Begegnungsräume. Tom Astors „International Airport (Frankfurt am Main)“ aus dem Jahre 1988
12. Mai 2024 Hinterlasse einen Kommentar
Tom Astor
International Airport (Frankfurt am Main)
Mexico war mal mein Ziel, doch ich kam nie dort an
Schuld war vor Frankfurt ein Stau auf der Autobahn
Und dieser Parkplatz, den ich dann nicht schnell genug fand
Ich sah grade noch, wie der Jet in den Wolken verschwand
International Airport, Frankfurt am Main
Startbahn der Träume, die Welt wird hier klein
Hier triffst du Sieger, Verlierer und Tramps
Prominente, die du von der Glotze her kennst
International Airport, Frankfurt am Main
Das Fernweh packt viele und hilft über manches hinweg
Heimweh und Flugangst sind oft das schwerste Gepäck
Irgendwo am Horizont suchen viele ihr Glück
Und mancher kommt mit 'nem Koffer Probleme zurück
International Airport, Frankfurt am Main […]
[Tom Astor: Freiheit, die ich meine. Imperial 1988]
Cowboys sind, abseits der Western-Romantik, oft für eine gewisse stoische Konstitution bekannt. Das endlose Reiten auf Pferden durch endlosen Landschaftsraum auf dem nord-süd-amerikanischem Kontinent, Richtung Mexiko hin oder nach Wyoming fort, gen Osten womöglich, durch die Wüsten Nevadas, Arizonas, alles eins, wenn man die Natur nicht lesen kann, der Sonne folgt am Horizont, irgendwo. Der Stoizismus ist es vielleicht auch, der den relokalisierten Westernhelden auszeichnet, wenn er durch moderne Großstadtschluchten zieht, durch Badlands aus Beton trabt, also diejenigen Orte, die man nicht mehr Betonwüsten nennen möchte, weil die Metapher beinahe so totgeritten ist, wie der Gaul, der seinen Reiter einst tausende Kilometer – Meilen – durch Trockenzonenreservate trug. Einer dieser wüstengleichen Orte der Moderne, zumindest auf den ersten Blick, ist auch der Flughafen. Der Flughafen als Raumkonzept ist ein spannender Ort oder eher keiner: ein Nicht-Ort, wie der französische Kulturtheoretiker Marc Augé ihn beispielhaft nannte. Ein Ort einer Über-Moderne, zwischen gerade noch und schon post, der sich dadurch auszeichne, so gar nichts Orthaftes zu haben. Identität, Lokalkolorit, eine persönliche Spur finde man dort nicht, weil man sie dort gar nicht suche. Es gehe bei diesem Nicht-Ort darum, dass man vor allem möglichst ungestört hindurchreise, ihn flüchtig passiere.
Nun ist das nach Augé etwas, was viele Orte in unserer Zeit oder vielmehr seiner Zeit, die ja nun auch schon ein halbes Jahrhundert zurückliegt, auszeichne; und das, ganz kulturanthropologisch gesprochen, habe dann auch Einfluss auf die Psyche der Menschen. Wie ergeht es der romantischen Seelenlandschaft, wenn deren innere Untiefen sich so gar nicht mit der glatten Oberfläche der Außenwelt in Einklang bringen lassen? Freilich könnte man die Frage der Nicht-Örtlichkeit, der Heimatlosigkeit ohne Unterschied, da alles unterschiedslos ist, auch auf digitale Räumlichkeiten übertragen. Das tun wir hier aber nicht. Denn wir bleiben bei der Stoa und der Moderne eines gestrandeten Cowboys im Lied eines Daheimgebliebenen: Tom Astors International Airport (Frankfurt am Main) aus dem Jahre 1988 (geschrieben zusammenmit Klaus Loehme und T.T. Kermit).
