Der Proletarier fliehe das Strumpfband! Bertolt Brechts „Ballade vom Förster und der Gräfin“ (1949)

Bertolt Brecht

Ballade vom Förster und der Gräfin 

Es lebt eine Gräfin in schwedischem Land
Die war ja so schön und so bleich.
„Herr Förster, Herr Förster, mein Strumpfband ist los
Es ist los, es ist los.
Förster, knie nieder und bind es mir gleich!“
 
„Frau Gräfin, Frau Gräfin, seht so mich nicht an
Ich diene Euch ja für mein Brot.
Eure Brüste sind weiß, doch das Handbeil ist kalt
Es ist kalt, es ist kalt.
Süß ist die Liebe, doch bitter der Tod.“
 
Der Förster, er floh in der selbigen Nacht.
Er ritt bis hinab zu der See.
Herr Schiffer, Herr Schiffer, nimm mich auf in dein Boot
In dein Boot, in dein Boot
Schiffer, ich muß bis ans Ende der See.
 
Es war eine Lieb zwischen Füchsin und Hahn
„Oh, Goldener, liebst du mich auch?“
Und fein war der Abend, doch dann kam die Früh
Kam die Früh, kam die Früh:
All seine Federn, sie hängen im Strauch.

     [Bertolt Brecht: Große kommentierte Berliner und Frankfurter Ausgabe. Gedichte 5: Frankfurt a. M.: Suhrkamp, 1993, S. 209.]

Brechts Ballade vom Förster und der Gräfin hatte ihren ursprünglichen Platz in einem Theaterstück, nämlich in dem oft aufgeführten und beim Publikum wegen seiner deftigen Hauptfigur ausgesprochen beliebten Exildrama  Herr Puntila und sein Knecht Matti (1940, UA am Schauspielhaus Zürich 1948). Dieses Schauspiel, das auf humoristischen finnischen Vorlagen von Hella Wuolijoki fußt, hat eine komplizierte Entstehungsgeschichte, über die Jan Knopfs Brecht Handbuch (Band 1, Stücke, 2001, S. 440 ff.) detailliert Auskunft gibt. So erarbeitete Brecht im Laufe eines Jahrzehnts von 1940 bis 1950 für diverse Anlässe vier mehr oder weniger unterschiedliche Theater- bzw. Druckfassungen. Unser Lied entstand im Zuge dieser Entwicklung 1949 für die Ostberliner Premiere des Stücks am Berliner Ensemble und ersetzte von da an die Vorgängervariante, das Lied vom Wolf und vom Huhn.

Die Försterballade artikuliert am Schluss der opulenten 9. Szene des Stücks (scheiternde Verlobungsfeier mit sog. ,Ehe-Examen‘) ein kapitalismuskritisches Fazit, das Brecht dem Kommunisten Surkkala in den Mund legt: Arm und Reich, Herr und Knecht passen nicht zusammen. Selbst wenn es zwischen einzelnen Angehörigen der antagonistischen Sozialschichten im Ausnahmefall ein wenig ,menscheln‘ sollte, z.B. unter erhöhtem Alkohol- oder Hormoneinfluss, sei keine dauerhafte Versöhnung der Klassen denkbar.

Das Lied ist in der großen Berliner und Frankfurter Ausgabe der Brechtschen Werke zweimal abgedruckt – einmal im Rahmen des Puntila-Dramas, dann aber auch als Einzeltext im Bande der Gedichte und Gedichtfragmente 1940-1956, der hier zitiert wird. Paul Dessau hatte die Melodie des Lieds ursprünglich in enger Anlehnung an eine schottische Seeräuberballade (Henry Martin) für eine männliche Stimme komponiert. Inzwischen hat es sich freilich auch längst als Chanson verselbständigt und gehört zum Repertoire berühmter Brecht-Interpretinnen wie Meret Becker und Nina Hagen, deren großartige Performance in dem hier ausgewählten Video zu bewundern ist.

Die Försterballade besteht  aus vier weitgehend gleichgebauten Strophen zu je fünf Versen. Formal fallen dabei besonders die Endreime der Verse 2 und 5 auf sowie die dreifach wiederholten Phrasen in den jeweils dritten und vierten Versen der einzelnen Strophen. Auf kleinere Parallelen bzw. Unterschiede im Satzbau gehe ich jetzt nicht ein. Inhaltlich bilden die ersten drei Strophen eine Einheit, indem sie ein dramatisches Geschehen – teils erzählend, teils in wörtlicher Rede – wiedergeben, bei dem es offensichtlich um eine Liebe auf Leben und Tod geht. Literaturtheoretisch-generisch präsentiert uns Brecht hier eine ,Kunstballade‘ im engeren literaturwissenschaftlichen Sinne, d.h. ein singbares Erzählgedicht, das eine Handlung zu Schlüsselszenen verdichtet präsentiert, auf eine Pointe zuläuft und eine implizierte Botschaft bzw. ,Lehre‘ transportiert, die vom verständigen Leser selbständig zu erschließen ist.1 Der Erzähler siedelt die Geschichte in „schwedischem Land“ an; ob in Schweden selbst oder einem von schwedischen Truppen in Besitz genommenen Landstrich entzieht sich meiner Kenntnis. Immerhin verleiht die geographische Lokalisierung der Begebenheit eine gewisse Glaubwürdigkeit.

