Zur mörderischen Freiheit von Grassland und Gebirge. Das Jennerwein-Lied und die Räuberballade im ausgehenden 19. Jahrhundert
29. Juli 2013 1 Kommentar
–
Volkslied Das Jennerwein-Lied (um 1877) Es war ein Schütz in seinen besten Jahren, er wurde weggeputzt von dieser Erd, Man fand ihn erst am neunten Tage bei Tegernsee am Peißenberg. Auf den Bergen ist die Freiheit, Auf den Bergen ist es schön, Doch auf so eine schlechte Weise Mußte Jennerwein zugrunde gehn! Auf hartem Stein hat er sein Blut vergossen, Am Bauche liegend fand man ihn, Von hinten war er angeschossen, Zersplittert war sein Unterkinn. Und es war schrecklich anzusehen; Als man ihm das Hemd zog aus, Da dachte jeder bei sich selber: Jäger, bleib mit'm Selbstmord z'Haus! Du feiger Jäger, s’ ist eine Schande, Du erwirbst dir wohl kein Ehrenkreuz; Er fiel mit dir nicht im offnen Kampfe, Wie es der Schuß von hint’ beweist. Man bracht ihn dann noch auf den Wagen, Bei finstrer Nacht ging es noch fort, Begleitet von seinen Kameraden, Nach Schliersee, seinem Lieblingsort. Von der Höh ging’s langsam runter, Denn der Weg war schlecht und weit; Ein Jäger hat es gleich erfunden, daß er sich hat selbst entleibt. Und als man ihn dort in den Sarg wollt legen, Und als man gsagt hat: Ist jetzt alles gut? O nein! sprach einer von den Herren, o nein! Auf seiner Brust, da klebt ja frisches Blut! In Schliersee ruht er, wie ein jeder, Bis an den großen jüngsten Tag, Dann zeigt uns Jennerwein den Jäger, Der ihn von hint’ erschossen hat. Zum Schlusse Dank noch den Vet'ranen, Da ihr den Trauermarsch so schön gespielt, Ihr Jäger, tut Euch nun ermahnen, Daß keiner mehr von hinten zielt. Am jüngsten Tag da putzt ein jeder Ja sein Gewissen und sein Gewehr. Und dann marschiern viel Förster und auch Jäger Aufs hohe Gamsgebirg, zum Luzifer!
–
–
Traditional The Ballad of Jesse James (um 1882, Billy Gashade) Jesse James was a lad that killed many a man He robbed the Danville train He stole from the rich and he gave to the poor He'd a hand, a heart, and a brain Jesse was a man, a friend to the poor He couldn't see a brother suffer pain And with his brother Frank he robbed the Springfield bank And he stopped the Glendale train Poor Jesse had a wife, a lady all her life And three children, they were so brave But that dirty lettle coward that shot Mr. Howard Has laid ol' Jesse James in his grave It was Robert Ford, the dirty little coward And I wonder how he feels For he slept in Jesse's bed and he ate o' Jesse's bread But he laid Jesse James in his grave It was with his brother Frank that he robbed the Gallatin Bank An' carried the money from the town It was at that very place that they had a little chase For they shot ol' Captain Sheets to the ground Poor Jesse had a wife to morn for his life And three children, they were so brave But that dirty lettle coward that shot Mr. Joward Has laid ol' Jesse James in his grave They went to a crossing, not very far from there And there they did the same For the agent on his knees delivered up the keys To the outlaws, Frank an' Jesse James It was on a Wednesday night, not a star was in sight When they robbed the Glendale train Those people, they did say for many miles away It was robbed by Frank an' Jesse James Poor Jesse had a wife to mourn for his life And three children, they were so brave But that dirty lettle coward that shot Mr. Joward Has laid ol' Jesse James in his grave Then on a Saturday night, Jesse was at home Just talking with his family brave When Robert Ford came along like a thief in the night And laid