Geht man von der Prämisse aus, dass Literatur als langsameres Medium, als nicht nur oberflächliches Medium die Welt in ihre Illusionen sezieren kann und gerade dadurch ein Leben in der Wirklichkeit ermöglicht, dann ist Astors Western-Schlager ein Beispiel dafür. In ihm macht sich eine Cowboy-Stimme zunächst auf die Reise. Astor, einer der bekanntesten deutsch-approbierten US-Kuhjungen, bedient mit dem ersten Satz einen erwartbaren Mythos, der sich mit seiner Künstlerpersönlichkeit überlappt: „Mexico war mal mein Ziel, doch ich kam nie dort an.“ Und es beginnt, so meint man, eine Western-Posse, eine karge Geschichte über eine andersverlaufende Wirklichkeit in Prärie-Setting. Doch so wie der erste Satz schon einen Bruch beinhaltet, der einer anfangenden Cowboy-Ballade eine Wendung verleiht, so erzeugt der zweite Satz der Geschichte gleich eine Dissonanz der Örtlichkeiten. Nach Mexico sollte es nicht etwa von Norden aus gehen, behuft. Und es war auch keine Truppe Banditen, die dem Helden in die Quere kam und ihn vom Ziel abbrachte, sondern „Schuld war vor Frankfurt ein Stau auf der Autobahn.“ Der Trucker, meint man, ist die Weiterführung des Cowboys auf Rädern. Und nach Mexico sollte es mit dem Flugzeug gehen, das verpasst wurde, auf spektakulär alltägliche Weise: durch das Missen des Bezahlparkplatzes. Vom Boden aus sieht der Trucker nicht die Geier kreisen, sondern den Jet davonziehen, am Himmel.
Der nicht vollzogene Abschied als in der Luft hängende Melancholiewolke ist freilich in der Tradition des Cowboy-Lieds und sicherlich auch für eine korrelierende fahrende Existenz nichts Ungewöhnliches. So geht es beispielsweise Ende des 19. Jahrhunderts im Lied Red River Valley um das Auf-Wiedersehen eines dahinreisenden Hirten Richtung Meer und die Hoffnung seiner Geliebten, dass er doch die süßen gemeinsamen Stunden nicht vergesse. Und John Denver droht 1969 in einem Country-Verschnitt einer Schlafenden, dass er sich verabschiede, nun wirklich gehe, wer weiß wie lang und wohin, via jet plane, in einem Düsenflugzeug, das am Ende des Lieds durch Motorengeräusch und angesaugte Luft dann tatsächlich abhebt, mit dem Sprecher an Board. Tom Astors Trucker tut das nicht.
Sein nicht-reisender Reisender bleibt also vor Ort, in der Vor-Örtlichkeit des Frankfurter Flughafens, englisch International Airport, wie einige Jahre später Tom Hanks‘ festsitzender Ost-Europäer im Terminal. Nun bildet sich also dieses Genre der Flughafen-Literatur, des Flughafen-Films, des Flughafen-Lieds, und man fragt sich, was diesen Ort, pardon, Nicht-Ort, also ausmache, ohne dass ihn etwas tatsächlich ausmacht, da er ja eigentlich kein eigentliches Heimatkolorit hat. Bei unserem Schlager kann man den Refrain hierzu befragen:
International Airport, Frankfurt am Main
Startbahn der Träume, die Welt wird hier klein
Hier triffst du Sieger, Verlierer und Tramps
Prominente, die du von der Glotze her kennst
International Airport, Frankfurt am Main.
Zunächst einmal ist es ein internationalisierter Raum, sprachlich gesehen, bilingual zumindest. Folglich trägt der Hafen einen Doppelnamen halb-halb, Teile sind englisch (airport), Teile sind deutsch (oder zumindest deutsch ausgesprochen): „Frankfurt am Main“. Vor vielen Jahren wollte ich einmal eine Analyse zur Auffälligkeit abweichender Sprachmuster an Nicht-Orten wie dem Flughafen am Beispiel der Filme Terminal und Orly (dem franz. Art House-Film) schreiben; auf der These aufbauend, dass an Nicht-Orten nicht-reibungslose Kommunikation ein Thema ist, da sie genau das unterwandert, wofür diese Orte geschaffen sind: das Durchflutschen. Wenn etwas also nicht auf Anhieb lesbar (im übertragen Sinne ‚verständlich‘) ist, da es von den erwarteten, linguistischen Mustern (z. B. Pfeil ↑, Terminal A, WC) abweicht, dann gibt es einen Stau am Flughafen und es flutscht nicht mehr, da man kurz innehalten und denken muss. (Im akademischen Bereich könnte man hier viele internationale Journals anführen, die die Nicht-Orte der intellektuellen Kultur geworden sind. Aber das ist ein anderes Thema.)