In der ersten Strophe macht eine schöne und vornehme2 Gräfin einem Förster, der, wie sich bald herausstellen wird, für sie arbeitet, erotische Avancen. Mit der Aufforderung, ihr Strumpfband zu binden, lädt sie ihn zum Eintritt in ihre Intimdistanz ein, zu der im nord- bzw. mitteleuropäischen Kulturkreis aber nur engste Bezugspersonen zugelassen sind. Besonders kritisch stellt sich eine solche ,Verletzung‘ der körperlichen Schutzzone dar, wenn die Beteiligten unterschiedlichen sozialen Ständen und Geschlechtern angehören. Würde sich in unserem Fall der Förster auf das Angebot seiner Arbeitgeberin einlassen und fände die Szene einen Beobachter, könnte das Abenteuer leicht tödlich für ihn ausgehen, zumal es für sie relativ leicht wäre, den Skandal von sich abzuwenden, indem sie ihn der Übergriffigkeit beschuldigte.   

Strophe zwei macht klar, dass dem Förster die Risiken eines ständeübergreifenden Techtelmechtels nur allzu klar sind. Der Hinweis auf das „Handbeil“ ist eindeutig: Vielleicht nimmt er damit Bezug auf das bekannte tragische Schicksal des Aufklärers Johann Friedrich Struensee, dem sein Verhältnis zur dänischen Königin 1772 den Richtblock eingetragen hat.3 Umgehend ergreift der Förster die Flucht, wovon die nächste, die dritte Strophe berichtet. Vorsichtig, wie er ist, verdrückt er sich – offenbar den Zorn der verschmähten Gräfin fürchtend – nicht bloß in ein Nachbardorf, sondern legt so viel Wasser zwischen sich und das vermaledeite Strumpfband, wie es nur eben geht.  Diese Vorsicht scheint durchaus gerechtfertigt, sintemal der Trojanische Krieg – so berichtet es wenigstens Victor Hugo – wegen nichts anderem als Helenas Strumpfband, einer modischen Weiterentwicklung des Gürtels der Aphrodite (στρόφιον), entbrannt ist …

Damit wäre die Balladen-Erzählung komplett, die Flucht des Försters könnte als Pointe durchgewinkt werden und eine Lehre, wenn auch keine besonders überraschende, wäre aus ihr auch abzuleiten: dass es nämlich eher nicht ratsam ist, bei der Partnerwahl die Grenzen des eigenen Standes zu überschreiten. Im feudalistischen Kontext konnte eine Verletzung dieser Regel mitunter lebensgefährlich sein, aber der dramatische Kontext des Puntila suggeriert die Gültigkeit besagter Weisheit auch noch für den Kapitalismus. Bevor wir hierüber ins Grübeln kommen, uns womöglich an das große Versprechen des American Dream und Filme wie Pretty Woman oder Forrest Gump erinnern, schieben Brecht bzw. Surkkala noch schnell eine Liedstrophe nach, die nun keine Ballade mehr ist, sondern eine Fabel und ihre Moral demzufolge auch nicht verrätselt, sondern ziemlich platt expliziert: Die Füchsin umschmeichelt den arglosen Gockel, um ihn aufzufressen. Damit sind innerfiktional alle Unklarheiten beseitigt;  die ,Sägemehlprinzessin‘4 hat die von ihrem Vater gewünschte Verlobung mit Matti schon vorher abgesagt. Nach dem Lied verabschiedet sich auch Urviech Puntila von seiner fixen Idee einer klassenübergreifenden Verbindung und sein Chauffeur tanzt mit dem Stubenmädchen Fina aus dem Bild.

Unzufrieden bleiben allenfalls Zuschauer wie ich, denen es mit der kapitalismuskritischen Indoktrination einfach ein bisschen zu wild wird: Man hat ja kapiert und akzeptiert, dass das Stück eine kapitalismuskritische Aussage unters Volk bringen will. Es ist einfach genug gebaut und hinreichend klar strukturiert, damit ein Publikum bei leidlichem Verstand dieses Anliegen nachvollziehen kann. Mit dem guten Willen, den man als Theaterbesucher ja immer mitbringen muss, sieht man auch noch ein, dass Brecht für spezielle Teile des Publikums, die gerade ein Nickerchen gemacht haben, oder aber – ganz im Gegenteil – hellwach und argwöhnisch als Spitzel der Kulturbürokratie auf ideologische Missgriffe lauern, noch schnell eine Ballade einschiebt, um auf Nummer Sicher zu gehen. Aber – um Himmels willen! – warum lässt er’s damit nicht genug sein, sondern setzt noch mal eine Fabel mit derselben Botschaft obendrauf? Will er so demonstrieren, für wie begriffsstutzig oder literaturfremd er sein Publikum hält, speziell jenes, das sich 1949 zur Premierenfeier des Berliner Ensembles zusammenfinden würde?

Ich weiß es nicht. Und je länger ich über den Fall nachsinne, umso mehr Details stoßen mir auf, die unlogisch scheinen und sich mit der Ideologie des Stückes nicht so recht vertragen wollen: Warum, um nur ein Beispiel zu nennen, wird im sog. Eheexamen die Tochter des Gutsbesitzers daraufhin geprüft, ob sie eine ordentliche Proletariersgattin abgeben könnte, und nicht Matti, ob er sich gegebenenfalls in die Rolle eines reichen Mannes schicken könnte? Denn genau letzteres steht doch zur Debatte: Als Evas Mann würde er zum Großgrundbesitzer aufsteigen und seine Gattin bräuchte weder Socken zu stopfen noch sich den Kopf darüber zu zerbrechen, wie oft der Mensch hintereinander Hering verträgt. Beim umgekehrten und d.h. in diesem Fall angemessenen Eheexamen würde sich vermutlich schnell zeigen, dass Matti keine großen Schwierigkeiten damit hätte, den reichen Herrn zu geben, und auch seine vorgeblich ach so strenge Mutter würde, so jedenfalls meine Prognose, sich mit hoher Wahrscheinlichkeit fix ans Wohlleben gewöhnen, den einen oder anderen Gänsebraten nicht verschmähen und die Wäsche vom Personal besorgen lassen. Andererseits hätte der gelernte Chauffeur erst noch zu beweisen, ob er einen größeren Betrieb organisieren und beim Holzhandel ordentliche Preise herausschlagen könnte …

Verlassen wir aber diesen Gedankengang, der zum Verständnis unserer Försterballade nichts beiträgt, die im Kontext des Puntila vielleicht die eine oder andere Irritation auslöst, als Chanson aber unsere Bewunderung verdient!