poor Jesse in his grave Now, the people held their breath when they heard of Jesse's death They wondered how he came to die It was one of his own gang called little Robert Ford An' he shot Jesse James on the sly Poor Jesse had a wife who mourned for his life And three children, they were so brave But that dirty lettle coward that shot Mr. Joward Has laid ol' Jesse James in his grave Jesse went to his rest with his hand upon his breast And there are many who never saw his face He was born one day in the County of Clay And he came from a solitary race This song was made by Billy Gashade As soon as the news did arrive He said there's no one man with the law in his hand Could ever take ol' Jesse James alive Poor Jesse had a wife to mourn his life An' his children too, they were brave But that dirty little coward shot Mr. Howard An' laid Jesse James in his grave Oh, they laid poor Jesse in his grave, yes, Lord They laid Jesse James in his grave Oh, he took from the rich and he gave to the poor But, they laid Jesse James in his grave
Zugegeben, einen echten wilden Westen wie in den USA gab es im 19. Jahrhundert im deutschen Raum nicht. Somit gab es vermutlich auch keine echten Westernhelden wie Buffalo Bill oder Jesse James, die durch das karge Grassland jagten und dessen gefährliche Freiheit genossen. Andererseits wiederum gab es da doch das Königreich Bayern, einen mehr oder weniger wilden Süden mit seinen zerklüftenten Berglandschaften und deren ebenso gefährlicher Freiheit. Und durch dieses Gebirg jagte wiederum ein bajuwarischer Jesse James: Georg „Girgl“ Jennerwein (ein weiterer bayrischer Volksheld wäre etwa der Hiasl).
Wie sein amerikanischer Zeitgenosse Jesse James (vgl. The Ballad of Jesse James mehrfach gecovert, z. B. von Pete Seeger und Nick Cave) wurde auch Jennerwein in einer Räuberballade verewigt. An beiden Texten zeigt sich, dass es gerade ein mysteriöser und verfrühter Tod ist, der die Mythenbildung um den Helden befeuert und zu seiner Erhöhung zum Volkshelden mit beiträgt (vgl. bezogen auf Jesse James dekonstruierend Andrew Dominiks Film The Assassination of Jesse James by the Coward Robert Ford [2007]); so auch beim Lied vom Jennerwein, das beispielhaft für das Genre der Räuber-, Wildschütz- oder Mörderballade ist. Sowohl formal als auch inhaltlich bedient die Ballade das zentrale Motiv des Heldentods und seine entscheidende Rückwirkung auf die glorifizierte Heldenbiografie.
Wo es um Mord und Todschlag geht, geht es blutig zu. Für das Genre der Mörderballade typisch ist eine drastische Darstellung der Leiche. So wird auch der Körper des bayrischen outlaw, der neun Tage nach der Mordtat am Preißenberg gefunden wird, ungeschönt beschrieben: „Auf hartem Stein hat er sein Blut vergossen“, „von hinten war er angeschossen“ und „zersplittert war sein Unterkinn“. Die Schlussfolgerung: „[E]r war schrecklich anzusehen!“. Erste Verwesungserscheinungen lassen sich vermuten.
Das Blut spielt nicht nur für die genreeigene Goreästhetik eine wichtige Rolle, sondern auch für den Verlauf des heldischen Erzählgedichts. Wie beim ermordeten Siegfried im Nibelungenlied, brechen die Wunden des Toten wieder auf – bluten frisch – sobald der Mörder an die Bahre seines Opfers tritt. Dieser wunderbar wirkliche Vorgang entlarvt den feigen Rückenschützen:
Ein Jäger hat es gleich erfunden,
daß er sich hat selbst entleibt.
Und als man ihn dort in den Sarg wollt legen,
Und als man gsagt hat: Ist jetzt alles gut?
O nein! sprach einer von den Herren, o nein!
Auf seiner Brust, da klebt ja frisches Blut!