Das Nicht-Abheben kann also auch eine bewusste Entscheidung des Sprechers im Lied sein, eine Verpassung mit dem Erwartbaren von gewöhnlichen Flughafen-Plots: Die Metapher der Startbahn der Träume, die vielleicht der Werbesprache der unregulierten Konsum-1980er entnommen wurde – Sandstrände, ein buntes Mexiko, Urlaub und Abenteuer in Vollpension – wird durch realitätsnähere, mitreisende Metaphern in der folgenden Strophe geerdet: „Heimweh und Flugangst sind oft das schwerste Gepäck“. Und auch das Versprechen, dass man mit einem Koffer voll wunderbarer Souvenirs von einer Reise zurückkommt, wird emotional stoischer eingeordnet: „Irgendwo am Horizont suchen viele ihr Glück / Und mancher kommt mit ’nem Koffer Probleme zurück.“ Aus der Startbahn der Träume wird eine Landbahn an gemischten Gefühlen im Realen des Nicht-Orts Flughafen. Überhaupt wird das Ziel selbst in Frage gestellt: „Fernweh packt viele und hilft über manches hinweg.“ Reisen ist auch nicht immer die Lösung. Zum Nachjagen von (suggerierten) Träumen – könnte man vielleicht im Schlager-Kontext der neoliberal geprägten, späten 1980er Jahre hinzufügen – fragt sich ein Cowboy, der am Flughafen festsitzt, ober er die versprochenen Träume überhaupt auf sich nehmen will, ob das Nacheilen, mit Flugangst und Heimweh beschwert, diese wert ist. Das Erzielen von Träumen kann einen emotionalen Preis haben. Dann muss das Schicksal mitspielen, der Stau sich lösen, der Parkplatz sich finden lassen. Und wer sagt überhaupt, von was sich zu träumen lohnt?
So sitzt der Trucker-Cowboy nun also im modernen Habitat, vielleicht in der Spätmoderne, an der Grenze zum schillernden Oberflächenwirrwar der Postmoderne, und betrachtet die Passanten, als sitzengebliebener Flaneur, der nun kein Ziel mehr hat, und vielleicht auch keines mehr braucht oder je eins wirklich wollte: „Hier triffst du Sieger, Verlierer und Tramps / Prominente, die du von der Glotze her kennst.“ Was einen Sieger ausmacht, was einen Tramp, einen städtischen Landstreicher, das lässt sich in dem ins Wanken gekommenen Wertehorizont des Flughafengastes gar nicht mehr so genau bestimmen. Erscheinen ist Oberfläche, mag zutreffen, oder, wie in Gogols frühmoderner Kulissen-Novelle über den Petersburger Newski-Prospekt (1835), nur schöner Schein sein, der sich hinter der momentanen Wahrnehmung aufdröselt in unvollendete Lebenswege, Anderslaufendes, Aufreizend-Aufreibendes. Oder es kommt das moderne Vehikel der Drehtür in den Sinn, durch die sich Klassen, Identitäten mischen, vorbeiziehen wie Menschen im Hotel. Oder aber es ist, nun schon post-moderner, das Abbild eines Bildes: Prominente Gesichter, die man von der Mattscheibe her kennt. Und man weiß gar nicht mehr, was zuerst da war, noch echt ist. Mediale Abbildung trübt immer schon die Wirklichkeitswahrnehmung.
Mehr gibt dieser Ort nicht her. Tiefer geht es nicht in den Begegnungen. Stoisch nimmt der Trucker das Gesehene wahr. Ein neues Ziel definiert er nicht. Das Lied hält nicht, was es verspricht. Oder doch: Es gibt kein Ankommen nach dem verworfenen Ziel. Die Startbahn der Träume führt nicht zu einem Dénouement der Möglichkeiten. Es wird kein letzter Flieger noch erhascht, kein neues Ziel ins Auge gefasst, nicht mit einer Stewardness verhandelt, ob sich noch beispringen ließe auf das Fast-Geflogene.
Es wird gewartet, in endlosen sich wiederholenden Refrains, es ziehen vorbei, wie Wüstenlandschaften, die immer gleichen Gesichter.
Er ist einem vertraut, dieser Frankfurt, International Airport.
Florian J. Seubert, Darmstadt