Hans-Peter Ecker, Bamberg

Fußnoten:

1) Vgl. Hartmut Laufhütte, 1979.

2) Vgl. ihr ,adelige Blässe‘.

3) Brecht war Struensees Biographie höchstwahrscheinlich aus Theaterstücken und Filmen vertraut.

4) Titel eines Lustspiels von Hella Wuolijoki, das Brecht als Vorlage diente.

Literatur:

Brecht Handbuch in fünf Bänden. Hrsg. von Jan Knopf. Band 1, Stücke. Stuttgart und Weimar: Metzler, 2001.

Hans-Peter Ecker: Dreifaches Bekenntnis […]. In: „… vollens ganz zum Bolschewisten geworden …“? Die Räterepublik 1919 in der Wahrnehmung Bertolt Brechts. Ausstellungskatalog. Hrsg. von Jürgen Hillesheim und Karl-Georg Pfändtner. Augsburg: Wißner, 2019, S. 142 f.

Edward T. Hall: The Hidden Dimension. New York: Garden City, 1966.

Hartmut Laufhütte: Die deutsche Kunstballade. Grundlegung einer Gattungsgeschichte. Heidelberg: Winter, 1979.

Joachim Lucchesi und Ronald K. Shull: Musik bei Brecht: Frankfurt a. M.: Suhrkamp, 1988.

Dirnenlied mit Nikolaus. Georg Kreislers „Der Weihnachtsmann auf der Reeperbahn“ (1960/61)

Georg Kreisler

Der Weihnachtsmann auf der Reeperbahn

Mutter war Dirne und Vater war Dieb
und Jim machte Dienst auf einem Kutter,
also wurde ich wie Mutter.
Einmal sprach Jim: Du, ich hab' dich so lieb,
versteck' mich, ich hab' etwas verbrochen.				5
Damals kriegte ich vier Wochen.
Und im Gefängnis war es noch schlimmer als zu Haus.
Wir kriegten Labskaus jeden Tag, wer hält denn sowas aus!
Doch ich ertrug mein Schicksal mit fröhlichem Gemüt,
denn ich fand Trost in diesem kleinen Lied:				10

Auch auf der Reeperbahn steht dann und wann ein Weihnachtsmann.
Der blickt Dich lächelnd an und hilft dir weiter.
Und wenn man momentan im Leben nicht mehr weiter kann,
dann ist der Weihnachtsmann ein treu Begleiter.
Er steht ganz still im Gewimmel						15
und bimmelt die Reeperbahn hinauf.
Der dicke Schnee fällt vom Himmel,
doch nie geben Weihnachtsmänner auf.
Drum gibt's nur einen Mann, der dir fast immer helfen kann,
das ist der Weihnachtsmann auf der Reeperbahn.				20

Jim sah einmal in meine Telefonkartei
und haute mir eine in die Fresse,
damit ich ihn nicht vergesse.
Dann brach er mir noch ein Schlüsselbein entzwei
und brachte mich rasch in eine Klinik,					25
denn er liebt mich treu und innig.
Dort war ein junger Doktor, der sich an mir vergriff.
Da schoss ihm Jim ein Loch in'n Kopp und rannte auf sein Schiff.
Die Polizei verdrosch mich, denn Jim war schon zu weit.
Und trotzdem tat er mir am meisten leid.				30

Denn auf der Reeperbahn steht dann und wann ein Weihnachtsmann.
Der blickt mich lächelnd an in alter Frische.
Doch Jim am Ozean sieht niemals einen Weihnachtsmann,
nur Sturm und Steuermann und kleine Fische.
Ja, ja, die Weihnacht an Bord						35
die ist nie wie das Weihnachtsfest zu Haus.  
Man blickt nach Süd und nach Nord
und nach Ost und nach West und - damit aus.
Dann wischt sich jedermann die Tränen fort so gut er kann,
ihm fehlt der Weihnachtsmann auf der Reeperbahn.			40

Bin ich mal alt und das silberweiße Haar
fließt mir über die Stirne herunter,
komm ich sicher nirgends unter.
Kein Mensch will wissen, wie schön ich einmal war.
Ich hab' sogar am Bauch 'ne Tätowierung,				45
eine Palme mit Verzierung.
Dann kriech ich halb verhungert entlang der Reeperbahn
und alle Männer drehn sich weg, als hätt' ich was getan.
Jedoch an einer Ecke - da bleib ich plötzlich stehn
und kann das Wunder, das ich seh, kaum sehn.				50

Denn auf der Reeperbahn steht sicher dann der Weihnachtsmann
und sagt mir ganz spontan, daß wir uns kennen.
Dann fängt er leise mit den, mit den Glöckelein zu bimmeln an,
daß ich nicht halten kann - und ich muß flennen.
Er lächelt breiter denn je						55
und er führt mich die Reeperbahn hinauf.
Und ringsumher schmilzt der Schnee
und die Straße, die, die hört überhaupt nicht auf.
Ich glaub' an Liebe nicht, an Treue nicht, doch glaub' ich an
den guten Weihnachtsmann auf der Reeperbahn.				60

Na Süßer, wie wär's denn mit uns beiden heute Abend? Hm?
Keine Zeit, och, na denn nicht. Junge, komm bald wieder.

