Dirnenlied mit Nikolaus. Georg Kreislers „Der Weihnachtsmann auf der Reeperbahn“ (1960/61)

Georg Kreisler

Der Weihnachtsmann auf der Reeperbahn

Mutter war Dirne und Vater war Dieb
und Jim machte Dienst auf einem Kutter,
also wurde ich wie Mutter.
Einmal sprach Jim: Du, ich hab' dich so lieb,
versteck' mich, ich hab' etwas verbrochen.				5
Damals kriegte ich vier Wochen.
Und im Gefängnis war es noch schlimmer als zu Haus.
Wir kriegten Labskaus jeden Tag, wer hält denn sowas aus!
Doch ich ertrug mein Schicksal mit fröhlichem Gemüt,
denn ich fand Trost in diesem kleinen Lied:				10

Auch auf der Reeperbahn steht dann und wann ein Weihnachtsmann.
Der blickt Dich lächelnd an und hilft dir weiter.
Und wenn man momentan im Leben nicht mehr weiter kann,
dann ist der Weihnachtsmann ein treu Begleiter.
Er steht ganz still im Gewimmel						15
und bimmelt die Reeperbahn hinauf.
Der dicke Schnee fällt vom Himmel,
doch nie geben Weihnachtsmänner auf.
Drum gibt's nur einen Mann, der dir fast immer helfen kann,
das ist der Weihnachtsmann auf der Reeperbahn.				20

Jim sah einmal in meine Telefonkartei
und haute mir eine in die Fresse,
damit ich ihn nicht vergesse.
Dann brach er mir noch ein Schlüsselbein entzwei
und brachte mich rasch in eine Klinik,					25
denn er liebt mich treu und innig.
Dort war ein junger Doktor, der sich an mir vergriff.
Da schoss ihm Jim ein Loch in'n Kopp und rannte auf sein Schiff.
Die Polizei verdrosch mich, denn Jim war schon zu weit.
Und trotzdem tat er mir am meisten leid.				30

Denn auf der Reeperbahn steht dann und wann ein Weihnachtsmann.
Der blickt mich lächelnd an in alter Frische.
Doch Jim am Ozean sieht niemals einen Weihnachtsmann,
nur Sturm und Steuermann und kleine Fische.
Ja, ja, die Weihnacht an Bord						35
die ist nie wie das Weihnachtsfest zu Haus.  
Man blickt nach Süd und nach Nord
und nach Ost und nach West und - damit aus.
Dann wischt sich jedermann die Tränen fort so gut er kann,
ihm fehlt der Weihnachtsmann auf der Reeperbahn.			40

Bin ich mal alt und das silberweiße Haar
fließt mir über die Stirne herunter,
komm ich sicher nirgends unter.
Kein Mensch will wissen, wie schön ich einmal war.
Ich hab' sogar am Bauch 'ne Tätowierung,				45
eine Palme mit Verzierung.
Dann kriech ich halb verhungert entlang der Reeperbahn
und alle Männer drehn sich weg, als hätt' ich was getan.
Jedoch an einer Ecke - da bleib ich plötzlich stehn
und kann das Wunder, das ich seh, kaum sehn.				50

Denn auf der Reeperbahn steht sicher dann der Weihnachtsmann
und sagt mir ganz spontan, daß wir uns kennen.
Dann fängt er leise mit den, mit den Glöckelein zu bimmeln an,
daß ich nicht halten kann - und ich muß flennen.
Er lächelt breiter denn je						55
und er führt mich die Reeperbahn hinauf.
Und ringsumher schmilzt der Schnee
und die Straße, die, die hört überhaupt nicht auf.
Ich glaub' an Liebe nicht, an Treue nicht, doch glaub' ich an
den guten Weihnachtsmann auf der Reeperbahn.				60

Na Süßer, wie wär's denn mit uns beiden heute Abend? Hm?
Keine Zeit, och, na denn nicht. Junge, komm bald wieder.

     [Text nach www.georgkreisler.info]

In der Blütezeit des deutschsprachigen literarischen Kabaretts 1901-1933 war das Dirnenlied vermutlich das beliebteste und bis in die mittleren 20er Jahre hinein auch das in den Programmen am häufigsten vertretene Genre. Also solches wurde es auch von prominenten Dichtern gepflegt, berühmten Diseusen vorgetragen, in Lyrikanthologien publiziert und als Untergattung des Chansons und kritische Reflexion bestimmter sozialgeschichtlicher Verhältnisse (soziale Verelendung der Unterschichten, bürgerliche Bigotterie im Umgang mit geschlechtsspezifischen Verhaltensnormen und der Prostitution) wissenschaftlich beschrieben. Im engeren Sinne bezieht sich der Begriff auf Rollenlyrik aus der Perspektive einer Prostituierten, im weiteren auf die Thematisierung von Prostitution generell, so dass die Sprecherrolle dann beispielsweise auch von einem Freier oder Zuhälter übernommen werden kann.

