Das „Schwipslied“ aus Erich Wolfgang Korngolds Bearbeitung der Operette „Eine Nacht in Venedig“ von Johann Strauß auf die Melodie der Annen-Polka (1852/ 1883/ 1931)

Erich Wolfgang Korngold (Musik: Johann Strauß)

Schwipslied

Mir ist auf einmal so eigen zumute,
Irgendwas kitzelt und prickelt im Blute.
Irgendetwas trägt mich weit
Weg in Himmels Seligkeit.
Und ich muss lachen, vor Glück muss ich lachen.
Auch weil ich Lust hab‘, was Dummes zu machen.
Fast könnt‘ das ein Schwipserl sein,
Doch dies ist kein Schwips, oh nein!

Vorhin trank ich nur aus einem Glas,
Jetzt sind es schon zwei,
Wie kommt denn das?
Und dann denk‘ ich noch,
Wenn ich nur wüsst‘,
Hab‘ ich heute schon geküsst?

Nein, nein, nein, nein ...

Mir ist auf einmal so [...]

Hopsassa trallala, oh ich weiß, was ich weiß.
Alles steht schief herum, alles dreht sich im Kreis.
Alles, was fest war, ich merke es schon,
Das ist nicht mehr verlässlich, es tanzt mir davon.
Und wenn ich gehe, dann schwebe ich leicht,
Bis ich endlich das Ziel, das ich will, hab erreicht.

Ja, ja, ja, ja ...

Mir ist auf einmal so [...]

  [Eigene Transkription]

Vorbemerkung

Die Operette ist heute vermutlich das in der Breite der Gesellschaft, bei den meisten Musikkritikern und selbst bei vielen Darstellern das am wenigsten geschätzte Genre im Angebot deutscher Bühnen, gilt sie doch als ästhetisch anspruchslos, historisch überholt und gesellschaftspolitisch unbedeutend. Obwohl viele Operetten nach wie vor die zuverlässigsten Kassenmagneten vieler Stadttheater sind und wesentlich dazu beitragen, deren „Ausflüge in die Hochkultur“ zu finanzieren, wie es Marcel Prawy (einstens Chefdramaturg der Wiener Staatsoper) einmal formuliert hat.

Was meine eigene Haltung gegenüber dieser Theatersparte angeht, würde ich diese als neutral bezeichnen; ob mir eine Operette gefällt oder nicht, hängt hauptsächlich von der jeweiligen Inszenierung ab, d. h. von mehr oder minder kreativen Regieeinfällen, der Spielfreude des Ensembles, der gesanglichen Qualität und der Fähigkeit bzw. auch Lust solcher Aufführungen, gängige Routinen des Kulturbetriebs zu durchbrechen, mit ästhetischen Mitteln ein gehöriges Chaos zu verbreiten und dabei etablierte gesellschaftspolitische Normen auf eine lustig-unterhaltsame Weise, also einmal nicht mit didaktisch erhobenem Zeigefinger zu hinterfragen.

Zum Inhalt des Schwipslieds

Der Text des Liedes scheint mir, insbesondere wenn man ihn schriftlich fixiert vor sich sieht, nicht besonders schwierig zu verstehen. Die Sängerin, präziser formuliert: die von der Sängerin dargestellte Figur, steht offensichtlich unter dem Einfluss von Alkohol. Sie diagnostiziert ihre Verfassung und notiert, ebenso interessiert wie belustigt, die physischen und psychischen Wirkungen, die sich daraus für sie ergeben. Das gesamte Lied lässt sich gewissermaßen als Protokoll eines Selbstexperiments verstehen. Obwohl seine Verfasserin vermutlich nicht zu hundert Prozent dem wissenschaftlichen Ideal eines nüchternen Beobachters entspricht, klingen ihre Verlautbarungen glaubhaft, finden sich darin doch die typischen euphorisierenden und enthemmenden Effekte wieder, die man in unserer Kultur üblicherweise mit Alkoholkonsum verbindet. Außerdem belegen ihre Äußerungen eine dezente sinnliche Vernebelung, die zu Unschärfen in der Weltwahrnehmung und eigenen Orientierung führt. Dass sich die Protagonistin – allen Verwirrungen zum Trotz – in ihrer Situation wohlfühlt, bringt sie explizit wie implizit zum Ausdruck: sie spürt des „Himmels Seligkeit“, muss „vor Glück“ lachen, scheint zu schweben. Zur sachlichen Diagnose ihres angeheiterten Zustands fällt ihr spontan der Begriff ,Schwips‘ ein, zunächst in der Wienerischen Verniedlichungsform, den sie aber sofort entschieden zurückweist: „Doch dies ist kein Schwips, oh nein!“

Was ist aber eigentlich ein ,Schwips‘ und warum will sich die Protagonistin partout nicht dazu bekennen? Einem Herkunfts-Wörterbuch kann entnommen werden, dass der im 19. Jahrhundert in Österreich aufgekommene und heute ziemlich aus der Mode gekommene Begriff einen leichten Alkoholrausch bezeichnet, eine gesellschaftlich weitgehend akzeptierte Vorstufe der Betrunkenheit. Beschwipste Menschen befinden sich in einer aufgekratzten Stimmung, zeigen sich redselig, mitunter auch ein bisschen albern, stehen vielleicht auch nicht mehr ganz stabil auf ihren Beinen, aber sie produzieren keine groben Aussetzer, werden weder aggressiv noch ausfällig und sind insofern gesellschaftlich noch bestens kompatibel. Sprachwissenschaftler interessieren sich womöglich noch dafür, dass der Ausdruck zur mundartlichen Wortfamilie von ,schwippen‘ gehört, die sich auf das sanfte Hin- und Herschwanken von Flüssigkeiten bezieht. Nun aber zurück zum Lied: Die Protagonistin liegt mit ihrem Verdacht, dass sie sich einen Schwips eingefangen hat, sicher richtig, will sich das aber nicht eingestehen, obwohl alle festgestellten Symptome darauf hinweisen und diese leichte Form der Trunkenheit auch gemeinhin als unanstößig gilt. Eine mögliche Erklärung findet sich im Kontext des Liedes und in der Figur der Protagonistin.

Das Schwipslied im Kontext

Das Schwipslied wird häufig als lustige Gesangsnummer im Rahmen von Show-Konzerten populärer Opern- und Operettenstars dargeboten. In diesen Fällen kann sich das Publikum daran verlustieren, wie eine berühmte Gesangsvirtuosin eine beschwipste Person mimt, die darum kämpft, ihre aufrechte Haltung und Melodielinie zu halten, obwohl ihr beides entgleitet oder wenigstens zu entgleiten droht. Die Komik funktioniert in diesem Fall in doppelter Weise, insofern das Publikum einerseits die Artistik der Imitation bewundert, also mit der Künstlerin lacht, sich andererseits aber auch über die dargestellte Figur (nicht die Sängerin!) erhebt, die vom Schwips beeinträchtigt wird und sich gewissermaßen öffentlich zum Affen macht. Diese Form der Komik, die zum Verlachen eines komischen Objekts führt, hat der französische Philosoph Henri Bergson ausführlich untersucht.   