     [Text nach www.georgkreisler.info]

In der Blütezeit des deutschsprachigen literarischen Kabaretts 1901-1933 war das Dirnenlied vermutlich das beliebteste und bis in die mittleren 20er Jahre hinein auch das in den Programmen am häufigsten vertretene Genre. Also solches wurde es auch von prominenten Dichtern gepflegt, berühmten Diseusen vorgetragen, in Lyrikanthologien publiziert und als Untergattung des Chansons und kritische Reflexion bestimmter sozialgeschichtlicher Verhältnisse (soziale Verelendung der Unterschichten, bürgerliche Bigotterie im Umgang mit geschlechtsspezifischen Verhaltensnormen und der Prostitution) wissenschaftlich beschrieben. Im engeren Sinne bezieht sich der Begriff auf Rollenlyrik aus der Perspektive einer Prostituierten, im weiteren auf die Thematisierung von Prostitution generell, so dass die Sprecherrolle dann beispielsweise auch von einem Freier oder Zuhälter übernommen werden kann.

Insofern das Kabarett des frühen 20. Jahrhunderts, in Frankreich auch schon des späten 19. Jahrhunderts, überwiegend von jungen großstädtischen Intellektuellen und Künstlern getragen wurde, der sog.  ,Bohème‘, besaß es von Anfang an eine dezidiert antibürgerliche Stoßrichtung. Die oft in bitterer Armut lebenden Bohémiens betrieben einen Kult um Kunst, Freundschaft und Solidarität, wohingegen sie dafür umso mehr die das Bürgertum jener Epoche charakterisierende Vergötterung materieller Werte, von Geld, Besitz und Privateigentum verabscheuten. Zu besagten materiellen Werten darf man auch den Anspruch des sich patriarchalisch gebärdenden Familienoberhaupts auf die unbedingte eheliche Treue seiner Gattin rechnen, hätte man sich ja ansonsten nicht sicher sein können, dass der Familienbesitz dereinst in ,richtiger Linie‘ vererbt werden würde!

Die Bohème hingegen versprach mit ihren idealistischen Werten und antibürgerlichen Praktiken – Aufweichung der starren Genderrollen, Akzeptanz weiblicher Sexualität und Intellektualität – klugen, kreativen und emanzipationsbegierigen jungen Frauen einen utopischen Freiheitsraum, für den die Bohémiennes die materielle Sicherheit jenes goldenen Käfigs einzutauschen bereit waren, der im Falle gesellschaftskonformen Verhaltens ihr Schicksal gewesen wäre. Dass sich diese Glücksperspektiven in vielen Fällen nicht erfüllten und die alltäglichen Lebensverhältnisse in dieser Subkultur geradezu prekär waren, ist weithin bekannt. Karl Marx und Rosa Luxemburg (vgl. etwa ihre Einführung in die Nationalökonomie, posthum 1925) hätten für dieses spezielle kreative Milieu den Begriffs des ,Lumpenproletariats‘ zur Hand gehabt und für dessen Nähe zur Prostitution und Verbrechertum auch eine theoretische Begründung. Nun war ,die‘ Bohème, deren konkrete locations mannigfache Abschattungen vom Glamourösen bis zum Schäbigen bzw. Zwielichtigen aufweisen konnten, nicht nur Spielwiese von Künstlern, Intellektuellen und Halbweltgestalten, sondern auch von Bürgern und Angehörigen des Adels, die sich ihrer Klasse entweder entfremdet hatten oder sich auch nur einen gewissen ,Urlaub‘ vom anstrengenden Tagesgeschäft gönnten – denken wir uns zum Beispiel nachgeborene, nichtsdestoweniger finanziell bestens ausgestattete Söhne aus gutem Hause, Dandys, Ästhetizisten, Libertins, Journalisten etc. Auch dieser Personenkreis hatte seine Gründe, sich von den traditionellen bürgerlichen Werten – Fleiß, Redlichkeit, Frömmigkeit, Moral – abzugrenzen und deren Verspottung zu goutieren.

Die Figur der Dirne und das Thema der Prostitution eigneten sich für einige Jahrzehnte bestens, den bürgerlichen Spießer und Moralapostel zu provozieren und schockieren, gleich, ob es in den einschlägigen Liedern um naturalistisches Interesse am ,Milieu‘ ging, um Gesellschaftskritik und soziale Anklage, um Unterhaltungskost nach neoromantischer Mode, eine sexualrevolutionäre Utopie wie bei Frank Wedekind oder expressionistische Lust an der Groteske. Für das schnelle Verschwinden der Dirnenlieder aus den Kabarettprogrammen Mitte der 1920er Jahre führt Roger Stein (2007, S. 517) mehrere Gründe an: die Überstrapazierung des Genres in den Jahren zuvor, eine zunehmend freiere Sexualmoral im Gefolge der Aufhebung der Zensur nach dem Ersten Weltkrieg, den wirtschaftlichen Aufschwung während der sog. ,Goldenen Zwanziger Jahre‘, die Amerikanisierung des deutschen Kulturbetriebs mit neuen interessanteren Frauenrollen, nicht zuletzt auch allgemeine Strukturveränderungen im Kabarettbetrieb, die mit der Bedeutungszunahme des Conférenciers verbunden waren, der jetzt als Komiker agiert, wodurch die ,Programm-Nummern‘ an Bedeutung verloren und für erstrangige Autoren uninteressant wurden. Mit der Machtergreifung der Nationalsozialisten hatte das Thema auf öffentlichen Bühnen ohnehin keine Chance mehr.