Insofern das Kabarett des frühen 20. Jahrhunderts, in Frankreich auch schon des späten 19. Jahrhunderts, überwiegend von jungen großstädtischen Intellektuellen und Künstlern getragen wurde, der sog.  ,Bohème‘, besaß es von Anfang an eine dezidiert antibürgerliche Stoßrichtung. Die oft in bitterer Armut lebenden Bohémiens betrieben einen Kult um Kunst, Freundschaft und Solidarität, wohingegen sie dafür umso mehr die das Bürgertum jener Epoche charakterisierende Vergötterung materieller Werte, von Geld, Besitz und Privateigentum verabscheuten. Zu besagten materiellen Werten darf man auch den Anspruch des sich patriarchalisch gebärdenden Familienoberhaupts auf die unbedingte eheliche Treue seiner Gattin rechnen, hätte man sich ja ansonsten nicht sicher sein können, dass der Familienbesitz dereinst in ,richtiger Linie‘ vererbt werden würde!

Die Bohème hingegen versprach mit ihren idealistischen Werten und antibürgerlichen Praktiken – Aufweichung der starren Genderrollen, Akzeptanz weiblicher Sexualität und Intellektualität – klugen, kreativen und emanzipationsbegierigen jungen Frauen einen utopischen Freiheitsraum, für den die Bohémiennes die materielle Sicherheit jenes goldenen Käfigs einzutauschen bereit waren, der im Falle gesellschaftskonformen Verhaltens ihr Schicksal gewesen wäre. Dass sich diese Glücksperspektiven in vielen Fällen nicht erfüllten und die alltäglichen Lebensverhältnisse in dieser Subkultur geradezu prekär waren, ist weithin bekannt. Karl Marx und Rosa Luxemburg (vgl. etwa ihre Einführung in die Nationalökonomie, posthum 1925) hätten für dieses spezielle kreative Milieu den Begriffs des ,Lumpenproletariats‘ zur Hand gehabt und für dessen Nähe zur Prostitution und Verbrechertum auch eine theoretische Begründung. Nun war ,die‘ Bohème, deren konkrete locations mannigfache Abschattungen vom Glamourösen bis zum Schäbigen bzw. Zwielichtigen aufweisen konnten, nicht nur Spielwiese von Künstlern, Intellektuellen und Halbweltgestalten, sondern auch von Bürgern und Angehörigen des Adels, die sich ihrer Klasse entweder entfremdet hatten oder sich auch nur einen gewissen ,Urlaub‘ vom anstrengenden Tagesgeschäft gönnten – denken wir uns zum Beispiel nachgeborene, nichtsdestoweniger finanziell bestens ausgestattete Söhne aus gutem Hause, Dandys, Ästhetizisten, Libertins, Journalisten etc. Auch dieser Personenkreis hatte seine Gründe, sich von den traditionellen bürgerlichen Werten – Fleiß, Redlichkeit, Frömmigkeit, Moral – abzugrenzen und deren Verspottung zu goutieren.

Die Figur der Dirne und das Thema der Prostitution eigneten sich für einige Jahrzehnte bestens, den bürgerlichen Spießer und Moralapostel zu provozieren und schockieren, gleich, ob es in den einschlägigen Liedern um naturalistisches Interesse am ,Milieu‘ ging, um Gesellschaftskritik und soziale Anklage, um Unterhaltungskost nach neoromantischer Mode, eine sexualrevolutionäre Utopie wie bei Frank Wedekind oder expressionistische Lust an der Groteske. Für das schnelle Verschwinden der Dirnenlieder aus den Kabarettprogrammen Mitte der 1920er Jahre führt Roger Stein (2007, S. 517) mehrere Gründe an: die Überstrapazierung des Genres in den Jahren zuvor, eine zunehmend freiere Sexualmoral im Gefolge der Aufhebung der Zensur nach dem Ersten Weltkrieg, den wirtschaftlichen Aufschwung während der sog. ,Goldenen Zwanziger Jahre‘, die Amerikanisierung des deutschen Kulturbetriebs mit neuen interessanteren Frauenrollen, nicht zuletzt auch allgemeine Strukturveränderungen im Kabarettbetrieb, die mit der Bedeutungszunahme des Conférenciers verbunden waren, der jetzt als Komiker agiert, wodurch die ,Programm-Nummern‘ an Bedeutung verloren und für erstrangige Autoren uninteressant wurden. Mit der Machtergreifung der Nationalsozialisten hatte das Thema auf öffentlichen Bühnen ohnehin keine Chance mehr.