Mit einem genaueren Kontext wird das Schwipslied in der Operette Eine Nacht in Venedig ausgestattet, wobei auch diese Verhältnisse keinesfalls einfach zu beschreiben sind. Einigermaßen verwickelt ist schon die Handlung dieser 1883, ausnahmsweise in Berlin uraufgeführten Operette von Johann Strauß (Sohn), dem sog. ,Walzerkönig‘ (1825-1899), aber beinahe unüberschaubar wird das Ganze dann durch die zahlreichen Modifikationen und Bearbeitungen, die das Stück im Laufe seiner Rezeptionsgeschichte erfahren hat. So war das Schwipslied beispielsweise noch gar kein Bestandteil der frühen Aufführungen zu Lebzeiten unter dem Dirigat des Komponisten, sondern wurde erst lange nach dessen Tod, 1931, als Glanznummer von einem Bearbeiter in die Handlung eingebaut, um diese für ein modernes Publikum attraktiver zu machen. Aber gehen wir Schritt für Schritt vor …

Eine Nacht in Venedig zählt auch heute noch zu den beliebtesten Operetten von Johann Strauß. Sie erreicht zwar weder die Aufführungszahlen einer Fledermaus (1874) oder eines Zigeunerbarons (1885), rangiert aber nicht allzu weit dahinter. Um die Entstehung dieses Werks ranken sich allerlei Anekdoten, die hier nicht aufgewärmt werden müssen, nur so viel sei gesagt, dass es wohl ein Herzensanliegen des Komponisten gewesen ist, eine Operette mit dem Schauplatz Venedig seinem Repertoire hinzuzufügen, so dass er seine Librettisten Friedrich Zell (bürgerlich: Camillo Walzel) und Richard Genée entsprechend instruierte, ihm ein passendes Skript zu liefern. Schließlich entstand – unter Rückgriff auf eine französische Grundidee, wie die Autoren im Titel freimütig gestehen, – eine typische Komödienhandlung im Geschmack der Commedia dell’arte, bei der die Protagonisten um Geld- und Liebesangelegenheiten ringen, sich vermittels allerlei Intrigen bekriegen, wobei Sein und Schein ordentlich durcheinandergeraten, Identitäten fingiert, Betrüger betrogen werden, sich am Ende die verwickelten Verhältnisse aber dann doch so auflösen, dass der poetischen Gerechtigkeit Genüge getan wird und die Zuschauer mit guten Gefühlen nach Hause oder zu einem zünftigen Souper gehen können.

Ort der Handlung ist also die berühmte Lagunenstadt, die seit dem Frieden von Wien (1866) nicht mehr zu Österreich gehörte, sondern an das mit Preußen verbündete Königreich Italien gefallen war. Die frühere, seit der Besetzung durch Napoleons Soldaten an ihr Ende gelangte Adelsrepublik konnte ihren Besuchern im ausgehenden 19. Jahrhundert nur noch einen Schatten früheren Glanzes bieten, der allerdings von zahlreichen, vorwiegend deutschen Künstlern zum Mythos ihrer selbst aufpoliert wurde. Nicht von ungefähr verlagert Strauß die Handlung seiner Operette in die Mitte des 18. Jahrhunderts zurück, als Venedig dank einer protektionistischen Luxusindustrie (Glasherstellung) und des aufkommendem Tourismus seine schwindende überregionale Bedeutung im Fernhandel und für das europäische Bankwesen sowie als militärisches Bollwerk gegen das osmanische Reich noch halbwegs überspielen konnte.

So ist die Hauptperson in Straußens Operette auch einer jeder frühen Touristen, nämlich der überaus potente Herzog von Urbino (Guido), der es sich in den Kopf gesetzt hat, die Lagunenstadt im Karneval heimzusuchen und seine eigene Frau mit einer venezianischen Schönheit zu betrügen. Um seinen Plan in die Tat umzusetzen, hat er die Senatoren der Stadt mit ihren Frauen zu einem großen Maskenball eingeladen und damit in helle Aufregung versetzt, wissen sie doch ganz genau, was der edle Schwerenöter im Schilde führt. Andererseits weiß man aber auch um dessen Reichtum und wittert die Gelegenheit, für sich lukrative Pöstchen zu ergattern. Guido hat besonders eine Frau im Visier, der er zwar noch nie begegnet ist, der aber der Ruf außergewöhnlicher Attraktivität vorauseilt: Barbara, die Gattin des ebenso alten wie raffgierigen Delacqua. Der heckt nun einen Plan aus, um seine Frau vor dem Lustmolch in Sicherheit zu bringen, diesen aber dennoch insoweit zufriedenzustellen, dass für ihn die Stellung eines herzoglichen Verwalters abfällt. Komödientypisch soll die schöne Barbara heimlich per Gondel in ein Kloster verfrachtet werden und Zofe Ciboletta ihre Rolle beim feudalen Maskenfest übernehmen, Guido sozusagen zum Fraße überlassen werden …

So schön Delacqua auch seinen Plan erdacht hat, erweist sich doch bald, dass diese Rechnung ohne diverse Wirtinnen und Wirte gemacht wurde, die jeweils eigene Zwecke verfolgen. Da gibt es z. B. einen strammen Neffen des Senators, den die hübsche Barbara begehrt, weshalb ihr die verordnete Verschickung ins geistliche Refugium gerade recht kommt, um ihrem Ehetyrannen zu entfliehen. Während der sie durch ihre Zofe ersetzt, sorgt sie selber für anderen Ersatz, indem sie ihre Milchschwester, das Fischermädchen Annina, anheuert, um sie – natürlich entsprechend verkleidet – bei der Klosterverfrachtung zu repräsentieren. Und dann bleibt auch der Herzog nicht passiv. Sein umtriebiger Leibbarbier Caramello soll ihm Barbara zuführen. Der erwischt das Objekt der fürstlichen Begierde auch tatsächlich auf der Flucht und entführt sie in den Palast, nur um dort zu entdecken, dass im Gewand der Senatorin Annina steckt, die er sehr gut kennt, weil er ihr schon seit längerem den Hof macht. Nun ist seine Verzweiflung groß, größer noch seine Eifersucht, weil die Fischerstochter das Hofleben und die Komplimente des Herzogs zu genießen scheint. In dieser Phase der Handlung lässt sich das Schwipslied zwanglos in die Operettenhandlung einbetten.

Trotz aller Anstrengungen kommt Guido bei Annina nicht zum Zuge, weil ihm irgendwie immer wieder irgendwelche Störungen, der eifersüchtige Caramello oder andere Festgäste in die Quere kommen. Dann stoßen die anderen Senatoren mit ihren Damen hinzu, und auch Delacqua findet die Gelegenheit, dem Herzog seine vorgebliche Gemahlin, die Zofe Ciboletta vorzustellen, die sich offensiv an den Gastgeber heranmacht, hofft sie doch, aus diesem eine Anstellung für den eigenen Liebhaber herauszuschlagen. Guido ist einigermaßen verwirrt, sich nun plötzlich mit zwei Barbaras konfrontiert zu werden, die sich im Finale noch zu einem Trio erweitern sollen, weil beim großen Maskentreiben auf dem Markusplatz auch noch die echte Senatorengattin an der Seite ihres Liebhabers auftaucht, wobei sie Delacqua glauben macht, der Neffe hätte sie aus den Fängen eines kriminellen Gondoliere gerettet. Vor dem Herzog ist sie übrigens sicher, wenigstens vorläufig, denn der hat sich die ihm sehr angenehme Nähe Anninas dauerhaft gesichert, indem er ihrem Caramello den allseits begehrten Verwalterposten übertragen hat.