Dass Georg Kreisler 1960/61 mit seinem Weihnachtsmann auf der Reeperbahn*) ein kabarettistisches Lied-Genre wiederbelebte, das seit 1925 weitgehend aus dem Unterhaltungsgeschäft entschwunden war und das man nach dem 2. Weltkrieg kaum mehr dem Begriff nach kannte, überrascht nur bei oberflächlicher Betrachtung. Wenn man seinen Blick genauer auf die Person des Autors und das gesellschaftliche Klima der jungen Bundesrepublik richtet, scheint es beinahe unvermeidlich, dass Kreisler sein satirisches Talent neben den schwarzhumorigen Songs, für die er berühmt war, auch an einem Dirnenlied erprobte. Nachkriegsdeutschland war prüde bis zur Verklemmtheit, sentimental, harmoniesüchtig, dabei aber durchaus bigott und auf ,Schlüpfriges‘ versessen (vgl. das öffentliche Interesse an einschlägigen Filmen und Skandalen). Hinsichtlich des Frauenbildes hielt man mehrheitlich noch an den Idealen der NS-Zeit fest (Mutterrolle, fürsorglicher Mittelpunkt der Familie, Asexualität). Insofern bot der gesellschaftliche Hintergrund dem Satiriker alle notwendigen Voraussetzungen, das breite Publikum mit dem Thema Prostitution zu provozieren, speziell wenn er es mit einem religiösen, hochgradig gefühlsbesetzten Ereignis wie Weihnachten in einen Zusammenhang brachte.

Was nun den persönlichen künstlerischen Werdegang Kreislers angeht, darf man davon ausgehen, dass er mit den kabarettistischen Traditionen der Vorkriegszeit vertraut war. Selber 1922 geboren, in Wien aufgewachsen und 1938 zur Emigration in die USA gezwungen, kam er in Hollywood durch verwandtschaftliche Vermittlung schnell mit prominenten Persönlichkeiten des Filmgeschäfts in Verbindung. Als Neunzehnjähriger heiratete er die Tochter von Friedrich Hollaender, einer zentralen Figur der Berliner Kabarett- und Theaterszene der 1920er Jahre, der u.a. auch die Filmmusik mit einschlägigen Dirnenliedern zu dem frühen Tonfilm Der blaue Engel (1930) komponiert hatte. In den Kriegsjahren organisierte Kreisler als Angehöriger der US-Truppen mit anderen ehemaligen Emigranten Veranstaltungen zur Truppenbetreuung, später – wieder in Hollywood –  lernte er Hanns Eisler und Charlie Chaplin persönlich kennen. Ab 1946 trat er dann mit eigenen, meist in makabrer Tonlage verfassten Liedern in einem New Yorker Nachtclub auf. Nachdem dieser Stil den Bossen der Tonstudios als ,unamerikanisch‘ galt und kommerziell ohne Erfolg blieb, kehrte Georg Kreisler 1956 nach Europa zurück und versuchte sein Glück zunächst in Wien, ab 1958 in München, wo er zunehmend besser ankam und 1960 schließlich an den Kammerspielen seinen Durchbruch schaffte. In den kargen Monaten zuvor waren die Aufträge einiger deutscher Rundfunksender lebenswichtig. Insbesondere verdankten die Kreislers (der Komponist war nun mit Topsy Küppers verheiratet und hatte einen neugeborenen Sohn) Henri Regnier, dem Unterhaltungschef des NDR Hamburg, regelmäßige Aufträge. So entstanden die Seltsamen Liebeslieder, aber auch eine Serie mit Weihnachtsliedern, „die sich mit dieser verlogensten Zeit des Jahres kritisch befassen sollten“ (Fink und Seufert, 2005, S. 200), wobei Regnier seinem Künstler ausdrücklich verbietet, irgendwelche Rücksichten zu nehmen.

Ohne dass unser Dirnenlied in Kreislers Biographie speziell erwähnt wird, muss es aus diesem Kontext stammen. Es wurde in zwei unterschiedlichen Rollenfassungen gedichtet, wobei die eine einer weiblichen Sprecherinstanz zugedacht war, die andere einer männlichen. Im Folgenden befasse ich mich nur mit der ersten Variante, deren Text mir straffer und ,stimmiger‘ vorkommt und im Übrigen auch ein Dirnenlied im engeren Sinne darstellt. An der Profession der Sängerin lassen die drei Anfangszeilen des Liedes keinen Zweifel aufkommen: Sie ist ein Kind ,des Milieus‘ und hatte – wenigstens in ihrer Selbstwahrnehmung – nie eine realistische Chance, einen ,ehrbaren Beruf‘ zu ergreifen. Von ihrem Freund Jim hatte sie keine Unterstützung zu erwarten. Im Gegenteil! Er nutzt ihre Zuneigung bei jeder Gelegenheit rücksichtslos aus, so erpresst er sie emotional beispielsweise dazu, seine Verbrechen zu decken. Diese Naivität bringt ihr vier Wochen Knast ein, wobei ihr groteskerweise als besondere Härte der Umstand im Gedächtnis haften geblieben ist, dass es die ganze Zeit Labskaus gegeben hat. (In diesem Detail schlägt die österreichisch-amerikanische Sozialisierung des Autors durch; ein norddeutscher Verfasser hätte vermutlich Saure Lüngerl, Schwäbische Kutteln oder Blaue Zipfel auf den Speiseplan ihrer Zwangsresidenz gesetzt. Weitere ansprechende Rezepte findet man in diesem Blog unter Leckeres vom Piraten…) Jedenfalls erträgt das brave Mädchen ihr schweres Schicksal „mit fröhlichem Gemüt“ (V. 9), weiß sie sich doch mit einem Weihnachtslied zu trösten, demzufolge „dann und wann“ (V. 11) an der Reeperbahn „ein“ (!?) Weihnachtsmann anzutreffen sei, der geplagten Seelen freundlich entgegenlächelt bzw. -bimmelt und ihnen treulich-hilfreiche Begleitung anbietet.