Nicht nur das frische Blut ist ein Indiz dafür, dass es sich bei dem genannten Jäger um den Mörder handeln könnte. Allein die physikalisch gewagte Überlegung, dass Jennerwein sich selbst mit seinem Gewehr in den Rücken geschossen haben müsste, deutet hier auf ein Ablenkungsmanöver des Täters hin, worauf diejenigen, die die Leiche sehen, jedoch nicht hereinfallen: „Da dachte jeder bei sich selber: /
Jäger, bleib mit‘m Selbstmord z’Haus!“ Das zerschmetterte Unterkinn resultiert wohl aus einem Versuch, nachträglich einen Selbstmord durch Kopfschuss vorzutäuschen und von der Rückenwunde als Todesursache abzulenken. Letztlich führt das Nachtatverhalten des Jägers allerdings zum Gegenteil seiner Absicht, indem er sich damit selbst verrät. Wie die Totenblutung ist auch der Selbstverrat ein beliebtes Motiv der Räuberballade – man denke an Schillers Die Kraniche des Ibykus.
Dass der Täter versucht, sich von der Tat zu distanzieren, verwundert nicht, wird er doch im Lied durchweg degradiert und als genaues Gegenteil zum heroischen Märtyrer etabliert: Er ist ein Feigling, der gewiss kein „Ehrenkreuz“ verdient hat, da er nicht im „offenen Kampfe“, Aug in Auge und fair mit seinem Gegenüber gekämpft hat. Die schon für mittelalterliche Helden und Ritter so wichtigen Tugenden wie Aufrichtigkeit und Ehrlichkeit werden dem Schützen aberkannt. Wie im Mittelalter bedeutet das auch im duellfreudigen ausgehenden 19. Jahrhundert den Verlust des Ansehens, der êre. Der Täter ist zu einer persona non grata geworden.
Doch damit ist das für die Jennerwein-Ballade bestimmende Thema Mord noch nicht abgeschlossen. Zwar mag man den Täter im Hier und Jetzt nicht endgültig dingfest machen, am jüngsten Tage aber gibt es kein Entrinnen mehr für ihn und andere dreiste Gesetzesbrecher: Nicht nur Jennerwein wird dann nämlich auferstehen und seinen Mörder benennen. „Am jüngsten Tag da putzt ein jeder / Ja sein Gewissen und sein Gewehr.“ Ein Höllenmarsch beschließt die Ballade, es geht für die Gegner der Wilderer, Jäger und Förster, aufs teuflisch-gezackte „hohe Gamsgebirg, zum Luzifer“.
Diese Höllenparade verläuft räumlich entgegengesetzt zum Trauerzug für Jennerwein: Führt die Beerdingungsprozession „von der Höh […] langsam runter“, vom Preißenberg nach Schliersee, wo noch heute ein Denkmal für Jennerwein zu finden ist, führt es die Sünder nach oben, auf den höllischen Berg. Das zugespitzte Fazit: In der gefährlichen Freiheit der Berge lauert entweder Todesgefahr oder Höllenangst. Dies allerdings wirkt beinahe als Widerspruch zum (auch im Lied zitierten) geflügelten Wort: „Auf den Bergen ist die Freiheit,/ Auf den Bergen ist es schön!“ Beinahe. Denn die mörderische Ambivalenz dieser Freiheit ist wohl gerade das faszinierend Schaurig-Schöne am Bergraum. In der Tat ist der Reiz an der Freiheit ja oft der Nervenkitzel, dass alles möglich ist, und ein sicheres Ende nicht vorauszubestimmen, im Kontrast zu einem geregelten Alltag. Moral setzt erst wieder im Tal ein oder in der beengten Wohnung des Bürgers. Der Berg kennt keine Gesetze, keine Vernunft. Extreme Gefühle steigen in der schroffen Bergwelt auf wie die kantigen Gipfel der Felsen.
In dieser Funktion ist der montanarische Raum übrigens dem amerikanischen Grassland ähnlich. Zugegeben, ein echtes bajuwarisches Bergland gab es im 19. Jahrhundert in den Vereinigten Staaten von Amerika nicht. Somit wohl auch keine echten Wildschützhelden wie Jennerwein. Jedoch gab es da die Volkshelden des wilden Westens, die durch die karge Prairie jagten und dort – zwischen messerscharfen Grashalmen und brockigen Steinwüsten – ihre gefährliche Freiheit genossen.
Florian Seubert, Bamberg
Pingback: Descargar Aptoide Apk