Aus dem Handlungskontext der Operette ergibt sich, dass der Konsum prickelnder alkoholischer Getränke wie die gesamte Atmosphäre im herzoglichen Palast für die Fischerstochter Annina eine ganz und gar neue Erfahrung darstellt, die sie verwirrt, aber die sie auch fasziniert. Sie ist mit den Normen dieser Umgebung nicht vertraut und weiß demzufolge auch nicht, ob es sich für sie – in der Rolle einer Senatorengattin – ziemt, ein Schwipserl zu haben. Vorsichtshalber bestreitet sie es …     

Bearbeitungen und Bezüge

Schon im Jahr der Uraufführung gab es zwei, vom Komponisten selbst geschaffene Fassungen der Operette. Nachdem das Werk beim Berliner Publikum durchgefallen war, veränderte Strauß es erheblich für die wenige Tage später angesetzte Wiener Premiere, die von den Zuschauern auch prompt enthusiastisch gefeiert wurde. Für diesen Erfolg waren allerdings wohl nicht nur Verbesserungen am Text und neue Musiknummern ausschlaggebend, sondern auch die damaligen Aversionen zwischen Preußen und der Habsburger-Monarchie, aufgrund derer die Wiener Theatergänger die Misshandlung ihres Lieblings in Berlin nicht einfach hinnehmen konnten. Die sog. ,Berliner Fassung‘ wurde hinfort kaum mehr gespielt, dafür erhielt die Wiener Version der Operette bald auch auf deutschen und sogar Berliner Bühnen regen Zuspruch. Als der im neuen Jahrhundert abflaute, fanden sich etliche Bearbeiter, die das Werk im Hinblick auf die lokalen Gegebenheiten eines Aufführungsortes sowie den veränderten Zeitgeist und Publikumsgeschmack modifizierten bzw. modernisierten.

Unter diesen Bearbeitern ragt aufgrund seiner musikalischen Befähigung, aber auch seiner Wirkung auf die spätere Aufführungsgeschichte der Operette Erich Wolfgang Korngold (1897-1957), als renommierter Opernkomponist ein Vertreter der modernen Klassik, zugleich zweifacher Oscarpreisträger für Filmmusik, heraus. Korngold mochte Operetten, von denen er seit den 1920er Jahren mehrere unter seine Fittiche nahm, darunter Stücke von Leo Fall, Jacques Offenbach und Johann Strauß. Dessen venezianische Verwechslungskomödie nahm er sich gleich mehrfach vor, und 1931 baute er dabei auch das Schwipslied als besonders wirkungsvolle Gesangsnummer in die Operettenhandlung ein. Die Inspiration dazu dürfte er in Jacques Offenbachs Opéra-bouffe La Périchole (Die Straßensängerin), UA Paris 1868, gefunden haben, die nicht wenige Gemeinsamkeiten zur Nacht in Venedig aufweist: Auch dort wird eine junge hübsche Frau aus der Unterschicht in einen Palast gelockt, wo sie sich endlich einmal satt essen und feinem Wein zusprechen darf. Da kann ein ordentlicher Schwips nicht ausbleiben, was Offenbach in der „Griserie-Ariette“ (Schwips-Arie) zum Vergnügen seines Publikums dokumentiert hat:

Von Offenbachs Schwips-Arie zu Korngolds Schwipslied war es nur ein kleiner Sprung. Die fehlende Melodie komponierte dieser aber nicht selbst, sondern entwendete sie aus dem Frühwerk von Johann Strauß höchstselbst, der ja vor seinem Operetten-Schaffen nicht nur unzählige populäre Walzer komponiert hatte, sondern auch kaum weniger beschwingte Polkas, wobei seine vielen Märsche und Quadrillen noch gar nicht erwähnt sind. Eine der bis heute beliebtesten Kompositionen von Johann Strauß ist seine Annen-Polka (op. 117), die er 1852 für das Annen-Fest im Wiener Prater geschrieben hatte. Dass Korngold gerade diese Melodie für sein Schwipslied ausgewählt hat, ist als besonderer Glücksgriff zu würdigen.

Bei heutigen Aufführungen Einer Nacht in Venedig kommt es darauf an, im Kontext der jeweiligen Inszenierungs-Idee und nach den gesanglichen und darstellerischen Möglichkeiten des verfügbaren Personals eine stimmige Balance zwischen dem komischen und dem koketten Potential des Liedes und dem Charakter der agierenden Figur zu finden. Wenn man ein wenig in einschlägigen Theaterkritiken und Videodokumentationen herumstöbert, kann man sich ein eigenes Bild machen, inwiefern dies da und dort mehr oder weniger gelungen ist ….  

Hans-Peter Ecker, Bamberg

Literatur:

Volker Klotz: Operette. Portrait und Handbuch einer unerhörten Kunst. Kassel: Bärenreiter 2004.

Marion Linhardt: Inszenierung der Frau – Frau in der Inszenierung. Operette in Wien zwischen 1865 und 1900. Tutzing: Schneider 1997.

Johann Strauß: Eine Nacht in Venedig. Operette in drei Akten. Hrsg. und eingeleitet von Anton Würz. Stuttgart: Reclam 1999 (= RUB 7752).

Einschlägige Wikipedia-Artikel.

R.I.P. Shane MacGowan

Zu „Ein Tag wie Gold“ (2022) von Max Raabe und dem Palastorchester. Eine Interpretation unter Einbeziehung der Fernsehserie „Babylon Berlin“ (Staffel 4)

Max Raabe und das Palastorchester

Ein Tag wie Gold 

Ein Tag wie Gold
In den Adern hunderttausend Volt
Eine Nacht, wie Samt und Seide

Ein Tag wie Gold
Ihr habt doch alles, was ihr wollt
Eine Nacht, schöner kann es nicht sein

Zwei Schritt' nach links
Zwei zurück, dann nach vorn
Jetzt oder nie
Wir sind zum Tanzen geboren
Alles bebt, alles lebt
Hak dich ein
Kann es sein, daß wir verrückt sind?

Ein Tag wie Gold
In den Adern hunderttausend Volt
Eine Nacht, wie Samt und Seide

Leben, ist es nur ein Traum?
Schön wär's, ich glaube kaum
Daß es wahr ist
Paß auf, weil man sehr leicht vergißt
Nichts bleibt, wie es ist

Ohhh

Grüße nach Moskau, Paris, und nach Wien
Wir winken euch zu
Alles kommt nach Berlin
Alles schrill, jeder will, 
allen war immer klar, 
daß wir verrückt sind

Ein Tag wie Gold
Was übrig bleibt, das wird verzollt
Ein Schimmern
Denn was kümmern mich Bilanzen
Laß uns tanzen

