menschen deutscher Zunge geworden ist.“ (Jüdische Front, Jg. 2, Nr.2, S. 2)
Franz Lehár selbst beschrieb die Popularität des Liedes wie folgt:
Zuckermanns Reiterlied ist das deutsche Volkslied des [Ersten] Weltkrieges geworden, weil es wie keine zweite Dichtung jener Zeit die Stimmung wiedergibt, mit der unsere Soldaten damals in den Krieg zogen. Die bildhafte volkstümliche Sprache, tief empfundene männliche Entschlossenheit, der Ausdruck restloser Aufopferungsbereitschaft und froher Siegeshoffnung hatten mich schon beim ersten Lesen der wenigen Zeilen des Gedichtes so ergriffen, daß die Vertonung des Liedes sich ganz von selbst ergab, ja ergeben mußte: Die Vision der ehernen Pflichterfüllung, des ruhmreichen Unterganges! Dies so im Volkston zu sagen, ist keinem mehr nach Zuckermann gelungen.“ (Jüdische Front, Jg. 2, Nr.2, S. 1)
Im Nationalsozialismus war das Lied immer stärker antisemitischer Denunziation ausgesetzt und fand sich folglich – trotz seiner enormen Beliebtheit – nicht mehr unter den Liedern des Zweiten Weltkrieges. Die landschaftlichen Versatzstücke lassen es in den Identitätsstiftungsdiskurs der Nachkriegszeit passen und so findet sich das „Volkslied“ langsam wieder in österreichischen Liederbüchern als Österreichisches Reiterlied – die Hinweise auf seinen Verfasser bleiben jedoch vorerst noch verschwunden. Glücklicherweise gelang es den Antisemiten und Antisemitinnen nicht, das Reiterlied und Hugo Zuckermann völlig in Vergessenheit zu drängen: Heute ist das Lied in vielen Lexika – noch immer als das schönste Soldatenlied des Ersten Weltkriegs – erwähnt und auf zahlreichen Seiten im Internet anzutreffen. Der nicht gerade als pazifistisch zu beschreibende Grundton blieb bislang unreflektiert.
Susanne Korbel, Graz
Literatur
Nicolas Detering: Sammeln und Verbreiten. Geschichtsanthologien im Ersten Weltkrieg. In: Ders./Michael Fischer/Aibe-Marlene Gerdes (Hg.): Populäre Kriegslyrik im Ersten Weltkrieg. Münster, New York u.a. 2013 (= Populäre Kultur und Musik 7).
Daniel Hoffmann: Hugo Zuckermann: In: Andreas B. Kilcher (Hg.): Metzler Lexikon der deutsch-jüdischen Literatur: Jüdische Autorinnen und Autoren deutscher Sprache von der Aufklärung bis zur Gegenwart. Stuttgart 2000.
Ernst R. Rutkowski: Dem Schöpfer des österreichischen Reiterliedes. Leutnant in der Reserve, Dr. Hugo Zuckermann, zum Gedächtnis. In: Zeitschrift für die Geschichte der Juden Jg. 10, 1973, S. 93-104.
Ulrich Sieg: Jüdische Intellektuelle im Ersten Weltkrieg. Kriegserfahrungen, weltanschauliche Debatten und kulturelle Neuentwürfe. Berlin 2001.