Dass Georg Kreisler 1960/61 mit seinem Weihnachtsmann auf der Reeperbahn*) ein kabarettistisches Lied-Genre wiederbelebte, das seit 1925 weitgehend aus dem Unterhaltungsgeschäft entschwunden war und das man nach dem 2. Weltkrieg kaum mehr dem Begriff nach kannte, überrascht nur bei oberflächlicher Betrachtung. Wenn man seinen Blick genauer auf die Person des Autors und das gesellschaftliche Klima der jungen Bundesrepublik richtet, scheint es beinahe unvermeidlich, dass Kreisler sein satirisches Talent neben den schwarzhumorigen Songs, für die er berühmt war, auch an einem Dirnenlied erprobte. Nachkriegsdeutschland war prüde bis zur Verklemmtheit, sentimental, harmoniesüchtig, dabei aber durchaus bigott und auf ,Schlüpfriges‘ versessen (vgl. das öffentliche Interesse an einschlägigen Filmen und Skandalen). Hinsichtlich des Frauenbildes hielt man mehrheitlich noch an den Idealen der NS-Zeit fest (Mutterrolle, fürsorglicher Mittelpunkt der Familie, Asexualität). Insofern bot der gesellschaftliche Hintergrund dem Satiriker alle notwendigen Voraussetzungen, das breite Publikum mit dem Thema Prostitution zu provozieren, speziell wenn er es mit einem religiösen, hochgradig gefühlsbesetzten Ereignis wie Weihnachten in einen Zusammenhang brachte.

Was nun den persönlichen künstlerischen Werdegang Kreislers angeht, darf man davon ausgehen, dass er mit den kabarettistischen Traditionen der Vorkriegszeit vertraut war. Selber 1922 geboren, in Wien aufgewachsen und 1938 zur Emigration in die USA gezwungen, kam er in Hollywood durch verwandtschaftliche Vermittlung schnell mit prominenten Persönlichkeiten des Filmgeschäfts in Verbindung. Als Neunzehnjähriger heiratete er die Tochter von Friedrich Hollaender, einer zentralen Figur der Berliner Kabarett- und Theaterszene der 1920er Jahre, der u.a. auch die Filmmusik mit einschlägigen Dirnenliedern zu dem frühen Tonfilm Der blaue Engel (1930) komponiert hatte. In den Kriegsjahren organisierte Kreisler als Angehöriger der US-Truppen mit anderen ehemaligen Emigranten Veranstaltungen zur Truppenbetreuung, später – wieder in Hollywood –  lernte er Hanns Eisler und Charlie Chaplin persönlich kennen. Ab 1946 trat er dann mit eigenen, meist in makabrer Tonlage verfassten Liedern in einem New Yorker Nachtclub auf. Nachdem dieser Stil den Bossen der Tonstudios als ,unamerikanisch‘ galt und kommerziell ohne Erfolg blieb, kehrte Georg Kreisler 1956 nach Europa zurück und versuchte sein Glück zunächst in Wien, ab 1958 in München, wo er zunehmend besser ankam und 1960 schließlich an den Kammerspielen seinen Durchbruch schaffte. In den kargen Monaten zuvor waren die Aufträge einiger deutscher Rundfunksender lebenswichtig. Insbesondere verdankten die Kreislers (der Komponist war nun mit Topsy Küppers verheiratet und hatte einen neugeborenen Sohn) Henri Regnier, dem Unterhaltungschef des NDR Hamburg, regelmäßige Aufträge. So entstanden die Seltsamen Liebeslieder, aber auch eine Serie mit Weihnachtsliedern, „die sich mit dieser verlogensten Zeit des Jahres kritisch befassen sollten“ (Fink und Seufert, 2005, S. 200), wobei Regnier seinem Künstler ausdrücklich verbietet, irgendwelche Rücksichten zu nehmen.