Die neue Klangwelt

Der Glockenhut auf den brauen Locken sitzt akkurat, der Blick ist konzentriert. Am letzten Tag des Jahres 1930 steht Charlotte Ritter in einem Schallplattengeschäft auf dem Berliner Kurfürstendamm und lässt sich eine Platte vorspielen. „Ich hab’, ich bin, ich möcht’ mit dir sofort. Ich würde, wenn du gerne auch – es fehlt nur noch ein Wort. Du fühlst den Sinn und du verstehst mich sicherlich. Ich hab’, ich bin – ich bin verliebt in dich!“ „Nee, des is es nich“, unterbricht Charlotte die Aufnahme und ihren spöttisch zuckenden Mundwinkeln ist anzusehen, dass sie nach einem anderen Lied sucht. Den Titel kennt sie nicht, doch Ich hab’, ich bin, ich wär’ von Curt Bois trifft Charlottes Geschmack erkennbar nicht. Sie pfeift die Melodie des gesuchten Liedes. Ob sie sicher sei, dass dieses ebenfalls von dem Komponisten Spoliansky sei, will die Verkäuferin wissen. Schließlich gelingt es Charlotte, sich einige Liedzeilen in Erinnerung zu rufen; die Verkäuferin, eine füllige Dame mittleren Alters, erkennt die Melodie und blüht sichtlich auf: „Na das ist Ein Tag wie Gold von Emil Engels“, sagt sie mit einem schwärmerischen, fast andächtigen Lächeln, „das wird ja zur Zeit sehr gerne genommen“. Sie beugt sich zum Regal und zieht die letzte verbliebene Platte hinaus. Beschwingt verlässt Charlotte das Geschäft und tänzelt zur Melodie – Zwei Schritt‘ nach links. Zwei zurück, dann nach vorn – über den mit Schneeresten überzogenen Berliner Gehsteig.

Mit der U-Bahn, die Platte in der Hand, fährt Charlotte zum Berliner Polizeipräsidium. Die junge Kriminalassistentin muss am Silvesterabend zur Spätschicht in die Mordabteilung – betrübt scheint sie darüber nicht zu sein. Die Melodie noch im Ohr, strahlt Charlotte Zielstrebigkeit und Entschlossenheit aus. Idealtypisch verkörpert sie die Neue Frau (vgl. die Besprechung von Claire Waldoffs O wie praktisch auf diesem Blog). Vor dem Paternoster trifft sie ihren Kollegen Gereon Rath. Es stellt sich heraus, dass Charlotte die Platte für ihn besorgt hat. Nach Mitternacht, wenn Charlottes Dienst beendet ist, wollen sie sich wiedersehen. „Der erste Tanz im neuen Jahr gehört Ihnen“, verabschiedet der Kommissar Charlotte.

Mit dieser Szene beginnt die vierte Staffel der Serie Babylon Berlin. Musikalisch wird sie untermalt von Ein Tag wie Gold. Die Staffel basiert lose auf dem Roman Goldstein von Volker Kutscher (erstveröffentlicht 2010). Dessen Geschehnisse verwebt die Serie mit historischen Ereignissen und Persönlichkeiten der Weimarer Republik sowie weiteren fiktionalen Handlungssträngen. Ausgestrahlt wurden die zwölf Episoden ab Oktober 2022 auf dem Bezahlsender Sky und ein Jahr später in der ARD.

Neues Jahrzehnt, neuer Tanz

„Der Tänzer ist einer der markantesten Typen der Zeit, der Zeitmensch ist eben Tänzer“, schrieb Curt Moreck in seinem Führer durch das lasterhafte Berlin (Moreck 2020 [1931]: 108-109). Das Buch erschien im Jahr 1931, dem Jahr, in dem auch die vierte Staffel von Babylon Berlin spielt. Hatte sich in den 1920er Jahren der Charleston großer Beliebtheit erfreut – in der ersten Staffel von Babylon Berlin bewegt sich die Menge im Moka Efti im schnellen Rhythmus des Charleston – wurde er in den 1930er Jahren vom Swing abgelöst bzw. zu diesem weiterentwickelt. Große Big-Band-Ensembles mit mehrfach besetzten Blasinstrumenten waren in den Zwanzigerjahren in Amerika populär geworden. Im Savoy Ballroom in Harlem, der Menschen unterschiedlicher Schichten und Hautfarben offen stand, mischten sich die Tanzkulturen und ein neuer Tanz entstand – der Lindy Hop. Er gilt als der ursprüngliche Swing-Tanz. Mit seinem beschwingten, energiegeladenen Charakter passte der Tanz perfekt zum Lebensgefühl einer Metropole wie dem Berlin der Weimarer Republik. Und so verwundert es nicht, dass der Swing ab den frühen Dreißigerjahren auch die Tanzwut der Berlinerinnen und Berlin befeuerte.

So auch zum Jahreswechsel 1930/31. Emil Engels und seine Big-Band treten in der Silvesternacht in der schlossähnlichen Villa des Großindustriellen Alfred Nyssen auf. Auf der mondänen Feier bewegt sich die Berliner Gesellschaft zunächst zu gediegenen Walzerklängen über die Tanzfläche, bis der Abschuss einer Rakete den würdigen Rahmen für den Auftritt Engels und damit auch für einen ausgelasseneren Tanzstil der Gäste setzt.

Glanz und Elend

Doch nicht nur die Elite aus Politik, Wirtschaft und Gesellschaft kommt in der vierten Staffel von Babylon Berlin in den Genuss einer Live-Performance von Ein Tag wie Gold. Im Varieté Moka Efti präsentiert wenig später Esther Kasabian (dargestellt von Meret Becker mit der Band Meute) das Lied. Von ihrem Ehemann, einem Unterweltboss, hat sie die Leitung des Moka Efti übernommen. Zwei Jahre zuvor versetzte hier die russische Gräfin Swetlana Sorokina alias Nikoros die Menge in Ekstase (vgl. die Besprechung auf diesem Blog), nun läutet die neue Chefin des Nachtclubs den Beginn eines Damen-Tanzmarathons ein, an dem auch Charlotte teilnimmt.

Zu Nikoros, die durch eine androgyne, kühle Aura bestach, stellen sowohl Emil Engels als auch Esther Kasabian einen geradezu heiteren Kontrast dar. Dies liegt in ihrem Auftreten, aber vor allem im Charakter der beiden Lieder begründet. Hatte Zu Asche, zu Staub, dargeboten von Nikoros, deutlich hörbar morbiden Charakter, verhandelte Todessehnsucht und Vergänglichkeit, wirkt Ein Tag wie Gold beim ersten Hören leichter und vergnügter. Der Tag fühlt sich an „wie Gold“, die Nacht könnte nicht „schöner“ sein. Das Leben und die Lebendigkeit werden gefeiert, indem es heißt, durch die Adern pulsiere es mit „hunderttausend Volt“ und „alles bebt, alles lebt“. Dieses Leben ließe sich am besten ausgelassen feiernd und in Bewegung zubringen, schließlich sei man „zum Tanzen geboren“. Eine Anleitung für die richtige Schrittfolge wird direkt mitgeliefert – „Zwei Schritt’ nach links, zwei zurück, dann nach vorn“ – ebenso eine Aufforderung, mitzutanzen: „Hak dich ein“.

Doch Vergänglichkeit und Verfall sind selbst an einem gülden strahlenden Tag nicht weit entfernt: „Hunderttausend Volt“ im Körper können nicht gesund sein, die Spannung ist zu hoch. Könnte es sich bei „Samt und Seide“ der Nacht nicht auch um ein Leichentuch handeln, das sich geschmeidig um den Körper legt? Und worin besteht der Sinn eines Ausrufs wie „Ihr habt doch alles, was ihr wollt“, wenn nicht darin, provokant nachzuhaken, weil das Publikum nicht so ausgelassen tanzt oder so glücklich scheint, wie man es angesichts des prächtigen Tanzsaals und der Musik erwarten könnte. „Kann es sein, daß wir verrückt sind?“Ließ sich die Realität des Jahres 1931 – das Erstarken der NSDAP und der Höhepunkt der Wirtschaftskrise mit sechs Millionen Arbeitslosen – nur eskapistisch tanzend, verrückt, der Wirklichkeit, entrückt aushalten? Die Bestätigung folgt, es ist „alles schrill“, schließlich „war immer klar, daß wir verrückt sind“.