Die Textpassage wirft ein paar Fragen auf, die nicht ohne weiteres zu beantworten sind: Zieht die Sängerin Trost aus dem weihnachtsgestimmten Liedchen oder aus der Hoffnungsperspektive, die es eröffnet und die von ihr für bare Münze genommen mit? Wenn man einmal vom zweiten Fall ausgeht, irritiert die Verwendung des unbestimmten Artikels in Vers 11. Anscheinend rechnet das Lied nicht damit, dass sich ,der‘ im Sinne von ,der echte‘ Weihnachtsmann auf der Reeperbahn herumtreibt, sondern nur irgendeiner. Sollten wir uns jetzt einen Mann im Nikolauskostüm und Glöckchen vorstellen, der unter den Passanten kleine Werbegeschenke verteilt und sie in die ansässigen Etablissements einlädt**) oder einen freundlichen Freier mit roter Zipfelmütze und prall gefülltem, ,bimmelndem‘ Geldbeutel? Oder doch eine von höherer Instanz bestellte Aushilfskraft, die dem richtigen Weihnachtsmann in der Hauptsaison zur Hand geht? Fragen über Fragen…

Die nächste Strophe zeichnet ein groteskes Bild von der Liebesbeziehung zwischen Jim und seiner ,Braut‘. Als er hinter ihr Berufsgeheimnis kommt, verdrischt er sie in einem Eifersuchtsanfall auf das Brutalste, was aber beide Partner durchaus als Ausdruck von tiefer Zuneigung interpretieren. Mit dieser Passage tradiert Kreisler einen alten Topos von Dirnenliedern. Brecht-Kennern fällt vermutlich spontan die Zuhälterballade der Dreigroschenoper ein, das Duett zwischen Macheath und Jenny:

Brecht war allerdings keineswegs der Erfinder dieser speziellen Form tätlicher Zuneigung, die auch als Spielart schwarzen Humors zu lesen ist. In seiner Abhandlung über das Deutsche Dirnenlied verfolgt Roger Stein (2007, S. 450 f.) die Spur dieses Topos bis auf Francois Villons Ballade von Villon und der dicken Margot (15. Jh.) zurück.

Mit seinen Folgeversen 27-30 setzt Kreisler auf Brechts Villon-Neudichtung nochmals ,einen drauf‘, wodurch das Geschehen endgültig und beim besten Willen nicht mehr ernsthaft, d.h. romantisch-sentimental rezipierbar ist. Die Sängerin, inzwischen als Super-Opfer von ihrem Geliebten, einem übergriffigen Arzt und zuletzt auch noch von der Polizei malträtiert, treibt ihre Selbstverleugnung auf die Spitze, indem sie bekennt, dass ihr der Geliebte, der für die gesamte Misere ja ursächlich verantwortlich ist, am meisten leid tut (V. 30). Warum wohl? Wir ahnen es schon:  Fern auf hoher See hat der arme Jim keine Chance, dem netten Reeperbahn-Weihnachtsmann zu begegnen…

So weltfremd uns Kreislers Dirne bislang begegnet ist, so illusionslos sieht sie ihrem Alter entgegen. Sie weiß genau, dass Schönheit vergänglich ist. Einsamkeit, Obdachlosigkeit und Hunger werden ihr Schicksal sein. Für ihre schöne Tätowierung auf dem Bauch – eine Palme als Symbol für Aufrichtigkeit und Rechtschaffenheit – wird sich dann niemand mehr interessieren. Doch dann ereignet sich mitten in diesen düsteren Gedanken ein sehr persönliches Weihnachtswunder. Während sich alle Männer von der greisen Hure abwenden, verleugnet der Reeperbahn-Weihnachtsmann ihre alte Bekanntschaft nicht. Da sie schon nicht mehr so gut sieht und das Wunder kaum erkennen kann, macht der gute Nikolaus ihr mit nachdrücklichem Gebimmel klar, was Sache ist, worauf sie – natürlich immer noch innerhalb ihrer Vision – von einer Woge der Rührung überschwemmt wird. Endlich fließen Tränen, die Reeperbahn dehnt sich lang und länger und offenbart sich, würde ich jetzt ein wenig anachronistisch behaupten, als Stairway bzw. Highway to Heaven***). Das abschließende Verspaar des eigentlichen Dirnenliedes formuliert ebenso lakonisch wie ironisch die Essenz des Ganzen: Wer aufgrund seiner Lebenserfahrungen realistischerweise nicht mehr an Liebe und Treue glauben kann, dem bleibt immer noch der Weihnachtsmann…

Nun erfolgt ein abruptes Umschalten der Protagonistin vom poetischen Weihnachtslied zum prosaischen Alltagsgeschäft, dessen geistesgegenwärtige Schnelligkeit mancher Bundesligamannschaft zum Vorbild gereichen könnte. Ihr kommt jemand entgegen, der weder bimmelt noch sonstige Ähnlichkeiten mit einem Weihnachtsmann aufweist. Dafür passt er in das professionelle Beuteschema und wird konsequent angesprochen. Leider beißt er nicht an. Dann vielleicht ein andermal. Die Hure verabschiedet den ,Süßen‘ mit einem freundlichen Spruch, den er vermutlich schon von Muttern her kennt.****)   

*) Ich habe mich beim voranstehenden Video für die Interpretation von Suzanna Meyer entschieden. Diese Ballade wurde auch von Kreislers Ehefrauen Topsy Küppers (LP Frivolitäten, 1963) und Barbara Peters (CD Fürchten wir das Beste, 1997) gesungen.

**) Die für männliche Interpreten geschriebene Variante des Liedes legt diese Deutung nahe, denn dort wird am Ende – zumindest in einer Version des Sängers – der alt gewordene Jim als Reeperbahn-Weihnachtsmann angeheuert.