Ohne dass unser Dirnenlied in Kreislers Biographie speziell erwähnt wird, muss es aus diesem Kontext stammen. Es wurde in zwei unterschiedlichen Rollenfassungen gedichtet, wobei die eine einer weiblichen Sprecherinstanz zugedacht war, die andere einer männlichen. Im Folgenden befasse ich mich nur mit der ersten Variante, deren Text mir straffer und ,stimmiger‘ vorkommt und im Übrigen auch ein Dirnenlied im engeren Sinne darstellt. An der Profession der Sängerin lassen die drei Anfangszeilen des Liedes keinen Zweifel aufkommen: Sie ist ein Kind ,des Milieus‘ und hatte – wenigstens in ihrer Selbstwahrnehmung – nie eine realistische Chance, einen ,ehrbaren Beruf‘ zu ergreifen. Von ihrem Freund Jim hatte sie keine Unterstützung zu erwarten. Im Gegenteil! Er nutzt ihre Zuneigung bei jeder Gelegenheit rücksichtslos aus, so erpresst er sie emotional beispielsweise dazu, seine Verbrechen zu decken. Diese Naivität bringt ihr vier Wochen Knast ein, wobei ihr groteskerweise als besondere Härte der Umstand im Gedächtnis haften geblieben ist, dass es die ganze Zeit Labskaus gegeben hat. (In diesem Detail schlägt die österreichisch-amerikanische Sozialisierung des Autors durch; ein norddeutscher Verfasser hätte vermutlich Saure Lüngerl, Schwäbische Kutteln oder Blaue Zipfel auf den Speiseplan ihrer Zwangsresidenz gesetzt. Weitere ansprechende Rezepte findet man in diesem Blog unter Leckeres vom Piraten…) Jedenfalls erträgt das brave Mädchen ihr schweres Schicksal „mit fröhlichem Gemüt“ (V. 9), weiß sie sich doch mit einem Weihnachtslied zu trösten, demzufolge „dann und wann“ (V. 11) an der Reeperbahn „ein“ (!?) Weihnachtsmann anzutreffen sei, der geplagten Seelen freundlich entgegenlächelt bzw. -bimmelt und ihnen treulich-hilfreiche Begleitung anbietet.

Die Textpassage wirft ein paar Fragen auf, die nicht ohne weiteres zu beantworten sind: Zieht die Sängerin Trost aus dem weihnachtsgestimmten Liedchen oder aus der Hoffnungsperspektive, die es eröffnet und die von ihr für bare Münze genommen mit? Wenn man einmal vom zweiten Fall ausgeht, irritiert die Verwendung des unbestimmten Artikels in Vers 11. Anscheinend rechnet das Lied nicht damit, dass sich ,der‘ im Sinne von ,der echte‘ Weihnachtsmann auf der Reeperbahn herumtreibt, sondern nur irgendeiner. Sollten wir uns jetzt einen Mann im Nikolauskostüm und Glöckchen vorstellen, der unter den Passanten kleine Werbegeschenke verteilt und sie in die ansässigen Etablissements einlädt**) oder einen freundlichen Freier mit roter Zipfelmütze und prall gefülltem, ,bimmelndem‘ Geldbeutel? Oder doch eine von höherer Instanz bestellte Aushilfskraft, die dem richtigen Weihnachtsmann in der Hauptsaison zur Hand geht? Fragen über Fragen…

Die nächste Strophe zeichnet ein groteskes Bild von der Liebesbeziehung zwischen Jim und seiner ,Braut‘. Als er hinter ihr Berufsgeheimnis kommt, verdrischt er sie in einem Eifersuchtsanfall auf das Brutalste, was aber beide Partner durchaus als Ausdruck von tiefer Zuneigung interpretieren. Mit dieser Passage tradiert Kreisler einen alten Topos von Dirnenliedern. Brecht-Kennern fällt vermutlich spontan die Zuhälterballade der Dreigroschenoper ein, das Duett zwischen Macheath und Jenny:

Brecht war allerdings keineswegs der Erfinder dieser speziellen Form tätlicher Zuneigung, die auch als Spielart schwarzen Humors zu lesen ist. In seiner Abhandlung über das Deutsche Dirnenlied verfolgt Roger Stein (2007, S. 450 f.) die Spur dieses Topos bis auf Francois Villons Ballade von Villon und der dicken Margot (15. Jh.) zurück.