Angelehnt an die Neue Sachlichkeit

Gleichzeitig schwingt im Lied eine Desillusionierung mit, wie sie auch für die Literatur der Weimarer Republik, die Neue Sachlichkeit, typisch ist. In diesen Texten ist zudem oftmals eine Faszination für Technik spürbar – diese kommt auch in Ein Tag wie Gold zum Ausdruck, wenn von „hunderttausend Volt“die Rede ist. Als ein Beispiel für die Original-Literatur der Weimarer Republik sei an dieser Stelle der Roman Das kunstseidene Mädchen von Irmgard Keun genannt. Dieser spielt – wie die vierte Staffel von Babylon Berlin – im Jahr 1931 in Berlin. Die Protagonistin ist zum einen fasziniert von den Lichtern und der modernen Technik der Metropole, zum anderen ist sie besessen von ihrem Äußeren und der Mode. Auch hier bietet sich eine Assoziation zum Liedtext an, in dem von „Samt und Seide“ die Rede ist. Während Samt ein schwerer Stoff ist, der – wie oben erwähnt – Objekte vor unerwünschten Blicken verbergen kann, ist Seide lichtdurchlässig und fließend, ja flatterhaft. Dies gilt sowohl für den Charakter und das Verhalten des kunstseidenen Mädchens als auch für die sich schnell verändernde gesellschaftliche, politische und wirtschaftliche Realität der späten Weimarer Republik, wie sie sich auch in Babylon Berlin und den Auswirkungen auf das Schicksal der Seriencharaktere widergespiegelt findet.

Gleichwohl sei angemerkt, dass es sich bei Ein Tag wie Gold um eine sogenannte Pastiche handelt. D.h. das Lied imitiert die Musik und die Themen einer Epoche, hier der Weimarer Republik. Es versucht, diesen möglichst nahe zu kommen und sie – unter Verwendung weiterer fiktionaler Handlungsstränge – wirklichkeitsgetreu abzubilden, ist aber nicht zu verwechseln mit den Original-Werken aus dieser Zeit. So schrieb bspw. Irmgard Keun ihren Roman in den Jahren 1931/1932, während die Serie Babylon Berlin im Abstand von neunzig Jahren zu der Zeit, die sie darstellen will, entstanden ist. Es handelt sich somit trotz allem Bemühen um Authentizität um ein Werk der heutigen Zeit, das den Blick der gegenwärtigen Generation auf die Weimarer Republik spiegelt. Weitere Analysen der Serie und ihrer Musik könnten entsprechend der Frage nachgehen, inwiefern diese durch das heute verfügbare Wissen – bspw. um den Verlauf der politischen Geschehnisse nach 1931 –, Entwicklungen der vergangenen Jahrzehnte – bspw. die weitere Emanzipation der Frauen – und auch gegenwärtige Diskussionen – bspw. um die Rechte von LGBTIQA-Personen – beeinflusst wurden.

Nicht mehr als ein Schimmern

„Bei allen Massenszenen, Nackttänzen, frivolen Anzüglichkeiten und all dem kühlen Glamour gab es in der Zwischenkriegszeit aber auch einen deutlichen Trend zur Sentimentalisierung und Nostalgie“, schreiben Nippoldt und Pofalla (2017: 34). Deutlich wird dies nicht zuletzt anhand der dritten Strophe von Ein Tag wie Gold. Die Musik ist langsamer, ruhiger. Ist das Leben „nur ein Traum“? Im Tanz fühlt es sich so schön, leicht und beschwingt an, dass es kaum zu glauben ist, „daß es wahr ist“. Erneut erfolgt eine Aufforderung: „paß auf“! Schließlich vergesse man „sehr leicht“, dass „nichts bleibt, wie es ist“. Bezieht man die Liedzeilen auf die Zeitgeschichte, liegt es nahe, das zwei Jahre später erfolgende Ende der Weimarer Demokratie und den Beginn der totalitären Herrschaft in den Blick zu nehmen. Doch auch das Schicksal der Seriencharaktere lässt sich entsprechend deuten: Charlotte scheint in Staffel 4 dem Elend ihrer Herkunft entkommen zu sein, doch sieht sie sich bald darauf erneut (kurzzeitig) mit Arbeits- und Perspektivlosigkeit konfrontiert.

Auch Esther kämpft mit wirtschaftlichen Schwierigkeiten. Die Liedzeile „was kümmern mich Bilanzen, laß uns tanzen“, lässt sich nicht nur als grundsätzlicher Aufruf zum Eskapismus angesichts einer Wirtschaftskrise, sondern auch als Appell an ihr Publikum verstehen, weiter ins Moka Efti zu strömen. Schließlich holt Esther aus der Not heraus erkennbar unbegabte Künstlerinnen und Künstler auf die Bühne ihres Varietés. Ein Jodler, ein Mann, der auf Händen laufen kann und eine Frau, die eine Qualle aus Stoff über dem Kopf trägt, bewerben sich. „Jeder bekommt eine Chance. Und sei sie auch noch so vergebens“, preist Esther das Konzept gegenüber der Presse. „Mit anderen Worten ein Pöbelclub. Ohne Revuen, ohne Stars“, kommentiert dies eine Reporterin. Und sie soll Recht behalten: In einer späteren Szene sieht man eine Seiltänzerin auf der Bühne des Moka Efti. Nur mit Mühe kann sie sich auf dem Seil halten, verliert schließlich das Gleichgewicht und wird vom Publikum, darunter zahlreiche Nationalsozialisten, gnadenlos ausgebuht. Von der Bühne gestoßen, kriecht die glücklose Aktrice über den Boden und sammelt Münzen auf – ein würdeloser Anblick. Hier nimmt die Serie Bezug auf das sogenannte Kabarett der Namenlosen, das zwischen 1926 und 1932 tatsächlich in Berlin existierte. Jeden Montagabend wurde hier „eine Schar ahnungsloser Opfer – die gerade wegen ihres Mangels an Talent zum Auftritt geladen wurden – einer sadistischen Menge vor[geworfen]“ (Moeller 2017: 121).

Es zeigt sich, dass „das Gold“ nicht mehr als ein „Schimmern“ ist. Die Leichtigkeit wird als Illusion entlarvt.