***) Rockballade von Led Zeppelin, 1970/71; amerikanische Fernsehserie, 1984-89 produziert; dt.: Ein Engel auf Erden.

****) Vgl. Revue-Operette Heimweh nach St. Pauli von Lotar Olias, 1954, spätere Neufassung als Musical mit Freddy Quinn in der Hauptrolle (1962). Ich konnte nicht ermitteln, ob die ,Anmach-Sprüche‘ am Ende des Kreislerschen Dirnenliedes bereits der Erstfassung (Radiosendung 1960, Single Das gibt es nur bei uns in Gelsenkirchen, 1961) angehängt waren oder erst später, nach dem Schlagererfolg Freddy Quinns bei bestimmten Konzerten – mehr oder minder improvisierend – hinzugefügt wurden. Letzteres halte ich für wahrscheinlicher.

Hans-Peter Ecker, Bamberg

Literatur:

Hans-Juergen Fink und Michael Seufert: Georg Kreisler. Gibt es gar nicht. Die Biographie. Frankfurt: Fischer, 2005.

Roger Stein: Das deutsche Dirnenlied. Literarisches Kabarett von Bruant bis Brecht. Köln, Weimar und Wien: Böhlau, 2006.

Die beste aller möglichen Hymnen: Bertolt Brechts „Kinderhymne“

Bertolt Brecht

Kinderhymne

Anmut sparet nicht noch Mühe
Leidenschaft nicht noch Verstand
Daß ein gutes Deutschland blühe
Wie ein andres gutes Land

Daß die Völker nicht erbleichen
Wie vor einer Räuberin
Sondern ihre Hände reichen
Uns wie andern Völkern hin.

Und nicht über und nicht unter
Andern Völkern wolln wir sein
Von der See bis zu den Alpen
Von der Oder bis zum Rhein.

Und weil wir dies Land verbessern
Lieben und beschirmen wir's
Und das liebste mag's uns scheinen
So wie andern Völkern ihrs.


Sie ist ein Evergreen der bundesrepublikanischen politischen Debatten: die Hymnendiskussion. Zuetzt stand Philipp Amthor in ihrem Mittelpunkt, als er wegen dem in einem Film aus dem Jahr 2018 nach dem Absingen der Nationalhymne geäußerten Satzes „Hier ist keiner von uns Moslem, der das jetzt nicht singen kann.“ von Sawsan Chebli des antimuslimischen Rassismus geziehen wurde. Zur Erklärung führte er den damaligen Debattenkontext an: „Die Situation entstand in einer Zeit, in der viele darüber diskutiert haben, ob Fußballspieler die Nationalhymne mitsingen.“ (rp-online) Nur wenige Wochen vor dieser Diskussion hatte bereits eine ernstzunehmendere Debatte über die Nationalhymne stattgefunden. Zuerst war bekannt geworden, dass bei einer Veranstaltung des „Flügels“ der AFD alle drei Strophen des Deutschlandlieds gesungen worden waren, u.a. von Björn Höcke – dem allerdings, das muss der Fairness halber dazu gesagt werden, dieser Einfall der Saalregie, sei es aus ideologischen oder aus taktischen Gründen, sichtlich nicht zusagte. Einige Tage später äußerte Bodo Ramelow sein Unbehagen angesichts der Tatsache, dass die erste Strophe des Lieds der Deutschen auch in der Zeit des Nationalsozialismus (gefolgt vom Horst-Wessel-Lied) als deutsche Nationalhymne fungierte. Die Äußerung fiel im Kontext der Diskussion über die politischen Fehler, die im Zuge der deutschen Wiedervereinigung gemacht wurden.

Zunächst denkt man dabei wohl an die wirtschaftspolitischen, die temporäre Arbeitslosigkeit als Kollektiverfahrung nach sich zogen, an die personalpolitischen im öffentlichen Dienst, die gefühlt die Kompetenz und Berufserfahrung der Ostdeutschen, die einen westdeutschen Chef vorgesetzt bekamen, abwerteten, und nicht zuletzt die Fehler in der politischen Kommunikation, als anstelle einer ‚Blut, Schweiß und Tränen‘-Rede von ‚blühenden Landschaften‘ die Rede war, die ‚aus der Portokasse‘ zu finanzieren seien. Seltener wird davon gesprochen, dass im Rahmen der sogenannten ‚akzeptierenden Jugendarbeit‘ flächendeckend eine rechtsradikale Jugendkultur gefördert wurde, was bis heute nachwirkt. Ein in diesem Zusammenhang sicher weniger bedeutender, symbolpolitischer Fehler, oder vielleicht besser: eine verpasste Chance, war es, Brechts Kinderhymne nicht zur Nationalhymne zu erklären – anstelle der dritten Strophe des Lieds der Deutschen, das, entstanden als national-liberales Trinklied, dann nach und nach zum reaktionären Kampflied verkam, welches Friedrich Ebert 1922 als vergebliche Geste des guten Willens gegenüber der republikfeindlichen Rechten zur Nationalhymne der Weimarer Republik erklärte. Den Vorschlag der Kinderhymne als neue gesamtdeutsche Nationalhymne, für den sich in der Wendezeit nicht nur der Zentrale Runde Tisch in der noch bestehenden DDR sondern auch damals auch noch Martin Walser, später Stichwortgeber der Neuen Rechten in Deutschland, aussprach, hat auch Bodo Ramelow aufgenommen. Und es gibt zalreiche Gründe, ihm darin zu folgen.