Mit seinen Folgeversen 27-30 setzt Kreisler auf Brechts Villon-Neudichtung nochmals ,einen drauf‘, wodurch das Geschehen endgültig und beim besten Willen nicht mehr ernsthaft, d.h. romantisch-sentimental rezipierbar ist. Die Sängerin, inzwischen als Super-Opfer von ihrem Geliebten, einem übergriffigen Arzt und zuletzt auch noch von der Polizei malträtiert, treibt ihre Selbstverleugnung auf die Spitze, indem sie bekennt, dass ihr der Geliebte, der für die gesamte Misere ja ursächlich verantwortlich ist, am meisten leid tut (V. 30). Warum wohl? Wir ahnen es schon:  Fern auf hoher See hat der arme Jim keine Chance, dem netten Reeperbahn-Weihnachtsmann zu begegnen…

So weltfremd uns Kreislers Dirne bislang begegnet ist, so illusionslos sieht sie ihrem Alter entgegen. Sie weiß genau, dass Schönheit vergänglich ist. Einsamkeit, Obdachlosigkeit und Hunger werden ihr Schicksal sein. Für ihre schöne Tätowierung auf dem Bauch – eine Palme als Symbol für Aufrichtigkeit und Rechtschaffenheit – wird sich dann niemand mehr interessieren. Doch dann ereignet sich mitten in diesen düsteren Gedanken ein sehr persönliches Weihnachtswunder. Während sich alle Männer von der greisen Hure abwenden, verleugnet der Reeperbahn-Weihnachtsmann ihre alte Bekanntschaft nicht. Da sie schon nicht mehr so gut sieht und das Wunder kaum erkennen kann, macht der gute Nikolaus ihr mit nachdrücklichem Gebimmel klar, was Sache ist, worauf sie – natürlich immer noch innerhalb ihrer Vision – von einer Woge der Rührung überschwemmt wird. Endlich fließen Tränen, die Reeperbahn dehnt sich lang und länger und offenbart sich, würde ich jetzt ein wenig anachronistisch behaupten, als Stairway bzw. Highway to Heaven***). Das abschließende Verspaar des eigentlichen Dirnenliedes formuliert ebenso lakonisch wie ironisch die Essenz des Ganzen: Wer aufgrund seiner Lebenserfahrungen realistischerweise nicht mehr an Liebe und Treue glauben kann, dem bleibt immer noch der Weihnachtsmann…

Nun erfolgt ein abruptes Umschalten der Protagonistin vom poetischen Weihnachtslied zum prosaischen Alltagsgeschäft, dessen geistesgegenwärtige Schnelligkeit mancher Bundesligamannschaft zum Vorbild gereichen könnte. Ihr kommt jemand entgegen, der weder bimmelt noch sonstige Ähnlichkeiten mit einem Weihnachtsmann aufweist. Dafür passt er in das professionelle Beuteschema und wird konsequent angesprochen. Leider beißt er nicht an. Dann vielleicht ein andermal. Die Hure verabschiedet den ,Süßen‘ mit einem freundlichen Spruch, den er vermutlich schon von Muttern her kennt.****)   

*) Ich habe mich beim voranstehenden Video für die Interpretation von Suzanna Meyer entschieden. Diese Ballade wurde auch von Kreislers Ehefrauen Topsy Küppers (LP Frivolitäten, 1963) und Barbara Peters (CD Fürchten wir das Beste, 1997) gesungen.

**) Die für männliche Interpreten geschriebene Variante des Liedes legt diese Deutung nahe, denn dort wird am Ende – zumindest in einer Version des Sängers – der alt gewordene Jim als Reeperbahn-Weihnachtsmann angeheuert.

***) Rockballade von Led Zeppelin, 1970/71; amerikanische Fernsehserie, 1984-89 produziert; dt.: Ein Engel auf Erden.

****) Vgl. Revue-Operette Heimweh nach St. Pauli von Lotar Olias, 1954, spätere Neufassung als Musical mit Freddy Quinn in der Hauptrolle (1962). Ich konnte nicht ermitteln, ob die ,Anmach-Sprüche‘ am Ende des Kreislerschen Dirnenliedes bereits der Erstfassung (Radiosendung 1960, Single Das gibt es nur bei uns in Gelsenkirchen, 1961) angehängt waren oder erst später, nach dem Schlagererfolg Freddy Quinns bei bestimmten Konzerten – mehr oder minder improvisierend – hinzugefügt wurden. Letzteres halte ich für wahrscheinlicher.

Hans-Peter Ecker, Bamberg

Literatur:

Hans-Juergen Fink und Michael Seufert: Georg Kreisler. Gibt es gar nicht. Die Biographie. Frankfurt: Fischer, 2005.

Roger Stein: Das deutsche Dirnenlied. Literarisches Kabarett von Bruant bis Brecht. Köln, Weimar und Wien: Böhlau, 2006.