Metropole des Vergnügens und Hauptstadt der Musikindustrie

„Neugier und Erlebnishunger treiben den heutigen Menschen von Stadt zu Stadt, von Land zu Land, von Erdteil zu Erdteil“ – mit diesen Worten beginnt Curt Moreck seinen Führer durch das lasterhafte Berlin (Moreck 2020 [1931]: 9). Der Autor, dessen bürgerlicher Name Konrad Haemmerling lautete, verfasste in den 1920er-Jahren zahlreiche kultur- und sittengeschichtliche Texte – bis diese 1933 verboten wurden. Zuvor jedoch adressierte Moreck die über anderthalb Millionen Besucherinnen und Besucher, die damals jährlich in die Metropole strömen. Ihnen will Moreck nicht die „offizielle Seite“ der Stadt nahebringen, die zahlreichen Sehenswürdigkeiten, „Meilensteine der Langeweile“, sondern die „inoffizielle“ (ebd.: 11-12). Schließlich, so Moreck, brauche es hier einen Führer, denn „was war das Labyrinth [des Minos] gegen das nächtliche Berlin, gegen die in ihrem Licht und in ihrem Dunkel gleicherweise verwirrende Metropole des Vergnügens“ (14)?! Zahlreiche Lokalitäten, sie reichen von den Kaffeehäusern und Kinos über die zahlreichen Varietés und Revuetheater bis hin zu den Stammlokalen der Schwulen und Lesben, stellt Moreck in seinem Bestseller aus dem Jahr 1931 vor. Gut kann man sich das Moka Efti in dem Führer vorstellen, hätte es, wie in Babylon Berlin dargestellt, tatsächlich existiert. Neben der schieren Vielfalt verfüge das Berliner Nachtleben, etwa im Vergleich zu Paris, über einen weiteren Vorteil: „In Berlin ist die Polizei nicht so neugierig. Die Uniformierten halten sich den Kneipen fern. Nur Kriminalbeamte kehren dort gelegentlich als Gäste ein“, so Morecks Kommentar zu den Lokalitäten der Berliner Unterwelt (ebd.: 175). Es scheint fast, als hätten die Macherinnen und Macher der Serie Curt Morecks Schilderungen genau studiert und in die Serie einfließen lassen.

Die Attraktivität Berlins als Reiseziel wird jedenfalls in Ein Tag wie Gold aufgegriffen, wenn es heißt: „Grüße nach Moskau, Paris und nach Wien. Wir winken euch zu. Alles kommt nach Berlin“. Nicht nur für seine nächtlichen Vergnügungsorte war die Hauptstadt bekannt. „Berlin war in dieser Zeit neben New York und London die Hauptstadt der Musikindustrie“, schreiben Robert Nippoldt und Boris Pofalla (2017: 36). Im Jahr 1929 seien in der Weimarer Republik 29 Millionen Platten verkauft und 14 Millionen exportiert worden. Deutsche Plattenfirmen hätten sowohl europäische Länder beliefert als auch ihre Platten bis nach China oder Ägypten verkauft. Darunter auch Aufnahmen eines Orchesters und einer Musikgruppe, die als Vorbild für die Interpreten und die Big Band in Babylon Berlin gedient haben könnten.

Reale Vorbilder: Dajos-Béla-Orchester…

Der Violinist Dajos Béla hatte in den frühen 1920er Jahren in Berlin ein Salonorchester gegründet. Eingespielt wurden sowohl Medleys aus Opern und Operetten, Arrangements der neuesten Modetänze der Zeit und aktuelle Hits aus Tonfilmen. Béla trat auch in Kabaretts, dem Rundfunk und Berliner Nobelhotels auf und avancierte zu einem der gefragtesten Kapellmeister Berlins sowie zu dem „wohl produktivste[n] Musiker der Zwanzigerjahre in Deutschland“ in Bezug auf die Anzahl seiner Aufnahmen (Nippoldt / Pofalla 2017: 36). Im Jahr 1929 nahm das Dajos-Béla-Orchester Lieder mit der Urbesetzung der Comedian Harmonists auf.

…und Comedian Harmonists

Die Comedian Harmonists erlebten Anfang der 1930er Jahre einen beispiellosen Erfolg. Bis zu 150 Mal trat das Vokalensemble allein in Deutschland pro Jahr auf. Mit Liedern wie Veronika, der Lenz ist da, Ein Freund, ein guter Freund oder Mein kleiner grüner Kaktus (vgl. die Besprechung auf diesem Blog) bespielte das Sextett ausverkaufte Säle in Deutschland wie im europäischen Ausland. Den Zenit ihrer Karriere erreichten die Comedian Harmonists im Jahr von Hitlers Machtergreifung. Drei ihrer Mitglieder waren jüdisch, doch angesichts ihres Erfolgs und ihrer Beliebtheit fühlten sie sich lange Zeit sicher. Ihr Publikum liebte sie schließlich nicht zuletzt für das Gefühl, sich in ihren Konzerten der Politik fern zu fühlen. Doch 1935 erfolgte das Verbot des Vokalensembles. Die drei jüdischen Musiker emigrierten und die Comedian Harmonists sollten nie wieder gemeinsam auftreten. Auch Dajos Béla war jüdischen Glaubens und schaffte rechtzeitig vor dem Zugriff der Nationalsozialisten die Emigration.

Irmgard Keun, Curt Moreck, Dajos Béla und die Comedian Harmonists – ihre Werke und ihr Leben könnten als Vorbild für Babylon Berlin gedient haben. Ob die Seriencharaktere ein vergleichbares Schicksal erwartet, bleibt mindestens bis Staffel 5 abzuwarten. Eine Fortsetzung der erfolgreichen Serie ist bereits angekündigt.

PS. Wer wissen möchte, ob sich hinter Charlottes scheinbar spöttischem Lächeln tatsächlich nur Belustigung über die Musik verbirgt, als sie die Liedzeilen „Ich hab’, ich bin – ich bin verliebt in dich!“ hört und nach einer Platte für Gereon Rath sucht, sollte sich die vierte Staffel von Babylon Berlin ansehen.

Isabel Stanoschek, Bamberg

Literatur

Stéphanie Moeller (2017): „Kultur des Spektakels: Vergnügung in der Weimarer Republik“, in: Ingrid Pfeiffer [Hrsg.] (2017): Glanz und Elend in der Weimarer Republik (Katalog zur Ausstellung in der Schirn Kunsthalle Frankfurt 27.10.2017-25.02.2018). Frankfurt am Main und München: Schirn Kunsthalle und Hirmer Verlag, S. 119-126.

Curt Moreck (2020) [1931]: Ein Führer durch das lasterhafte Berlin: Das deutsche Babylon 1931. München: btb-Verlag.

Robert Nippoldt und Boris Pofalla (2017): Es wird Nacht im Berlin der Wilden Zwanziger. Köln: Taschen-Verlag.

Heino covert „Zehn nackte Friseusen“ und kommt endlich da an, wo er schon immer war.

Eine neue Spielart der Wahnvorstellung grassiert derzeit in Deutschland: die Verbotsphobie. Verbotsphobiker fürchten ständig, dass ihnen irgendetwas verboten werden solle, was tatsächlich aber niemand verbieten will – seien es Schnitzel oder, wie jüngst bei der altgedienten Wehrmachtsliederjukebox Heino, das Absingen von Volksliedern wie Schwarzbraun ist die Haselnuss:

Häufig zusammen mit der Verbotsphobie tritt die Gebotsphobie auf: Die Betroffenen sind unerschütterlich der Meinung, ihnen solle ein bestimmtes Verhalten vorgeschrieben werden. Die derzeit am häufigsten anzutreffende Form der Gebotsphobie ist dabei der eingebildete Genderzwang. Tatsächlich existieren zwar nur mancherorts für den jeweiligen verlags-, behörden- oder betriebsinternen Gebrauch bestimmte Leitfäden, die in verschiedenen Varianten eine geschlechtssensible Sprachverwendung empfehlen, wohingegen in einigen Bundesländern in Behörden und an Schulen das Gerndern mit Sonderzeichen untersagt ist (vgl. Übersicht über die Länderregelungen). Dessen ungeachtet haben vom eingebildeten Genderzwang Betroffene, selbst wenn sie wie Heino eindeutig nicht zum Adressatenkreis dieser Leitfäden gehören und folglich tun und lassen können, was sie wollen, den Eindruck, es stehe eine Sprachpolizei vor der Tür, kaum dass man einmal gefordert hat, alle Politiker der ‚Systemparteien‘ müssten an die Wand gestellt werden, und dabei nicht „Politiker_innen“ gesagt hat.