Nicht nur lässt sich die von Hanns Eisler vertonte Kinderhymne auch ohne Schwierigkeiten sowohl auf die Melodie der von Johannes R. Becher getexteten und ebenfalls von Eisler vertonten Hymne der DDR als auch der Kaiserhymne von Joseph Haydn, die ja als Melodie für das Deutschlandlied genutzt wird, singen; auch wäre Brecht als in beiden beiden deutschen Staaten geschätzter Autor eine geeignete Integrationsfigur gewesen, die dem Eindruck einer teilweise als feindlich empfundenen Übernahme der DDR durch die BRD vielleicht ein wenig hätte entgegenwirken können. Zur idealen deutschen Hymne prädestiniert das Lied aber vor allem sein Text, der schon 1950 die deutsche Einheit in den Grenzen, in denen sie schließich auch stattfand („Von der See bis zu den Alpen / Von der Oder bis zum Rhein.“), zum Ziel erklärt hat, was seinerzeit weder in der DDR mit dem Anspruch, ein eigenständiger Staat zu sein, noch in der BRD, wo die verlorenen ostpreußischen Gebiete noch beansprucht wurden, der Staatsraison entsprach. Denn der Text setzt dem aggressiven, rückwärtsgewandten Nationalismus der politischen Rechten einen demokratischen, internationalen und zukunftsorientierten Patriotismus entgegen.

Das beginnt bereits mit dem ersten Wort: Brecht hat hier gegenüber einem früheren Entwurf das darin noch voregesehene „Arbeit“ durch „Anmut“ ersetzt – eine zunächst irritierende, auf den zweiten Blick aber sehr aussagekräftige Entscheidung. Denn sie weist darauf hin, dass nation building (oder im Fall Deutschlands nach dem Zivilisationsbruch des zweiten Weltkriegs und der Shoa, der die bis dahin erfolgten Selbstentwürfe, z.B. „Land der Dichter und Denker“ fundamental delegitimiert hatte – reflektiert in „Daß die Völker nicht erbleichen / Wie vor einer Räuberin“ – , nation re-building) nur erfolgreich sein kann, wenn es nicht eine bloße verbissene Kraftanstrengung, einen opferbereiten Dienst an der Nation, darstellt, sondern vielmehr auch mit Ästhetik und Leichtigkeit erfolgt.

Eine weitere Besonderheit im ersten Vers besteht darin, dass die Bevölkerung angesprochen wird, statt, wie oft in Nationalhymnen, das Land selbst (vgl. neben dem Deutschlandlied etwa die österreichische Bundeshymne: „Land der Berge, Land am Strome, […] Vielgerühmtes Österreich“). In den folgenden Strophen wird das sich im Prozess des nation re-building erst konstituierende Bevölkerungs-Wir dann selbst zum sprechenden Subjekt.

Einen Traditionsbruch stellt auch die wiederholte Egalitätsrhetorik dar: Das eigene Land/Volk wird nicht objektiv über andere erhoben, wie im politisch rechten Verständis der ersten Strophe des Deutschlandlieds, sondern in jeder Strophe ausdrücklich anderen gleichgestellt: „Wie ein andres gutes Land“ (Str. 1), „Uns wie andern Völkern hin.“ (Str. 2), „Und nicht über und nicht unter / Andern Völkern wolln wir sein“ (Str. 3), „So wie andern Völkern ihrs.“ (Str. 4).

Zentral für das Verständnis des demokratischen Partiotismus, den diese Hymne propagiert, ist das erste Verspaar der letzten Strophe: „Und weil wir dies Land verbessern / Lieben und beschirmen wir’s“. Die Liebe zum Land wird nicht aus einer als ruhmreich imaginierten Vergangenheit wie im reaktionären Nationalismus hergeleitet, sondern ist an die Bedingung der Möglichkeit, es mitzugestalten, gebunden. Reaktionärer Nationalismus ist seinem Wesen nach antidemokratisch, insofern ihm zufolge nicht nur der Wille der aktuell wahlberechtigten Bevölkerung, sondern die Verpflichtung den Ahnen und ihren Traditionen gegenüber politische Entscheidungen prägen soll. Brechts demokratischer Patriotismus hingegen nimmt John F. Kennedys berühmtes Diktum aus seiner Antrittsrede als Präsident der USA „ask not what your country can do for you – ask what you can do for your country“ zwar in gewissem Sinne vorweg, betont dabei aber auch, dass ein Land eine zentrale Bedingung erfüllen muss, um dergestalt tätig geliebt werden zu können: Es muss es den dort lebenden Menschen ermöglichen, es nach ihren Vorstellungen mitzugestalten. Entsprechend grenzt sich ein so verstandener Patriotismus ab von einer anderen gängigen amerikanischen Patriotenformel: „My country, right or wrong.“ Denn ein Land, in dem politische Teilhabe und Mitgestaltung nicht mehr möglich sind, verdient auch die Liebe seiner Bürger nicht mehr, es kann sogar, wie es Brecht literarisch während der Zeit des Dritten Reichs getan hat, von durchaus patriotisch gesinnten Bürgern bekämpft werden; ja vielleicht, auch diese Lesart lässt die Brechts Kinderhymne zu, ist es in diesem Fall sogar gerade Ausdruck des Patriotismus, sich gegen einen nicht-demokratischen Staat auf dem Boden des eigenen Landes zu stellen. Und so verwundert es auch nicht, dass Brecht (unzutreffenderweise) häufig der in der Anti-AKW- und Friedens-Bewegung bekannt gewordene Slogan „Wo Unrecht zu Recht wird, wird Widerstand zur Pflicht“ zugeschrieben wird.

Eine  Hymne, der es gelingt, politisch oft rechts vereinnahmte Heimatliebe und traditionell eher bei der politischen Linken anzutreffende Skepsis gegenüber einem autoritären Staat argumentativ zusammenzubringen, könnte Deutschland derzeit wirklich gebrauchen.

Martin Rehfeldt, Bamberg