Tatsächlich besteht Heinos Problem weniger darin, dass ihm irgendjemand verbieten möchte, sein bewährtes Landserpotpourri zum Vortrag zu bringen, sondern dass immer weniger Menschen ihm dabei zuhören möchten. Als Gegenmaßnahme hat Heino schon vor zehn Jahren erfolgreiche Popsongs anderer [Triggerwarnung für unter eingebildetem Genderzwang Leidende: Es folgt ein gegendertes Wort] Sänger_innen eingesungen (und war damit zwar kommerziell erfolgreich, scheiterte ästhetisch aber vollumfänglich). Nun, nach seinem „Letzten Album“ Und Tschüss hat Heino, der sich 2005 selbst für das eigens zu schaffende Amt des Volkslied-Beauftragten der Bundesregierung vorgeschlagen hat (vgl. Der Spiegel), ein neues (allerletztes?) Album aufgenommen – mit Ballermannhits: Lieder meiner Heimat. Und das geht dann so:   

Heino

Zehn nackte Friseusen (Text: Lou Richter)

Okay, Folgendes:

Es gibt hunderttausend Frauen
Denen ist alles zuzutrauen
Doch ich sag' No, No-no-no-no
Es gibt fünfzigtausend Weiber
Die haben einwandfreie Leiber
Doch ich sag' No, No-no-no-no

Ich will zehn nackte Friseusen
Zehn nackte Friseusen 
Zehn nackte Friseusen
Mit richtig feuchten Haaren

Es gibt hunderttausend Mädel
Die sind alle schön und edel
Da werd' ich weich, wa-wa-wa-weich
Es gibt fünfzigtausend Damen
Die wollen alle meinen Namen
Doch ich bleib' hart, ha-ha-ha-hart

Ich will zehn nackte Friseusen [...]

Es gibt hunderttausend Schnitten
Die haben wunderschöne Augen
Da bin ich weg, we-we-we-weg
Es gibt fünfzigtausend Hasen
Die wollen mir alle einen erzählen
Ich hör' nicht hin, hi-hi-hi-hin

Ich will zehn nackte Friseusen [...]

Okay, ich will hier nicht unnötig ein Riesenfass aufmachen, aber Folgendes:

Ich hab' sie alle gehabt 
Ich hab' sie alle gesehen
Doch es gibt nur ein paar
Die mich wirklich verstehen
Ich hab' sie niemals gezählt
Doch ich weiß, was mir fehlt
Ja, ich weiß, was mir fehlt:

Zehn nackte Friseusen [...]

     [Heino: Lieder meiner Heimat. Telamo 2023.]

Sieht man das Video stumm an, so erinnert Heino wahlweise an den greisen Geck, dem Gustav von Aschenbach zu Beginn von Der Tod in Venedig begegnet, an eine Puffmutter, die ihre sich im Hintergrund recht lustlos präsentierende Menschenware anpreist, oder an die Großtante, die bei Familienfeiern nach zu viel Klosterfrau Melissengeist immer anfängt, zotige Witze zu erzählen, über die nur sie lacht. Und dennoch: Heino ist mit diesem Lied endlich ganz bei sich angekommen. Seine Volksliedinterpretationen bezeugten, bei aller technischen Professionalität des Gesangs, immer, dass ihm diese Lieder stets verschlossen geblieben waren: Ob ein Sauflied wie Ein Heller und ein Batzen, ein tragisch-homoerotisches Sehnsuchtslied wie Jenseits des Tales, ein Bauernkriegslied wie Wir sind des Geyers schwarzer Haufen, ein Fahrtenlied wie Aus grauer Städte Mauern – Heino knödelte alles so routiniert wie emotionslos weg. Von der Zärtlichkeit, Wildheit, Tragik oder dem Humor von Volksliedern hörte man bei ihm nichts – mehr von der Wehmut von Muß I denn zum Städele hinaus als Heino in seiner Interpretation vermittelt Elvis Presley selbst dann, wenn er in einer ihm fremden Sprache eine Kasperletheaterpuppe ansingt:

Dass sich in Deutschland jahrzehntelang keine größere Folkszene entwickelte, die die alten Lieder neu interpretierte, wie es etwa, global erfolgreich, mit irischen Traditionals geschieht, ist natürlich in erster Linie ein Resultat des Missbrauchs dieser Tradition im nationalsozialistischen Deutschland – Franz Josef Degenhardt fragte 1968 wehmütig: „Wo sind unsere Lieder, unsere alten Lieder?“ und antwortete: „Lehrer haben sie zerbissen, Kurzbehoste sie zerklampft / Braune Horden tot geschrien, Stiefel in den Dreck gestampft.“ Dass die Volkslieder aber so lange in der Ecke, in die die Nazis sie gezerrt hatten, blieben, lag auch an Heino (assistiert von Gotthilf Fischer), der aus einem reichen und vielschichtigen Liederschatz einen immer gleich klingenden Sauf- und Mitklatsch-Soundtrack machte – was sich nicht zuletzt darin zeigt, dass Heino bei Fernsehauftritten oft Medleys sang.

Stimmung kam bei Heino vor allem auf, wenn es anzüglich wurde: Ob es in Blau blüht der Enzian heißt: „In der dritten Hütte hab ich sie geküßt / Keiner weiß, was dann geschehen ist“ (man hört das triumphierende Augenzwinkern – soll es etwa, ja ist es denn die Möglichkeit, zum Geschlechtsverkehr gekommen sein? Holla hia, hia, holla di holla di ho!), ob eine Indianerin die Aufforderung ausspricht „Komm in meinen Wigwam“, ob ein notgeiler Nachtgast die Stiegen zum Kämmerlein der schwarzen Barbara emporsteigt oder ob im Wehrmachtsklassiker ein nur zunächst die Avancen standhaft abwehrendes Polenmädchen besungen wird – immer geht es inhaltlich um sexuell verfügbare Frauen, aber nie wird es auf der sprachlichen Ebene explizit.

Wenn Heino nun mit Zehn nackte Friseusen das verklemmteste Zotenlied seit Polonäse Blankenese (dem auch die Reimvermeidungstechnik entlehnt ist) als Video seines neuen Albums veröffentlicht, passt das genau in diese Reihe: Mickie Krauses gesungene Worteinsetzübung (für alle, die nicht zu lange knobeln wollen, hier die Lösungswörter: Mösen, Titten, blasen) ist gewissermaßen das idealtypische Heinolied. So wie Tainted Love erst in der Version von Soft Cell, gesungen vom homosexuellen Marc Almond, ein Hit und Respect erst in der weiblich perspektivierten Fassung von Aretha Franklin zur Hymne wurde, so ist es erst die Interpretation des greisen Heino, die das pseudofrech daherkommende Friseusen-Lied als Altherrenwitz erkennbar macht: Besungen wird eine reichlich banale sexuelle Phantasie, die mit der Klischeeassoziationskette Friseuse → dumm → dumm fickt gut, arbeitet, mit der eigenen Potenz prahlt (Nicht eine, nicht zwei, nicht drei, nein, zehn Frauen müssen es sein!), sich dann aber verschämt nicht traut, die schmutzigen Wörter auszusprechen. Diese Verbindung von Anzüglich- und Verklemmtheit wird im Video kongenial umgesetzt, indem, obwohl ja permanent von Nacktheit gesungen wird, alle Models Dessous tragen – Erotik für diejenigen, die früher die Unterwäscheseiten des Ottokatalogs als Pornografieersatz verwendet haben (dass eine der Friseusen von einem Mann dargestellt wird, rettet, ebensowenig wie im Layla-Video, auch nichts). 

Selbst das Genre des Ballermannschlagers, lange nicht unbedingt bekannt für Innovativität, ist längst weiter und hat mittlerweile die ironische Selbstreflexion für sich entdeckt, wie bei der deutschen Vorauswahl zum European Song Contest 2023 zu sehen war:

Martin Rehfeldt, Bamberg

„Marmotte (Ich komme schon durch manche Land‘)“ – Goethe bedichtet ein Murmeltier

Johann Wolfgang von Goethe

Marmotte (Ich komme schon durch manche Land')

Ich komme schon durch manche Land'
Avecque la marmotte,
Und immer ich was zu essen fand
Avecque la marmotte,

Avecque si, avecque la,
Avecque la marmotte.

Ich hab gesehn gar manchen Herrn
Avecque la marmotte,
Der hätt die Jungfern gar zu gern
Avecque la marmotte,

Avecque si, avecque la,
Avecque la marmotte.

Hab auch gesehn manch' Jungfer schön
Avecque la marmotte,
Die täte nach mir Kleinen sehn
Avecque la marmotte,

Avecque si, avecque la,
Avecque la marmotte.

Nun laßt mich nicht so gehn, ihr Herrn,
Avecque la marmotte,
Die Burschen essen und trinken gern
Avecque la marmotte,

Avecque si, avecque la,
Avecque la marmotte.

     [Johann Wolfgang von Goethe: Berliner Ausgabe. Poetische Werke, Band 5, Berlin
     1960 ff, S. 128f.]

Hört man zum ersten Mal dieses Lied, könnte man denken: ein flottes Volkslied. Und da es deutsche und französische Zeilen hat, könnte es seinen Ursprung in einer deutschen oder französischen Grenzregion oder in einem zweisprachigen Schweizer Kanton haben.

Für ein Volkslied sprechen die gängige Melodie und die einfache Sprache.

In der ersten Strophe erzählt das lyrische Ich von seinem Umherziehen durch „manche Land“, in denen es „immer was zu essen fand“. Es dürfte sich hier um einen Bettler handeln, bestätigt durch die 4. Strophe, in der er bittet, ihn nicht ohne eine milde Gabe fürs Essen und Trinken weiterziehen zu lassen.

Die zweite Strophe deutet auf einen männlichen Sänger. Keine Frau würde von Herren singen, die Jungfern gernhaben. Dass das lyrische Ich männlich ist, wird in der dritten Strophe erneut bestätigt: „nach mir Kleinem sehn“ – andernfalls wäre die weibliche Form „nach mir Kleiner“ verwendet worden.

Der französische Refrain „avec que la Marmotte“könnte frei übersetzt heißen „nicht ohne meinen Reisesack“ oder „nur mit dem Murmeltier“. Für den „Reisesack“ spricht, dass ein umherziehender Bettler auf seinen Touren ein Behältnis für seine Siebensachen braucht; daher auch die laufenden Wiederholungen in allen vier Versen. Für die Übersetzung „Murmeltier“ bietet der reine Gedichttext keinen Hinweis.

Betrachtet man den Hintergrund des Liedes, z. B. mit Hilfe des Liederbuchs Frei wie der Wind (Schneiderbuch, 1983) stellt sich heraus, dass der Text von Goethe ist. Er hat ihn 1773 mit 24 Jahren geschrieben und ein Jahr später in seinen Schwank Das Jahrmarktfest von Plundersweilern unter dem Titel Marmotte aufgenommen. Und dann stellt sich heraus, dass es sich bei „Marmotte“ hier doch um ein Murmeltier handelt. Auf seinen Reisen hatte Goethe von den Nöten der verarmten Bergbauern und ihren Knechtsfamilien gehört, die ihre Kinder zum Betteln in die Täler schickten. Die Kinder nahmen dann ein von ihnen dressiertes Murmeltier mit und führten auf Jahrmärkten, in Kneipen und auf Festen kleine Kunststücke vor, um die Begüterten geneigter zu machen, kleines Geld zu spenden.

Es wird berichtet, dass Beethoven, als er das Gedicht kennenlernte und von dessen Hintergrund hörte, derartig berührt gewesen sein soll, dass er spontan eine Melodie dazu komponierte (später in den 8 Lieder umfassenden Zyklus Opus 52 Nr. 7 aufgenommen).

Goethe, der ohnehin dabei war, sein Schauspiel zu überarbeiten (neue Fassung 1778), baute das Lied in seinen Schwank ein und ließ es einen Bauernjungen, dem er den Namen Marmotte gab, mit seinem Murmeltier singen. Damit war der Junge einer von 30 Mitwirkenden, die entweder als Marktbesucher, wie z.B. der Pfarrer, die Gouvernante, Amtmann, Fräulein oder als Verkäufer wie z.B. Ochsenhändler, Schweinemetzger, Bauer, Pfefferkuchenmädchen oder als Marktkünstler wie Zitherspielbub, Bänkelsänger oder Hanswurst auftraten. Goethe selbst, Darsteller von drei Rollen, spielte den Marktschreier.

Zur Rezeption

Das Jahrmarktfest von Plundersweilern erschien gedruckt zum ersten Mal 1789. Das Lied Ich bin gekommen durch manches Land wurde weiteren Kreisen erst bekannt, nachdem es der Musiker, Komponist und Liedersammler Ludwig Erk 1875 in den 2. Band seines Deutschen Liederschatzes aufgenommen hatte. Populär wurde es durch zahlreiche Liederbücher, vor allem der Jugendbewegung, in der Zeit von 1910 bis 1932. Allerdings war es im auflagenstarken Zupfgeigenhansl (Aufl. bis 1927 826.000) ebenso wenig vertreten wie nach dem Zweiten Weltkrieg in der Mundorgel (bis 2014 10 Millionen Textauflage und 4 Millionen Notenauflage).

In der Zeit des Nationalsozialismus erschien es nur in dem Liederbuch der NS-Frauenschaften.

Nach 1947 tauchte Marmotte in zwei Schulliederbüchern auf und bis 2014 in knapp 50 weiteren Liederbüchern. Bemerkenswert finde ich, dass es weder im Sammelband des Liedforschers Heinz Rölleke (Das große Buch der Volkslieder) noch im umfangreichen Werk (über 750 Lieder) von Sunhilt und Theo Mang (Der Liederquell) zu finden ist. Dagegen ist es im 2. Band Deutsche Lieder des Musikwissenschaftlers und Volksliedforschers Ernst Klusen vertreten.

Beachtlich finde ich die Anzahl von über 500 Videos bei youtube u.a. mit Interpretationen der Baritone Dietrich Fischer-Dieskau und Hermann Prey und des Tenors Peter Schreier sowie zahlreicher Videos mit Kindern und Jugendlichen, die das Lied auf dem Piano oder einer Geige spielen.

Georg Nagel, Hamburg